Ricarda Huch
Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren
Ricarda Huch

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XX.

Das Allerschwerste, was nun bevorstand, war, dem Urgroßvater Galeidens Entschluß mitzutheilen und der Abschied von dem alten Manne. Während wir den Weihnachtsbaum schmückten, sprachen wir davon, desgleichen von meinem Vater. Galeide sagte, er dürfe von ihrer Entfernung nichts erfahren, weil es ihm die für seine Thätigkeit nöthige Ruhe nehmen würde; sie werde ihre an ihn gerichteten Briefe an mich schicken, damit ich sie von hier aus mit den meinigen zugleich abgehen ließe. Mir leuchtete das ein, auch vermied ich, länger davon zu reden, da ich sah, wie es Galeiden quälte. Sie erklärte, daß sie es am folgenden Tage dem Urgroßvater sagen wolle, wurde aber ganz blaß dabei, so daß ich ihr die innere Angst wohl ansehen konnte. Der Urgroßvater kam in demselben Augenblicke ins Zimmer, und Galeidens Traurigkeit sogleich bemerkend, umarmte er sie zärtlich und sprach ihr zu wie einem Kinde. Er mochte es dem allgemeinen Zustande zuschreiben, der Sehnsucht nach dem abwesenden Vater und so manchem andern, was er wohl ahnte. Uns war den ganzen Tag über die Kehle wie zugeschnürt, ja, Galeide kämpfte fortwährend mit Thränen, so daß es eine Pein war, sie zu beobachten. Wir brachten den Abend bei Onkel Harre zu, wo jedermann 143 von Galeidens bevorstehender Abreise wußte, aber des Urgroßvaters wegen wurde nicht davon gesprochen. Als wir spät am Abend nach Hause kamen, setzten wir uns noch unter den Weihnachtsbaum, ohne aber die Lichter anzuzünden. Plötzlich, nachdem wir einige Augenblicke schweigend dagesessen hatten, sprang Galeide auf und lehnte sich an den Sessel, auf dem der Urgroßvater saß, schlang beide Arme um seinen Hals und sagte rasch: »Großvater, morgen gehe ich fort.« Im ersten Augenblick faßte er den Sinn ihrer Worte nicht ganz, dennoch mußte er etwas ähnliches schon geahnt haben, wie er denn stets von den Dingen um sich her mehr wahrnahm, als er für gut fand, sich anmerken zu lassen, denn bald hatte er begriffen, um was es sich handelte. Aber obwohl er nun einsehen mußte, wie angemessen ein solcher Schritt war, so gab er doch vernünftigen Erwägungen nicht im mindesten Raum; denn er war wie ein Kind in seinem Herzen, das meint durch Flehen und Trotzen selbst die Sterne vom Himmel erlangen zu können. Er faßte Galeiden fest und sagte hastig und nachdrücklich: »Nein, du gehst nicht! Glaube nicht, daß ich dich lasse! Du Kind, allein in die Welt hinaus? Wenn einer von euch gehen muß, so mag Ezard gehen! Er mag gehen, wohin er will! Er hat uns alle ins Unglück gestürzt durch seine wahnwitzige Heirath. Du bleibst bei mir. Was sollte ich auf der Welt ohne Dich? Ich bin jetzt schon zu alt zum Leben, aber ich lebe, weil Du mich brauchst und werde leben, so lange Du mich brauchst, aber nicht ohne Dich. Schwöre es mir augenblicklich, daß Du mich nicht verlässest.« Galeide versuchte ihm auf alle erdenkliche Weise zuzureden, sagte, daß sie das müßige Leben nicht länger ertrage, daß sie etwas leisten und thun wolle, nicht nur um Geld zu verdienen, sondern auch damit er vielleicht noch einmal stolz 144 auf sie werden könne. Aber was war ihm das? Er wollte sie bei sich haben und weiter nichts. Hätte er noch stolzer auf sie werden können, als er schon war? Hätte sie in irgend einer Sache noch vollkommener werden können, als sie jetzt schon war? (Denn so verblendet war er!) Und sie komme ja wieder, sagte Galeide. Aber er wurde immer heftiger und sagte: »Wenn Du gehst, so kommst Du nicht wieder, das weiß ich. Was wird aus Dir hülflosem Kinde in der Fremde? Nein, Du kommst nicht wieder. Und wenn Du mir nicht versprichst, hier bei mir zu bleiben, so schwöre ich Dir, daß ich sterben werde, und daß Du mich getödtet haben wirst.« Je mehr er sich erregte, desto kälter wurde Galeide und setzte ihm eine steinerne Unbeweglichkeit entgegen, daß es einem hätte grauen können. Der Urgroßvater war aufgestanden und seine eingesunkenen blauen Augen blitzten wie Funken in einer dämmrigen Höhle. Er stellte sich dicht vor Galeiden und rief: »Wenn Du nicht bei mir bleibst, so fluche ich Dir und ihm! Ja, ich alter Mann verfluche Dich! Mögt ihr zu Grunde gehen, wie ihr uns zu Grunde richtet in eurer rasenden Leidenschaft.« Sie hörte alles an wie einen Sturm, den man vorüberbrausen läßt, und erwiderte nichts. Nun aber bemerkte der Urgroßvater, wie er alles ins Leere sprach, und in seiner Herzensangst schrie er: »Galeide, verlaß mich nicht!« warf sich vor ihr auf die Kniee nieder und umklammerte sie. Es war ein Anblick, einem das Herz im Leibe umzukehren. Galeide regte sich aber nicht und sagte: »Laß das, Großvater; es muß sein.« Aber sie war durchaus nicht ohne Herz und Erbarmen, vielmehr mochte es elender in ihr aussehen als in dem alten, jammernden Manne, ja, ich hatte wirklich größeres Mitleiden mit ihr als mit ihm. Von dem, was an jenem Abend noch gesprochen wurde, ist mir 145 nichts weiter in Erinnerung geblieben. Am andern Tage aber war der Urgroßvater ganz verwandelt. So war nämlich seine Art, daß er, wenn er einmal etwas als unabänderlich erkannt hatte, sich in bewunderungswürdiger Weise hineinzufinden wußte und einem jeden als Vorbild hätte dienen können in der schlichten Heiterkeit, die er dem Schwersten entgegenzusetzen vermochte. Sein Gesicht war nun ganz ruhig und freundlich, und gegen Galeiden war er voll zarter Liebesbezeugungen. Er half ihr die Koffer packen und trug dies und jenes herbei, wovon er glaubte, daß es ihr Freude machen könnte. Er rief auch mich und ließ mich auf einen Stuhl steigen, um verschiedene Süßigkeiten vom Weihnachtsbaume abzunehmen, die er sorgfältig in ein Kästchen legte und in ihrem Koffer verbarg. Ja, er muthete mir sogar zu, in die Stadt zu gehen und himmelblaue und dunkelrothe Bänder für sie zu kaufen, welche sie gut kleiden würden, damit sie sich in der Fremde damit schmücken könnte; was ich aber rundweg abschlug.

Obwohl sich der Urgroßvater nun beschwichtigt hatte, war damit doch noch keine Ruhe erlangt, und es blieben noch die unleidlichsten Stunden durchzumachen. Lucile nämlich hatte durch irgend einen müßigen Schwätzer erfahren, daß Ezard und Galeide sich hie und da ohne ihr Vorwissen gesehen hatten. Sie hätte zwar ohnehin schon lange bemerken können, wie es mit den beiden stand, aber sie hatte sich gewaltsam vor der Einsicht verschlossen, weil sie sich davor fürchtete. Ohne Zweifel war sie wohl befugt, Galeiden zu hassen, aber dennoch mußte ich mir Zwang anthun, um ihr Recht zu geben, als sie nun in ihrem ungebändigten, ohnmächtigen Zorne vor Galeiden hintrat, um ihr ihre Frevel vorzuhalten. »Du hast mir,« sagte sie, »erst mein Kind entfremdet, dann meinen Mann an Dich gerissen; 146 wie konntest Du noch wagen, mich bethören zu wollen, die Du so unerhört beleidigt und betrogen hast.« Daß dies alles so sei, mochte Lucile wohl in ihrem kranken Herzen wähnen, aber eben so sicher konnte meine Schwester sich sagen, daß sie keineswegs eine solche Hexe und Verführerin sei, als welche diese Worte sie darstellen sollten. Sie vertheidigte sich aber nicht, denn sie kannte ihre Schuld, wenn sie auch anders geartet war, als Lucile meinte, sehr wohl und sah die ehemalige Freundin nur traurig an. Hingegen fühlte ich mich bewogen, Galeiden gegen solche Angriffe in Schutz zu nehmen, und sagte: »Daß Du entrüstet bist, Lucile, ist berechtigt, auch daß Du in Deiner Erregung mehr sagst, als Du weißt und wolltest. Aber ich muß Dich dahin berichtigen, daß Galeide niemanden an sich gelockt hat, daß vielmehr Dein Kind und Dein Mann sich zu ihr hingedrängt haben, also Deines Zornes zum mindesten ebenso werth sind wie sie.« Ich wollte noch mehreres in diesem Sinne sagen, aber Galeide legte zitternd ihre Hand auf meinen Arm, wofür ich ihr hernach dankbar war; denn es hätte mich gereut, die unglückliche Lucile in ihrer Verlassenheit noch durch ein liebloses Abwägen ihrer Rechte zu kränken, und so verließ ich das Zimmer, um nicht länger Zeuge eines so peinlichen Auftritts sein zu müssen.

Nachdem Lucile sich entfernt hatte, ging ich wieder zu Galeiden und fand sie noch an demselben Platze und in derselben Stellung sitzen wie zuvor. Sie sah vor sich hin, und mir war bange, sie würde in Thränen ausbrechen; stattdessen wandte sie plötzlich ihren Kopf gegen mich und sagte mit einem süßen, traurigen Lächeln: »Weißt Du noch, wie sie von der Hochzeitsreise zurückkam und mir ein goldenes Kettchen um den Hals hängte und sagte: ich habe immer an Dich gedacht, mein Liebling, selbst als ich mit Ezard vor 147 dem Altare stand; und wie wir beide weinten vor Freude.« Die Erwähnung dieses Umstandes nahm mich wieder für Lucile ein, und ich sagte: »Und dies ist nun das Ende. Aber es ist doch Deine Schuld!« »Ja,« erwiderte sie, »das weiß ich wohl.« Was ließ sich dazu noch sagen? Sie wußte es, und doch that sie es, das entrüstete mich bald, und bald wieder überwältigte es mich, und ich sagte mir: was sie thut, muß sie thun, wie ein Wasserfall stürzen und ein Feuer brennen muß; denn sonst würden Reue und Gewissensqualen ihr weiches Herz zermalmen.

Ezard brachte, ohne noch auf irgend jemand Rücksicht zu nehmen, die letzten Stunden bei uns zu, und es schien sie beide auch nicht zu stören, wenn wir in ihrer Gesellschaft waren. Auch hatte ihr Betragen gegeneinander nichts anstößiges, vielmehr dachte man, es sei ganz in der Ordnung, und das rechtmäßigste Verhältniß von der Welt. Ich bemerkte, was mir einen besonderen Eindruck machte, daß Ezard es ängstlich vermied, auch nur in die leiseste Berührung mit Galeiden zu gerathen, als wäre sie von Feuer und würde alles in Brand setzen, wenn er sich ihr näherte. Niemand, der ihn in diesen Stunden gesehen hat, würde ihn je als Frevler verurtheilen können, eine solche Gewalt und Hoheit der Leidenschaft zugleich war in seinen Zügen. Wie soll ich es beschreiben? Es war, als ob sein Gesicht durchsichtig wäre, und man sähe die heiße Seele durchleuchten. Auch wagte keiner, ihm einen Vorwurf zu machen oder überhaupt etwas Ungelindes zu ihm zu sagen; der Urgroßvater behandelte ihn mit ebenso großer Zartheit und Rücksicht wie Galeiden.

Ich hatte meiner Schwester angeboten, sie eine Strecke weit zu begleiten, was sie auch angenommen hatte. Kurz ehe wir uns zum Bahnhof begeben mußten, stand Ezard 148 plötzlich auf, da wir mitten im Gespräch waren, wechselte einen langen Blick mit Galeiden und ging fort. Wir dachten anfänglich, er würde noch einmal zurückkommen, aber es zeigte sich, daß dieser Blick der ganze Abschied dieser beiden so eng verbundenen Menschen gewesen war. Galeiden war nichts anzumerken, als daß sie um etwas blasser geworden war. Da sie sich nun aber von dem Urgroßvater trennen sollte, zerfloß sie in Thränen, daß man hätte meinen können, sie würde sich in einen rieselnden Quell auflösen wie jene Undine. Desgleichen preßte er sie immer wieder an sich und nannte sie bei den kindlichen Kosenamen, die er ihr zu geben pflegte, und dazwischen rief sie: Großvater, laß mich los! laß mich los! während sie sich doch selbst nicht aus seinen Armen zu reißen vermochte. Als wir aber im Eisenbahnzuge waren, und die Stadt einmal hinter uns lag, faßte sie sich bald und fing von allerlei Dingen mit mir zu reden an. Sie bat mich auch, nicht zu weit mitzufahren, da ihr der Gedanke an die Einsamkeit des Urgroßvaters in dem großen leeren Hause allzu schrecklich sei. So nahmen wir Abschied von einander und ich sah sie in die weite, unbekannte Ferne hinausfahren, und etwas in meinem Herzen sagte immer: Da fährt meine Kinderzeit hin! Da geht mein Kinderglück, da verschwindet es! Es kommt nie mehr, nie mehr! Die Augen standen mir voll Thränen, und ihr Gesicht, das mir aus dem entweichenden Zuge zunickte, erschien mir durch diesen Schleier wie das des kleinen Mädchens, das mir so oft entgegengelaufen war, wenn ich aus der Schule kam. Gute, kleine Galeide! flüsterte ich; aber zurufen konnte ich es ihr nicht, denn mir war sehr weh und übel zu Muthe. 149

 


 


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