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Sechstes Bild

Drei Tage später, in der Drogerie. Im Hintergrund das Pult, im Vordergrund links ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Rechts die Eingangstür und ein Teil der Auslage von innen, links führt eine Tapetentür in die Privatwohnung. Es ist spät am Nachmittag, kurz vor Ladenschluß.

Frau Leimgruber Es kann Ihnen wirklich leid tun, daß Sie nicht bei dem Begräbnis waren von dem armen Kind, es war wirklich großartig! Von weit und breit waren die Leut da, noch mehr wie damals bei der Eisenbahnkatastrophe, sogar Zeitungsleut und das Grab ist abphotographiert worden für die Illustrierte Volksstimme von allen Windrichtungen! Und Blumen hats gegeben – eine wahre Pracht! Sie haben wirklich was versäumt, ich kanns zwar lebhaft nachfühlen, daß Sie dem letzten Gang unseres armen Annerl nicht beiwohnen wollten, wo doch Ihr ehemaliger Schwager – versteh – versteh! Taktgefühl, Taktgefühl! Herr, was treibens denn da?! Nein, das Paket ist mir viel zu groß, machens mir lieber zwei.

Alfons Wie Sie wünschen –

Frau Leimgruber Ich bitte darum, wissens, der Vater, der Ärmste, schmerzgebeugt, war sehr gefaßt, aber der Bräutigam, der Ferdinand, also der war ganz zusammengebrochen, ein einziges Trumm von einer Ruine – die Tränen sind ihm so heruntergelaufen, es war zum Herzerbarmen. Jaja, man sollte gar nicht meinen, wieviel zartes Gefühl in so einem rauhen Lackl von Fleischhauer stecken kann und umgekehrt. Ich sag ja: grad in dem wildesten Mann pocht oft nur ein Kinderherz. Armes Annerl! Jetzt bist eingegraben und liegst allein, jetzt deckt dich niemand mehr zu, wenns regnet. Da schauns, das sind ihre Sterbebildchen, zur Erinnerung an den Todestag – da, ich schenk Ihnen eins, ich hab eh eine ganze Mass – Sie legt eins auf das Pult.

Alfons sieht nicht hin: Danke, Frau Leimgruber.

Stille.

Frau Leimgruber Und wie gehts der verehrten Frau Schwester? Das werte Befinden?

Alfons l ächelt: Es geht so –

Frau Leimgruber Natürlich, natürlich! Sie hat ja auch viel Aufregerei hinter sich, aber ich an ihrer Stell wär froh, daß er nicht mich umgebracht hat – wär ja auch möglich gewesen. Ich hab mir heut während der ganzen Trauerzeremonie gedacht, es muß doch eine gewaltige Genugtuung für sie sein, daß dieser saubere Vorstand verfolgt wird, dieser Hudetz, dieser Schwerverbrecher – hoffentlich erwischens ihn bald. Wissens, ich freu mich aufrichtig, daß das Eis um Sie gebrochen ist, alles spricht voller Ehrerbietung von Ihnen und Ihrer unglücklichen Frau Schwester, als tät sogar ein jeder ein bisserl Reue verspüren –

Alfons Reue hat noch keiner bereut. Aber ich möcht jetzt nur eins konstatieren: Genugtuung empfind ich nicht. Mir wärs lieber, die schreckliche Tat wär niemals verbrochen worden.

Frau Leimgruber Geh – geh – geh! Also das ist schon wieder zu edel! Passens nur auf, daß Sie am End nicht zu großartig werden, denn dann Werdens wieder antipathisch.

Alfons Ich sag nur meine innerste Überzeugung.

Frau Leimgruber Die Wahrheit liegt woanders.

Alfons Meine Schwester ist angespuckt worden, weil sie die Wahrheit gesagt hat.

Frau Leimgruber Das war eben ein Irrtum, ein krasser! Aber in dieser Thomas-Hudetz-Affäre, da gibts keine Irrtümer! Dieser Hudetz hat uns unser armes Annerl verführt, einen Meineid zu schwören, es war sein verbrecherischer Einfluß und sonst nichts, aber wie sie dann zusammengebrochen ist unter ihrer schweren Schuld und hat reuig alles bekennen wollen, da hat er sie eben einfach umgebracht – und auch nicht sie hat ihm einen Kuß gegeben, seinerzeit am Bahnhof, sondern er ihr, und auch keinen Kuß, sondern vergewaltigen hat er sie wollen, in seinem Dienstzimmer, dabei ist sie auf den Signalhebel gefallen –

Alfons unterbricht sie empört: Woher wollens denn das wissen? Waren Sie dabei?

Frau Leimgruber Erlaubens mal!

Alfons Ich vertrags nicht! Ich sag sogar: solang es nicht sonnenklar bewiesen ist, daß er der Mörder ist, solang er es nicht selber gesteht, freiwillig gesteht, solang glaub ich überhaupt an keine Schuld.

Frau Leimgruber Mir scheint, Sie glauben an überhaupt nichts mehr? An keinen Herrgott im Himmel und an gar nichts.

Alfons Von Ihnen werd ichs mir sagen lassen, wo der liebe Gott wohnt, was? Der Hudetz ist noch lang nicht der Schlechteste, merkens Ihnen das, Frau Leimgruber!

Frau Leimgruber sehr spitz: Ah, hier wird man mit Mördern verglichen.

Alfons Erinnerns Ihnen nur, wie er mich in Schutz genommen hat, als Ihr mich verprügeln wolltet.

Frau Leimgruber gehässig: Vielleicht wärs besser gewesen, wenn er Sie nicht beschützt hätt! Meiner Seel, mit Ihnen kann man wirklich nicht anständig verkehren – es geht und geht nicht! Sie reißt ihm ihre beiden Pakete aus der Hand und rasch ab nach rechts.

Alfons allein. Er lächelt still und hält sich die Hand vor die Augen. Die Kirchturmuhr schlägt siebenmal. Sieht auf seine Taschenuhr: Schluß. Wieder ein Tag – Langsam ab durch die Eingangstür, man hört, wie er draußen den eisernen Rolladen der Auslage herunterzieht.

Frau Hudetz kommt durch die Tapetentür mit dem Abendessen auf einem Tablett. Sie deckt den Tisch.

Alfons erscheint wieder in der Eingangstür und schließt sie von innen ab, dann setzt er sich an den kleinen Tisch und ißt.

Frau Hudetz hat sich auch bereits gesetzt und zu essen begonnen, plötzlich: Du hast dich wieder mit der Kundschaft unterhalten, über ihn?

Alfons Ja.

Frau Hudetz Ich habs bis in die Küche gehört, zwar nicht alles, aber du hast ihn wieder in Schutz genommen?

Alfons Ja.

Stille.

Frau Hudetz Sag: könnten wir eigentlich nicht drüben im Zimmer essen? Hier riechts immer so nach Chemikalien.

Alfons Dann müßten wir das Zimmer heizen.

Frau Hudetz lächelt etwas spitz: Ich habe nie gewußt, daß du ein geiziger Mensch bist –

Alfons Wenn ich nicht geizig wäre, könntest du nicht ans Meer fahren.

Stille.

Frau Hudetz Dann essen wir ab morgen in der Küche.

Alfons Ich hab zwar noch nie in der Küche gegessen, aber bitte!

Stille.

Frau Hudetz Schmeckts?

Alfons Ja.

Stille.

Frau Hudetz Was willst du morgen essen?

Alfons Was du mir kochst.

Frau Hudetz hört plötzlich auf zu essen und legt Messer und Gabel neben ihren Teller: Manchmal frag ich mich, für welche Verbrechen wir büßen müssen –

Alfons Für unsere eigenen.

Frau Hudetz Nein, ich habe keine –

Alfons Doch.

Frau Hudetz Ich bin mir keines Verbrechens bewußt.

Alfons Das hat nichts zu sagen. Du wirst es halt vergessen haben.

Frau Hudetz spitz: Meinst du?

Alfons Es ist meine innerste Überzeugung.

Frau Hudetz Die Wahrheit liegt woanders.

Alfons Du sprichst wie die Frau Leimgruber –

Frau Hudetz sehr spitz: Ah, hier wird man mit Verleumderinnen verglichen –

Alfons lächelt: Die Leimgruber, die Leimgruber!

Frau Hudetz fixiert ihn kalt, zuckt dann die Schultern: Ich bin unschuldig.

Alfons Unschuldig?! Er lacht.

Frau Hudetz herrscht ihn an: Lach nicht! Sag mir ein Verbrechen, ein einziges meiner Verbrechen!

Alfons erhebt sich und geht auf und ab: Ich erinnere mich, wie du mir gesagt hast, der Thomas will nichts mehr von mir, aber dann soll er auch keine andere anschauen, keine! Dazu hast du kein Recht gehabt, das war ein Verbrechen!

Frau Hudetz höhnisch: Für dieses Verbrechen übernehme ich die Verantwortung.

Alfons Dann schrei nicht, wenn du bestraft wirst. Klag nicht an, daß du verfolgt wirst. Du warst um dreizehn Jahre älter, du mußtest es wissen und fühlen – aber du hast seine Liebe erpressen wollen, jawohl, erpressen!

Frau Hudetz Bell nur! Was weißt du von uns Frauen! Dich mag ja keine –

Alfons fixiert sie: Hast du gesagt: »Ich haß ihn, jawohl ich hasse ihn, und ich könnt ihn, wenn er neben mir liegt in der Nacht, erschlagen« – Er fährt sie an. Hast du das gesagt? Ja oder Nein?!

Frau Hudetz unheimlich ruhig: Ja. Aber ich hab ihn doch nicht erschlagen. Sie grinst.

Alfons Vielleicht.

Stille.

Frau Hudetz Du tust ja direkt, als hätt ich das Signal verpaßt, als wären durch mich achtzehn Personen umgekommen.

Alfons fällt ihr ins Wort: Das hängt alles zusammen.

Frau Hudetz schreit ihn plötzlich an: Hab denn vielleicht auch ich das Mädel, die Anna –

Es klopft an der Eingangstür.

Die zwei zucken zusammen und lauschen.

Frau Hudetz bange. Wer klopft da?

Es klopft abermals.

Alfons wendet sich der Eingangstür zu: Werden sehen –

Frau Hudetz Gib acht, Alfons!

Alfons öffnet die Eingangstür und schreckt etwas zurück, unterdrückt: Du bists?

Hudetz tritt ein in zerknüllter Uniform, ohne Kappe.

Frau Hudetz schreit unterdrückt auf: Thomas!

Alfons schließt rasch die Eingangstür.

Hudetz beachtet die beiden nicht, geht langsam an den kleinen Tisch, betrachtet die Reste, nimmt langsam eine Semmel und ißt apathisch. Die zwei starren ihn an.

Hudetz hört auf zu essen, blickt die beiden an und lächelt: Wie gehts euch?

Frau Hudetz Thomas, hast du den Verstand verloren?

Hudetz herrscht sie an: Ruhe! Schrei nicht! Er sieht sich mißtrauisch um.

Alfons Du wirst verfolgt?

Hudetz grinst: Natürlich.

Stille.

Alfons Was willst du von uns?

Hudetz Ich hab mich bis heut im Wald versteckt und bin jetzt heimlich her – Er grinst. Fürchtet euch nicht. Es hat mich keiner gesehen – Er wird ernst, sachlich. Ich brauch einen Anzug, Zivil. Ich muß nämlich fort und das geht nicht in Uniform.

Stille.

Also bekomm ich den Anzug oder nicht?

Frau Hudetz fährt ihn an: Was ziehst du uns da hinein zu dir?! Das wär ja Vorschubleistung. Laß meinen Bruder aus dem Spiel, du hast mich genug gequält. Laß uns in Frieden!

Hudetz grinst wieder: Habt ihr Frieden?

Stille.

Alfons Wir trachten nach Frieden. Und trachten guten Willens zu sein.

Hudetz Du vielleicht schon –

Alfons herrscht ihn an: Hör auf mit diesem Ton! Geh lieber in dich!

Stille.

Hudetz grinst: Wohin soll ich gehen? In mich hinein? Was tät ich denn da finden?

Alfons Schau nach.

Hudetz horcht auf und grinst nicht mehr.

Stille.

Hudetz Es ist alles umzingelt mit Gehdarmerie und Militär. Aber ich komm durch. Ich trete die Strafe nicht an. Ich berufe, denn ich kann nichts dafür.

Alfons Meinst du?

Hudetz Ich bin unschuldig.

Frau Hudetz lacht hysterisch: Die Frau Leimgruber, die Frau Leimgruber!

Hudetz Lach nicht!

Frau Hudetz Aber das ist ja auch zu komisch – Sie setzt sich an den kleinen Tisch, beugt sich über die Tischplatte und weint.

Hudetz zu Alfons: Was hat sie denn?

Stille.

Alfons Thomas, ich wollt es eigentlich nicht glauben –

Hudetz Was? – Ach so! – Ja, das hilft dir nichts, du mußt es glauben. – Ich hab mich mit der Anna »verlobt«.

Frau Hudetz entsetzt: Verlobt?!

Hudetz nickt ja: Beim Viadukt. Hm – Er lächelt. Ich hab sie gepackt und geschüttelt, aber sie war nicht mehr da – ich hab noch nach ihr gerufen, aber sie gab keinen Laut mehr von sich. Dann bin ich nach Haus und hab mich niedergelegt. Ich hab plötzlich wieder schlafen können, seit vier Monaten, wie ein pflichtgetreuer Beamter – Er lächelt. Na. Er denkt nach und faßt sich langsam an den Kopf. Ja, und dann hätt ich euch noch was zu fragen: ich weiß, daß ich sie umgebracht hab, aber ich weiß nicht wie – wie? Er blickt zu Alfons und Frau Hudetz. Wie hab ich sie denn nur?

Die zwei starren ihn entgeistert an.

Habt ihr denn nichts in der Zeitung gelesen?

Alfons Nein, wir wollten nichts darüber lesen.

Hudetz Wenn ich das nur wüßt –

Alfons Was war dann?

Hudetz Dann – ja, dann würd ich mich kennen, besser kennen –

Stille.

Hudetz zu Frau Hudetz: Weißt du, daß ich dich immer verteidigt habe?

Frau Hudetz Ja. Aber dafür hast du auch immer an eine andere gedacht, wenn du bei mir warst –

Hudetz nickt ihr lächelnd zu: An meine Verlobte –

Frau Hudetz Ach Thomas! Reden wir nicht mehr darüber, ich bin so müd.

Hudetz Ich auch. Aber ich muß noch weit weg –

Alfons zu Frau Hudetz: Bring ihm meinen grauen Anzug. So geh schon.

Frau Hudetz zu Alfons: Er bringt dich noch ins Unglück!

Alfons Geh!

Frau Hudetz ab durch die Tapetentür.

Stille.

Hudetz Jemand hat mir mal gesagt: »Sie wurden freigesprochen, mein Herr und Sie werden noch etwas Großes verbrechen müssen, um bestraft werden zu können« – Er hält sich die Hand vor die Augen. Wer hat denn das nur gesagt – wer?

Alfons Wars nicht die Anna?

Hudetz zuckt zusammen und starrt Alfons erstaunt an: Ja. Woher weißt du denn das?

Alfons Ich war nicht dabei – Er lächelt.

Stille.

Hudetz fixiert Alfons: Nicht dabei? Ich auch nicht – Er lächelt und entdeckt auf dem Pult das Sterbebildchen. Was ist denn das. Er liest. »Zur frommen Erinnerung an die ehrengeachtete Jungfrau Anna Lechner, Gastwirtstochter dahier« – Zu Alfons: Wars ein schönes Begräbnis?

Alfons Ja.

Hudetz lächelt leise und glücklich und betrachtet noch weiter das Sterbebildchen, wird ernst und liest, als würd er es nur vorlesen:

Halte still, Du Wandersmann
Und sieh Dir meine Wunden an
Die Stunden gehn Die Wunden stehn
Nimm Dich in acht und hüte Dich
Was ich am jüngsten Tag über Dich
Für ein Urteil sprich –

Frau Hudetz kommt mit dem grauen Anzug und legt ihn auf einen Stuhl; zu Hudetz, der nachdenkt: Geh jetzt, Thomas –

Hudetz wie zu sich selbst: Ja – Er wendet sich der Eingangstüre zu.

Frau Hudetz Und der Anzug?

Hudetz blickt auf den Anzug und sieht dann die zwei groß an, er lächelt: Danke – nein – Ab durch die Eingangstür.


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