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Nur wer sich wandelt, bleibt
mit mir verwandt.
Während der Herr Kobler verreist war, ereignete sich in der Schellingstraße nur das Übliche. Das Leben ging seine mehr oder weniger sauberen Wege, und allen seinen Bekannten stieß nichts Aufregendes zu, allerdings mit einer Ausnahme, aber Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel.
Diese Ausnahme bildete das Fräulein Anna Pollinger, nämlich sie wurde aus heiterstem Himmel heraus plötzlich arbeitslos, und zwar total ohne ihre Schuld. Sie verlor ihre Stelle in der Kraftwagenvermietung infolge der katastrophalen Konjunktur. Diese Firma brach im wahren Sinn des Wortes über Nacht zusammen, von einem Dienstag zu einem Mittwoch. Am Mittwoch mittag standen daher zwounddreißig Arbeitnehmer auf der Straße, und auch der Arbeitgeber persönlich war nun bettelarm, denn teils hatten die räuberischen Zinsen und Wechsel seine Substanz vertilgt, und teils hatte er die größere Hälfte dieser Substanz noch rechtzeitig auf den Namen seiner Frau umgeschrieben.
Auch Anna erhielt nun ein weißes Kuvert; sie öffnete es und las:
Zeugnis
Fräulein Anna Pollinger war vom 1. III. 29 bis 27. IX. 29 in der Kraftwagenvermietung »National« als Büromädchen tätig und bewährte sich selbe als ehrlich, fleißig und pflichtbewußt. Fräulein Pollinger scheidet aus infolge Liquidation der Firma. Auch unsere Firma wurde ein Opfer der deutschen Not. Andernfalls würden wir Fräulein Pollinger nicht gerne ziehen lassen und wünschen ihr alles Gute für ihr ferneres Leben.
Kraftwagenvermietung »National« gez. Lindt
Anna wohnte bei ihrer Tante, denn sie hatte keine Eltern mehr. Aber das fiel ihr nur manchmal auf, denn ihren Vater hatte sie eigentlich nie gesehen, weil er ihre Mutter schon sehr bald verlassen hatte. Und mit ihrer Mutter konnte sie sich nie so recht vertragen, weil halt die Mutter sehr verbittert war über die schlechte Welt. Noch als Anna ganz klein war, verbot es ihr die Mutter immer boshafter, daß sie ihrer Puppe was vorsingt. Die Mutter hatte keine Lieder und war also ein böser Mensch. Sie gönnte keiner Seele was und auch ihrer eigenen Tochter nichts. Knapp nach dem Weltkriege starb sie an der Kopfgrippe, aber Anna konnte beim besten Willen nicht so richtig traurig sein, obwohl es ein sehr trauriger Herbsttag war.
Von da ab wohnte sie bei ihrer Tante in der Schellingstraße, nicht dort, wo sie bei der Ludwigskirche so vornehm beginnt, sondern dort, wo sie aufhört. Dort vermietete die Tante im vierten Stock zwei Zimmer und führte parterre das Geschäft ihres seligen Mannes weiter, und das war kaum größer als eine Kammer. Darüber stand »Antiquariat,« und in der Auslage gab es zerrissene Zeitschriften und verstaubte Aktpostkarten.
Das eine Zimmer hatte die Tante an einen gewissen Herrn Kastner vermietet, das andere stand augenblicklich unvermietet, denn es war verwanzt. In diesem Zimmer konnte nun Anna vorübergehend schlafen statt bei der Tante in der Küche. Die Wanzen hatte der Herr Kastner gebracht, aber man konnte ihm nichts nachweisen, denn er war sehr raffiniert.
Als nun Anna mit ihrem Zeugnis nach Hause kam, schimpfte die Tante ganz fürchterlich über diese ganze Nachkriegszeit und wollte Anna hinausschmeißen. Aber das war natürlich nicht ernst zu nehmen, denn die Tante hatte ein gutes Herz, und ihr ewiges Geschimpfe war nur eine Schwäche von ihr. Anna war ja schon oft arbeitslos, und das letztemal gleich acht Wochen lang. Das war im vorigen Winter, und damals sagte der Herr Kastner zur Tante: »Ich höre, daß Ihre liebe Nichte arbeitslos ist. Ich habe beste Beziehungen zum Film, und es hängt also lediglich von Ihrer lieben arbeitslosen Nichte ab.«
Das mit dem Film war natürlich gelogen, denn der Herr Kastner hatte ganz andere Dinge im Kopf. Zum Beispiel ist er im August mit ihr ins Kino gegangen. Man hat den Film »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« gegeben, und der Kastner hat sie dabei immer abgreifen wollen, aber sie hat sich sehr gewehrt, weil es ihr vor seinen Stiftzähnen gegraust hat. Der Kastner ist nachher sehr empört gewesen und hat sie gefragt, wie sie wohl darüber denke, daß man ein Fräulein in einen Großfilm einladet und dann »nicht mal das?!« – Aber acht Tage später hat er sie schon wieder freundlich gegrüßt, denn er hatte inzwischen eine Kassiererin aus Augsburg gefunden, die ihm zu Willen gewesen ist.
An diesem Abend ging Anna sehr bald zu Bett, und schon während sie sich auszog, hörte sie, daß nebenan der Kastner ausnahmsweise zu Hause geblieben ist. Er sprach mit sich selbst, als täte er etwas auswendig lernen, aber sie konnte kein Wort verstehen. Plötzlich verließ der Kastner sein Zimmer und hielt vor ihrer Tür. Dann trat er ein, ohne anzuklopfen.
Er stellte sich vor sie hin wie vor eine Auslage. Er hatte seine moderne Hose an, war in Hemdsärmeln und roch nach süßlicher Rasierseife.
Sie hatte sich im Bette emporgesetzt und konnte sich diesen Besuch nicht erklären, denn der Kastner schnitt ein seltsam offizielles Gesicht, als wollte er gar nichts von ihr. »Gnädiges Fräulein!« verbeugte er sich ironisch. »Honni soit qui mal y pense!«
Der Kastner sprach sehr gewählt, denn eigentlich wollte er Journalist werden, jedoch damals war seine Mutter anderer Meinung. Sie hatte nämlich viel mit den Zähnen zu tun und konstatierte: »Die Zahntechniker sind die Wohltäter der Menschheit. Ich will, daß mein Sohn ein Wohltäter wird!« Er hing sehr an seiner Mutter und wurde also ein Zahntechniker, aber leider kein Wohltäter, denn er hatte bloß Phantasie statt Präzision. Es war sein Glück, daß kurz nach Eröffnung seiner Praxis der Krieg ausbrach. Er stellte sich freiwillig und wurde Militärzahntechniker. Nach dem Waffenstillstand fragte er sich: Bin ich ein Wohltäter? Nein, ich bin kein Wohltäter. Ich bin die typische Bohemenatur, und so eine Natur gehört auf den leichtlebigen Montmartre und nicht in die Morgue. Er wollte wieder Journalist werden, aber er landete beim Film, denn er hatte ein gutes konservatives Profil und kannte einen Hilfsregisseur. Er statierte und spielte sogar eine kleine Rolle in dem Film »Der bethlehemitische Kindermord, oder Ehre sei Gott in der Höhe«. Der Film lief nirgends, hingegen flog er aus dem Glashaus, weil er eine minderjährige Statistin, die ein bethlehemitisches Kind verkörperte, nackt fotografierte.
Nun schritt er vor Annas Bette auf und ab und bildete sich etwas ein auf seine Dialektik. Er hörte sich gerne selbst, fühlte sich in Form und legte daher los wie ein schlechtes Feuilleton.
Zuerst setzte er ihr auseinander, daß es unnahbare Frauen nur in den Märchen und Sagen oder in Irrenhäusern gebe, nämlich er hätte sich mit all diesen Problemen beschäftigt, »er spreche hier aus eigener, aus sexualer und sexualethischer Neugier gesammelter Erfahrung«. So hätte er auch sofort erkannt, daß sie (Anna) keine kalte Schönheit sei, sondern ein tiefes stilles Wasser –
»Was geht denn das Sie an?« unterbrach ihn Anna auffallend sachlich, denn sie gönnte es ihm, daß er sich wieder mal über sie zu ärgern schien. Sie gähnte sogar.
»Mich persönlich geht das natürlich nichts an«, antwortete der Kastner und tat plötzlich sehr schlicht. »Ich dachte ja nur an Ihre Zukunft, Fräulein Pollinger!«
Zukunft! Da stand es nun wieder vor ihr, setzte sich auf den Bettrand und strickte Strümpfe. Das war ein altes, verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur daß es noch älter war, noch schmutziger und verschlagener – »Ich stricke, ich stricke«, nickte die Zukunft, »ich stricke Strümpfe für Anna!« Und Anna schrie: »So lassens mich doch! Was wollens denn von mir?!« »Ich persönlich will nichts von Ihnen!« verwahrte sich der Kastner feierlich, und die Zukunft sah sie lauernd an. –
Anna hatte keine Worte mehr, und der Kastner lächelte zufrieden, denn plötzlich ist es ihm aufgefallen, daß er auch Talent zum Tierbändiger hätte. Und er fixierte Anna, als wäre sie zumindest eine Seehündin. Er hätte sie zu gerne gezwungen, eine Kugel auf der Nase zu balancieren. Er hörte bereits den Applaus und überraschte sich dabei, daß er sich verbeugen wollte. »Was war denn das?!« fuhr er sich entsetzt an, floh aus dem Zirkus, der plötzlich brannte, und knarrte los: »Zur Sache, Fräulein Pollinger! Was Sie nämlich in erotischer Hinsicht treiben, das läßt sich nicht mehr mit ansehen! Nun sind Sie wieder mal arbeitslos, trotzdem hängen Sie sich ständig an Elemente wie an diesen famosen Herrn Kobler –« »Ich häng mich an gar niemand!« protestierte sie heftig. »So war das ja nicht gemeint!« beruhigte er sie. »Mir müssen Sie nicht erzählen, daß Sie nicht lieben können, Fräulein! Sie können sich zwar mit jedem Kobler einlassen, aber wie Sie mal fühlen, daß Sie sich so richtig avec Seele verlieben könnten, kneifen Sie sofort, und dies soll natürlich kein Vorwurf sein, denn infolge Ihrer wirtschaftlichen Lage trachten Sie natürlich danach, jeder überflüssigen Komplikation aus dem Wege zu gehen – aber was ich Ihnen vorwerfe, ist einfach dies: daß Sie sich vergeuden! Heutzutag muß man auch seine Sinnlichkeit produktiv gestalten! Ich verlange zwar keineswegs, daß Sie sich prostituieren, aber ich bitte Sie um Ihretwillen, praktischer zu werden!«
»Praktisch?« meinte Anna, und es war ihr, als hätte sie dieses Wort noch niemals gehört. Sie sollte wirklich mehr an sich denken, dachte sie vorsichtig weiter und hatte das Gefühl, als wäre sie blind und müßte sich vorwärts tasten. Sie denke zwar eigentlich häufig an sich, fuhr sie fort, aber wahrscheinlich zu langsam. Wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so hätte er eben diesmal recht. Sie müsse sich das alles genau überlegen – was »alles«?
Seit es Götter und Menschen – kurz: Herrscher und Beherrschte gibt, seit der Zeit gilt der Satz: »Im Anfang war die Prostitution!«
»Diskretion Ehrensache!« hörte sie den Kastner sagen, und als sie ihn wiedererkannte, schnitt er ein überaus ehrliches Gesicht.
Das ist nämlich so: Als die Herrschenden erkannt hatten, daß es sich maskiert mit dem Idealismus eines gewissen Gekreuzigten bedeutend belustigender morden und plündern ließ – seit also dieser Gekreuzigte u. a. gepredigt hatte, daß auch das Weib eine dem Manne ebenbürtige Seele habe, seit dieser Zeit ist jenes »Diskretion Ehrensache!« ein Sinnspruch im Wappen der Prostitution.
Wer wagt es also, die heute Herrschenden anzuklagen, daß sie nicht nur die Arbeit, sondern auch das Verhältnis zwischen Mann und Weib der bemäntelnden Lügen und des erhebenden Selbstbetruges entblößen, indem sie schlicht die Frage stellen: »Na, was kostet schon die Liebe?« Kann man ihnen einen Vorwurf machen, weil sie dies im Bewußtsein ihrer wirtschaftlichen Macht der billigeren Buchführung wegen tun? Nein, das kann man nicht. Sie sind nämlich überaus ehrlich.
»Wieso?« fragte Anna und sah den Kastner ratlos an. Doch dieser machte eine Kunstpause. Dann sagte er: »Ich biete Ihnen eine Gelegenheit, um in bessere Kreise zu gelangen. Kennen Sie den Radierer Achner? Ich bin mit ihm sehr intim, er ist künstlerisch hochtalentiert und sucht zur Zeit ein passendes Modell – Sie könnten sich spielend zehn Mark verdienen und hätten prächtige Entfaltungsmöglichkeiten! In seinem Atelier gibt sich nämlich die Spitze der Gesellschaft Rendezvous, lauter Leute mit eigenem Auto. Das sind Menschen! Liebes Fräulein Pollinger, es tut mir nämlich tatsächlich weh, daß Sie Ihre Naturgeschenke derart unpraktisch verschleudern!«
»Es tut mir weh«, hörte das liebe Fräulein Pollinger und lächelte. »So täuscht man sich halt«, meinte sie leise, und der Kastner tat ihr plötzlich leid, und auch seine Stiftzähne taten ihr leid, die großen und die kleinen.
»Ich denke jetzt radikal selbstlos«, nickte ihr der Kastner zu und benahm sich direkt ergriffen.
Aber natürlich war das radikal anders. Als er nämlich erfahren hatte, daß Anna arbeitslos geworden war, ist er sofort zu jenem Radierer geeilt und hat ihm ein preiswertes Modell angeboten – mittelgroß, schlank, braunblond, und es würde schon auch einen Spaß verstehen. Der Radierer hatte zufällig gerade ein solches Modell gesucht und ist infolgedessen sofort einverstanden gewesen. »Also«, hatte der Kastner gesagt, »wenn du dich dann ausradiert hast, werde ich erscheinen, Prunelle bring ich mit, Grammophon hast du –«
Anna schwieg.
Es sei halt nun mal Weltkrieg gewesen, fiel es ihr plötzlich ein, und den könnte man sich nicht wegdenken, man dürfe es auch nicht.
Als der Kastner sie verließ, kam sie sich noch immer nicht klarer vor. Sie hatte ihm zwar das Ehrenwort gegeben, daß sie sich morgen zum Achner begeben wird, denn zehn Mark sind allerhand Schnee. Und das Modellstehen wäre doch etwas absolut Ordentliches, das wäre ja nur ein normaler Beruf. Aber das »Praktischwerden« – das war ein folgenschwerer Rat, das wollte noch genau überlegt sein. Denn rasch kommt ein armes Mädchen auf die schiefe Bahn, und von dort kommt keine mehr zurück.
Des Kastners verführerische Prophezeiungen ließen ihr keine Ruh, aber dann tauchten auch andere Töne auf, und das waren finstere Akkorde – sie mußte sich direkt anklammern, um mit dem logischen Denken beginnen zu können. Erst allmählich nahmen ihre Gedanken festere Konturen an und wurden auch immer stiller und verhielten sich abwartend.
Jetzt stand jemand hinter ihr, aber sie sah sich nicht um, denn sie fühlte es deutlich, daß das ein unheimlicher Herr sein muß. Und plötzlich war das Zimmer voll von lauter Herren, die hatten alle ähnliche Bewegungen und kamen ihr sehr bekannt vor.
»Wie war das doch?« hörte sie den unheimlichen Herrn fragen, und seine Stimme klang grausam weich. »Das war so«, meldete sich einer der Herren. »Das war auf dem Oktoberfest, und zwar vor der Bude des Löwenmädchens Lionella. Anna dachte gerade, ob diese Abnormität auch noch Jungfrau wäre, da lernte sie ihren Akademiker kennen.« »Wo steckt denn dieser Akademiker?« erkundigte sich der Unheimliche. »Der Herr Doktor ist bereits tot«, antwortete ein anderer Herr und nickte Anna freundlich zu. »Der Herr Doktor sitzt in der Hölle«, fuhr er fort, »denn er hatte einen schlechten Charakter, nämlich er hatte der Anna ihre Unschuld geraubt, und das war keine besondere Heldentat, denn sie hatte einen Bierrausch.« Aber da schnellte ein dritter Herr von seinem Stuhl empor. »Lügen Sie doch nicht so infam, Fräulein Pollinger!« schrie er sie an. »Sie tun ja jetzt direkt, als hätten Sie nicht ständig danach getrachtet, endlich das zu verlieren. So antworten Sie doch!« »Das ist schon wahr«, antwortete Anna schüchtern, »aber ich hab's mir halt anders vorgestellt.« »Egal!« schnarrte der dritte und wandte sich an den Unheimlichen: »Man muß es dem lieben Gott sagen, daß der Herr Doktor unschuldig in der Hölle sitzt!« Jetzt unterbrach ihn jedoch ein vierter Herr, und das war ein melancholischer Kaffeehausmusiker. »Das Fräulein Pollinger ist ein braver Mensch«, sagte er, »bitte fragen Sie doch nur den Herrn Brunner!« »Hier!« rief der Brunner. Er saß auf dem Sofa und beugte sich über das Tischchen. »Liebe Anna«, sagte er ernst, »ich weiß, daß ich deine einzige große Liebe war, aber ich hab dich ja nur aus Mitleid genommen, denn du bist ja gar nicht mein Typ.« Dann erhob er sich langsam, er war ein riesiges Mannsbild. »Anna«, fuhr er fort, und das klang fast zärtlich, »wenn man an nichts anderes zu denken hat, dann ist so eine große Liebe recht abwechslungsreich. Aber ich bin Elektrotechniker, und die Welt ist voll Neid.« »Es dreht sich halt alles um das Geld«, lächelte Anna, und es tat ihr alles weh. »Richtig!« murmelten die Herren im Chor, und einige sahen sie vorwurfsvoll an. »Ich hab noch nie Geld dafür genommen«, wehrte sie sich. »Wo ist denn der Kobler?« fragte der dritte ironisch. »Ach, der Kobler!« schrie Anna und geriet plötzlich außer sich. »Der sitzt ja jetzt in Barcelona, während ich mit euch reden muß, er hätt mir leicht was geben können!« »Na endlich!« rief ein Herr aus der Ecke und trat rasch vor. Er hatte einen Frack an. »Du hast jetzt endlich praktisch zu werden, Fräulein!« sagte er. »Unten steht meine Limousine! Komm mit! Komm mit!«
Der Radierer Achner hatte sein Atelier schräg vis-à-vis. Er war ein komplizierter Charakter und das, was man im bürgerlichen Sinne als ein Original bezeichnet.
Als er Anna die Tür öffnete, hatte er einen Pullover an und Segelschuhe. Die Sonne brannte durch die hohe Glasscheibe, und es roch nach englischen Zigaretten. Auf dem Herdchen lagen zwei verbogene Löffel, ein schmutziger Rasierapparat und die Briefe Vincent van Goghs in Halbleinen. Im Bette lag ein Grammophon, und auf einer Kiste, die mysteriös bemalt war, thronte Buddha.
Das sei sein Hausaltar, meinte der Radierer. Sein Gott sei nämlich nicht gekreuzigt worden, sondern hätte nur ständig seinen Nabel betrachtet, er persönlich sei nämlich Buddhist. Auch er persönlich würde regelmäßig meditieren, zur vorgeschriebenen Zeit die vorschriftsmäßigen Gebete und Gebärden verrichten, und wenn er seiner Eingebung folgen dürfte, würde er die Madonna mit sechs Armen, hundertzwanzig Zehen, achtzehn Brüsten und sechs Augen malen. Er persönlich verachte nämlich die Spießbürger, weil sie nichts für die wahre Kunst übrig hätten.
Aber manchmal träumte er von seiner Mutter, einer rundlichen Frau mit guten, großen Augen und fettigem Haar. Es war alles so schön zu Haus gewesen, es ist gut gekocht und gern gegessen worden, und heute schien es ihm, als hätten auch seine Eltern an das Christkind geglaubt und an den Weihnachtsmann. Und manchmal mußte er denken, ob er nicht auch lieber ein Spießbürger geworden wäre mit einem Kind und einer rundlichen Frau.
Dieser Gedanke drohte ihn zu erschlagen, besonders, wenn er allein im Atelier saß. Dann sprach er laut mit sich selbst, nur um nichts denken zu müssen. Oder er ließ das Grammophon singen, rezitierte Rainer Maria Rilke, und manchmal schrieb er sich sogar selbst Nachrichten auf den Zettel mit der Überschrift:
Raum für Mitteilungen, |
Er haßte die Stille.
Etwas in seinem Wesen erinnerte an seinen verstorbenen Onkel Eugen Meinzinger. Der sammelte Spitzen, hatte lange schmale Ohren und saß oft stundenlang auf Kinderspielplätzen. Er starb bereits 1908 nach einem fürchterlichen Todeskampfe. Zehn Stunden lang röchelte er, redete wirres Zeug und brüllte immer wieder los: »Lüge! Lüge! Ich kenn kein kleines Mizzilein, ich hab nie Bonbons bei mir, ich hab kein kleines Mizzilein in den Kanal gestoßen, Mizzilein ist von selbst ertrunken, allein! Allein! Ich hab ja nur an den Wädelchen getätschelt, den Kniekehlchen! Meine Herren, ich hab nie Bonbons bei mir!« Und dann schlug er wild um sich und heulte: »Auf dem Diwan sitzt der Satan! Auf dem Diwan sitzt noch ein Satan!« Dann wimmerte er, eine Straßenbahn überfahre ihn mit Rädern wie Rasiermesser. Und seine letzten Worte lauteten: »Es ist strengstens verboten, mit dem Wagenführer zu sprechen!« –
Und Anna betrachtete Buddhas Nabel und dachte, das wäre doch bloß ein Schmerbauch. Dann trat sie hinter die spanische Wand. »Ziehen Sie sich nur ruhig aus, in Schweden badet alles ohne Trikot«, ermutigte sie der Buddhist, jedoch sie fand es höchst überflüssig, daß er sich verpflichtet fühlte, ihr durch derartige Bemerkungen das Entkleiden zu erleichtern, denn sie hatte schon seit vorigem Frühjahr nichts dagegen, daß man sie ansah. Der Kastner hatte ihr mal eine Broschüre über den Geist der Antike aufgenötigt, und da stand drinnen, daß das Schamgefühl nur eine schamlose Erfindung des Christentums wäre.
Der Buddhist ging auf und ab. »Wir alle opfern auf dem Altare der Kunst«, meinte er so nebenbei, und das hatte zur Folge, daß sich Anna wieder mal über diese ganze Kunst ärgerte. Denn zum Beispiel: Wie gut haben es doch die Bilder in den Museen! Sie wohnen vornehm, frieren nicht, müssen weder essen noch arbeiten, hängen nur an der Wand und werden bestaunt, als hätten sie Gott weiß was geleistet!
»Ich freu mich nur, daß Sie kein Berufsmodell sind!« vernahm sie wieder des Buddhisten Stimme. »Ich hasse nämlich das Schema, ich bin krassester Individualist, hinter mir steht keine Masse, auch ich gehöre zu jener ›unsichtbaren Loge‹ wahrer Geister, die sich über ihre Zeit erhoben haben und über die gestern in den ›Neuesten‹ ein fabelhaftes Feuilleton stand!« So verdammte er den Kollektivismus, während Anna sich auszog.
Aber am meisten ärgerte sie sich über die Glyptothek, in der die Leute alte Steintrümmer anglotzen, so andächtig, als stünden sie vor der Auslage eines Delikatessengeschäftes.
Einmal war sie in der Glyptothek, denn es hat sehr geregnet, und sie ging gerade über den Königsplatz. Drinnen führte einer mit einer Dienstmütze eine Gruppe von Saal zu Saal, und vor einer Figur sagte er, das sei die Göttin der Liebe. Die Göttin der Liebe hatte weder Arme noch Beine. Auch der Kopf fehlte, und sie mußte direkt lächeln, und einer aus der Gruppe lächelte auch und löste sich von der Gruppe und näherte sich ihr. Er sagte, die Kunst der alten Griechen sei unnachahmbar, und er fragte sie, ob sie mit ihm am Nachmittag ins Kino gehen wolle, und sie trafen sich dann auf dem Sendlinger-Tor-Platz. Er kaufte zwei Logenplätze, aber da es ein nasser und kalter Sonntag war, war keine Loge ganz leer, und das verstimmte ihn, und er sagte, hätte er das geahnt, hätte er zweites Parkett gekauft, nämlich er sei sehr kurzsichtig. Und er wurde ganz melancholisch und meinte, wer weiß, wann sie sich wiedersehen würden, er sei nämlich aus Augsburg und müsse gleich nach der Vorstellung wieder nach Augsburg fahren, und eigentlich liebe er das Kino gar nicht, und die Logenplätze wären verrückt teuer. Hernach begleitete ihn Anna an die Bahn, er besorgte ihr noch eine Bahnsteigkarte und weinte fast, als sie sich trennten, und sagte: »Fräulein, ich bin verflucht. Ich hab mit zwanzig Jahren geheiratet, jetzt bin ich vierzig, meine drei Söhne zwanzig, neunzehn und achtzehn und meine Frau sechsundfünfzig. Ich war immer Idealist. Fräulein, Sie werden noch an mich denken. Ich bin Kaufmann. Ich hab Talent zum Bildhauer.«
Aber das Schicksal wollte es nicht haben, daß sie heute Modell steht, es hatte etwas anderes mit ihr vor. Nämlich unerwartet bekam der Buddhist Besuch, und der gehörte zu jenen besseren Kreisen, auf die sie der Kastner mit den Worten aufmerksam gemacht hatte: »Ich verlange zwar keineswegs, daß du dich prostituierst!«
Sie war erst halb ausgezogen hinter der spanischen Wand, als ein junger Herr elastisch das Atelier betrat. Er hieß Harry Priegler und war ein durchtrainierter Sportsmann.
Als einziger Sohn eines reichen Schweinemetzgers und dank der Affenliebe seiner Mutter, einer klassenbewußten Beamtentochter, die es sich selbst bei der silbernen Hochzeit noch nicht völlig verziehen hatte, einen Schweinemetzger geheiratet zu haben, konnte er seine gesunden Muskeln, Nerven und Eingeweide derart rücksichtslos pflegen, daß er bereits mit sechzehn Jahren als eine Hoffnung des deutschen Eishockeysportes galt. Und er enttäuschte die Hoffenden nicht. Allgemein beliebt, wurde er gar bald der berühmteste linke Stürmer, und seine wuchtigen Schüsse auf das Tor, besonders die elegant und unhaltbar placierten Fernschüsse aus dem Hinterhalt, errangen internationale Bedeutung. Und was er auch immer vertrat, immer kämpfte er überaus fair. Nie kam es vor, daß er sich ein »Foul« zuschulden kommen ließ, denn infolge seiner raffinierten Technik und seiner überragenden Geschwindigkeit hatte er dies nicht nötig.
Für Kunst hatte er kaum was übrig. Zwar ließ er sich sein Lexikon prunkvoll einbinden, denn das sei schöner als die schönste Tapete oder Waffen an der Wand. Auch las er gern Titel und Kapitelüberschriften, aber am liebsten vertiefte er sich in Zitate auf Abreißkalendern. Trotzdem fand ihn der Buddhist nicht unsympathisch, denn unter anderem ließ er ihn oft in seinem Auto fahren, und das war ein rassiger Sportwagen. –
Jetzt unterhielten sich die beiden Herren sehr leise. Nämlich dem Buddhisten wäre es peinlich gewesen, wenn Anna erfahren hätte, daß er dem Harry vierzig Reichsmark schuldet, da er etwas auf sich hielt.
»Sicher fährt sie mit!« meinte er und betonte dies »sicher« so überzeugt, daß es Anna hören mußte, obwohl sie nicht horchte.
Nun wurde sie aber neugierig, denn sie liebte das Wort »vielleicht«. Scheinbar interessiert blätterte sie in den Briefen van Goghs und hörte, wie Harry von zwei Herren sprach, die ihm anläßlich seines grandiosen Spieles in der Schweiz persönlich gratulieren wollten. Als sie ihm aber ihre Aufwartung machten, da stahlen sie ihm aus seiner Briefmarkensammlung den »schwarzen Einser« und den »sächsischen Dreier«. Einer dieser Herren habe sich hernach an eine lebensfreudige Baronin attachiert, doch der Baron sei unerwartet nach Hause gekommen und habe nur gesagt: »Pardon!« Und dann habe er sich in der gleichen Nacht auf dem Grabe seiner Mutter erschossen. Und Harry meinte, er verstünde es nicht, wie man sich aus Liebe erschießen könnte. Und auch Anna schien dies schleierhaft. Sie dachte, was wäre das doch für eine Überspanntheit, wenn sie sich jetzt auf dem Grabe ihrer Mutter erschießen würde. Zwar hätte sie mal mit diesem Gedanken gespielt, zur Zeit ihrer einzigen großen Liebe, seinerzeit, da sie mit dem Brunner ging – aber heute kommt ihr das direkt komisch vor. Aus Liebe tun sich ja heut nur noch die Kinder was an!
Erst heute begreift sie ihren Brunner, der da sagte, daß wenn zwei sich gefallen, so kommen die zwei halt zusammen, aber das Geschwätz von der Seele in der Liebe, das sei bloß eine Erfindung jener Herrschaften, die wo nichts zu tun hätten, als ihren nackten Nabel zu betrachten. Und in diesem Sinne wäre es auch lediglich bloß eine Gefühlsroheit, wenn irgendeine Anna außer seiner Liebe auch noch seine Seele verlangen täte, denn so eine tiefere Liebe endete bekanntlich immer mit Schmerzen, und warum sollte er sich sein Leben noch mehr verschmerzen. Er wolle ja keine Familie gründen, dann allerdings müßte er schon ein besonderes Gefühl aufbringen, denn immer mit demselben Menschen zusammen zu leben, da gehöre schon was Besonderes dazu. Aber er wolle ja gar keine Kinder, es liefen schon eh zuviel herum, wo wir doch unsere Kolonien verloren hätten. –
Als Anna Harry vorgestellt wurde, sagte er: »Angenehm!« Und zum Buddhisten: »Verzeih, wenn ich wieder mal störe!« »Oh, bitte!« unterbrach ihn dieser höflich. »Für heut sind wir soweit! Ziehen Sie sich nur wieder an, Fräulein!«
Anna fürchtete bereits, von Harry nicht aufgefordert zu werden, und so sagte sie fast zu früh »ja« und überraschte sich dabei, daß ihr seine Krawatte gefiel. Harry hatte sie nämlich gefragt: »Fräulein, Sie wollen doch mit mir kommen – nur an den Starnberger See –«
Unten stand sein Sportwagen, und der war wirklich wunderbar. Und dann ging's dahin ...
Nach einer knappen Stunde kam der Herr Kastner ins Atelier, wie er es gestern ausgemacht hatte – aber da der Buddhist dem Harry Priegler unter anderm vierzig Reichsmark schuldete, hätte er also unverzeihbar töricht gehandelt, wenn er seinem Gläubiger betreffs irgendeiner Anna nicht entgegengekommen wäre, nur um irgendeinem Kastner sein Versprechen halten zu können.
Der Kastner war ein korrekter Kaufmann und übersah auch sofort die Situation. Alles sah er ein und meinte nur: »Du hast wieder mal dein Ehrenwort gebrochen.« Aber dies sollte nur eine Feststellung sein, beileibe kein Vorwurf, denn der Kastner konnte großzügig werden, besonders an manchen Tagen.
An solchen Tagen wachte er meistens mit einem eigentümlichen Gefühl hinter der Stirne auf. Es tat nicht weh, ja, es war gar nicht so häßlich, es war eigentlich nichts.
Das einzig Unangenehme dabei war ein gewisser Luftzug, als stünde ein Ventilator über ihm. Das waren die Flügel der Verblödung. –
»Ich hab extra einen Prunelle mitgebracht«, sagte er und lächelte resigniert. »Es wär sehr leicht gegangen mit deinem Grammophon, sie war ja ganz gerührt, daß ich ihr das hier beschafft hab, und sie hat eine feine Haut« – so saß er da und stierte auf einen Fettfleck an der spanischen Wand.
Dieser Fettfleck erinnerte ihn an einen anderen Fettfleck. Dieser andere Fettfleck ging eines Tages in der Schellingstraße spazieren und begegnete einem dritten Fettfleck, den er lange, lange Zeit nicht gesehen hatte, so daß diese einst so innig befreundeten Fettflecke fremd aneinander vorbeigegangen wären, wenn nicht plötzlich ein vierter Fettfleck erschienen wäre, der ein außerordentliches Personengedächtnis besaß. »Hallo!« rief der vierte Fettfleck. »Ihr kennt euch doch, wir wollen jetzt einen Prunelle trinken, aber nicht hier, hier zieht es nämlich, als stünde ein Ventilator über uns!«
Heut sprach der Kastner nicht gewählt, und auch auf seine Dialektik war er nicht stolz. »Heut hab ich direkt wieder gehinkt«, murmelte er vor sich hin, und die Sonne sank immer tiefer.
Es war sehr still im Atelier, und plötzlich meinte der Buddhist:
»Die Einsamkeit ist wie ein Regen,
sie steigt vom Meer den Abenden entgegen,
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat,
und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig voneinander lassen
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:
Dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen –«
»Das sind bulgarische Zigaretten«, antwortete der Kastner und sah seinen Fettfleck vertraulich an. »Bulgarien ist ein fruchtbares Land, ein Königreich. Das hier ist nicht der echte Tabak, denn die Steuern sind zu hoch, wir haben eben den Feldzug verloren. Es war umsonst. Wir haben umsonst verloren.« – So trank er seinen Prunelle, und es dauerte nicht lange, da war er einverstanden. Eine fast fromme Ergebenheit erfüllte seine Seele, und es fiel ihm gar nicht auf, daß er zufrieden war. Er kam sich vor wie ein gutes Gespenst, das sich über seine eigene Harmlosigkeit noch niemals geärgert hatte.
Selbst da der Prunelle alle wurde, war er sich nicht bös.
Als der Kastner den Fettfleck begrüßte, erblickte Anna den Starnberger See.
Die Stadt mit ihren grauen Häusern war verschwunden, als hätte sie nie in ihr gewohnt, und Villen tauchten auf, rechts und links und überall, mit Rosen und großen Hunden.
Der Nachmittag war wunderbar, und Anna fuhr durch eine aufregende fremde Welt, denn es ist ein großer Unterschied zwischen einem Soziussitz und einem wunderbaren Sportwagen. Sie hatte die Füße hübsch artig nebeneinander und den Kopf etwas nach hinten gezogen, denn auch der Wind war wunderbar, und sie schien kleiner geworden vor soviel Wunderbarem.
Harry war ein blendender Herrenfahrer.
Er überholte einfach alles und nahm die Kurven, wie sie kamen. Ausnahmsweise sprach er nicht über das Eishockey, sondern beleuchtete Verkehrsprobleme. So erklärte er ihr, daß für jedes Kraftfahrzeugunglück sicher irgendein Fußgänger die Schuld trägt, und darum dürfe man es einem Herrenfahrer nicht verübeln, wenn er, falls er solch einen Fußgänger überfahren hätte, einfach abblenden täte. In diesem Sinne habe er einen Freund in Berlin, und dieser Freund hätte mal mit seinem fabelhaften Wagen eine Fußgängerin überfahren, weil sie beim verbotenen Licht über die Straße gelaufen wäre. Aber trotz dieses verbotenen Lichtes sei eine Untersuchung eingeleitet worden, ja, sogar zum Prozeß sei es gekommen, wahrscheinlich weil jene Fußgängerin Landgerichtsratswitwe gewesen sei, jedoch dem Staatsanwalt wäre es vorbeigelungen, seinen Freund zur Zahlung einer Entschädigung zu verurteilen. »Es käme mir ja auf ein paar tausend Märker nicht an«, hätte der Freund gesagt, »aber ich will die Dinge prinzipiell geklärt wissen.« Sie hätten ihn freisprechen müssen, obwohl der Vorsitzende ihn noch gefragt hätte, ob ihm denn diese Fußgängerin nicht leid täte, trotz des verbotenen Lichtes. »Nein«, hätte er gesagt, »prinzipiell nicht!« Er sei eben auf seinem Recht bestanden.
Jedesmal, wenn Harry einen Benzinmotor mit dem Staatsmotor zusammenstoßen sah, durchglühte ihn revolutionäre Erbitterung. Dann haßte er diesen Staat, der die Fußgänger vor jedem Kotflügel mütterlich beschützt und die Kraftfahrer zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradiert. Überhaupt der deutsche Staat, meinte er, sollte sich lieber kümmern, daß mehr gearbeitet würde, damit wir endlich wieder mal hochkommen könnten! Fußgänger würden so und so überfahren, und nun erst recht! Da hätten unsere ehemaligen Feinde schon sehr recht, wenn sie in diesen Punkten Deutschland verleumdeten! Er könne ihre Verleumdungen nur unterschreiben, denn die wären schon sehr wahr, obwohl er durchaus vaterländisch gesinnt sei. Er kenne genau die Ansichten des Auslandes, da er mit seinem Auto jedes Frühjahr, jeden Sommer und jeden Herbst zwecks Erholung von der anstrengenden Eishockeysaison ein Stückchen Welt durchfahre.
Jetzt fuhren sie durch Possenhofen.
Hier wurde eine Kaiserin von Österreich geboren, und drüben am anderen Ufer ertrank ein König von Bayern im See. Die beiden Majestäten waren miteinander verwandt, und als junge Menschen trafen sie sich romantisch und unglücklich auf der Roseninsel zwischen Possenhofen und Schloß Berg.
Es war eine vornehme Gegend.
»Essen tun wir in Feldafing«, entschied Harry. »In Feldafing ist ein annehmbares Publikum, seit der Golfplatz draußen ist. In der Stadt kann man ja kaum mehr essen, überall sitzt so ein Bowel.« Und dann erwähnte er auch noch, früher sei er öfters nach Tutzing gefahren, das liege nur sechs Kilometer südlicher; aber jetzt könne kein anständiger Mensch mehr hin, nämlich dort stünde jetzt eine Fabrik, und überall treffe man Arbeiter.
In Feldafing sitzt man wunderbar am See.
Besonders an solch einem milden Herbstabend. Dann ist der See still, und du siehst die Alpen von Kufstein bis zur Zugspitze und kannst es oft kaum unterscheiden, ob das noch Felsen sind oder schon Wolken. Nur die Benediktenwand beherrscht deutlich den Horizont und wirkt beruhigend.
Im Seerestaurant zu Feldafing saßen lauter vornehme Menschen. Die Herren sahen Harry ähnlich, obwohl sich jeder die größte Mühe gab, anders auszusehen, und die Damen waren durchaus gepflegt, wirkten daher sehr neu, bewegten sich fein und sprachen dummes Zeug. Wenn eine aufs Klosett mußte, schien sie verstimmt zu sein, während ihr jeweiliger Herr aufatmend rasch mal heimlich in der Nase bohrte oder sonst irgendwas Unartiges tat.
Die Speisekarte war lang und breit, aber Anna konnte sie nicht entziffern, obwohl die Speisen keine französischen Namen hatten, jedoch eben ungewöhnlich vornehme. »Königinsuppe?« hörte sie des Kellners Stimme, und ihr Magen knurrte. Der Kellner hörte ihn knurren und betrachtete voll Verachtung ihren billigen Hut, nämlich das Knurren kränkte ihn, da er einen schlechten Charakter hatte. Denn die wirklich vornehmen Leute essen bekanntlich, als hätten sie es nicht nötig zu essen. Als wären sie schon derart vergeistigt, und sind doch nur satt.
Harry bestellte zwei Wiener Schnitzel mit Gurkensalat, ließ aber hernach das seine stehen, weil es ihm zu dick war, verlangte russische Eier und sagte: »Wissen Sie, Fräulein, daß ich etwas nicht ganz versteh: Wieso kommt es nur, daß ich bei Frauen soviel Glück hab? Ich hab nämlich sehr viel Glück. Können Sie sich's vorstellen, wieviel Frauen ich haben kann? Ich kann jede Frau haben, aber das ist halt nicht das richtige.«
Er blickte verträumt nach der Benediktenwand und dachte: Das beste ist, ich wart, bis es finster ist, dann fahr ich zurück und bieg in einen Seitenweg – und wenn sie nicht will, dann fliegt sie halt raus.
»Es ist halt nicht das richtige«, fuhr er laut fort. »Die Frauen sagen zwar, ich könnt hypnotisieren. Aber ob ich die Liebe find? Ob es überhaupt eine Liebe gibt? Verstehen Sie mich, was ich unter ›Liebe‹ versteh?« Es war noch immer nicht finster geworden, es dämmerte nur, und also mußte er noch ein Viertelstündchen Konversation treiben. »Zum Beispiel jene Dame dort am dritten Tisch links«, erzählte er, »die hab ich auch schon mal gehabt. Sie heißt Frau Schneider und wohnt in der Mauerkircherstraße acht. Der, mit dem sie dort sitzt, ist ihr ständiger Freund, ihr Mann ist nämlich viel in Berlin, weil er dort eine Freundin hat, der er eine Siebenzimmerwohnung eingerichtet hat. Aber als er die Wohnung auf ihren Namen überschrieben hat, entdeckte er erst, daß sie verheiratet ist und daß ihr Mann sein Geschäftsfreund ist. Diese Freundin hab ich auch schon mal gehabt, weil ich im Berliner Sportpalast Eishockey gespielt hab. Sie heißt Lotte Böhmer und wohnt in der Meineckestraße vierzehn. Und dort rechts die Dame mit dem Barsoi, das ist die Schwester einer Frau, deren Mutter sich in mich verliebt hat. Eine fürchterliche Kuh ist die Alte, sie heißt Weber und wohnt in der Franz-Josef-Straße, die Nummer hab ich vergessen. Die hat immer zu mir gesagt: ›Harry, Sie sind kein Frauenkenner, Sie sind halt noch zu jung, sonst würden Sie sich ganz anders benehmen, Sie stoßen mich ja direkt von sich, ich hab schon mit meinem Mann soviel durchzumachen gehabt, Sie sind eben kein Psychologe.‹ Aber ich bin ein Psychologe, weil ich sie ja gerade von mir stoßen wollte. Und hinter Ihnen – schauen Sie sich nicht um! – sitzt eine große Blondine, eine auffallende Erscheinung, die hab ich auch mal von mir gestoßen, weil sie mich im Training gehindert hat. Sie heißt Else Hartmann und wohnt in der Fürstenstraße zwölf. Ihr Mann ist ein ehemaliger Artilleriehauptmann. Mit einem anderen ehemaligen Artilleriehauptmann bin ich sehr befreundet, und der ist mal zu mir gekommen und hat gesagt: ›Hand aufs Herz, lieber Harry! Ist es wahr, daß du mich mit meiner Frau betrügst?‹ Ich hab gesagt: ›Hand aufs Herz! Es ist wahr!‹ Ich hab schon gedacht, er will sich mit mir duellieren, aber er hat nur gesagt: ›Ich danke dir, lieber Harry!‹ Und dann hat er mir auseinandergesetzt, daß ich ja nichts dafür könnt, denn er wüßt es genau, daß der Mann nur der scheinbar aktive, aber eigentlich passive, während die Frau der scheinbar passive, aber eigentlich aktive Teil wäre. Das war schon immer so, hat er gesagt, zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Er ist ein großer Psychologe und schreibt jetzt einen Roman, denn er kann auch schriftstellerisch was. Er heißt Albert von Reisinger und wohnt in der Amalienstraße bei der Gabelsbergerstraße.«
»Zahlen!« rief Harry, denn nun wurd es Nacht.
Im Forstenrieder Park bog Harry in einen Seitenweg, hielt scharf und starrte regungslos vor sich hin, als suchte er einen großen Gedanken, den er verloren hatte.
Anna wußte, was nun kommen würde, trotzdem fragte sie, ob etwas los wäre. Aber er schwieg sich noch eine Weile aus. Dann sah er sie langsam an und sagte, sie hätte schöne Beine. Er war jedoch gar nicht erregt, und jetzt mußte er sich schneuzen. Das benutzte sie, um ihm zu sagen, daß sie spätestens um neun in der Schellingstraße sein müsse, worauf er sie fragte, ob sie denn nicht fühle, daß er sie haben wolle. »Nein«, sagte sie, »fühlen tu ich das nicht.« »Ist das aber traurig!« meinte er und lächelte scharmant.
Die Septembernacht war stimmungsvoll, und Harry fühlte sich direkt verpflichtet, Anna zu besitzen, denn sonst hätte er sich übervorteilt gefühlt, da sie nun mal in seinem Sportwagen saß und weil er ihr Wiener Schnitzel mit Gurkensalat bestellt hatte, obwohl er es ja bereits in Feldafing bemerkt hatte, daß sie ihn niemals besonders aufregen könnte. So kam alles, wie es kommen sollte, und Anna sah sich ängstlich um. Ob sie denn etwas gehört hätte, fragte er. »Ja«, sagte sie, »es war nichts.« Also näherte er sich ihr, und zwar in einer handgreiflichen Weise. Aber so rasch sollte er nicht an sein Ziel gelangen, denn nun hörte Anna wieder jenen Herrn im Frack – »Bitte, sei doch endlich praktisch!« bat sie der Herr und streichelte sie wie ein großer Bruder. »So geht das nicht!« sagte sie plötzlich, und ihre Stimme erschien ihr seltsam verändert, als gehörte sie einer neuen Anna.
»Sondern?« fragte Harry.
»Zehn«, sagte die neue Anna, und jetzt wurd es grausam still –
»Fünf«, meinte Harry plötzlich und erhob sich energisch: »Dort drüben ist eine Bank!« Sie gingen zur Bank. Auf der Banklehne stand: Nur für Erwachsene.
Das war auf einer Lichtung, da sie zum erstenmal Geld dafür nahm. Droben standen die Sterne, und ringsum lag tief und schwarz der Wald. Sie nahm das Geld, als hätte sie nie darüber nachgedacht, daß man das nicht darf. Sie hatte wohl darüber nachgedacht, aber durch das Nachdenken wird die Ungerechtigkeit nicht anders, das Nachdenken tut nur weh. Es war ein Fünfmarkstück, und nun hatte sie keine Gefühle dabei, als wär sie schon tot.