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Von Martin Luther, welcher die Anlagen hatte, ein großer Mensch zu werden, heißt es, daß er eines Tages habe zusehen müssen, wie ein im Gespräch neben ihm wandelnder Mann vom fallenden Blitz jäh erschlagen wurde. Dieses Erlebniß soll ihn im Gemüthe so erschüttert haben, daß er sich von der Welt abkehrte, Mönch wurde und ins Kloster ging, worin er leider nicht verblieben ist. So ist es mir ergangen, wenn auch der Blitz, den ich blindlings niederfahren sah, nicht der äußerlichen Welt angehörte; aber er war nicht minder vernichtend.
Ich sah auf einmal, wie ich jetzt ausführlich beschreiben will, daß es nichts und garnichts giebt, was im Leben einen festen Stand hat. Das Leben ist ein grundloses und ein uferloses Meer; ja, es hat wohl auch ein Ufer und geschützte Häfen, aber lebend gelangt man dahin nicht. Leben ist nur auf dem bewegten Meere, und wo das Meer aufhört, hört auch das Leben auf. Wie wenn eine Koralle aus dem Meere tritt, so erstirbt sie. Und wenn man die schönen, glasbunten Quallen aus dem Wasser nimmt, so hat man eine scheußliche Gallerte in der Hand. Nun, meine ich, ist 2 es so mit den Menschen und dem Leben: man kann wohl Ruhe und Sicherheit erlangen, aber nur wenn man auf das Leben mit seinem fröhlichen Wellenspiel, seinen wechselnden Farben, seinen tollen Stürmen verzichtet. Viele meinen, und besonders die jungen Leute und Alte, die nichts erlebt haben, inmitten der unaufhaltbaren Bewegung, wo die erste Welle im Augenblick des Werdens schon mit der zweiten verschmilzt und so fort, und der vergangene und der nächste Augenblick so zwillingsmäßig miteinander verwachsen sind, daß sich kein kleinstes Stückchen mit Namen Jetzt oder Gegenwart dazwischen klemmen läßt, gäbe es so allerhand ewige Felsen. Damit meint man Liebe und Freundschaft und andere Empfindungen des Herzens; denn diese stimmen einen glücklich und darum gut, und darum hält man sie für heilig. Nun aber, was soll aus diesem kindischen Dinge, dem menschlichen Herzen, Ewiges kommen? dem Springinsfeld, der nie das Stillsitzen lernt in der Schule des Lebens? Das beständig hin und her zittert, als ob es auf allzulangem Stiele säße wie die Blätter der Espe? Es fährt als ein Kähnlein auf dem gewaltigen Lebensmeere umher, und bald schluckt es zu viel Wasser und sinkt und verzagt, bald tragen Wellen es in die Lüfte, daß es sich dem Himmel nähert, und dann jauchzt es voll Uebermuth und triumphirt. Aber es muß wieder hinunter, und wenn es unten ist, wieder hinauf. Es kann auch eine glatte Bahn durchlaufen oder in eine Meeresstille gerathen, daß es still und bange da liegt wie vor dem Magnetberge. Aber wie es auch sei, den Hafen findet es nicht im Meere, Häfen sind am Ufer; das ist das Jenseits.
Mein Boot, welches eine leidlich unscheinbare Fahrt hatte, gerieth in einen großen Sturm und Schiffbruch und 3 wurde an den Strand geschleudert. Nicht gemächlich lief ich ein in die Bucht, ich ward ausgespieen wie Robinson. Meine wüste Insel und mein Jenseits ist das Kloster Einsiedeln. Da hause ich nun, und das Leben liegt auf immer dahinten. Aber es ward mir so gut, daß ich, wenn ich auch nicht mehr lebe, doch nicht todt bin, sondern das weite Wasser, das ich durchfuhr, vom Strande aus betrachten und meine Reise bedenken kann. Ich habe immer gefunden, daß das Beschauen das Schönste im Leben sei. Wer in einem prächtigen Umzuge mitgeht, schluckt den Staub ein und schwitzt und würgt hinter seiner Maske; was hat er von seiner eigenen kostbaren Verkleidung und den übrigen Festbildern um sich her? Er sieht es alles nicht, nur etwa das allernächste, und das nicht vollkommen. Wer aber oben auf dem Balkon steht oder nur auf eine Gartenthür geklettert ist oder sogar nur aus einer Dachrinne mühselig hervorlugt, der hat es alles vor seinen Augen, als wäre er der Herrgott, und es würde alles ihm vorgeführt eigens zu seiner Lust. – So macht es mir Vergnügen, die Tage meines verflossenen Lebens an mir vorübergehen zu lassen wie eine Procession. Es wird seltsame Gestalten zu sehen geben, bunte Fahnen, Bilder, Symbole und Schaustücke. Ich kann sie schneller und langsamer gehen heißen je nach Geschmack, und die schönsten und seltsamsten kann ich zu mir heranrufen, um sie genauer zu betrachten und zu betasten. In diesem Sinne schreibe ich die Geschichte meiner Erlebnisse, verborgen vor Jedermann; denn eine fromme Legende wird es nicht sein.
Ich will auch von meiner Kindheit und frühen Jugend einiges erzählen; denn wenn man das niedliche Küken nicht kennt, thut man dem Huhne im Urtheil unrecht, und der 4 edle Schwan ist einem weniger werth, wenn man nicht weiß, daß er einmal das häßliche junge Entlein gewesen ist. Wer mit einem aufgewachsen ist, sieht im Gesichte immer noch die zarten, guten Züge des Kindes, und wer einmal in einem Museum ein altes Wikingerschiff gesehen hat, der betrachtet unsere Dampfschiffe mit doppelter Neugier und reicheren Gedanken. 5