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Armes Annchen!« sagte Sophie zu ihrem Schwesterchen, als es ihr alle Erlebnisse in möglichst drastischer Weise vorgetragen hatte. »Armes Annchen, was hast du alles um meinetwillen ertragen müssen!«
»Aber, Sophie, du hast jeden Tag diese beständigen Rügen und tadelnden Bemerkungen auf dich nehmen müssen.«
»Es war nicht immer so schlimm. Die alte Dame kann ganz liebenswürdig sein. Sie ist durch mein plötzliches Wegbleiben so erschüttert worden, daß sie dadurch in ziemliche Aufregung geraten ist. Auch verstand ich schon mehr als du, so daß sie sich gar nicht um die Wirtschaft zu kümmern brauchte. Doch war es nicht immer leicht.«
»Ich weiß aber nun, wie es jemand zumute ist, der eine Stelle hat, wenn ich es auch nur kurze Zeit erprobt habe«, meinte Annchen.
»Und du hast gesehen, mein Töchterchen, daß du es zu Hause gut hast«, fügte die eben eintretende Mutter hinzu. Annchen sprang auf.
»Ich habe es zu gut, Mutter«, rief sie, »und bin lange nicht dankbar genug.«
»Ich werde dich einmal ein Jahr von zu Hause wegschicken, es ist jedem jungen Mädchen gut, andere Verhältnisse kennenzulernen. Nun lauf und besorge den Kaffee. Mache ihn aber nicht so dünn wie bei Frau von Drucker.«
Annchen ging hinaus, und Mutter war mit Sophie allein.
»Mutter, wenn ich auch so sein könnte, wie Anna. Sie kann dir ihre Liebe zeigen, während es mir so schwer wird, meine inneren Gefühle offenzulegen.«
»Die Anlagen sind verschieden. Es läßt sich leichter mit Menschen verkehren, bei denen alles, was sie denken und tun, klar zutage liegt, aber es ist nicht gesagt, daß solche Menschen tiefer fühlen als andere, die ein verschlossenes Wesen haben, die sich nicht aussprechen können. Du hast immer darunter gelitten, wir haben uns infolgedessen oft mißverstanden.«
»Liebe Mutter, vergib mir mein Unrecht, meine Undankbarkeit, meine Lieblosigkeit. Ich habe jetzt viel über alles nachgedacht und habe eingesehen, wie unrecht ich gegen euch gehandelt habe. Was wäre ich, wenn du dich meiner nicht erbarmt hättest in meinem Elend und mich als dein Kind an dein Herz genommen. Der Stolz hat mich verblendet, die dummen Geschichten der Mutter Krusen haben mir den Kopf verdreht. Statt daß ich dir alles hätte offen erzählen sollen und mich von dir belehren lassen, verschloß ich es in mir und brüstete mich, als sei ich etwas. Nun hat mich Gott gedemütigt, jetzt will ich nichts sein, als euer liebes Kind.«
Die Mutter hatte noch nie Sophiens Liebe so tief empfunden wie in diesem Augenblick.
»Mein liebes, liebes Kind, nun wird alles gut. Wenn wir uns demütigen und unsere Schuld bekennen, so finden wir bei Gott und Menschen Vergebung. Und wo Vergebung ist, da ist Leben und Frieden. Du hast nun in fremde Häuser hineingeschaut, hast gemerkt, daß es überall Mängel und Unvollkommenheiten gibt, daß man da am glücklichsten ist, wo man Liebe und Vertrauen findet und gibt. Du hast mir noch nicht erzählt, warum du so bald deine erste Stelle verlassen mußtest und warum du uns nicht geschrieben hast, daß du hier in der Hauptstadt weiltest.«
Sophie erzählte, daß es im Haus des Rechtsanwalts so ungläubig zugegangen sei. Man habe sie nicht nur nicht zur Kirche gelassen, sondern ihr auch zugemutet, am Sonntag Arbeiten zu verrichten, die sich nicht für diesen Tag gehörten. Da sie Frau Rechtsanwalt freundlich gebeten, ob sie es nicht am nächsten Tag machen dürfe, habe diese spöttisch geäußert: sie paßten wohl nicht zusammen, es sei gewiß besser, sie trennten sich. Da habe sie durch die Zeitung die Stelle bei Frau von Drucker gefunden, wo sie seit Anfang November gewesen sei. Sie habe allerdings alle Arbeit dort tun müssen, aber die Mutter wisse ja, daß sie gern arbeite. Auch habe sie gedacht, sie sei von Haus aus ein armes Kind und sei für solche Arbeit bestimmt gewesen, wenn die Pflegeeltern sie nicht in ihr Haus genommen hätten.
»Warum hast du uns aber nicht geschrieben?«
»Ich schämte mich, daß ich nur einige Wochen in der ersten Stelle gewesen, es war wieder der Stolz, der mich am Schreiben hinderte.«
»Gott der Herr hat Mittel und Wege gewußt, dich wieder zu deinen Eltern zu bringen.«
»Wie wunderbar, daß Anna gerade die Straße gehen mußte, wo mir das Unglück passierte. Wer aber war der Herr, der uns so kräftigen Beistand leistete?«
»Wir kennen ihn nicht, obwohl die Kinder schon einigemal mit ihm in Berührung gekommen sind. Matthias und Christian sind mit ihm gereist, als sie uns im Sommer im Bad besuchten. Annchen hat ihn auf einem Spaziergang mit den Brüdern getroffen und nun wunderbarerweise in der Stadt.«
Es klopfte. Friederike meldete den Besuch von Frau Wernigge. Es glitt immer wie ein Freudenschein über Marias Gesicht, wenn Lisa zu ihr kam. Sie ließ sich eigentlich wenig sehen; ihre Wege gingen zu sehr auseinander.
»Ich störe gewiß, Maria«, war Lisas erstes Wort. »Ich höre, daß du eine kranke Tochter zu pflegen hast.«
»Es ist nicht gefährlich. Sie hat den Fuß gebrochen und muß längere Zeit liegen. Ich freue mich, daß du kommst, Lisa«, sagte Maria freundlich.
»Ich wußte gar nichts von einer älteren Tochter, du hast nie von ihr gesprochen. Gestern wurde zufällig in einer Gesellschaft davon gesagt.«
Maria errötete und Lisa beobachtete sie scharf. »Ist es wahr, daß es ein angenommenes Kind ist?«
»Wir haben Sophie, als ihre Mutter starb, zu uns genommen und wie unser eigenes Kind erzogen.«
»Ganz so kann es wohl nicht sein. Für das eigene Kind, denke ich mir, hat die Mutter noch andere Gefühle.«
»Ich möchte nicht gern, daß unsere Pflegetochter das empfunden hätte. Ich glaube es auch nicht, denn sie hat mir wiederholt versichert, daß sie nie eine Zurücksetzung gemerkt hat.«
»Wie die Leute doch reden. Es wurde gestern erzählt, ihr hättet das Mädchen zwar angenommen, aber sie müsse sich ihr Brot bei fremden Leuten verdienen. Dort habe sie es so schlecht gehabt und die Pflegeeltern hätten sich gar nicht um sie gekümmert. Nun sei sie krank und elend nach Hause gekommen, oder vielmehr, man habe sie krank auf der Straße gefunden und sie euch ins Haus gebracht.«
»Sie ist von dem Straßenbahnwagen gesprungen und hat den Fuß gebrochen«, versetzte Maria. »Wie die Leute doch die Sachen falsch darzustellen wissen. Es sollte niemand etwas erzählen, was er nicht genau weiß. Du wirst ja unsere Tochter auch kennenlernen, Lisa, und du kannst dir selbst ein Urteil bilden, ob sie zurückgesetzt wird oder nicht.«
»Nimm es nur nicht übel, daß ich es gesagt habe, Maria. Du weißt, ich sagte früher alles offen heraus, was ich dachte, das ist noch so.«
»Offenheit ist immer das beste. Ich danke es jedem Menschen, der mir offen meine Fehler sagt.«
Jetzt war das Erröten an Lisa. »Deine Fehler? Du bist ein so vollkommenes Wesen, daß man keine Fehler an dir findet.«
»Sage das nicht, Lisa. Du hast mir eben aufgedeckt, wie die Welt über mich denkt. Ich weiß am besten, wie schwach und sündhaft ich bin.«
»Das ist übertrieben, Maria. Ich glaubte, du hättest die überspannten Ideen mehr und mehr abgelegt. – Aber wir wollen von etwas anderem reden; in diesem Punkt gehen unsere Ansichten auseinander.«
Mit großer Gewandtheit lenkte Lisa das Gespräch in andere Bahnen, erzählte in launiger Weise von dem gestrigen Gesellschaftsabend, von den interessanten Bekanntschaften, die sie gemacht, und brach endlich mit den Worten auf:
»Mein Mann hat ein Bild verkauft und eine große Summe Geld dafür bekommen. Das paßt uns zu Weihnachten. Es muß allerlei gekauft werden, und wir können uns recht vergnügte Feiertage machen.«
»Wir freuen uns auf unsere Jungen. Gott gebe, daß wir zum Fest alle gesund beisammen sind.« Lisa verabschiedete sich und Maria ging zu ihrer ältesten Tochter zurück, um ihr die Einsamkeit zu vertreiben. Auf ihrer Stirn lag ein Schatten.
Lisa trat in ihre Behausung. »Ist der Herr gekommen?« fragte sie das Mädchen. »Herr Wernigge war da, ist aber wieder fortgegangen. Ich sollte der gnädigen Frau sagen, er würde wohl den Abend ausbleiben, er hätte sich mit einigen Freunden verabredet.«
Lisa wußte, was es hieß, sich mit einigen Freunden verabreden! Solche Abende kosteten viel Geld; er kam spät in der Nacht heim und dann oft so, daß sie froh war, wenn die Kinder ihren Vater nicht sahen.
Es wurde Besuch gemeldet: Eine alte Dame, die lange nicht bei Wernigges gewesen war, trat ein. Sie sprachen von diesem und jenem, auch von der gestrigen Gesellschaft, an welcher die Dame teilgenommen hatte.
»Es tat mir so leid«, sagte diese, »daß so über Frau Mersburg gesprochen wurde. Ich konnte mich leider nicht einmischen, da ich gerade von einer anderen Dame angeredet wurde, aber ich hörte, daß Sie, Frau Wernigge, sagten, Sie kennten Frau Mersburg sehr gut von früher. Nun möchte ich Sie herzlich bitten, nicht zu glauben, was über das Verhältnis zur Tochter gesprochen wird. Ich weiß zufällig aus sicherer Quelle, daß Frau Mersburg ein armes Kind angenommen und es mit großer Aufopferung gepflegt hat, wie es eine Mutter nur mit einem eigenen Kinde tun kann. Dazu hatte sie die kranke Tante im Hause; sie soll eine ausgezeichnete Frau sein.« Und nun erzählte sie viele edle Züge von Maria, erzählte, welch eine treffliche Gutsherrin sie sein solle, wie sie vielen zum Vorbild dienen könne. Lisa hörte alles schweigend an, es tat ihr leid, daß sie so voreilig gehandelt hatte, das Geschwätz der Leute gleich hinüberzutragen.
Als der Besuch gegangen, saß sie in tiefem Sinnen. Sie hatte das gestrige Gespräch über Maria mit ein wenig Genugtuung angehört. Sie ist auch nicht anders als andere Menschen oder als du, hatte sie sich eingeflüstert, und es reizte sie, Maria zu hinterbringen, was man über sie gesagt hatte.
Wie still hatte sie es hingenommen, um so mehr war es zu bewundern, da man ihr entschieden unrecht getan hatte. Was war nur in dieser Maria, das sie immer gleichmäßig freundlich, demütig und geduldig machte? Sie fühlte in diesem Augenblick, was es war; sie fühlte in dieser stillen Stunde die große Kluft, die sie innerlich trennte von dieser ihrer Jugendfreundin. Es war ein großes Sehnen: »Du möchtest auch wohl sein wie sie.« Wie häßlich von ihr, daß sie hinübergegangen war, um ihr einen Stachel ins Herz zu drücken. Wehe getan hatte sie ihr, das wußte sie.
Im Herzen mußte sie sich gestehen, daß in Marias Familienleben und Hauswesen alles harmonisch war, man fühlte sich angeheimelt, wenn man dahin kam. Herr Mersburg war eine Persönlichkeit, die man hochachten mußte. Er hatte nicht nur eine gediegene Bildung, ein tiefes Wissen, sondern man fand in ihm einen Mann von vollendeten Formen, großer Gewandtheit und Liebenswürdigkeit. Die Töchter waren wohlerzogene, allerliebste, frische Mädchen; sie hatten nichts Kränkliches, Nervöses, was ihr bei Gundchen Sorge machte. War sie auch wohl selbst schuld, daß auf Gundchens Gesundheit in früheren Jahren nicht genug geachtet worden war? Es kamen ihr Zeiten in Erinnerung, in denen sie Gundchen als Kind viel allein gelassen hatte. Sie hatte große Reisen mit ihrem Mann unternommen und die Kinder oft in fremden Händen gelassen. Doch wozu diese selbstquälerischen Gedanken? – Sie klingelte.
»Ist Gundchen zu Hause?«
»Sie ist in ihrem Zimmer, gnädige Frau. Das Fräulein von drüben ist bei ihr.«
»Sage ihr, sie möchte mit ihrem Besuch zu mir kommen.«
Die jungen Mädchen traten ein. Tante Lisa entfaltete ihre ganze Liebenswürdigkeit, nannte Annchen ein über das andere Mal ihren kleinen Liebling, spielte ihnen Klavier vor und ließ sich von den Mädchen ihre Lieblingslieder bezeichnen, die sie mit so entzückender Stimme sang, daß Anna Gundchen ins Ohr flüsterte: »Wie reizend singt deine Mutter, wie schätze ich sie!«
Dann zeigt Lisa den jungen Mädchen Skizzen, die sie gezeichnet, auch einige kleine, recht hübsche Bilder, die sie nach der Natur gemalt hatte, schenkte Annchen eins, von dem die besonders entzückt war, und als diese sich zum Gehen anschickte, gab sie ihr ein Körbchen mit besonders schönen Äpfeln für die Mutter, die sie schön zu grüßen bat.
Als Annchen hinüberkam und ihrer Mutter die Bestellung machte, lächelte Maria. Sie erkannte ihre Lisa wieder. Sie konnte beleidigen, jedoch, wenn es ihr leid war, sagte sie es nicht, suchte es aber durch irgendeine freundliche Tat wiedergutzumachen. Sie konnte den Menschen, den sie gekränkt hatte, mit allerlei Gutem überschütten, so daß man ihr, man mochte wollen oder nicht, nie lange zürnen konnte.