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Herr Doktor, Sie sind schon auf?« rief Frau Maria am Morgen nach Sophiens Geburtstag, als sie, wie es ihre Gewohnheit war, vor dem Kaffee einen Spaziergang durch den Garten machte.
»Es ist so herrliches Frühlingswetter, Frau Maria, und ein Blick aus dem Fenster reizte mich, Ihren schönen Garten näher in Augenschein zu nehmen. Er ist so geschmackvoll angelegt, überhaupt macht Grüneichen einen außerordentlich hübschen und gediegenen Eindruck.«
»Wir lieben es natürlich sehr und fühlen uns hier am glücklichsten, freuen uns aber auch, wenn andere gern hier sind. Wenn es Ihnen bei uns gefällt, Herr Doktor, bleiben Sie nur recht lange. Nun müssen Sie mir aber zuerst berichten, warum Sie nicht ins Pfarramt gegangen sind, sondern sich entschlossen haben, bei der Schule zu bleiben, wie Sie gestern äußerten.«
»Aus dem einfachen Grunde, weil man mich nicht von der Schule fortlassen wollte. Man erklärte, ich sei zum Lehrer besonders geeignet, und da der Direktor des Gymnasiums gestorben ist, so ist mir die Stelle, die ich seit einiger Zeit verwaltete, angetragen. Ich mußte es als einen Fingerzeig Gottes ansehen, beim Schulfach zu bleiben, und habe den Ruf angenommen.«
»Ich wünsche von Herzen Glück. Es ist ein ehrenvoller Antrag, den Sie nicht zurückweisen konnten.«
»Ich hätte mir als Schönstes eine Landpfarre erträumt, aber Gottes Wege sind nicht die unsern. Ich kann mit Gottes Hilfe ja auch in meinem jetzigen Beruf in Segen arbeiten; es ist nicht leicht, die heutige Jugend zu erziehen und richtig zu leiten.«
»Um so schöner aber, wenn ein Mann an der Spitze steht, der in echt christlichem Sinne das Ganze beeinflußt, ich freue mich für die Schule, die einen solchen Direktor bekommt.«
»Schmeicheln Sie mir nicht, Frau Maria, ich weiß selbst, wie unwürdig ich bin, und wie ich aus eigenen Kräften nichts vermag. Ich werde viel zu tun haben, um mich in alles einzuarbeiten.«
»Wie angenehm, daß Sie uns noch einige Tage schenken.«
»Der Besuch wäre wohl noch nicht zur Ausführung gekommen, wenn es nicht wegen einer Schwester geschehen wäre. Nun kommt die Frage, die mich hergetrieben hat, Frau Maria, haben Sie schon eine Erzieherin für Ihre jüngsten Töchter?«
»Immer noch nicht fest. Ich bin schon mit verschiedenen in Unterhandlung gewesen, es hat sich aber alles zerschlagen. Nun ist noch eine da, mit der ich augenblicklich unterhandle. Es scheint ein nettes, bescheidenes Mädchen zu sein, ihre Zeugnisse sind gut, sie ist lange auf der letzten Stelle gewesen, wenn ihr die Bedingungen, die ich stellte, passen, so werde ich sie sofort anstellen. Es wird ja auch höchste Zeit, da der Unterricht nächste Woche beginnen muß.« Herr Doktor Schwarz sah enttäuscht aus und schwieg.
»Wollten Sie mir eine Lehrerin für Mathilde und Olga vorschlagen?«
»Ich hätte, wenn Sie noch nicht gebunden wären, angefragt, ob sie meiner Schwester Margarete Ihr Vertrauen schenken wollten.«
»Gretchen? Ist sie frei?«
»Sie ist augenblicklich ohne Stelle; ich wüßte sie gerne in einem christlichen Hause – am liebsten bei Ihnen, Frau Maria, aber natürlich denke ich nun nicht daran.«
»Hätte ich es etwas früher gewußt, wie gern wäre ich darauf eingegangen.«
Sie standen jetzt an der Gartenpforte in der Nähe des Hauses. Da kam der Briefträger in Sicht. Er sah Frau Mersburg und händigte ihr die Postsachen ein.
»Wirklich ein Brief von dem Fräulein«, rief sie. Nachdem sie ihn geöffnet und überflogen, sagte sie: »Es soll wohl sein, Herr Doktor. Das Fräulein schreibt, ihre Mutter sei plötzlich erkrankt, sie müsse alle anderen Pläne aufgeben und daheim bleiben. So schmerzlich es für das junge Mädchen ist, so klar ist es mir, was ich zu tun habe. Wird Ihre liebe Schwester gern zu uns kommen?«
»Sie hatte die Absicht nach England zu gehen, um sich in der englischen Sprache zu vervollkommnen. Aber wenn Sie sie gebrauchen können, Frau Maria, möchte sie am liebsten in Ihrem Hause ein Heim finden.«
»Sie haben es ihr gewiß schöner vorgemalt, als es ist«, sagte Maria. »Bei uns«, fuhr sie ernst fort, »wird ein Leben der Pflicht geführt. So wie Sie es jetzt in den Ferien finden, ist es nicht immer. Jeder im Haus hat seinen bestimmten Pflichtenkreis, doch sind Stunden der Erholung und des fröhlichen Beisammenseins nicht ausgeschlossen.«
»Gretchen ist ein fleißiges und sehr begabtes Mädchen, ich glaube, Sie werden sie liebgewinnen.«
»Ich habe Sie alle schon liebgehabt, als Sie Kinder waren, das dürfen Sie nicht vergessen, lieber Doktor.«
»Ich danke Ihnen, Frau Maria«, sagte der Doktor in Verehrung zu ihr aufsehend.
»Natürlich müssen wir mit meinem Mann die Sache besprechen, wenn er mir auch, was die Mädchen betrifft, ziemlich freie Hand läßt.«
Herr Mersburg kam eben durch die Haustür und sah sich suchend um. »Nun, das muß ich sagen, da steht das Frauchen und plaudert mit dem Doktor und läßt die ganze Familie am Kaffeetisch warten. Das ist mir eine schöne Geschichte.«
»Sehen Sie, wie mir's geht, wenn ich einmal meine Pflicht versäume. In den Ferien ist freilich eine spätere Kaffeestunde angesetzt, aber – aber – Vater, der Herr Doktor ist diesmal schuld, daß ich nicht zur rechten Zeit da bin.«
Nun wurde Sophie sichtbar: »Liebe Eltern, kommt ihr heute gar nicht?«
»Vorwärts, Herr Doktor. Sehen Sie, was Ihr Hiersein für Unheil anrichtet. Die ganze Hausordnung wird gestört.«
Sie gingen ins Haus, wo schon sämtliche Kinder warteten. Bald war alles in anregendem Gespräch. Die neuesten Nachrichten bildeten schon immer morgens beim Kaffee den Gesprächsstoff.
Gundchen und Anna hörten gespannt zu, als die Herren über Politik redeten, während Frau Maria viel mit ihrer ältesten Tochter zu besprechen hatte.
Am folgenden Tage ging Maria ins Dorf, um eine Kranke zu besuchen, da traf sie Doktor Schwarz in der großen Allee, die vom Herrenhause ins Dorf führte.
»Sie hier ganz allein, Herr Doktor, ich glaubte, Sie seien mit meinem Mann ausgegangen, es ist nicht recht, den Gast sich selbst zu überlassen.«
»Herr Mersburg hat sich meiner sehr freundlich angenommen, wurde aber vor einer Weile vom Inspektor abgerufen, und ich habe Studien gemacht.«
»Studien?« fragte Maria.
»Ja, Studien über Ihre vortreffliche Erziehungsgabe.«
Maria errötete. »Wieso denn?«
»Ich habe Ihr Töchterchen beobachtet. Sie ist mit Gundchen im Dorf und fährt die kleinen Kinder der Bauersfrauen spazieren.«
Maria lachte. »Ja so! Wir haben eine kranke Mutter im Dorf, die viele kleine Kinder hat. Solange die Frau liegen muß, hat Annchen sich erboten, morgens die Kinder zu hüten. Sie tut es mit viel Geschick.«
»Ich habe sie bewundert, ohne daß sie mich gesehen hat. Sie geht so geschickt mit den Kleinen um, plaudert so niedlich mit ihnen, es ist ein Vergnügen, ihr zuzusehen. Sie ist reizend.«
Maria erhob drohend den Finger und sagte: »Herr Doktor, schmeicheln Sie nicht.« Doktor Schwarz wurde ernst.
»Es ist meine vollste Überzeugung, was ich sage. Frau Maria, alles andere waren Nebengründe, aus diesem Grunde bin ich hauptsächlich gekommen; ich habe Ihr Kind lieb, es zu besitzen ist mein höchster Wunsch.«
Maria sah ihn erschrocken an, sie glaubte nicht recht gehört zu haben. »Das Kind«, rief sie, »ist kaum siebenzehn. Nein, Herr Doktor, das müssen Sie sich aus dem Sinn schlagen, daran ist vorderhand gar nicht zu denken.«
»Warum nicht, Frau Maria?«
»Weil sie noch zu sehr Kind ist. Weil ihr, ich bin fest davon überzeugt, noch nie derartige Gedanken gekommen sind.«
»Da soll ich also warten?«
Maria sah unschlüssig aus. »Wenn Sie es sich nicht lieber ganz aus dem Sinn schlagen wollen. Sie brauchen eine Frau, Sie können ihr ein Heim bieten und werden, je eher je lieber, sich binden wollen. Unser Annchen würde Ihnen, wie sie jetzt ist, nicht genügen. Sie muß noch viel lernen, bevor sie eine tüchtige Hausfrau sein kann, und dann – wie gesagt, sie ist noch zu jung.«
»Es fragt sich, ob Sie überhaupt das Zutrauen zu mir haben, daß ich sie glücklich machen könnte?«
»Das habe ich schon«, entgegnete Maria warm. »Ich schätze Sie sehr, ich wüßte nicht, wem wir unser Kind lieber anvertrauen könnten –«
»Nun, dann ist ja alles gut«, rief Doktor Schwarz. »Wenn ich nur das weiß, will ich gerne warten und wenn's zwei Jahre sein sollten. Wenn ich nur die Aussicht auf spätere Erfüllung meiner Wünsche mitnehmen darf.«
»Dann müßte ich eine Bedingung stellen.«
»Die wäre?«
»Daß Sie Annchen nichts von Ihrer Neigung merken lassen, daß Sie zwei Jahre vergehen lassen, ohne hierher zu kommen. Wenn Sie nach zwei Jahren noch ebenso denken wie heute, dann wollen wir der Sache nähertreten. Sie tun mir freilich leid, wenn ich diese Wartezeit über Sie verhängen muß, aber ich kann und darf als Mutter nicht anders handeln. Mein Mann, das weiß ich, würde geradeso denken.«
»Sie mögen wohl recht haben, Frau Maria; ich füge mich, wenn's auch schwer ist. Ich reise heute.«
Maria sah unruhig zu ihm auf. Wie gern hätte sie mit ihrem gastfreundlichen Sinn gesagt: »Bleiben Sie noch.« Aber es war ihr bang, sie glaubte, es sei ihres Kindes wegen am besten, wenn er ginge.
»Es tut mir leid, daß ich nicht zureden kann, länger zu bleiben.«
Jetzt schallte Lachen und Plaudern an ihr Ohr. Die beiden jungen Mädchen kamen die Allee herauf.
»Mutter, es gab heute so sehr viel Spaß mit den Kleinen, sie waren zu niedlich«, sagte Annchen und erzählte der Mutter ihre Erlebnisse mit den Kindern, während Gundchen sich an Onkel Ulrichs Arm hing und ihm von einem Brief der Mutter berichtete, die Heimweh nach ihr habe.
»Allzulange darfst du Mutter auch nicht allein lassen, Adelgund. Wie lange gedenkst du hier zu bleiben?«
Der Onkel sah so ernst und feierlich aus und nannte sie Adelgund. Was hatte er nur? Sie sah verwundert zu ihm auf und sagte: »Bis Pfingsten habe ich Erlaubnis, es wird nun immer schöner auf dem Land, ich muß es doch noch einige Wochen genießen, ehe ich in die dumpfe Stadt zurückgehe.«
»Natürlich, gewiß«, sagte der Onkel, aber sie merkte, er war zerstreut, er war anders als sonst.
»Onkel«, fuhr sie fort, »morgen soll eine weitere Ausfahrt gemacht werden, damit du die hübsche Gegend kennenlernst.«
»Morgen bin ich nicht mehr hier, mein Kind.« Derselbe feierliche Ton.
»Aber Onkel. Du wolltest doch bis Sonnabend bleiben. Annchen«, rief sie, und drehte sich nach der Freundin um, die mit der Mutter ging, »denke dir nur, Onkel Ulrich will heute schon wieder abreisen!«
»Heute schon?« rief Annchen verwundert.
»Mutter, das geht doch nicht. Onk– Herr Doktor Schwarz muß doch bis Sonnabend bleiben?«
Wie sonderbar, daß die Mutter, die sonst so gerne Gäste hatte, nicht dringlich zuredete, dann hätte er es gewiß getan. Da die Mutter schwieg, sagte Annchen unbefangen: »Können Sie denn wirklich nicht bis Sonnabend bleiben, es wäre doch für Gundchen so hübsch –.«
»Gundchen muß sich fügen, wenn es nicht anders geht«, sagte er freundlich, ohne sich umzuwenden.
Annchen preßte den Arm der Mutter fester an sich und sagte leise: »Wie schade!«
Ebenso leise fragte die Mutter: »Möchtest du denn auch gern, daß Herr Doktor noch bliebe?«
»Natürlich, Mutter, zu gern. Es ist doch auch wegen Gundchen«, fügte sie hinzu und sah die Mutter bittend an.
Wenn sie nun dachte, Frau Maria hierdurch zu bewegen, den Onkel Ulrich zum Bleiben aufzufordern, so hatte sie sich getäuscht. Es wurde nichts gesagt. Als sie beim Hause angelangt waren, zog Gundchen den Onkel mit sich in den Garten und winkte Anna, ihnen zu folgen. Die Mutter aber hatte gerade etwas Wichtiges zu besorgen für Annchen und nahm sie mit ins Haus.
Ja, ihr Annchen war eine liebreizende Erscheinung. Sie konnte es einem jungen Mann nicht verdenken, wenn er sie zur Frau begehrte. Ihr kindlich frommer Sinn, ihr schlichtes, einfaches Wesen, ihre Freundlichkeit und Selbstlosigkeit, alles machte sie liebens- und begehrenswert. Aber Maria hatte recht, die große Jugend und Unerfahrenheit ließ es wünschenswert erscheinen, sie noch einige Jahre älter und reifer werden zu lassen. Ihr Mann, dem sie die Sache, sobald sie sich mit ihm allein sah, mitteilte, war ganz ihrer Meinung, wenn sich auch beide sagten, daß kaum ein besserer Mann zu finden sei als Ulrich Schwarz. Nach einer weiteren Unterredung schieden sie von ihm in vollem Einverständnis.
Maria hatte mancherlei Schweres mit ihren Kindern durchgemacht, als sie klein waren, Krankheiten aller Art, Schwierigkeiten in der Erziehung. Es wollte ihr aber scheinen, daß nun, da sie älter wurden, die Sorgen um und für sie das Gemüt tiefer bewegten. Was hatte sie vor Sophiens Verlobung durchzumachen gehabt! Sophie wußte schon seit dem Winter, daß Otto sie begehrte. Er hatte es ihr bei seinem Besuch in der Stadt gesagt, aber sie hatte es rundweg abgeschlagen mit dem Bemerken, sie sei den Pflegeeltern zu viel Dank schuldig, sie würde nie daran denken, sie zu verlassen, sondern ihren Dank dadurch zeigen, daß sie ihnen zeitlebens treu diente, immer für sie arbeitete. Damit hatte sich aber der junge Mann nicht abweisen lassen. Er hatte sich an die Eltern gewandt, die von solcher Aufopferung natürlich nichts wissen wollten. So gab es mancherlei Kämpfe und Aufregungen, bis Sophie überzeugt war, daß es ein falscher Edelmut sei, ihr Glück den Eltern zu opfern. Kaum war diese Angelegenheit erledigt, wollte man ihr liebes Annchen entführen. Ein banger Schmerz zog durch ihre Seele und doch wieder ein Gefühl der Freude, daß ihre Kleine einem Manne, den sie von Jugend an kannte, von dessen innerem Wert sie überzeugt war, angehören sollte. Nun galt es, sie tüchtig zu machen in allen Dingen, sie vorzubereiten auf ihren zukünftigen Beruf.
Gott der Herr aber mußte seinen Segen zu allem geben, sollte es anders wohlgelingen.