Friedrich Huch
Peter Michel
Friedrich Huch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3. Kapitel

Peter stand an einem Wendepunkt seines Lebens: Er sollte die Universität beziehen. – Der Kantor sprach ihm seine Zufriedenheit über das bestandene Examen aus und schüttelte ihm derb die Hand. Dann dachte er einen Augenblick nach, fuhr in die Tasche, holte ein Zigarrenetui hervor und hielt es ihm geöffnet hin. – »Na, nimm nur eine! Sind nicht schwer! Du bist ja nun kein Kind mehr und darfst schon einmal eine Zigarre rauchen!« Peter wußte, daß den Kantor eine ausgeschlagene Freundlichkeit, wenn auch mit Grund ausgeschlagen, sehr verstimmte. So überwand er sich, nahm dankend die gebotene Gabe und versuchte, die Spitze der Zigarre abzuschneiden. Aber das Deckblatt brach und schälte sich ab. – »Ja, so mußt du es nun nicht machen!« sagte der Kantor leise unmutsvoll. »Paß mal auf: So!« Er schnitt kunstgerecht eine neue ab, setzte sie selbst in Brand und überreichte sie Peter. Dann lud er ihn ein, sich mit ihm an den Tisch zu setzen und zu plaudern. So saß der unglückliche Junge nun da und sog und sog, und die Zigarre schien in absehbarer Zeit nicht ihrem Ende entgegenzugehen. Der Kantor blies starke Wolken; mitunter auch gebaren seine Lippen dicke blaue Nebelringe, denen Peter höflich auswich, wenn sie ihn erreichten. »Nun sag mal«, begann er endlich, »Mathematik willst du studieren? Hm. Ja; ein schönes Studium! Nur wundert mich eigentlich, wie du gerade auf Mathematik geraten bist! In der Schule warst du ja wohl genügend in dem Fache, aber recht eigentlich gut doch nicht! Wie kommst du nun auf die Idee, Mathematik studieren zu wollen? Hast du dir das auch recht überlegt?« – Peter nickte. – »Soviel ich von Fachleuten weiß, ist das Studium für Begabte zwar kein übermäßig schweres, aber es erfordert eben gerade diese Begabung, und ich bin mir nicht recht klar, ob sie wirklich in dir vorhanden ist. Möchtest du nicht lieber Theologie studieren?« – »Nein, eigentlich nicht«, antwortete Peter bescheiden. – »Und zu einem anderen Fache hast du auch keine Neigung?« Peter dachte nach und fühlte plötzlich eine leise Übelkeit. – »Nein«, sagte er endlich, »eigentlich nicht.« – »Ja, also dann bleibt nur die Mathematik. Diesem Fach widmest du dich also wirklich mit Leidenschaft. Es ist der Beruf, zu dem du dich geschaffen, wirklich ›berufen‹ fühlst. Nicht wahr?« – Peter nickte ein unsicheres »Ja!« – »Na dann ist ja alles gut! Ich habe Leute gekannt, die ohne großes Talent sich der Mathematik widmeten; die ganz gut ihren Platz ausfüllten, aber die es dann auch nie weiterbrachten als bis zum Unterricht in den niedrigsten Klassen. Und solche Stellung möchte ich dir nicht wünschen; und deshalb halte ich es für meine Pflicht, mich davon zu überzeugen, ob du dich der Sache auch mit Liebe und Leidenschaft widmest.« – Peter fühlte, wie ihm übler wurde und ein leiser Schwindel seinen Kopf ergriff. – »Aber«, fuhr der Kantor fort, »ich bin meiner Sache doch nicht ganz sicher. Deine Antworten klingen alle etwas zaghaft. Ich traue dir, wie gesagt, eigentlich nicht so ungeheuer viel Talent für Mathematik zu, aber ich wüßte auch wieder kein anderes Fach, für das du besonders geschaffen wärest. Aber vielleicht irre ich mich. Ich kann es ja nicht so genau wissen wie du selbst!« Er machte eine Pause und sah Peter fragend an. Dieser hatte jetzt nur noch einen Wunsch: aus dem Zimmer herauszukommen. Gerade wollte er es bescheiden sagen, als der Kantor fortfuhr: »Aus deinem Schweigen ersehe ich, daß du dir selbst nicht klar über dich bist. Es ist ja schwer, in solch jungen Jahren einen Entschluß zu fassen, der ausschlaggebend für unsere ganze spätere Existenz sein soll – aber, lieber Gott, wie die Verhältnisse im menschlichen Leben nun einmal liegen –, bitte unterbrich mich nicht, muß man sich fügen und das Beste dabei zu gewinnen suchen. Als ich jung war, hatte ich keinen Vater, der für mich sorgte, und als es sich darum handelte, mir eine Existenz zu schaffen, da habe ich –«

Mit einem plötzlichen Ruck fuhr Peter vom Stuhle auf, riß sein Taschentuch vor den Mund und stürmte hinaus. Erstaunt sah ihm der Kantor nach. Bald darauf trat seine Frau ins Zimmer: »Aber lieber Willibald, wie konntest du dem Jungen auch solch eine schwere Zigarre geben! Er hat ja noch nie geraucht! Es ist wirklich nicht recht von dir!« – Ihr Mann sah sie mit großen Augen an. – »Ja, du lieber Gott«, polterte er endlich los, »weshalb sagt er denn das nicht gleich? Ich wollte ihm eine Freundlichkeit erweisen; und wenn er das nicht vertragen kann, so soll er es doch sagen!« – Während er sprach, bewegte er energisch den Oberkörper, zuckte mit den Achseln, und bei den letzten Worten schlug er mit den Händen auf beide Knie, worauf er seine Frau abermals anstarrte. Sie ging wieder hinaus, um nach Peter zu sehen. – Er blieb zurück, stieß ein paar Töne aus und schüttelte den Kopf; dann starrte er auf das Tischtuch, schüttelte abermals den Kopf und verließ endlich brummend und langsam das Zimmer. Er hatte Peter noch einige Ermahnungen betreffs der Weiber geben wollen und sich dieses bis zuletzt verspart. Um diese für den Jungen nützliche und ihn selbst befriedigende Predigt hatte ihn nun Peter durch seine dumme plötzliche Übelkeit gebracht.

Der Abschied von der Familie wurde Peter sehr schwer. Liesel überreichte ihm eine schöne Torte, die sie selbst gebacken hätte. – »Eigentlich hat sie nur die Rosinen in den Gossenstein geworfen!« erläuterte ihre Mutter. – »Aber ich habe sie alle wieder herausgefischt!« erwiderte sie prompt. – »Aber Liesel!« – »Wenn man sie abwäscht?!« – Peter sah sie ernsthaft an. In den letzten Jahren hatte sie sich sehr entwickelt. Ihre schwarzen, vollen Haare trug sie in einen großen, schweren Zopf gebunden. Ihre Bewegungen waren sicherer geworden, ohne an Natürlichkeit verloren zu haben. Peter liebte sie mit seiner vollen Knabenseele. Und jetzt sollte er sie verlassen. – Ohne daß er es hindern konnte, stiegen ihm die Tränen in die Augen, und seine Lippen zuckten. Die Mutter ahnte den Zusammenhang, streichelte ihn und sagte: »In den Ferien besuchst du uns später einmal, wenn es möglich ist, nicht wahr? Übrigens, Liesel, wo hast du denn das kleine Andenken, das du Peter gearbeitet hast?« Liesel spitzte die Lippen und bemühte sich, ausdrucksvoll etwas zu flüstern. Aber die Mutter verstand absolut nichts und wiederholte ihre Frage. Da ging das Liesel hinaus und kam mit einem kleinen Paketchen zurück. Aus rosa Seidenpapier wickelte sie ein Buchzeichen. Auf silbernem Grunde stand da mit grüner Seide gestickt: Pete. »Ich habe es noch nicht fertiggemacht!« sagte sie. – »Aber das ist doch unverzeihlich!« rief ihre Mutter wirklich ärgerlich; »nun geh mal gleich hin und sticke noch das r hinein; was soll denn Peter von dir denken!« Peter dankte Liesel und wagte gar nicht, ihr die Hand zu geben. – Das r wurde nun noch schnell hineingestickt und sogar ein Punkt dahinter durch ein liegendes Fadenkreuzchen angegeben. – Der Kantor hatte sich schon am frühen Morgen verabschiedet, sein Bedauern über den Vorfall des gestrigen Abends ausgedrückt und ihm noch einmal ans Herz gelegt, »erst zu wägen, dann zu wagen«.

Die Frau Kantor küßte ihn herzlich zum Abschied, und als er und Liesel sich die Hände reichten, sagte sie: »Na, ich finde, ihr beide könntet euch auch einen Abschiedskuß geben!« – Peter war wie erstarrt, aber das Liesel kam ihm ganz nah, und plötzlich spürte er etwas Warmes, Weiches auf seinen Lippen. Sie war freundlich, aber ziemlich ungerührt.

Und dann rollte der Wagen über das holprige Pflaster der Stadt. An all den bekannten Plätzen fuhr er vorbei; teilnahmslos sah er all die bekannten Leute ihren gewohnten Beschäftigungen nachgehen; und auch sie beachteten ihn nicht. Unterwegs stiegen noch andere Personen ein. Dann hörte das Rasseln auf, und man gelangte auf das freie Land. – Am liebsten hätte er seinen Tränen freien Lauf gelassen. Aber ihm gegenüber saß ein Mann mit seiner Frau und Tochter. Die Blicke der Frau ruhten fast unausgesetzt auf ihm. Sein Anzug machte ihr sehr den Eindruck der Neuheit; sie fand den gleichmäßig gesprenkelten Stoff schön. Dann wunderte sie sich über die breiten Schultern des Jungen. Die Haare, fand sie, waren zu lang; sie hingen etwas über die Ohren. Sie taxierte ihn auf sechzehn Jahre. Seine Hände waren bis an die kindlichen Gelenke bräunlichrot. Peter bemerkte, wie er beobachtet wurde, und sein Blick glitt schüchtern an sich selbst hinunter. »Sie reisen gewiß recht weit?« schrie die Dame plötzlich, indem sie sich etwas vornüber neigte. Peter hustete hastig und beeilte sich, Auskunft zu erteilen. Der Mann warf ihm einen trockenen Blick zu und starrte wieder vor sich nieder, nachdem er langsam nach unten in den Wagen gespuckt hatte. Dann schwiegen alle wieder, und Peter konnte nicht entscheiden, ob die Frau ihn ansah, oder ob sie an ihm vorbeiblickte. – Er ließ jetzt seine eigenen Augen herumwandern; sie blieben auf dem jungen Mädchen haften. Das mürrische Geschöpf tat plötzlich den Mund auf und gähnte. Er konnte ihr tief in den Rachen sehen. Sie schloß ihn aber gleich wieder und machte Augen, als sei nichts vorgefallen. Dann legte sie den Kopf zurück, um zu schlafen, und nun sah er ihr tief in die Nasenlöcher hinein. Ihre Lippen erschienen in der zurückgelehnten Stellung sehr hinaufgezogen und gaben dem Gesicht einen verdrossen-hochmütigen Ausdruck. Peter betrachtete sie nachdenklich, mit etwas gesenktem Kopf, während sein eigener Mund die tiefste Ruhelage annahm. Die Frau bemerkte es und gab ihrer Tochter einen leichten Stoß. – »So eine Hochzeit ist doch was Gräßliches!« sagte diese, aus ihrer Ruhe etwas aufgestachelt. Das war die Einleitung zu einem längeren Zwiegespräch der beiden. – »Warum machte die Liesel von dem Kantor eigentlich keine Brautjungfer?« fragte ihre Mutter. »Ich denke, die ist so befreundet mit ihr?« – »Gewesen! Soll 'ne furchtbar hochmütige Person sein. Und so'n junges Ding noch und schon verlobt!« – »So? mit wem denn?« – »Mit dem Pensionär, der bei ihnen wohnt!« – Peter war dunkelrot geworden. Er bog sich gegen das Fenster und horchte gespannt, was folgen werde. Aber die Tochter schien wieder zu gähnen, und dann sanken beide in ihr Schweigen zurück. – Also man sagte, er und Liesel seien verlobt! Er errötete noch einmal bei dem Gedanken und dachte, daß sie ihn doch recht liebhaben müsse, weil sonst die Leute so etwas nicht sagen könnten. Ein Gefühl stillen Glückes zog in seine Seele, und er versank in Träumerei.

Am nächsten Tage langte er in der Heimat an. Von fern erblickte er den alten Kirchturm im Abendrot, und ihm war, als habe er einen langen, langen Traum hinter sich. Dann sah er nicht hundert Schritte entfernt einen Mann stehen, und er erkannte seinen Vater. Dieser blickte aufmerksam zu dem Wagen hinüber; Peter sprang heraus. – »Kennst du mich denn nicht?« rief er ihm zu. »Ich bin es ja!« Da ging eine Veränderung in Herrn Michels Zügen vor, und er schloß ihn in seine Arme. Beide waren ein wenig verlegen. Ihr Gespräch stockte alsbald. Herr Michel hatte etwas Furcht vor seinem Sohn. In Peter war ein ähnliches Gefühl, noch unklarer. – »Wo ist denn Mama?« fragte er endlich. Da sagte ihm sein Vater, sie sei schon seit vier Tagen bei dem Großvater, dem es plötzlich sehr schlecht ginge. Der Bader meine, es sei Altersschwäche. Peter hörte auf jedes Wort und sah dabei gedankenvoll auf all die bekannten Wege, die sie gingen. Alles war noch da wie früher. Nur schien alles kleiner geworden. Da stand auch noch der alte, runde Stein auf seinem Fleck, auf dem er immer »König« spielte. – Im Wohnzimmer saß Fräulein Michel und überreichte ihm ein Sträußchen mit einem Verslein:

Peterlein die Blümelein
Von deiner Tante Olgalein.

Dann umarmte sie ihn heftig, sagte, sie wolle durchaus nicht stören, diesen Abend gehöre er ausschließlich den Eltern, und verschwand diskret und geschwind wie ein Wiesel. Nach dem Abendessen sagte Herr Michel zu seinem Sohne, er möchte nun einmal hinübergehen zum Großvater. Er habe die letzte Zeit viel von ihm geredet und würde sich freuen, ihn vor seinem Ende noch einmal wiederzusehen. »Warte, ich zünde dir die Laterne an!« Herr Michel bediente ihn, wo er konnte, mit einer schüchtern-zärtlichen Hochachtung.

Anfangs ging Peter etwas ängstlich, aber allmählich erinnerte er sich genau des Weges, und schließlich ging er mit unbewußter Sicherheit, jedes Steines, jeder Senkung, jeder Windung sich entsinnend. Des Großvaters Fenster war matt erleuchtet. Ein fremdes Mädchen öffnete die Tür. Im Vorplatz traf er seine Mutter. Sie begrüßten sich fast schweigend. »Er weiß, daß du da bist«, flüsterte sie, »und will dich sehen.« – Peter trat auf den Zehen ein. Ein Nachtlicht erhellte matt den Raum. Im Bett sah er einen alten Mann mit schneeweißem Bart und eingefallenem Gesicht, regungslos, mit geschlossenen Augen. »Vater!« sagte Frau Michel in leiselautem Ton. »Vater! Peter ist da!« Der alte Mann rührte sich etwas, drehte mühsam den Kopf zur Seite, faßte tastend Peters Hände und sagte abgebrochen: »Ist das Kind zurückgekommen?« Dann suchten seine Augen in der Dämmerung, traurig bewegte er den Kopf, sank in die Kissen zurück und atmete schwer. Frau Michel bedeutete Peter, hinauszugehen. Er war ganz betroffen: So hatte er sich seinen Großvater nicht vorgestellt! – Draußen sagte sie: »Er wird wohl diese Nacht verscheiden.« Dann fuhr sie sinnend fort: »Wer hätte gedacht, daß es so bald mit ihm zu Ende gehen würde!« Er ging beklommen die Treppe hinunter und verließ das Haus. Nach einer Weile drehte er sich um: da lag das Fenster nach wie vor, schweigend, ein mattes Viereck.

Als er zu Bette gehen wollte, stellte es sich heraus, daß ein solcher Fall nicht vorgesehen war. Seine Mutter hatte mit dem Großvater zuviel zu tun gehabt, um daran zu denken, und von seinem Vater war dies nicht zu erwarten gewesen. So stand denn Peter an seinem alten Kinderbett und überlegte. Herr Michel wußte keinen Rat. Peter schlug schließlich vor, er wolle sich in das Bett seiner Mutter legen, da sie ja doch die Nacht beim Großvater wache. Das fand Herr Michel dann sehr verständig. – So lagen nun beide nebeneinander, und jeder meinte den anderen glauben zu machen, er schliefe. Allmählich unterschied Peter in der Dunkelheit einige Gegenstände. Alles war ihm bekannt und kam ihm doch fremd vor. Wie seltsam war ihm zumute! Nun war er daheim, wirklich daheim. An seinen Vater hatte er oft gedacht; der war weit, weit fort von ihm; und nun wußte er ihn plötzlich neben sich, er brauchte bloß die Hand auszustrecken, so würde er ihn berühren. – Herr Michel seinerseits wagte kaum zu atmen; er hatte ähnliche Gedanken wie sein Sohn; aber eine Scheu hielt auch ihn zurück. – Den nächsten Morgen kam Frau Michel nicht. »Wie wollen wir nun Kaffee trinken?« sprach Herr Michel. Peter fragte, wo die Kaffeemühle stände; sein Vater zeigte ihm den Ort, und Peter bereitete selbst das Frühstück. Beim Mahlen dachte er an die Frau Kantor und an Liesel – und ein wehes Gefühl stieg ihm im Halse hinauf. – Nach dem Frühstück erschien Frau Michel: ihrem Vater ging es besser; er war in tiefen Schlaf verfallen. Nach Tisch machte Peter einen Spaziergang, besuchte all die alten Stellen und traf auf dem Rückweg einige junge Menschen, mit denen er die Dorfschule besucht hatte, die ihn mit Hallo erkannten und ihn sogleich fragten, ob er eine Braut habe. Wie ungebildet sie aussahen! Peter nahm unwillkürlich eine bessere Gangart an. Zu Hause erfuhr er, daß es dem Großvater wieder schlechter ging. Den Rest des Tages verbrachte er, indem er einen Brief an die Frau Kantor und an Liesel schrieb. Aber diesen zweiten zerriß er wieder und fügte dem ersten nur einen herzlichen Gruß an Liesel bei. – Den nächsten Morgen kam die Nachricht, daß der Großvater in der vergangenen Nacht gestorben sei. Es erschütterte ihn, ohne daß es ihn schmerzlich traf. Er dachte fortwährend: wie er wohl aussieht, und ob ich ihn noch einmal sehen werde? – Der Schulze nahm Frau Michel alles Geschäftliche ab. Sie hatte sich bei der Krankenpflege wirklich aufgerieben, vor allem aus Pflichtgefühl, denn er war ihr Vater und sie seine Tochter. – Am dritten Tage fand die Einsegnung des Toten statt. Peter hatte ihn nicht noch einmal gesehen; als seine Mutter ihn dazu aufgefordert, hatte er den Kopf geschüttelt und gesagt, er habe Furcht. Frau Michel begriff das nicht, ließ ihn aber gewähren, weil sie sich sagte, in solchen Dingen dürfe man niemandem hineinreden. Der Pastor zählte die Verdienste des Verstorbenen auf und sagte, sie trügen einen guten Mann hinaus. Dann wurde der Sarg hinabgesenkt in das Grab, und die Schulkinder streuten Blumen über ihn, die sie draußen auf den Wiesen gepflückt hatten. Dann sangen sie einen Choral, daß es weithin über alle Gräber schallte, während die schneeweißen Wolken oben an dem klaren Aprilhimmel dahinjagten.

Beim Leichenschmause wußte jeder eine kleine Anekdote von dem Toten zu erzählen; dann verstummte das Gespräch, weil man es erschöpft hatte, und Fräulein Michel sagte nickend und kauend und mit Tränen in den Augen: »Ja, ja, nun ist er mausetot!« – Es war unausbleiblich, daß Peter in den Mittelpunkt der Unterhaltung gerückt wurde. Er sprach mit Selbstvertrauen und Sicherheit, und was er sagte, fand man verständig und von Wissen zeugend. Frau Michel war sehr stolz auf ihn. Als man sich abends niederlegen wollte, trat die Bettfrage abermals an sie heran. Aber Frau Michel ließ als praktische Frau sogleich das Bett des Großvaters herüberschaffen, überzog es neu und legte sich selbst hinein, da Peter es nicht wollte. Als er sich entkleidete, fiel ihm der Brief an Frau Kantor in die Augen, der noch auf dem Tische lag. Er öffnete ihn wieder und schrieb darunter, daß der Großvater nun gestorben sei.

Die Michelsche Familie war nun vor pekuniären Sorgen mehr gesichert als bisher. Die Felder wurden zu Geld gemacht; was der Großvater sonst hinterließ, war nicht viel, aber fast alles ging in die Hände seiner Tochter über. Für Fräulein Michel hatte er einen Teil seiner Möbel und eine kleine Geldsumme bestimmt. Sie wollte sofort die Möbel verkaufen und mit dem Gelde in die Hauptstadt ziehen, um sich dort ein Haus zu bauen. Sie packte und nagelte alles zusammen, und erst als Frau Michel drohte, sie würde sie ins Zuchthaus sperren lassen, hörte sie erschrocken auf. Dann schlug sie vor, zu Michels zu ziehen und Peters Kammer zu übernehmen; der könne ja mit dem Großvater zusammenwohnen. Und als ihr auch das verboten wurde, sagte sie, dann wisse sie überhaupt nicht, was sie machen solle.

Eines Tages kam ein Brief des Kantors, in dem er Peter mitteilte, welche Schritte er für die Folgezeit zu tun habe; ein zweiter Brief, von seiner Frau, lag dabei, in welchem sie ihm mütterliche Ratschläge erteilte. »Das Liesel«, schrieb sie, »sehnt sich sehr nach Dir, und das verstehe ich recht wohl, denn Du warst ihr ja stets ein guter Kamerad. Den ersten Mittag kam es uns besonders einsam vor ohne Dich. Liesel schläft jetzt vorläufig in Deiner Kammer, macht aber viel mehr Lärm und Unordnung darin, als wir von Dir gewohnt waren!« Peter las das alles zweimal durch und öfter. Sie drückten ihm auch beide ihre Teilnahme aus an dem Tod des Großvaters. Ein Beileidsbillett für Frau Michel lag ebenfalls dabei. Diese bat sich den Brief des Kantors aus, und als sie den gelesen, verlangte sie auch den anderen. – Peter zögerte. – »Nun, es steht doch wohl nichts darin, was wir nicht sehen dürften!« Er errötete. – »Ich will doch nicht hoffen – ja, also willst du ihn mir nun geben oder nicht?« Und ehe Peter ihn ihr reichen konnte, riß sie ihm den Brief schon aus der Hand. Sie rückte näher an die Lampe und begann ihn langsam vorzulesen. Die Schulzenfrau, welche auf Besuch da war, spitzte die Ohren. – »Nun«, sagte sie nach dem ersten Absatz, »der Brief ist ja ganz gut geschrieben! Allerdings ist es mehr meine Sache, dir gute Ratschläge zu erteilen, aber im übrigen begreife ich nicht, weshalb ich ihn nicht lesen sollte.« Herr Michel hatte schweigend zugehört und sagte jetzt: »Sie hat dich wohl recht lieb?« – Peter fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen traten. – »Wie kann man nur so einfältig sein!« rief Frau Michel; »ich bin deine Mutter, und ich denke, ich stehe dir am nächsten, nicht wahr?« Peter faßte sich und sagte ziemlich sicher: »Ja.« Frau Michel begab sich an die Fortsetzung ihrer Lektüre und kam an die Stelle, die von Liesel handelte. »Ach so!« rief sie, plötzlich erleuchtet. »Jetzt verstehe ich, warum ich den Brief nicht lesen sollte!« – Sie kam ihm ganz nahe und sah ihm in die Augen: »Hast du da etwa eine Liebesgeschichte angezettelt? Für so anständig hatte ich die Frau wenigstens gehalten, daß sie das nicht dulden würde! Es scheint mir die höchste Zeit, daß du da fortkämest. Dir tut die elterliche Zucht not!«

Peter fühlte zum ersten Male, eine wie weite Kluft zwischen ihm und seiner Mutter lag. Sie würden sich nie verstehen. Er blickte zu seinem Vater hinüber. Der saß da, den Kopf gesenkt, die spärlichen Haare über die Stirne streichend, anscheinend im tiefsten Nachdenken. – »Nun? Antwortest du nicht?« rief Frau Michel, die ihren Sohn unausgesetzt im Auge behalten hatte. Peter sah sie unglücklich an. »So rede doch! Reden sollst du!« – »Was denn?« fragte er unsicher. – »Ja, hast du mich denn nicht verstanden?! Ich fragte dich, ob du mit dem Kantorsmädchen eine Liebesgeschichte angezettelt hast?« Peter schüttelte den Kopf und sah sie ehrlich und traurig an. – »Gott sei Dank, also das doch wenigstens nicht! Na, sieh mich nicht so trübselig an! Ich meine es doch gut mit dir. Ich bin doch deine Mutter. Und wenn ich nicht für dich sorge und denke, wer soll es dann tun? Wenn du erst einmal auf eigenen Füßen stehst, dann kannst du meinetwegen tun und lassen, was du willst. Aber bis dahin mußt du es dir schon gefallen lassen, daß ich deine Handlungen kontrolliere.« – Jetzt ergriff die Schulzenfrau das Wort und redete einiges über die Verderbtheit der großen Städte und wie es nötig wäre, wenn die Mutter ab und zu einmal ein Wort der Ermahnung spräche. »Ja, mein lieber Herr Peter, das mögen die jungen Herren nicht hören, aber Sie können sich getrost auf das Wort einer erfahrenen Frau verlassen: Ich weiß genau, wie es in der Welt zugeht. Schön sieht es in der Welt nicht aus! Und nun gar die Universitätsstädte! Was ich davon gehört habe . . .!« Frau Michel sah sie erschrocken an. – »Ja, liebe Frau Michel, ich wußte ganz genau, warum ich meinen Sohn nicht habe studieren lassen!«

Abends, als Frau Michel in ihrem Bette lag, dachte sie über das Gehörte nach. Die dunklen Andeutungen der Schulzenfrau hatten tiefen Eindruck auf sie gemacht. So schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt. Und etwas angefault schien ihr Sohn bereits zu sein. – Wenn er ihr nun als Vagabund zurückkehrte, als . . . sie wagte den Gedanken nicht auszudenken. Wäre es nicht besser, ihn bei sich zu behalten, ihn ein solides Handwerk lernen zu lassen und ihn nach ein paar Jahren zu verheiraten? Aber das viele geopferte Geld! Und er wurde dann auch nichts Besonderes, gerade wie der Schulzensohn. – Plötzlich wußte sie es klar: Aus purem Neid hatte die Schulzenfrau so auf sie eingeredet. Hintertreiben wollte sie, daß Peter mehr wurde als ihr eigener Sohn, den sie nicht hatte studieren lassen, weil er dazu zu dumm war! Frau Michel war ganz empört und schlug mit der Hand auf die Bettdecke, daß ihr Mann fragte, ob ihr etwas zugestoßen sei. Da erzählte sie ihm aufgeregt ihre Vermutung. Dann schwieg sie und wartete auf seine Antwort. Und da er nicht antwortete, sah sie im Geiste sein gedankenloses Gesicht, und mit einem irritierten Seufzer drehte sie sich auf die andere Seite. – Herr Michel hatte gerade etwas sagen wollen; aber nun war er verschüchtert und schwieg.

Über ihnen lag Peter im Bette. Auch er fand keine Ruhe. Was war es nur, das zwischen ihm und seiner Mutter stand? War das auch früher schon so gewesen? Er dachte an seine Konfirmation zurück und wie sie damals schon gereizt gegen ihn war, namentlich im Beisein der Frau Kantor. Was hatte sie nur gegen sie? War sie nicht immer treu wie eine Mutter gegen ihn gewesen, und liebte er sie nicht wie ein Sohn? Es dämmerte ihm wie in der Ferne der Gedanke auf, daß vielleicht gerade dieses seine Mutter so erbittere. Aber die Frau Kantor anderseits: hatte sie je anders als mit Freundlichkeit und Achtung von Frau Michel geredet, hatte sie nicht stets gern zugehört, wenn er von ihr erzählte, und hatte sie ihn beim Abschied nicht damit getröstet, daß er nun seine Mutter wiedersehen werde?! Hier blieb Peter in einem Dunkel. – Wie traurig alles war! Auch Fanny war nicht mehr der alte. Als er ihn des Morgens zufällig auf der Straße gesehen, war der Hund zwar gleich auf ihn zugekommen und an seinen Knien in die Höhe gesprungen, aber eigentlich mehr, um etwas von seinem Butterbrote zu bekommen, als aus Freude über das Wiedersehen. Und als ein junger Mensch ihn an sich lockte, da war er gleich gefolgt, ohne sich um Peters Pfeifen und Rufen zu kümmern. – Fanny war ein anderer geworden! – Peter war recht bekümmert und fühlte doppelt seine Einsamkeit. Plötzlich hatte er Sehnsucht nach dem Briefe. Er zündete ein Licht an und suchte ihn. Dann fiel ihm das Buchzeichen ein, und auch dieses holte er. So saß er im Nachthemde auf einem Stuhl, das Licht auf dem Schoß haltend, und las den Brief wieder durch, und dann noch einmal, und dann sah er gedankenvoll auf das Buchzeichen. Er hielt es in die Höhe: Es warf ein dunkles Schattenkreuz gegen die Decke. Er betrachtete es lange. –

Da knisterte etwas gegen sein Fenster und gleich darauf noch einmal; er öffnete und sah unten Tante Olga, wie sie im Begriff war, abermals ein Steinchen hinaufzuwerfen, so daß sie ihn fast an den Kopf getroffen hätte. – »Willst du mit mir spazierengehen?« flüsterte sie hastig. – »Jetzt?« fragte Peter ganz erstaunt. Es war tief in der Nacht. – »Ja! Jetzt sind wir allein. Willst du?« Er schüttelte den Kopf. – »Was war denn das für ein Kreuz?« fragte sie gespannt. – Peter antwortete vor Erstaunen nicht. – »So sage es doch!« rief sie unruhig. – »Ein Buchzeichen.« – »Ein gesticktes?« –, Ja!« – »Von wem?« – »Von Liesel!« – »Ach!« sagte die Tante gepreßt. »Bist du noch unschuldig?« – »Aber Tante Olga!« – »Liebst du sie? Oh, ich weiß alles!« – Sie zog ihr Taschentuch und weinte. »Nie! Nie! Nie!« rief sie plötzlich, und fort war sie – ihre Stimme verhallte im Winde.

Am andern Morgen war Frau Michel sehr freundlich gegen ihren Sohn. Sie sagte, sie habe sich am vorigen Tage übereilt, er sei ein braver Junge und würde ihr immer Freude machen. Sie sei froh, daß er nun zur Universität gehe, um etwas Tüchtiges zu lernen. Daß er Fanny mitnehmen wolle, fand sie sehr verständig: »Hier taugt er doch zu nichts; besser, wenn er stets unter Aufsicht ist. Es ist wirklich nicht mehr zum Ansehen. Seit deiner Konfirmation ist ein anderer Geist in ihn hineingefahren. Da!! Sieh nur, ist es nicht einfach furchtbar, wie das Tier aussieht?!« – Fanny, dem es gerade einmal eingefallen war, nach Hause zu gehen, kam soeben langsam und in sich gekehrt zum Zimmer hereingetrottet. Als er Frau Michels Miene sah und merkte, daß über ihn geredet wurde, wollte er lautlos wieder umdrehen, aber Frau Michel sprang auf die Tür zu, warf sie ins Schloß und rief: »Nein, nun wird einmal hiergeblieben!« Da verkroch er sich schweigend unter das Sofa. Peter holte ihn hervor, nahm ihn auf den Schoß und blickte ihm nachdenklich und traurig in die Augen. Aber Fanny hielt den Blick nicht aus; immer sah er an ihm vorbei, und als Peter ihm den Kopf festhielt, schielte er langsam zur Decke. Da ließ er ihn los, und Fanny wanderte wieder unter das Sofa.

Eine Woche später hatte Peter ein ernstes Zwiegespräch mit seiner Mutter. Sie hatte sich neben ihn gesetzt und seufzte so recht aus vollem Herzen. »Eine Sorge kommt zu der anderen«, sagte sie, die Arme verschränkend und vor sich hin sehend. »Nun gehst du zur Universität, kaum daß ich dich ein paar Wochen bei mir gehabt habe. Mein Vater ist tot, und ich habe niemand mehr, mit dem ich mich beraten könnte. Ich hatte geglaubt, er würde mehr Geld hinterlassen. Ich weiß nicht recht, wie ich durchkommen soll, wenn du nun studierst.« – »Vielleicht«, sagte Peter, »kann ich ein Stipendium bekommen.« – »Das ist Ermäßigung oder Erleichterung?« – Peter nickte. »Ja«, sagte sie; »der Herr Kantor schrieb mir auch bereits darüber; wenn das möglich wäre, so würde dies natürlich meine Sorge sehr erleichtern. Unbescholten bist du ja Gott sei Dank. – Es ist wirklich schwer«, fuhr sie nach einem Schweigen fort, »so allein auf sich angewiesen zu sein. Mit deinem Vater kann ich über nichts dergleichen reden. Du bist ja jetzt kein Kind mehr, und deshalb kann ich auch einmal freier mit dir sprechen.« – Peter blickte zu Boden. – »Neulich nacht ließ mir deine Zukunft keine Ruhe. Ich dachte über alles nach und sah eine solche Fülle von Schwierigkeiten, daß es mir den Atem fast benahm. Ich wandte mich an deinen Vater, der neben mir lag, und schüttete ihm mein Herz aus. Aber glaubst du, daß er mir auch nur mit einer Silbe geantwortet hätte? Nichts sagte er – gar nichts. Hätte er mich nicht vorher nach dem Grunde meiner äußeren Unruhe gefragt – ich wälzte mich ruhesuchend in meinem Bette –, so hätte ich geglaubt, er schliefe. Bekümmert drehte ich mich auf die andere Seite.« – Peter schaute recht nachdenklich drein. – »Siehst du«, fuhr sie fort, »was für eine schwere Stellung ich habe. Es ist notwendig, daß wir zusammenhalten!« Sie legte ihm ihre eine Hand auf den Rücken und reichte ihm die andere. Er sah ihr ins Gesicht. Sie schien älter geworden in der letzten Zeit. Ihre Augen hatten einen unruhigen Ausdruck, um die Mundwinkel lag ein nervöser Zug. Sie zeigte deutliche Spuren von Ermüdung. Machte das die Aufregung der letzten Zeit und die Krankenpflege? – Langsam stand er auf und ging hinaus in den Garten, zwischen Beete und Sträucher. Alles war in den Knospen und harrte der Wärme. Es war ein schwerer Apriltag. Leise begann ein Regen herabzurieseln.

Den nächsten Morgen reiste er ab.


 << zurück weiter >>