Friedrich Huch
Mao
Friedrich Huch

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Die drei Knaben schritten über den Rasen, die beiden Freunde schweigsam, der Vetter eine Geschichte erzählend, in der er selbst die Hauptrolle spielte. Alexander hatte eine kühle Miene angenommen und streifte Thomas mit einem Blick, der ihm bis in die Fingerspitzen niederrann. – »Wir wollen Verstecken spielen«, sagte Thomas, plötzlich stehenbleibend, »ich weiß Plätze, die findet niemand.« – Er erreichte mehr, als er wünschte. Der Vetter wollte wetten, daß er alles fände, mußte sich ins Gartenhaus zurückziehen, zog seine Uhr hervor, deren Kette über seiner Männerweste prangte, und sagte wichtig: »Nach drei Minuten komme ich.« – Thomas drängte sich mit Alexander durch die Strauchmassen bis an den schwarzen Lattenzaun, schlich sich, durch das dichte Grün gedeckt, den ganzen Zaun entlang, bis das Ende des Gartens erreicht war, dann tief geduckt hinter den Sträuchern an der Mauer mit den dicken Ringen hin, bis sie an einem dunklen Winkel anlangten, den das letzte, hinterste Ende des Hauses mit einem fremden Gebäude bildete, dessen fensterlose, grau und einförmig emporragende Wand fast parallel an die des Hauses stieß, so daß ein langer, hoher, schmaler und keilförmiger Gang zwischen ihnen lag, durch dessen obere, freie Seite kaum der Himmel schaute. Feucht und kalt war es hier. Thomas schritt hastig in den Gang, den Blick auf den Boden geheftet, bückte sich und hob an einem Ring mit Mühe eine Falltür. Sie war lange verschlossen gewesen, Käfer und Würmer regten sich in Menge. Eine steile, schmale Steintreppe gähnte in das Schwarz hinunter. – Er war schon halb hinabgestiegen und sah sich nach Alexander um, der, besorgt um seine gute Kleidung, zauderte. – »Wenn du nicht kommst, so findet er uns!« rief er halblaut, ungeduldig. Da stieg er nach, und Thomas schloß die Platte über seinem Kopf, nachdem er sich mit einen Blick nach außen überzeugt hatte, daß der Vetter nicht zu sehen war.

Finsterste Nacht umfing sie. Thomas faßte seine Hand und zog ihn vorsichtig tastend vorwärts. – Sie befanden sich in dem Grundgemäuer des Hauses; uralte Kellergewölbe, die seit undenklichen Zeiten nicht mehr benutzt wurden, lagen hier. Kein Fenster ließ einen Schein hinein; wer es nicht wußte, ahnte nichts von ihnen. – »Bück dich«, sagte Thomas leise, »es kommt ein Loch.« Wieder faßte er seine Hand; der Gang wand sich im Bogen. Dumpf klangen ihre Schritte, unwillkürlich tastete seine Hand in die Luft, als wolle sie die Decke greifen. Endlich blieb er stehen; Alexander lauschte in das Dunkel; er hörte ein ununterbrochenes leises Geräusch wie siedendes Wasser. Es waren Thomas' Finger, die die Wand abstreiften, um etwas zu finden. Er suchte nach einer fensterartigen Vertiefung. Dunkel entsann er sich, daß da ein Platz war, wo man sich setzen könne.

»Ich will wieder hinauf«, sagte Alexander. – »Warte doch«, entgegnete Thomas im Flüsterton, erschreckt durch das Geräusch; »gleich habe ich es gefunden.« Und wirklich zog er Alexander neben sich. Eine Weile saßen sie ohne Worte. Leise begann die Totenstille in Thomas' Ohr zu summen, seine offenen Augen blickten in vollkommene Nacht, mit leisem Schauer atmete er die dunstige uralte Luft. Dicht neben sich wußte er ein Wesen, dem das alles altvertraut war. Und doch – waren das nicht Träume, die er selbst ersonnen? Fühlte er nicht deutlich, daß Alexander dies alles gleichgültig, ja fast feindlich war? Daß sein Schicksal mit dem Hause nicht im mindesten zusammenhing? – Er fühlte es sehr wohl, er sah es mit seiner wachen Seele, alle Bilder und Gebilde zerronnen vor ihrem Tagesblick; aber immer wieder schlossen sich die Schatten über ihr, und in ihnen tauchte Alexanders Gestalt empor, rein und makellos.

Mehr und mehr versank er in Träumerei, es zerlöste sich sein Denken, das Bewußtsein seiner selbst ging auf in dem Raume um ihn, in den Mauern, die er fühlte und nicht sah, in dem ganzen ungeheuren Bauwerk, das träumend die Jahrhunderte vorüberziehen ließ.

Alexander wollte mehrere Male etwas sagen, aber Thomas drückte seinen Arm, und so verstummte er wieder. Endlich aber hielt er es nicht länger aus; er erhob sich und sagte, er müsse jetzt nach Hause. – Thomas tastete die Wände ab, wieder schritten sie weiter, es mußte nun bald eine Tür kommen, die nach oben führte. Aber er fand sie nicht. Nur ein einziges Mal war er hier unten gewesen. – »Ich finde sie nicht«, flüsterte er. »Findest du sie nicht?« Da besann sich Alexander, zog eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche und entzündete eins, das im selben Augenblick wieder verlosch. Wie eine Vision erschien und verschwand seine Gestalt vor Thomas' Augen. Aber das nächste brannte länger, und nun leuchtete er Thomas voran. Die Wölbungen erdämmerten finster über ihnen. – Die Fäden an den Decken sind noch schwärzer geworden, dachte Thomas, indem er zu ihnen aufsah, wie sie, herabhängend, sich leise hin und her bewegten, als sie unter ihnen hindurchschritten. Die niedrige Tür öffnete sich mit Mühe. Sie bückten sich und stiegen nun eine gewundene Steintreppe empor, bis sie an eine verschlossene Tür gelangten. In der Ferne summten Stimmen. – »Können wir nicht hinaus?« fragte Alexander besorgt. – »Nur noch einen Augenblick!« bat Thomas leise. Endlich pochte er gegen das Holz, erst sanft, dann lauter. Die Stimmen kamen näher, kleine Schritte wurden hörbar. Thomas klopfte stärker, sie entfernten sich mit Angstgeschrei. – »Es sind nur arme Leute«, sagte er, im Dunkel errötend, denn er sprach nicht gern davon. »Sie wohnen hier im letzten Flügel.« – »Nun denken die Kinder, wir wären Geister«, meinte Alexander und lachte. Ein Schritt schlurfte heran. Eine weibliche Stimme fragte, wer da sei. – Thomas nannte seinen Namen. Es mußte nun zur Köchin geschickt werden und dann zu Frau Elisabeth selbst, da man den Schlüssel nicht gleich fand. Thomas stellte sich vor, wie jemand hinüberging, nicht über den Hof, wie es das natürlichste war, sondern über den Dachboden, als seien sie hier in dem obersten Teil des Hauses. Eine Frau war es, unhörbar leise schreitend, in langem, weißem Kleide, und er ging mit ihr. Jetzt war sie dort, wo der Weg sich verengte, wo die ungefügten Schlote aus dem Boden wuchsen und nur schmalen, torartigen Durchlaß gewährten, und nun ging sie wieder weiter, und die Menschen im unteren Stockwerk wußten nichts von ihr. – Da hörte er wirkliche Schritte; ein Schlüssel fuhr mit unerbittlichem Geräusche in das Schloß, es knirschte, als werde einem lebenden Wesen der Hals abgedreht, die Tür öffnete sich, er stand im fahlen Tageslichte, das brausend, blendend auf ihn eindrang. Schweigsam schritt er mit Alexander über den Hof; als wäre es selbstverständlich, gingen sie ins Haus; und erst jetzt fiel ihm mit einem Schlage der Vetter wieder ein. Aber er war nicht einmal sonderlich erleichtert, als er hörte, der sei inzwischen mit seinen Eltern wieder fortgegangen. Ihm war traurig, leer zu Sinne, und seine gedrückte Stimmung ward noch erhöht durch einen Blick von seiner Mutter, die nur aus Rücksicht auf die Anwesenheit seines Freundes ihm Vorwürfe ersparte über seine Ungezogenheit gegen den Vetter, der doch sein Gast gewesen war. – Es war ihm auch nicht unangenehm, daß nun Ursula doch Alexander kennen lernte; ja, als sie Spiele vorschlug und einleitete, war er innerlich erleichtert, zumal er sah, wie Alexander jetzt sichtlich auftaute, über ihre Einfälle lachte und sich wohler und behaglicher zu fühlen schien als all die Zeit vorher. – Da wurde auch Thomas anders. Er nahm teil an allem und freute sich, daß sein Freund so vergnügt schien. Aber in seinem Innern war ein Riß; er fühlte sich verlassen, zurückgestoßen, und war froh, als er hinausgeschickt ward, um sich seine Hände zu reinigen. Ehe er sie ins Wasser tauchte, sah er sie lange an. – Das ist nun, dachte er, Staub, der da unten schon viele hundert Jahre gelegen hat. – Er berührte den kleinen Finger leise mit der Zungenspitze, und die starke Vorstellung ließ ihn schwindeln. – Dann sah er aufmerksam zu, wie sich das Wasser über seinen Händen blauschwarz färbte, geradeso wie das Wasser, das hinter dem langen Lattenzaun vorbeifloß. – Er trat zum Fenster und sah hinaus, nach Westen zu, über die Büsche, hinter denen ein kalter, bläulicher Himmelsstreifen leuchtete. Die Sonne war gesunken, vom Turm her tönte eine leise Glocke. Jetzt saßen die anderen vorn im Zimmer, lachten und warteten auf seine Rückkehr. Klar und unerbittlich sah Thomas die Wirklichkeit. Und trotz allem wich nicht die schimmernde Gestalt vor seiner Seele. Es war Alexander – und er war es nicht.

Grübelnd, inbrünstig grübelnd sah er in den Himmel, dessen fahles Licht verglomm. Langsamer ward der Ton der Glocke, in Zwischenräumen schlug sie mehrmals doppelt an, dann einmal noch, dann noch einmal, und endlich verhallte auch der letzte Ton.

O nur noch einmal, o nur noch ein einziges Mal! dachte er flehend, aber stumm lag der Himmel, und leise fröstelte es ihn.

Thomas und Alexander sahen sich nun öfter, es bildete sich endlich ein regelmäßiger Verkehr zwischen ihnen. Nie mehr führte Thomas ihn in den Gängen, in den Zimmern des Hauses umher; er sprach nun zu ihm wie zu jedem anderen, und Alexander, der Thomas' ganzes Wesen etwas eigentümlich fand, war mit der Änderung sehr einverstanden. Er kam gern, zumal auch Ursula meist da war und stets Interessantes wußte.

Thomas' Gefühl hatte sich in den äußersten Winkel seiner Seele zurückgezogen, anscheinend tot, in Wirklichkeit lebendiger denn je. Für ihn gab es nun zwei Alexander, den, den er kannte, und den, den seine Sehnsucht sich geschaffen hatte. Der letzte war der wirkliche, der wirkliche dagegen nebensächlich, ja eigentlich nur störend. Der Verkehr mit ihm fiel ihm schließlich nur zur Last. Unausbleiblich kam jedesmal der Augenblick, wo sich leise ein unverstandenes Mißbehagen auf ihn legte, wo Gespräch und Spiele stockten; und die Stimmung des dämmernden Sonntagabends, dem wieder eine ganze Schulwoche folgte, machte das Unglück doppelt drückend. Schließlich ward ihm Alexander geradezu die leibhaftige Verkörperung des langweiligen Sonntagnachmittags. – Hoffentlich kommt er heute nicht und holt mich! dachte er um drei Uhr. Dann läutete es schon. – Endlich weigerte er sich mitzugehen. Stillschweigend und bleich legte er sich auf das Sofa: Der gepflegte Garten, der fatale Vater, dem Alexander ähnlich sah und dem er deshalb ohnehin nicht wohlgesinnt war, die schrecklichen älteren Brüder mit den langweiligen blonden Gesichtern, bei deren Anschauen er an kalten Kalbsbraten denken mußte – die unvermeidlich um sechs Uhr vierhändig den Militärmarsch spielten, der Diener mit der Gartenspritze, die kleinen, wohlgeordneten, wohlgeglätteten Räume mit ihrem beklemmenden Geruch von gewachstem Parkettboden, die furchtbare Kaffeestunde in der Familie, ja selbst der Gesang der Drosseln, der viel ordentlicher klang als der zu Hause, und endlich der Gang über die heiße, schattenlose Straße am Nachmittag, zwischen den sonntäglich gekleideten Menschen, deren Schritte auf dem Pflaster hallten – alles dieses schwebte entsetzlich peinigend vor ihm. – Zunächst erreichte er mit seiner Weigerung nur, daß Alexander aufgefordert wurde, dazubleiben. Am nächsten Sonntag aber mußte er doch in das Haus des Kaufmanns gehen. Er griff zur Selbsthilfe und las ein Buch. Alexander nahm notgedrungen ebenfalls eines. – »Dazu braucht ihr euch nicht einzuladen«, sagten die Eltern und nahmen die Bücher weg.

Jetzt weigerte sich Thomas, den Verkehr fortzusetzen.

Frau Elisabeth hätte zwar diesen Freund für ihren Sohn nicht schwer verschmerzt, aber er war der einzige, den er überhaupt hatte, und wenn sie überdachte, wie tief und heimlich er ihn einst geliebt, so füllte sie der Gedanke mit Kummer, wie schnell und leicht diese Liebe nun verflogen war. – Sie hatte verschiedene Aussprachen mit ihm. – »Ist er nicht immer gut gegen dich? Wenn er langweilig ist, so liegt das ebensoviel an dir!« Ein andermal meinte sie, er sei launenhaft; und als Thomas, des eingebildeten Alexanders gedenkend, leise überströmend sagte: »Ich habe ihn genau so lieb wie früher, ja noch viel lieber!« erschien er ihr ganz rätselhaft, wie er trotzdem den Kopf halb hilflos, halb entschieden, schüttelte, als sie ihn aufforderte, ihn dann doch einzuladen.

So endete ihr Verkehr in Wirklichkeit. Thomas spielte wieder allein im Garten, und Frau Elisabeth sah halb mitleidig die Wohnung an, die er – scheinbar für sich allein, in Wirklichkeit aber für sich und Alexander – im tiefsten Innern der Gesträuche zimmerte, und in die er endlich die große, alte Hausglocke hing, da die altmodische Einrichtung durch einen elektrischen Apparat ersetzt ward.

Nun war Alexander fort; nichts störte mehr, mit ihm allein zu sein. Von allen irdischen Schlacken gereinigt, schimmerte sein Bild wie ehedem. Thomas fühlte ihn, wenn er im Garten war, er fühlte ihn, wenn er die hohen, düsteren Räume durchschritt, er fühlte ihn, wenn er abends mit offenen Augen in seinem Bett lag. Dies Gefühl stand um ihn als etwas Wirkliches, es verschmolz mit seinem Wesen, es durchdrang ihn ganz. Den wahren Alexander suchte er zu vergessen, sein Bild, das sich oft störend zwischen seine Gedanken schob, fortzudrängen. So wollte er ihn sehen, und so sah er ihn, wie er ihm einst im Traum erschienen war, in jenem rätselhaften Traum am Morgen seiner Genesung, als er mit schon wachen Augen ihn noch immer sah, wie er ferner und ferner schwand, durch jenes Bild hindurch, das hoch über seinem Bette hing. Oftmals sah Thomas vor dem Einschlafen zu ihm hinauf, als müsse sich sein trüber unbestimmter Schimmer verdichten, als müsse die entschwundene Gestalt durch seinen Rahmen auf ihn niederschauen. Diese Sehnsucht ward immer stärker in ihm.

So lag er eines Abends wieder. Regungslos sah er empor zu dem Bilde, auf dem ein letzter Schein der Abendröte dämmerte.

Da ward ihm wunderbar zu Sinn; er richtete sich halb im Bette empor und sah zu ihm hinauf, wie jemand, im Hellen stehend, in ein nahes Dunkel blickt, in dem es rauschte.

Plötzlich richtete er sich ganz in die Höhe, trat zum Fußende des Bettes, auf seine breite Brüstung, faßte einen Haken in der Wand, zog sich daran empor, streckte den freien Arm nach oben, ergriff das Bild und trug es hin zum Fenster.


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