Friedrich Huch
Peter Michel
Friedrich Huch

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4. Kapitel

»Hier links, junger Herr, die zweite Türe! Richtig. Nun sehen Sie mal, so ein schönes Zimmer! Und so billig! Da können Sie stundenlang in der Stadt herumlaufen und finden nichts für denselben Preis. Und die schöne Aussicht auf den Garten! Na, sehen Sie man mal 'raus. Besehen ist ja nicht kaufen!« – Peter trat ans Fenster: Wände gegenüber, Wände an den Seiten, oben ein Stück Himmel, unten ein Hof mit einigen Bäumen. Schön war das nicht für den ländlichen Peter Michel. Aber er wollte die Frau, die mit der Aussicht so zufrieden schien, nicht verletzen, darum nickte er nur und trat ins Zimmer zurück, stand unschlüssig und sah sich langsam nach allen Seiten um. Da fiel ihm ein, daß ihm die Frau Kantor geschrieben hatte, er solle nicht gleich das erste beste Zimmer nehmen, sondern etwas herumgehen und suchen. Mittag nahte, ohne daß er jedoch etwas Passendes fand. Das Essen war mittelmäßig, da er ein bescheidenes Gasthaus wählte, aber der Kellner, der ihn gleich nach allem ausfragte und alles erfuhr, empfahl ihm ein Zimmer, das seine Tante zu vermieten habe. Beim Zahlen des Trinkgeldes wäre er fast rot geworden, so neu war ihm seine Situation. Das Zimmer der Tante war eine schmucklose kleine Kammer, aber sie war billig. Er könnte auch mit der Familie essen, sagte die Frau, indem sie ihn von oben bis unten musterte. Er mietete. Als er ziemlich spät am Abend seine neue Heimstätte betrat, zündete er ein Lichtchen an und besah sie noch einmal. Sie ist wirklich recht einfach! dachte er. In der Nacht plagten ihn unruhige Träume. Plötzlich wachte er auf und verspürte ein heftiges Brennen und Jucken. Er machte Licht und fand, daß er an Armen, Beinen und am Halse dicke Stiche hatte. Mücken gab es um diese Jahreszeit doch nicht; und Flöhe?! Fanny lag drüben auf dem Sofa. Er löschte langsam die Kerze und lag eine ganze Weile wachend da. Ein neuer, heftig brennender Schmerz veranlaßte ihn, aus dem Bett herauszugreifen und wieder anzuzünden. Da erblickte er am unteren Horizonte seiner Bettdecke das davonstürmende Hinterteil eines dunklen kleinen Tieres. Mit einer bei ihm ungewöhnlichen Geschwindigkeit machte er sich auf die Jagd und erwischte das Geschöpf im letzten Augenblick noch. Er besah es nachdenklich bei Lichte. Sollte dies eine Wanze sein? Er hatte noch nie eine Wanze gesehen, aber manches von ihnen gehört. Dann legte er das getötete Wesen mitten auf seine Bettdecke; vielleicht würde dies Eindruck auf die anderen machen. Aber er fand keine Ruhe, geriet in eine stumme Verzweiflung und war fest entschlossen, am anderen Morgen auszuziehen. – Als er seiner Wirtin die getöteten Tiere zeigte, sagte sie sogleich sehr aufgeregt, sie sei eine anständige Frau, und er müsse sie selbst mitgebracht haben. Da verlor Peter plötzlich alle Selbstbeherrschung, schrie sie an, er zöge aus, warf die Tür hinter ihr zu, packte seine Sachen und verließ sogleich das Haus. Die Frau rief grollend, sie würde die Polizei holen, und wenn nur ihr Mann da wäre, so sollte er schon sehen! Aber er hörte nicht auf sie, pfiff Fanny, der der Frau das letzte Wort nicht lassen wollte, und mietete nun das Zimmer, das er zuerst besichtigt hatte. – Am nächsten Morgen begab er sich mit seinen Papieren nach der Universität, erledigte alles Geschäftliche und erhielt auf Grund seiner Zeugnisse und einer genauen Darstellung der pekuniären Lage seiner Familie später auch das ersehnte Stipendium.

Es fehlte ihm jeder Anschluß, und er fühlte sich recht einsam. So machte er denn bald einen Besuch bei einer Familie, zu der er von dem Kantor empfohlen war.

Klinkhardt! Richtig; da stand der Name, im zweiten Stock einer nicht belebten Seitenstraße, und das Porzellanschild sah ihn an, als habe es schon lange auf ihn gewartet. Ein junges Mädchen öffnete. Nun wußte er nicht, was er sagen sollte. – »Wünschen Sie meinen Bruder zu sprechen? Er ist nicht zu Hause!« – »Nein; aber Frau Klinkhardt!« sagte Peter. Die junge Dame machte eine höfliche Bewegung und führte ihn in das Wohnzimmer. Nach einigen Minuten öffnete sich eine Seitentür, und eine kleine, ziemlich dicke Frau trat ein. Peter hatte inzwischen überlegt: Er überreichte der Dame augenblicklich den Brief des Kantors und sagte: »Ich heiße Peter Michel.« Sie sah ihn, wie ihm schien, etwas ungläubig an, las den Brief aufmerksam durch, murmelte: »Hm. Ach so!« und blickte wieder auf. – »Es ist mir sehr angenehm, Sie kennenzulernen!« sagte sie plötzlich so laut, daß Peter sie erschrocken ansah. »Sind Sie schon lange hier?« – »Etwa acht Tage.« – »Dann ist es Ihnen aber ziemlich spät eingefallen, uns zu besuchen. Waren Sie hier auf dem Gymnasium?« Peter sah sie verwundert an: »Aber ich bin ja erst seit acht Tagen hier!« – »Was?« Die Dame blickte ihn mit schiefem Kopfe und offenem Munde an. Jetzt begriff Peter endlich: »Acht Tage!« rief er laut. – »Ach so! Ich verstand acht Jahre! Sie müssen nämlich wissen, ich bin ein bißchen schwerhörig. Also acht Tage sind Sie hier. Nun, wie gefällt es Ihnen denn hier?« – »Oh, sehr gut.« – »Ja, etwas mehr Abwechslung als bei Ihnen wird es hier schon geben! Und die Studenten! Neulich nachts ist hier wieder ein großer Krach passiert. Alle Laternen vor der Universität haben sie zerschlagen. Die Nachtwächter haben natürlich nichts gemerkt, aber am nächsten Morgen sah man die Bescherung. Wissen Sie, was man hier vom Polizeidirektor sagt?« Peter schüttelte den Kopf. »Er hat zwei Frauen! Notorisch!!« – Sie sah ihn an, um zu prüfen, welchen Eindruck dies auf ihn machte. Aber Peter schwieg und blickte ziemlich unglücklich drein. – »Wie geht es denn dem Kantor und seiner Familie?« – »Oh, sehr gut. Liesel wird nun bald auch konfirmiert.« – »Jesus, wie die Zeit hingeht! Ich kannte ihre Mutter, als sie ein junges Mädchen war. Damals war sie ein ganz ausgelassenes, wildes Ding, aber als sie dann ihren jetzigen Mann heiratete, war das mit einemmal vorbei. Sie hatte noch einen Verehrer, ich glaube ein Doktor war es, der war ganz vernarrt in sie. Warten Sie mal, wie hieß er doch gleich: Schön – Schön – Schönwald hieß er, Doktor Schönwald. Und der wollte sie durchaus heiraten: und es war so ein hübscher junger Mensch. Aber nein, sie nahm ihren Kantor; das heißt, damals war er noch kein Kantor. Und nun sagen Sie mal: Leben die denn glücklich miteinander?« – Ihre Augen sogen sich an Peters Mund fest. Peter machte eine Bewegung mit den Lippen. – »Wie??« – Die Frau schoß mit ihrem Ohre dicht an seinen Mund, daß er eines ihrer Haare berührte. – »Ob die glücklich leben?« – »Das weiß ich nicht!« brüllte er und dachte ganz erbost: Das ist ja eine widerwärtige Frau. – Sie zog enttäuscht den Kopf zurück und sagte, sie wisse es auch nicht, sie kenne sie beide nicht genau, aber sie habe einen Bruder gehabt, jetzt sei er tot, der wäre ein Freund des Kantors gewesen. – Peter erhob sich und sagte, er wolle nun nach Hause. – »Aber Sie haben ja noch gar nicht meine Tochter gesehen!« Sie öffnete die Nebentür und rief: »Mariechen!« Dann horchte sie eine Weile, schüttelte den Kopf und verschwand murmelnd. Endlich trat sie wieder ein, gefolgt von dem jungen Mädchen, das ihm die Tür geöffnet hatte. Jetzt schien sie informiert und bot ihm die Hand: »Übrigens schreiben Sie uns doch Ihre Adresse auf, daß wir Ihnen einmal eine Einladung zuschicken können.« – Peter tat es und suchte seinen Buchstaben einen männlichen Schwung zu geben. Am Ende machte er sogar einen Schnörkel. »Schön!« sagte das Fräulein und faltete das Papier zusammen. Peter machte einen Diener und verschwand. Als er zur Vorplatztür heraustrat, wäre er beinahe über die Füße eines jungen Herrn gefallen, der sehr elegant gekleidet war und einen Zwicker trug. Er sah hinter Peter Michel her, der, ohne sich aufzuhalten, die Treppe hinabeilte. Unterwegs begegnete er einem jungen Mann, der eine bunte Mütze trug und eine eingeschlagene Nase hatte. »Das ist ein Korpsstudent!« sagte er sich schnell und halblaut und steuerte auf ihn zu, um ihn ganz aus der Nähe betrachten zu können. Der Herr erwiderte seinen Blick, und als Peter an ihm vorbei wollte, blieb er stehen und bat um seine Karte. Peter war verwundert. – »Ich habe noch keine. Aber ich lasse mir bald welche machen. Was wollen Sie denn damit?« – Der andere sah ihn von oben bis unten an, ließ die Luft zwischen seinen Zähnen durchpfeifen und ging achselzuckend weiter. Peter sah ihm verwundert nach, etwas aufgebracht über die Behandlung, die er nicht verstand. Das ist ja eine widerwärtige Bande, diese bunten Studenten! dachte er. Er nahm sich vor, künftig keinen wieder anzusehen.

Aber noch am selben Tage stellte sich eine solche Buntmütze ihm auf seinem Zimmer vor und suchte ihn für eine Verbindung anzuwerben. Peter saß sehr unglücklich dabei und sagte in aller Verlegenheit: »Ich glaube, ich darf nicht.« – »Oh, wenn es weiter nichts ist: teuer ist die Sache gar nicht. Monatlich zehn Taler mehr. Schreiben Sie an Ihren Herrn Vater. Eventuell kriegen Sie auch was gepumpt!« Peter saß wie angegossen auf seinem Stuhle, klemmte die Daumen gegen den Sitz und verpflichtete sich halb und halb. Als er fort war, blieb er nachdenklich im Zimmer stehen. Plötzlich stürmte er hinaus: »Ach bitte!« rief er herunter. Der Herr war schon unten auf der Diele angelangt, wandte sich zurück und erblickte Peters Kopf hoch oben über das Treppengeländer gelehnt. – »Ach bitte, ich kann doch nicht. Es geht wirklich nicht, ich weiß bestimmt, daß es nicht geht.« – Der andere murmelte etwas Unverständliches, dann entzog ihn das Treppenhaus Peters Blicken. Ich muß ihm doch nachsehen! dachte er, eilte in sein Zimmer zurück und öffnete schnell das Fenster. Aber seine Stube ging nach dem Hofe. Daran hatte er nicht gedacht. – Der war doch nun ganz freundlich! dachte er. Aber eine Verbindung – o Gott – wie schrecklich. Er blickte in den Hof hinunter: Wie tief das doch hier unten ist. Er zählte die Fenster und entdeckte hinter einem derselben ein Gesicht, das eines Mädchens. Sie zog sich sogleich halb hinter die Gardine zurück, und Peter konnte nicht entscheiden, ob sie zu ihm hinaufsah oder nicht.

Dann besichtigte er wieder seinen Stundenplan. Am Nachmittag begann seine erste Vorlesung. Ein ungeheures Getrampel erscholl, daß er erschreckt herumsah. Da entdeckte er ein dürres, kleines Männchen, das sich nickend und dankend auf den Katheder zu bewegte. Peter, dem der Staub in die Kehle drang, hustete laut und nachdenklich. Inzwischen begann der Vortrag. Je mehr er zu folgen versuchte, um so weniger verstand er. Schließlich irrten seine Gedanken ganz ab, und er wurde erst geweckt, als das Trampeln abermals erscholl. – »Sie haben sich da einen mächtigen Stundenplan gemacht!« sagte sein Nachbar, sich erhebend. Peter hatte während der Stunde alles mit Bleistift Geschriebene mit Tinte nachgezogen. »Wird Ihnen denn das nicht zuviel?« – »O nein, ich glaube eigentlich nicht.« – Es stellte sich nun heraus, daß er in ein Kolleg geraten war, das nur Fortgeschrittenere verstehen konnten. – »Sehen Sie, auf Ihrem Plan können Sie getrost über die Hälfte fortstreichen. Darf ich's Ihnen mal andeuten?« Peter sagte eilfertig: »Wenn ich bitten darf«, und nun wurden viele Striche gemacht, und er sah mit Bedauern, wie der schöne Plan verunstaltet wurde.

Auf den Straßen spielten die Knaben mit Kreiseln, viele Fenster waren geöffnet, man genoß den ersten warmen Tag. Peter sah das alles nicht; er dachte nur an seine Mathematik, nur daran, daß er nun viel Neues lernen und ganz gewaltig arbeiten müsse. Als er aber in sein Zimmer trat, bedrückte ihn die dumpfe Luft. Er öffnete das Fenster und schaute heraus. Der Holunderbaum da unten treibt schon starke Knospen, dachte er. Dann bemerkte er auch ein kleines Beet, das ihm bis dahin entgangen war, und er sah allerlei grüne Keime, die in den letzten Tagen aufgegangen sein mußten. Eine alte Frau öffnete ein Fenster gegenüber. Sie hatte ein schwarzes Tuch um den Kopf gelegt und lugte vorsichtig hinaus. Das dunkle Haus zeichnete sich scharf gegen den hellblauen, reinen Himmel ab. – Ob ich nicht einmal hinuntergehe und einen kleinen Spaziergang mache? Aber der Stundenplan! – Den kann ich ja heute abend machen. Er schloß sorgsam das Fenster, weckte Fanny, der in einer Ecke schlief, und begab sich hinunter. – Ob es wohl recht von mir ist? – Er zögerte wieder. Aber Fanny war bereits vorausgeeilt, bellte in die Luft hinein und blickte sich endlich nach Peter um, in leiser Verstimmung. Dies gab den Ausschlag. Die ersten Straßen waren ihnen noch bekannt, aber dann kamen sie in ein Viertel, das ihnen beiden fremd war. Hier waren die Häuser neuer, die Straßen breiter, und ein Hauch von Frische wehte aus ihnen. Es folgten Neubauten, kaum angelegte Straßen, untermischt mit umzäunten Wiesenplätzen, auf denen weiße Wäsche zum Trocknen hing. Und endlich war er draußen, außerhalb der Stadt, im kühlen Winde. Eine Anhöhe zog sich weit hinunter, grünlich schimmernd von dem matten Winterrasen, und in der Ferne eine Baumallee, kahl und einförmig, bis sie sich in braunem Rauch verlor. Der Boden war noch weich und fettig von dem letzten Regen; vorsichtig stieg Peter hinauf, gefolgt von Fanny, der die Schnauze am Boden hielt und ab und zu kräftig nieste. Der Hügel mochte nicht sehr hoch sein, aber von oben hatte man doch eine gute Aussicht. Da sah Peter, daß die Stadt viel größer war, als er gedacht hatte; weithin dehnten sich die Häusermassen, und weit umher Flachland, unendliches Flachland. In der Ferne Wälderzüge, kleine Ortschaften und noch weiter blauer Dunst im Umkreise. Unten am Hange bemerkte er zwei Kinder. Ein Knabe, der einen kleinen hölzernen Wagen zog, in dem ein kleines Mädchen saß. Ab und zu bückte er sich und pflückte ein paar Wiesenblumen, die er dem Kinde reichte. Peter hörte das Knarren der Räder und das Lachen des kleinen Mädchens, bis sie um die Biegung verschwanden. – Der Tag ging seinem Ende zu. Die Sonne flammte rot und siedend auf einer Ziegelfabrik in der Ferne. Peter wandte sich zum Gehen. Als er in die ersten Straßen einbog, senkte sich bereits die Dämmerung herab. Ihn begann zu frieren. Er steckte seine Hände in die Manteltaschen und ging schneller; vereinzelte Lastwagen fuhren knarrend über das Pflaster. Fabrikarbeiter kamen in Massen an ihm vorbei. Es war Feierabend. Hie und da brannte bereits eine Laterne. Er drückte sich die Häuser entlang, an den lauten Scharen vorbei, und als er endlich in seiner Wohnung anlangte, war der Abend hereingebrochen. Im Treppenhause brannte eine Öllampe mit trübem Schein. Langsam erklomm er die dunkle Stiege, und endlich befand er sich wieder in seinem traurigen kleinen Stübchen. – Seine Wirtin brachte ihm das Essen: »Nun, Herr Michel, Sie sind wohl heute draußen in den Wiesen gewesen? Ist ja recht von Ihnen, daß Sie die frische Luft genießen, aber ein andermal putzen Sie sich hinterher hübsch ordentlich die Stiefel ab! Unser Hausherr ist streng und sieht auf Reinlichkeit.« – Peter entschuldigte sich und begann sein Brot in die Suppe zu brocken. Seine Wirtin hatte sich an den Bettpfosten gelehnt und hielt die Arme untergeschlagen. Sie schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. – »Ja, ja, die jungen Leute!« begann sie endlich. – Peter sagte gar nichts. Ab und zu brach er ein Stück seines Brotes ab und warf es Fanny zu, der es kunstgerecht aufschnappte. – »Komisch, daß Ihr Hund Fanny heißt! Wissen Sie, daß sie denkt, Sie hätten ihn nach ihr genannt?« Peter hielt im Kauen inne und sah die Frau mit offenem Munde an. – »Na, verstellen Sie sich nur nicht; ich weiß alles! Heute hat sie mir's noch gesagt.« – »Wer denn? Was denn?« fragte Peter mit runden Augen. – »Na, die Kleine drüben im Hinterhause! Tun Sie doch nicht so, als ob Sie nichts wüßten! Aber vor der nehmen Sie sich nur in acht! Hübsch ist sie, hat auch viele Studentenbekanntschaften. Aber so 'n Leben, wie die führt! Der Herr, der vor Ihnen hier wohnte, den hat sie ganz bankrott gemacht. Der wollte hier studieren, aber die Weibsbilder haben ihm keine Ruhe gelassen; na, und wie er die Fanny kriegte, da war alles aus! Und so ein vornehmer junger Herr! Er hatte das große Zimmer nach vorne; damals wohnte ich noch hier in Ihrem Zimmer. Aber er lag fortwährend hier im Fenster, und nachher wollte er sie sogar mit in die Etage nehmen und bei mir einquartieren; aber das habe ich nicht geduldet. Ich sitze nachher dran mit der Polizei! Ach, war das ein hübscher junger Herr! Warten Sie mal, ich komme gleich wieder; ich hole Ihnen mal das Bild!« Sie ging hinaus, und Peter war allein. – »Ach so«, sagte er plötzlich, »das ist vielleicht die, die ich manchmal hinter der Gardine gesehen habe!« Er schlich zum Fenster und sah hinüber, während ihm das Herz klopfte. Endlich trat die Wirtin wieder ein. – »Nun sieh mal einer an! Da ist er schon wieder am Fenster! Aber gesehen haben Sie sie diesmal nicht. Ich bin schnell hinübergelaufen und habe mir ihr Album geborgt. Sehen Sie mal hier!« – Die ersten Bilder schienen Familienangehörige darzustellen. Dann kamen lauter Männer. – »Und hier ist auch der, von dem ich Ihnen vorhin erzählte!« Sie deutete auf einen jungen Mann mit sehr hellem Haar und einem schönen, eleganten Kopfe. – »Aber das ist ja« – Peter sah sprachlos auf das Bild, das er sofort als den früheren Pensionär des Kantors erkannte. – »Ja, nicht wahr?« rief sie. »Wie ein Graf sieht er aus! Aber seinen Vater hätten Sie erst sehen müssen. Ach, war das ein feiner, vornehmer Herr! Ein bißchen grau schon, aber noch so adrett und jugendlich! Ja, das war ein Mann von Welt! Als es gar nicht mehr weiterging mit dem Sohne, da kam er angereist, zahlte alle Schulden und nahm ihn gleich mit sich. Hals über Kopf mußte er abreisen, und seine Bücher ließ er alle hier; die brauchte er nicht mehr, sagte er, oder er würde sich neue kaufen; ich weiß nicht mehr genau. Die habe ich für zwanzig Taler verkauft! Und der Herr Vater gab mir obendrein noch ein hübsches Trinkgeld! Ich konnte mich nicht beklagen. Ja, ja, wie es doch so geht in der Welt. Amüsieren Sie sich nur, Herr Michel, Jugend hat keine Tugend; – es ist ja auch recht so schließlich.«

Peter gab von nun an mehr Obacht auf das Fenster, aber vorläufig sollte er die Bekanntschaft von drüben noch nicht machen.

Eines Tages erhielt er eine Karte von einem früheren Schulkameraden, in welcher ihn dieser einlud zu einem Glase Bier. Café Elite. Richtig! Da saß er schon an einem runden Tischchen und hatte vor sich einen Bierkrug stehen.

»'n Abend, Michel! Ich dachte schon, du kämst nicht mehr. Rate mal, woher ich deine Adresse weiß!« – Peter riet alles Mögliche und Unmögliche – »Von der alten Klinkhardt! Schauerliche Person, was? Hast übrigens einen guten Eindruck auf sie gemacht. Kann ich mir denken; bist wahrscheinlich sehr schüchtern gewesen. Das mögen alle alten Weiber gerne!« – »Aber Ottmer, du redest ja so komisch!« sagte Peter. – »Komisch? Nee, ist nur mein Urteil. Schließlich erweitert man doch seinen Gesichtskreis, wenn man die Schule verläßt und ins Leben eintritt. Prost, Blume!« – »Welche Blume?« fragte Peter unbefangen. Aber seine Worte wurden erstickt in einem explosionsartigen Husten seines Freundes. »Wahrscheinlich wieder der Rest des Fasses! Da kommen einem die verflüchten Bierfische in die Kehle!« – »Bierfische?« wollte Peter fragen. Aber er ließ es und wunderte sich nur. – »Ja, also was ich noch sagen wollte: Du studierst ja wohl Mathematik, nicht wahr?« Peter nickte und sagte: »Und was studierst du denn?« – »Jura; natürlich Jura. Werde mich später wohl ganz und gar der Nationalökonomie zuwenden, denn das ist mein eigentliches Gebiet. Habe übrigens bis jetzt noch nicht viel in die Bücher gesehen; hat ja auch noch Zeit. Ehe man das Leben theoretisch studiert, muß man es praktisch studieren. Du wirst natürlich auch vorläufig bummeln – was?« Peter sagte gar nichts, sondern versuchte nur, ebenso große Schlucke zu nehmen wie sein Freund. – »Nun sag mal, du redest ja nicht? Was hast du denn eigentlich?« Peter lächelte verlegen und wickelte langsam sein Taschentuch um seinen Zeigefinger. Er wußte wirklich nichts, was er hätte sagen sollen. – »Kellner! Zwei große Münchner.« – »Ich will nichts mehr trinken«, sagte Peter; »ich werde sonst betrunken.« – »Unsinn! Heute bist du mein Gast. Das Bier ist ja leicht.« – Er hatte einen Plan und traf jetzt seine Vorbereitungen. Peter trank in großen Zügen, setzte sein Glas ziemlich kräftig nieder und schmatzte, sich langsam nach rechts und links umschauend. Es gefiel ihm hier ganz gut. So viele Lichter, Tische und Stühle, und alle Leute wurden so höflich behandelt! – »Sag mal, rauchst du gar nicht?« – »Doch!« Peter fühlte, er müsse etwas tun, daß ihn der andere nicht zu sehr von oben herab ansähe, nahm die größte Zigarre, die er fand, und paffte wie ein Alter. Er kam sich ganz neu vor in dieser Situation. Wenn ihn jetzt seine Mutter sähe! Würde sie ihm nicht die Zigarre aus dem Munde reißen und ihn nach Hause schicken? Unwillkürlich reckte er seine Schultern und trank sein Bier auf einen einzigen Zug aus. – »Also du bist öfters hier in diesem Gasthaus?« fragte er. »Ich werde auch manchmal herkommen. Das Bier ist wirklich gut, und die Kellner sind alle so freundlich!« – Ein neues Bier wurde auf den Tisch gesetzt. »Prost, Blume!« sagte er hastig. Dann sog er sich förmlich an seinem Glase fest. – »Aha«, rief Herr Ottmer. »Da kommt ja die kleine Anna.« – Ein junges Mädchen kam an den Tisch heran mit einem großen Blumenkorb: »'n Abend, Herr Ottmer. Sträußchen gefällig?« – »Kaufen Sie nicht auch eins, Herr Doktor?« wandte sie sich an Peter. Peter bejahte. – »Warten Sie mal!« – Sie nahm eine Nadel von ihrer Brust und steckte ihm ein Bukett an seine Jacke: »So! Sehen Sie; so sitzt es fein!« – »Trink mal!« sagte Herr Ottmer und reicht ihr sein Bierglas. – »Was Ihr Freund für treue Augen hat!« meinte sie, sich den Mund abwischend. – »Na, na, verlieb dich nur nicht in ihn.« – Peter sagte: »Ich finde, Sie haben auch treue Augen!« worauf das junge Mädchen das Glas mit einem Krach auf den Tisch setzte und in eine ungeheure Heiterkeit ausbrach. Sie bekam vor Lachen ganz kleine Augen und zeigte alle ihre Zähne., »Na, adieu!« rief sie endlich, gab Herrn Ottmer die Hand und nahm mit leichtem Schwünge ihren Blumenkorb auf. »Adieu, Sie Kleiner mit den treuen Augen!« – Sie kitzelte Peter mit einer Nelke unter der Nase und wandte sich mit langsamen Schritten weiter. – Herr Ottmer zahlte jetzt, und Peter bedankte sich. Als er aufstand, merkte er, daß er nicht mehr ganz sicher auf den Beinen war. Aber das schadete ja gar nichts. Dafür fühlte er ein großes Stück Kraft in sich. Mit einem lauten: »Guten Abend!« verließ er das Lokal. Der Himmel war mit Sternen wie übersät, und alle schienen ein ganz persönliches Interesse an Peter Michel zu nehmen. »Du!« sagte er plötzlich. – »Was denn?« – »Paß mal auf: Eins, zwei, drei!« – Er warf seinen Hut in die Luft und brüllte: »Hurra, hurra, hurra!« Dann bückte er sich und fiel auf die Erde. – »Ist auch ganz schön! Die lieben Sterne! Wo ist denn bloß der Mond? Ach da! Nee, das ist ja die Zigarre.« Aber im nächsten Momente dachte er: Das geht nicht, ich muß mich anständig benehmen. Herr Ottmer hatte väterlich-lächelnd dabeigestanden. Jetzt half er ihm auf und zog ihn sicher vorwärts. »Wo gehen wir denn noch hin?« – »In die Illusion!« – »Was ist das?« – »Café-Konzert, Damenbedienung, Animierkneipe!« – »Damen?« – »Naja, Gott, Damen, was man Damen nennt!« – »Ach so!« sagte Peter, verstand aber absolut nicht mehr als vorher. – Damen! Er dachte an seidene Gewänder und lange Schleppen. Seine Mutter trat ihm plötzlich deutlich vor Augen. Die hatte immer so viel von Damen geredet, wenigstens schien ihm das augenblicklich so. Plötzlich hielten sie. »Hier?« sagte Peter. Er sah ein mattrot erleuchtetes verhangenes Fenster, daneben eine ebenso verhangene Tür. Von innen tönte Musik. Sie traten ein. Anfangs konnte er nichts unterscheiden vor ungeheurem Tabakdunst. Wo war er denn? Mein Gott, wenn er doch lieber im Bett läge! Ein ohrenzerreißender Lärm von Violinen und Trompeten bestürmte ihn. Da saßen sie, die Damen! In kurzen Kleidchen mit aufgelösten Haaren und gefärbten Backen, und musizierten.

»Bier gefällig?« – »Ja, Pilsener; nicht wahr, Pilsener?« – Peter nickte mechanisch. Jetzt hörte die Musik auf, und eine Dame begann zu singen. Anfangs verstand er nichts, aber dann immer mehr, und schließlich wußte er gar nicht, was er denken sollte. – »Prost!« – Eine Hand, mit einem Glase tauchte aus dem Nebel und berührte das seine. »Prost!« antwortete er und trank. Da kam ein weibliches Geschöpf mit einem Teller, um Geld zu sammeln. Sie erinnerte Peter an Tante Olga. Wie merkwürdig! Warum war sie es denn nicht?« – »Na, Kleiner?« Er fühlte sich von hinten gezwickt. Eine dicke Blonde. »Wie geht's denn seit dem letzten Male?« – »Wann denn?« – »Na, weißt du denn nicht mehr, Schätzchen?« Sie setzte sich Peter Michel auf den Schoß und drückte ihm Nase, Kinn und Backen zusammen. Da regte sich in ihm ein letzter Rest von Menschenwürde. »Das will ich nicht!« sagte er laut und suchte die Dame von seinem Schöße herabzudrängen. – »Na, Schätzchen, nur nicht gleich so giftig! Hast mich doch immer gern gehabt!« Ihr dicker Busen umschloß ihn, sie drückte einen Kuß auf seine Lippen. Mit einem furchtbaren Ruck brachte er sich und sie vom Stuhl herunter. – »Ich will fort!« – Herr Ottmer zahlte. – »Ich will nach Hause!« – »Mach keinen Unsinn! Wir gehen noch ins Monopol!« – »Nein, ich will nach Hause.« – »Ach was, komm nur mit!« Peter wurde unter den Arm gefaßt und ließ sich willenlos führen. Auf einmal weinte er. – »Nanu? Was ist denn los?« – »Ach, es war alles so schön, und nun ist alles vorbei!« – »Unsinn, Mensch, schäme dich.« – »Ich bin so einsam!« – »Ja, ich wollte dich schon lange fragen, sag mal – übrigens, ich kann dir nur sagen, daß es dein eigener Vorteil ist; ich spreche aus Erfahrung, bin selbst dabei und muß es also wissen: Sag mal, hättest du nicht Lust, in meine Verbindung einzutreten?« – Bei dem Worte »Verbindung« regte sich etwas wie Verstand in Peter Michel. Er fühlte sich plötzlich wieder auf der Erde. »Nein, auf keinen Fall«, sagte er. Herr Ottmer merkte, daß er zu früh begonnen. Schweigend schritten sie weiter.

Peter verfiel in eine Art von Halbschlaf und sagte das ganze Einmaleins her. Plötzlich fühlte er sich geblendet. Welches Lampenfluten! Und lauter Menschenschädel mit Augen darin, die nur ihn anblickten! Was trank er nur eigentlich? Er rührte und rührte mit dem Löffel in seinem Glase und starrte ins Leere. Das rotsamtene Sofa erschien ihm wie das Ende der Welt. Die Lichter zuckten seltsam, und das schwirrende Getöse wurde stärker. – »Also, um noch einmal auf unsere Frage zurückzukommen: Hast du dich inzwischen besonnen? Du wirst es nicht bereuen. Auf Ehre! Also du willigst ein? Nicht wahr? Was?« – Statt aller Antwort sank Peter Michel Herrn Ottmer an die Brust, und seine Augen schlossen sich; er schlief. –

»Beste Frau Heinecke, ich sage Ihnen: das nächste Mal fliegen Sie 'raus; unerbittlich! Das ist nun so oft passiert, und ich habe jedesmal die Schererei davon. Wollen Sie mir die Miete vom Sekretär Pickel bezahlen? Nee, natürlich nicht; na, der hat nun gedroht zu kündigen. Und warum hat er gedroht zu kündigen? Weil heute morgen wieder die Schweinerei auf der Treppe war! Und warum war sie da? Weil wieder einer von Ihren Studenten betrunken nach Hause gekommen ist. Mir sind die jungen Leute egal. Aber nicht egal ist mir, wenn sie mir mein Haus verunreinigen. Da werde ich grob. Und nun wissen Sie's, und lassen Sie sich's gesagt sein: Passiert wieder was, so fliegen Sie 'raus, unerbittlich! Haben Sie mich verstanden?« – »Ach, Herr Rüdenberg, unsereiner ist man auch bloß eine arme Frau; ich bin unschuldig, das kann ich Ihnen bei Gott versichern. Lieber Himmel, man muß doch leben! Unsereiner hat auch seine Sorgen. Die Wohnung kostet mich zweihundert Taler jährlich, wie soll ich denn das aufbringen? Und die Studenten – glauben Sie man ja nicht, daß ich 'nen großen Profit an meinen Zimmern mache, nee, das nun mal gar nicht. Ich setze eher noch was zu dabei. Denn das können Sie sich wohl denken, eine Frau wie ich, ich sorge für meine Studenten wie eine Mutter für ihre Söhne; das ist wahr; darauf kann ich einen Eid ablegen; leben und leben lassen, Herr Rüdenberg. Lieber Gott; 'n junger Mensch muß doch auch 'n bißchen sein Leben genießen. Und der Herr Michel, das ist ein sehr lieber junger Herr, so freundlich und still. Na, ich werde ihm ja sagen, daß er das nicht wieder tun darf, aber deshalb brauchen Sie doch eine arme wehrlose Frau nicht gleich aufs Pflaster zu setzen; was gut ist, ist gut, und nichts für ungut, Herr Rüdenberg, ist alles beim alten und soll nicht wieder vorkommen, habe die Ehre, mich zu empfehlen, Herr Rüdenberg, 'n Morgen, Herr Rüdenberg.« – Sie stieg die Treppe hinauf, blieb auf dem Absatz stehen und sah in den Hof hinunter. »Der alte Esel!« brummte sie. Dann blickte sie die Fenster hinauf. Schon elf Uhr; Herr Michel liegt noch im Bette! Die Fanny auch noch. Ach so, heute ist ja Mittwoch. Wie lange der Baron wohl noch halten wird. – »Nun hat er mir auch noch mein Schloß verdorben! Na warte man, Halunke, dich kriegen wir schon!« Sie klingelte unausgesetzt mit aller Kraft. Endlich! Tap, tap, tap, nahte sich etwas. Peter Michel stand auf der Schwelle, mit bloßen Füßen. Den mittleren Teil seines Körpers hatte er mit einem Federbett umhüllt, das er mit der Linken zusammenhielt. Seine Haare waren in wilder Unordnung, und seine Augen starrten rund und abwesend. – »Na, Sie haben was Schönes angestellt, Herr Michel. Nun hören Sie mal zu!« Peter ließ regungslos ihren Wortschwall über sich ergehen, dann drehte er sich um, tastete nach seinem Zimmer, verschloß die Tür, im nächsten Augenblick schlief er schon wieder. Dann sah er große blanke Augen dicht vor sich auf der Bettdecke und rundherum eine braungelbe Masse. »Fanny!« sagte er erstaunt. Da aber machte Fanny – denn dieser war es wirklich – so gleißende Bewegungen mit seinem langen, aalglatten Schwanze, daß ihm augenblicklich übel wurde, so daß er die Augen rasch wieder schloß. – Aber Fanny ließ ihn nun nicht mehr los. Er stieß langgezogene, halblaute Fisteltöne aus und begann dermaßen auf der Bettdecke hin und her zu trampeln, daß es war, als fiele ein Steinregen darauf herab. Durch eine Umdrehung seines eigenen Körpers warf Peter ihn vom Bett hinunter. Er hörte das weiche Aufschlagen seiner strammen, gummiartigen Sohlen, aber im nächsten Momente schnellte sich Fanny wieder hinauf und fiel gerade auf Peters Bauch. Da stieß er einen Seufzer aus, richtete sich halb in die Höhe und griff nach seiner Stahluhr. Zwölf vorbei! Das war ja entsetzlich! Jetzt aßen sie zu Hause Mittagbrot! Klopfte es da nicht? »Herein.« Ja so. Er stand auf und öffnete die Tür. – »Ich wollte nur – na, vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren, Herr Michel! Ich habe schon viele junge Herren im Nachthemd gesehen; also ich wollte Ihnen nur einen Hering bringen!« – Bierfisch, Bierfisch, dachte er in einem fort. Ihm war recht unglücklich zumute. Wie hatte er doch gleich gesagt, »Prost –?« Er ging alle Pflanzennamen durch: plötzlich fiel es ihm ein. – Er beendete nun seine Toilette und sah zum Fenster hinaus. Draußen ist es wärmer als drinnen! dachte er. Er fühlte sich schon besser. »Na, Herr Michel, ausgeschlafen?« – Peter war ganz verblüfft.

War das die Fanny? »Danke!« sagte er endlich. Das junge Mädchen fuhr mit einem Ruck zurück, im nächsten Moment wurde das Fenster von zwei Händen, die Manschetten trugen, geschlossen. Gewiß ihr Papa, dachte Peter. – Frau Heinecke trat herein: »Ein junger Herr wäre hier gewesen und hat Herrn Michel sagen lassen, ob Herr Michel heute abend frei wäre und bei ihnen Abendbrot essen wollte. Herr Klinkhardt oder Klinkmann – ach so, hier habe ich ja seine Karte: Sophus Klinkhardt!« – »Weiß er, daß ich noch im Bette lag?« fragte Peter hastig. – »I Gott bewahre! Für so indiskret werden Sie mich doch nicht halten. Ich habe ihm gesagt, Sie wären im Kolleg. Warten Sie mal!« Sie ging dicht an Peter heran, hob ihre Hand an seine Backe und zog sie mit einem Ruck zurück. »Au!« sagte er. – »Sehen Sie hier! Ein ganz langes Haar! Ja, Herr Michel, Sie müssen nun bald anfangen, sich zu rasieren! Ach, die jungen Leute! Wenn die Männlichkeit beginnt, das ist immer so 'ne Übergangszeit. Nicht Fisch und nicht Fleisch. Sie sind nun ungefähr der fünfzigste Herr, den ich gehabt habe: Aber so gesund wie Sie ist noch keiner gewesen. Ach, Herr Michel, wollen Sie sich nicht mal die Haare schneiden lassen? Es ist so schönes Wetter; Sie werden sich gewiß nicht verkälten. Und mit den langen Haaren können Sie nicht mehr herumlaufen. Hübsch frisieren müssen Sie sich lassen, so recht schneidig, spiegelblank! Der junge Herr von heute morgen, das war mal ein schneidiger, flotter junger Mann! So 'nen feschen Schnurrbart – na, das will ich ja von Ihnen nicht verlangen –, aber so adrett und sauber! Und dann, Herr Michel, mit dem Hute können Sie eigentlich auch nicht mehr gehen. Sehen Sie doch mal her!« – Frau Heinecke ging auf den Schrank zu: »Da! So abgeschabt! Und hat gar keine Fasson mehr! Wissen Sie, so 'nen recht flotten, steifen!« Peter wußte gar nicht, was er sagen sollte. Es genierte ihn, daß er so häßliche Sachen habe, eigentlich mehr um der anderen als seiner selbst willen. Der Hut war wirklich recht abgetragen; er sah das jetzt zum erstenmal. Er war von Natur nicht kritisch und betrachtete die Dinge nur als Tatsachen. »Er ist wirklich schon sehr alt!« sagte er. »Ich will mir einen neuen kaufen.« – »Dann kaufen Sie sich auch gleich einen Schlips!« Peter überlegte: Haarschneiden, Hut, Schlips. Nein, das ging nicht; eins mußte fortfallen. Er ging wirklich zum Friseur und fand seinen neuen, gescheitelten und pomadisierten Zustand weder schön noch häßlich, sondern nur ordentlich. Mit seinem neuen steifen Hut besah er sich in allen Ladenfenstern. Da fiel ihm ein, daß er sich auch ja rasieren lassen sollte. – Er dachte den Gedanken kaum zu Ende und errötete: Ihm war ja alles noch so neu.


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