Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Einmal stieß Thomas beim Graben auf eine schillernd blinde Scherbe. Er mußte an das alte Bild denken, das hoch über seinem Bette hing, das so geheimnisvoll erschien, weil man nicht sicher wußte, was hinter dem trüben Glase war. – Ob diese Scherbe wohl auch zu dem Haus gehörte, ob sie einst vielleicht an einem Fenster war, vor vielen hundert Jahren?! – Er hielt sie vors Auge – da lag der Garten in fahlem, halb verloschenem Licht. Unklare, dämmernde Gefühle stiegen in ihm auf. Er vergrub sie wieder, merkte sich den Platz und holte sie hervor, wenn er allein war. Dann hielt er sie wieder lange vor das Auge und blickte traumvoll in den Garten, auf das Haus. –

Während Ursula sich nicht viel um das Gärtchen kümmerte, war sie es, die an den neuen Geräten turnte, die Frau Elisabeth für Thomas hatte machen lassen. Ihm waren sie ein Greuel. Mit Abneigung sah er, wie das Erdreich aufgerissen ward und neue, gehobelte Balken hineingepflanzt wurden. Als aber jemand mit einem Beil kam und der erste Hieb gegen einen Baum erklang, lief er hinauf zu seiner Mutter. – »Dann kannst du keine Schaukel haben.« – Er sagte heftig, daß er keine Schaukel wolle.

Ursula, die schon das Turnen aus der Schule kannte, ließ sich genau nach ihren Angaben ein dunkles Trikotkostüm schneidern, mit Knabenhosen, die bis herab zu den Knöcheln schlossen. Überraschend war es, sie nun turnen zu sehen. Ihre Glieder, nicht ungelenk, aber sonst nur durch ihre Eckigkeit auffallend, waren schön in ihrer bewegten Gesamtheit; sie selbst nicht mehr ein Mensch, der auf der Erde geht, sondern ein Wesen unnennbaren Geschlechts, das da plötzlich, niemand weiß woher, sich ohne Flügel niederließ auf eine schwanke Stange, in sonderbaren Bogen schwingt, fast seelenlos erscheint in seiner Beweglichkeit und im nächsten Augenblick vielleicht in nichts zerknallen wird. Ihr Körper war wie gefühllos; ihre Augen sahen überhaupt nichts mehr und waren wie aus Glas. – Plötzlich, wenn es gar niemand mehr vermutete, sprang sie herab, strich sich die heißen Locken aus der Stirn und sagte mit trockener, mürrischer Stimme, sie sei müde. – Stricke und Stangen gab es auch, an denen sie emporklomm wie ein Matrose. Oben angelangt, schwang sie sich auf den schmalen Balken, richtete sich gerade auf und lief, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, mit schnellen und ganz kleinen Schritten, die Arme waagrecht ausgebreitet, bis zu dem äußersten Ende, kauerte sich nieder, ließ sich scheinbar in die Tiefe fallen, erwischte aber in der Luft ein anderes Tau, und ihre Bewegungen glichen nun denen der Spinne, die sich am eigenen Faden schnell zur Erde läßt. – Thomas bestaunte sie; die Turngeräte selbst aber sah er nach wie vor mit innerem Groll an, diese Vorrichtungen, wie sie der Zimmermann genannt hatte, ein Wort, das ihm unsagbar schrecklich klang. Anspruchsvoll und zudringlich erhob sich das Reck, und der Barren mit seinen vier kurzen Beinen starrte wie ein dummes Tier. Unwillkürlich stellte er sich vor, wie er plötzlich in schnellem Trabe durch den Garten stelzte. Da mochte er ihn beinah lieber.

Zuweilen wenn er allein war, kletterte er auf der Leiter bis zu dem waagrechten Balken, auf dem er aber nicht zu gehen sich getraute. Halb lag, halb saß er auf ihm und sah in die Tiefe. Fremd und ungewohnt war es hier oben, anders als auf seinem Baumplatz, obgleich der viel höher war. Und doch schien die Erde hier viel tiefer unten zu liegen, und die Luft dazwischen war wie Glas. Und je länger er auf sie niedersah, um so stärker schien ihn irgend etwas zu ihr herabzuziehen. Er bog den Oberkörper vor, ein sanfter Schauer durchrieselte ihn, schön und schrecklich zugleich, und eine unsichtbare kühle Hand strich hoch über ihn hinweg. Es erfaßte ihn eine plötzliche Angst, eilig kletterte er herab, und dann war es jedesmal, als stände jemand unten und reiche ihm die Hand. –

So lebte er träumerisch dahin und wuchs aus einer Jahreszeit in die andere. Mit dem Schwinden jeder einzelnen fühlte er dunkel die langsamen Enttäuschungen des Lebens. Und doch hing er wieder an jeder Jahreszeit für sich, dann, wenn sie sich nicht mehr ableugnen ließ, wenn die schlimmen, trostlosen Übergänge vorüber waren und das Haus, der Garten unerschütterlich und sicher dastanden in ihrer veränderten Gestalt, die ihm bald zur gewohnten wurde. Und doch war ihm zuweilen dumpf zumute, als führe er ein fremdes Leben. So war es im Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen fielen, die kalten Winde rauschten, wenn er große Haufen Laubes zusammenkehrte, die unter seinem Besen klapperten. Lange Vogelzüge strichen hoch am klaren Himmel hin, und mitten in seiner scheinbaren Lustigkeit ward er plötzlich ernst; und wenn im Winter Haus und Garten ewig weiß gefärbt dalagen und die schwarzen Raben sich krächzend auf den kahlen Wipfeln wiegten, wenn der Tag sich nicht mehr hellte und ewig ein schwarzes Dunkel unter den verschneiten Dachrinnen lag, wenn aus dem verhängten Himmel tage- und tagelang lautlos die Flocken fielen – dann war ihm oft zum Weinen traurig. Und doch lag in dieser Stimmung etwas, daß er wünschte, es möchte noch düsterer werden, die Schneemassen noch höher und alles noch entsetzlicher. Unbeweglich saß er im hintersten Winkel des Wohnzimmers auf dem Torfkasten und sah zu, wie in dem Ofen die dicken glühenden Funken in die Asche fielen, wie sie allmählich von innen her schwarz zu werden schienen und unerbittlich verglommen.

Weihnachten lag in dieser Zeit, eine warme Insel, ein geheimnisvolles Schloß auf hohem Berge, ein Ziel, das man lange, lange vor sich sieht, zu dem man, absteigend, lange zurückblickt. Oft sah Thomas sinnend empor zur Spitze des dickichtdunklen, hohen Tannenbaumes, der fast die Decke des Saales erreichte, auf jene schimmernde Gestalt, die ihn mit Sehnsucht füllte. Und das Gefühl des Alleinseins legte sich deutlicher auf ihn.

Mit der Jahreswende schien eine andere Stimmung in die Welt zu kommen. Zwar war es noch immer kalt und düster, aber man hatte doch nun das Bewußtsein, daß es wieder warm wurde. – Das »Jahr« erschien ihm wie ein Gang mit vielen Zimmern, die die Monate waren, und er dachte dabei an den ihm bekannten langen Gang im eigenen Hause. Die Sommermonate waren die Stuben, die die meiste Sonne hatten, und die Wintermonate die dunklen, die teilweise nach Norden lagen und die er sich dann unwillkürlich ohne Gardinen vorstellte. – Schrecklich aber war der eigentliche Übergang vom alten zum neuen Jahre, trostlos der erste Januar: Die Wintertage hatten doch bis dahin wenigstens dem Jahr gehört, in dem es einen Sommer und einen Frühling gab, ähnlich einem Tage, der nach Glanz und Wärme in den Abendstunden kühl und kalt wird, aber dessen schöne Stunden doch noch nachwirken in der Erinnerung und ein heimliches Gefühl von Warmsein hinterlassen; aber nun war es mit einem Male, als käme man aus seinem Bett und solle sich in eiskalte neue Wäsche kleiden. – Das neue Jahr begann eigentlich zweimal: Des Nachts, wo man es nur glaubte, und des Morgens, wo man es wirklich fühlte. Dieser Neujahrstag schien der stillste und schrecklichste des ganzen Jahres. Die Läden waren geschlossen, die Menschen auf den Straßen, in winterliche Kleidung gepackt, mit schwarzen Gesangbüchern in den Händen, zogen still den Weg zur Kirche, und trafen sie mit anderen zusammen, so gab es plötzlich Händeschütteln und laute Begrüßung. Die Welt erschien ganz leer und wie gespenstisch. – Aber bald söhnte er sich aus mit dem neuen Jahr, das er widerwillig über sich ergehen ließ und als einen Feind des alten empfand. Mit langsamen Schritten ging es nun in eine bessere Zeit hinein. Zwar gab es noch immer viele bittere Enttäuschungen, wenn auf die ersten lauen Sonnentage wieder strenge Kälte folgte, aber man wußte doch die schöne Zukunft. Der Schlaf, in den das Haus, der Garten versenkt war, löste sich, die Dächer tropften und funkelten in der Sonne, das starre Weiß verschwand, die letzten Schneeflocken zerschmolzen, dunkel und neu erschien das Erdreich. – Und brach erst der März an, so fühlte Thomas sich gesichert. Täglich lief er nun in den aufgeweichten Garten, sah die jungen Knospen an den Bäumen größer werden, und endlich brach er das erste Veilchen.

Dann kamen die Frühlingsstürme. Schneeweiße Wolken jagten über den blauen Himmel, Regengüsse wechselten mit Sonnenschein, breite Licht- und Schattenmassen liefen über die Dächer des Hauses. Der Schall des Wächterhornes, das droben auf dem Turm die Viertelstunden ansagte, ward dann kaum gehört; denn dort oben war noch mehr Wind als hier unten. Klar und beinah schwarz ragte das alte Steinwerk in den Himmel. – Thomas wußte eine Stelle des Hauses, von dort konnte man durch den Turm hindurchsehen. In seiner unteren Höhe war ein ungeheures, kunstvoll durchbrochenes Rund, hinter dem das Innere ganz schwarz erschien. Dieser Turm war sehr geheimnisvoll; einmal wegen des Durchblickes, den man nur von einer einzigen Stelle des Hauses aus gewahrte und von der nur Thomas wußte; dann aber auch wegen der Horntöne, die von seiner Höhe kamen, so kurz, daß sie oft nur wie ein Punkt klangen. An diese Töne war er von allerfrühester Kindheit an gewöhnt. Sie waren ihm so selbstverständlich, daß er gar nicht darüber nachdachte, wie sie entstanden. Einmal aber blickte er, in Nachdenken versunken, zum Turm hinauf, und da sah er, wie gerade jene Stelle, die er betrachtete, lebendig wurde: Ein ganz kleines Fensterchen schien sich zu öffnen, etwas Winziges Bewegtes erschien darin, der bekannte Ruf ertönte, und dann war alles schnell wieder genau wie vorher.

Zuweilen aber wurden diese Töne unheimlich und langgezogen, stetig wiederholt und drohend; und dann wußte man: Es war Feuer in der Stadt. Nachts streckte sich dazu noch eine Fackel waagrecht in das Dunkel, die Richtung weisend.

Gewöhnlich aber glomm, wenn er zu Bette ging, dort oben nur ein Funke, und von dem Turme selbst sah man fast nichts. Dann malte er sich aus, wie heimlich dem Türmer zumute sein müsse in dem Raume, den er sich nicht größer vorstellte als einen großen runden Tisch, und wie er die dicke kleine Tür verriegelt habe gegen die Gespenster, die von der Treppe aus zu ihm herein wollten. Ursula meinte, wenn es überhaupt Gespenster gäbe, so könnten sie doch einfach zu ihm hereingeflogen kommen, wenn er das Fenster öffnete zum Blasen. Thomas war darüber sehr erstaunt, denn bislang hatte er stets geglaubt, Gespenster gäbe es überhaupt nicht im Freien. – Und wenn nun in schweren Frühlingsnächten der Himmel krachte, dann schlich er sich erwacht, zum Fenster, hob den Vorhang und sah hinauf zum trüben Lichtchen in der Finsternis, bis sie sich blendend hellte und der Turm für einen Augenblick traumhaft und wirklich als ein riesiger Schatten ragte. Aber ehe er die flatternden Gespenster in der Höhe sehen konnte, lag schon wieder schwarzes Dunkel vor seinen Augen, daß er auch das Licht nicht mehr erkannte – bis es mählich wieder aus dem Nichts zu glühen begann. Und am nächsten Morgen, wenn der Himmel wieder blau und leuchtend über dem glühenden Garten lag, und der alte Turm so zuversichtlich fest und sicher stand wie immer, dann erschien ihm sein ganzes Nachterlebnis wie ein Traum. –

Die Kirschen reiften, und der Flieder blühte, die Fenster des Hauses waren weit geöffnet, warme Düfte schlugen in die Zimmer. Der Juni war gekommen, er war es, den Thomas ersehnte. In einem alten Kalender hatte er ihn dargestellt gesehen als einen Knaben, der ihm mit lieblichem Gesicht die schönsten Blumen bot.


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