Victor Hugo
Die Elenden. Zweiter Theil. Cosette
Victor Hugo

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Zweites Buch. Der Orion

I.
Nr. 24601 wird Nummer 9430

Jean Valjean war wieder eingefangen worden.

Man wird uns Dank wissen, wenn wir die widerwärtigen Einzelheiten dieses Vorfalls mit Stillschweigen übergehen. Wir beschränken uns darauf, zwei diesbezügliche Zeitungsnotizen anzuführen.

Sie sind ein wenig kurz gehalten, denn eine »Gerichtszeitung« gab es dazumal noch nicht.

Die erste Notiz entnehmen wir dem Drapeau blanc vom 25. Juli 1823:

»Ein Arrondissement des Pas-de-Calais ist so eben der Schauplatz eines ungewöhnlichen Vorfalls gewesen. Ein im Departement unbekannter Mann, Namens Madeleine, hatte daselbst seit einigen Jahren vermittelst eines neuen Verfahrens eine alte Lokalindustrie, die Fabrikation der Jet- und schwarzen Glasartikel, gehoben. Er hatte dabei sich selber und, wie zugegeben werden muß, auch das Arrondissement bereichert. Zum Lohn für diese seine Verdienste war er zum Bürgermeister ernannt worden. Jetzt ist nun die Polizei dahinter gekommen, daß Madeleine ein bannbrüchiger, ehemaliger Zuchthaussträfling Namens Jean Valjean war, der 1796 wegen Diebstahl verurtheilt wurde. Jean Valjean also ist wieder in das Bagno zurückgebracht worden. Vor seiner Festnahme soll es ihm noch geglückt sein, eine Summe von mehr als einer halben Million, die er bei Laffitte hinterlegt hatte, zu erheben. Man versichert, daß er dieses Geld in seinem Geschäft ehrlich verdient habe. Wo Jean Valjean dasselbe verborgen hat, ehe er wieder dingfest gemacht wurde, hat man nicht in Erfahrung bringen können.«

Der zweite, ausführlichere Artikel steht im Journal de Paris von demselben Tage:

»Ein ehemaliger, aus der Haft entlassener Zuchthaussträfling, Namens Jean Valjean, ist kürzlich unter ganz eigenartigen Umständen im Departement des Var vor Gericht gestellt worden. Diesem Bösewicht war es gelungen, die Wachsamkeit der Polizei zu täuschen. Er hatte einen falschen Namen angenommen und es dahin gebracht, daß er zum Bürgermeister einer kleinen Stadt in Nordfrankreich ernannt wurde. Hier betrieb er auch ein schwunghaftes Geschäft. Er hatte zur Konkubine eine öffentliche Dirne, die bei seiner Festnahme vor Schreck gestorben ist. Der Elende, der mit herkulischer Körperkraft begabt ist, fand Mittel und Wege zu entspringen, wurde aber drei oder vier Tage darauf wieder aufgegriffen, gerade als er in eine Diligence stieg, um sich nach Montfermeil (im Departement Seine-et-Oise) zu begeben. Es heißt, er habe die drei oder vier Tage, wo er in Freiheit war, dazu benutzt, eine von ihm bei einem unserer bedeutendsten Banquiers hinterlegte Summe, die sich auf sechs bis sieben mal hunderttausend Franken belaufen haben soll, zu erheben. Die Anklageakte versichert, er habe dieses Geld an einem ihm allein bekannten Orte vergraben und man hat es nicht beschlagnahmen können. Sei dem, wie ihm wolle, gegen Jean Valjean wird gegenwärtig vor dem Schwurgericht des Departement des Var eine Anklage wegen eines Straßenraubes verhandelt, den er vor etwa acht Jahren an einem kleinen Savoyarden verübt haben soll.

Der Bandit hat darauf verzichtet, sich zu vertheidigen. Es ist durch die Anklagebehörde festgestellt worden, daß Jean Valjean diesen Raub in Gemeinschaft mit Andern ausgeführt hat und Mitglied einer Räuberbande war. Demgemäß ist Jean Valjean, nachdem er seiner Schuld überführt war, zum Tode verurtheilt worden. Der Verbrecher hat es abgelehnt, die Nichtigkeitsbeschwerde einzureichen. Se. Majestät der König haben vermöge Allerhöchstihrer unerschöpflichen Milde geruht, ihn zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe zu begnadigen, demzufolge Jean Valjean unverzüglich in das Bagno von Toulon überführt worden ist.«

Unsere Leser werden sich erinnern, daß Jean Valjean in Montreuil-sur-Mer die Kirche besuchte. Daher deuteten denn auch einige Zeitungen, u. A. der Constitutionnel, diese Begnadigung als einen Triumph der »Pfaffen«.

Jean Valjean wechselte im Zuchthaus seine Nummer. Er hieß jetzt Nr. 9430.

Mit Herrn Madeleine verschwand übrigens auch der Wohlstand seines Arrondissements; was er in der oben geschilderten Schreckensnacht vorausgesehen, verwirklichte sich; sobald er fehlte, fehlte dem Ganzen die Seele. Nach seinem Sturze kam es sofort zu einer egoistischen Theilung, einer Zerstückelung seiner großen Schöpfung, wie Aehnliches fortwährend in der Welt vorkommt, von der Geschichte aber nur in einem Falle beachtet worden ist, weil es sich nämlich nach dem Tode Alexanders des Großen zugetragen hat. Wie damals Generäle sich zu Königen krönten, so etablirten sich Madeleines Werkmeister als selbständige Fabrikanten und befehdeten sich auf's grimmigste. Seine großartige Fabrik wurde geschlossen und seine Arbeiter zerstreuten sich. Die Einen zogen aus der Gegend weg, Manche ergriffen einen anderen Erwerbszweig. Die Industrie nahm einen kleinlichen Charakter an und diente der Gewinnsucht, nicht mehr dem Guten. Keine Zentralisation mehr, überall die verbissenste Konkurrenz. Früher hatte Madeleine Alles beherrscht und nach einem einheitlichen Gesichtspunkt gelenkt; jetzt wollte Jeder die Decke an sich reißen; es trat ein Kampf Aller gegen Alle an die Stelle der ursprünglichen festen Organisation, gegenseitiger Haß und Brodneid an die Stelle des Wohlwollens, das der Neubegründer der Industrie Allen gleichmäßig hatte angedeihen lassen. Die von Madeleine geknüpften Fäden geriethen in Verwirrung und rissen; die Fabrikate wurden durch Anwendung von Verfälschungen entwertet, das Vertrauen vernichtet; die Nachfrage nahm ab; die Löhne gingen herunter, die Arbeit stockte und schließlich kam der Bankerott.

Der Staat selber bekam es zu fühlen, daß ein tüchtiger Mann niedergetreten war. Noch nicht vier Jahre, nachdem die Frage nach der Identität Madeleine's und Jean Valjean's zu Gunsten des Bagnos entschieden wurde, waren die Steuererhebungsunkosten im Arrondissement Montreuil-sur-Mer verdoppelt, und der Minister de Villèle konstatirte im Februar 1827 diese Tatsache in der Kammer.

II.
Zwei Verse, die der Teufel gedichtet haben soll

Ehe wir weiter gehen, erachten wir es für rathsam, ausführlich eine sonderbare Geschichte zu berichten, die sich zu derselben Zeit in Montfermeil zutrug, und die vielleicht zu den erwähnten Vermuthungen der Staatsanwaltschaft in irgend einer Beziehung steht.

In und bei Montfermeil besteht eine Sage, die um so beachtenswerther und kostbarer ist, als eine Sage in der Nähe von Paris so selten vorkommt, wie eine Aloepflanze in Sibirien. Da wir aber seltene Pflanzen zu schätzen wissen, wollen wir die Sage, die in Montfermeil zu Hause ist, erzählen. Der Teufel soll seit unvordenklichen Zeiten den dortigen Wald zu einem Versteck für seine Schätze auserkoren haben. Brave Gevatterinnen versichern, nicht selten begegne man in der Abenddämmerung an einsamen, abgelegenen Stellen des Waldes einem schwarzen Manne, der wie ein Fuhrmann oder Holzfäller aussehe, Pantinen trage, mit einer leinenen Hose und dito Kittel bekleidet sei, und der sehr leicht daran zu erkennen wäre, daß er statt Mütze oder Hut zwei ungeheure Hörner auf dem Kopfe trage. Allerdings ein deutliches Erkennungszeichen! Dieser Mann sei gewöhnlich, wenn man ihn zu Gesicht bekomme, im Begriff ein Loch in die Erde zu graben. Drei Arten gebe es, sich diese Begegnung zu Nutze zu machen. Erstens könne man auf den Mann zugehen und ihn anreden. Dann bemerkt man, daß es ein gewöhnlicher Bauer ist. Schwarz sieht er aus von wegen der Abenddämmerung. Er gräbt auch nicht, er mäht blos Gras zu Kuhfutter, und was man für Hörner angesehen hat, sind die Zinken einer Mistgabel, die er auf dem Rücken trägt, und die über seinen Kopf emporragt. Nach einer solchen Begegnung stirbt der Betreffende im Laufe von acht Tagen. Die zweite Methode besteht darin, daß man den Mann beobachtet, wartet, bis er mit seinem Loch fertig ist, es wieder zugeschüttet hat und weggegangen ist; dann rennt man schnell hin, macht die Grube wieder auf und nimmt sich den Schatz, den der schwarze Mann unfehlbar dort geborgen hat. In diesem Fall stirbt der Betreffende spätestens nach vier Wochen. Drittens kann man auch den schwarzen Mann nicht anreden, ihn nicht belauern und spornstreichs davonlaufen. Dann stirbt man im Laufe eines Jahres.

Da alle drei Methoden ihre Unannehmlichkeit haben, bevorzugt man gewöhnlich die zweite, die wenigstens den Vortheil hat, daß man in den Besitz eines Schatzes gelangt, wenn auch nur auf vier Wochen. Tollkühne Leute haben demgemäß, wie versichert wird, oft genug die von dem schwarzen Mann gegrabenen Löcher wieder aufgemacht und den Teufel zu bestehlen versucht. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen aber stets überaus dürftige gewesen sein. Wenigstens versichert dies die Lokalsage und zwei in barbarischem Latein abgefaßte Verse eines normannischen Mönches, eines schlechten Kerls, der sich mit Zauberei befaßte und Tryphon hieß. Besagter Tryphon ist in der Abtei Saint-Georges de Bocherville bei Rouen begraben, und auf seinem Grabe werden Kröten geboren.

Man quält sich also gottserbärmlich ab mit diesen gewöhnlich sehr tiefen Gruben, schwitzt, wühlt, schippt die liebe lange Nacht hindurch, denn so was muß bei Nacht gemacht werden, verbrennt Lichter, ruinirt seinen Spaten, und ist man endlich unten angelangt, so besteht der Schatz des Teufels in – einer Kupfer-, manchmal Silbermünze, einem Stein, einem Skelett, einem blutenden Leichnam, auch wohl einem Gespenst, das vierfach zusammengeklappt ist, wie man einen Bogen Papier zu vier Blättern faltet. Manchmal findet man auch gar nichts. Dies besagen auch Tryphons Verse:

Fodit et in fossa thesauros condit opaca,
As, nummos, lapides, cadaver, simulacra nihilque.

Heutzutage, heißt es, findet man auch bald eine Pulverbüchse nebst Kugeln, bald ein altes fettiges, vergilbtes Spiel Karten, dessen sich offenbar der Teufel bedient hat. Tryphon erwähnt diese beiden Fundobjekte nicht, da er im zwölften Jahrhundert lebte, und der Teufel nicht so gescheidt gewesen ist, das Pulver vor Roger Bacon und die Spielkarten vor König Karl VI. zu erfinden.

Spielt man übrigens mit dergleichen Karten, so ist man sicher, Alles, was man besitzt, zu verspielen, und das Schießpulver hat die Eigenschaft, daß ein damit geladenes Gewehr platzt und Einem die Stücke ins Gesicht fliegen.

Kurze Zeit nun, nachdem der ehemalige Zuchthaussträfling Jean Valjean sich laut der Versicherung des Staatsanwalts in der Nähe von Montfermeil herumgetrieben hatte, bemerkte man, daß in eben demselben Dorfe ein alter Chausseearbeiter, ein gewisser Boulatruelle, sich viel im Walde zu schaffen machte. Man behauptete in der Umgegend, Boulatruelle habe gesessen; jedenfalls stand er unter Polizeiaufsicht, und da er nirgends Beschäftigung fand, so verwandte ihn die Verwaltung – gegen geringeren Lohn – als Erdarbeiter auf der Chaussee zwischen Gagny und Lagny.

Dieser Boulatruelle wurde von den Leuten der ganzen Gegend scheel angesehen. Man fand ihn zu höflich, zu bescheiden. Er nahm vor Jedermann die Mütze ab und war zu ängstlich oder zu freundlich gegen die Gendarmen. Jedenfalls stand der Kerl in Beziehung zu Räuberbanden und war im Stande, ehrlichen Leuten im Wald des Abends aufzulauern. Nur ein Umstand sprach zu seinen Gunsten: Er soff.

Man glaubte also folgende Beobachtungen gemacht zu haben:

Seit einiger Zeit kam Boulatruelle sehr früh von der Arbeit und begab sich mit seinem Spaten in der Wald. Man begegnete ihm des Abends auf den einsamsten Lichtungen und in den wildesten Dickichten, und es sah aus, als suche er etwas. Manchmal faßte man ihn auch dabei ab, wie er Löcher grub. Die Frauen, die ihn dabei antrafen, hielten ihn anfangs für Beelzebub, erkannten ihn dann aber und – ängstigten sich nicht minder. Dergleichen Begegnungen mißfielen aber unserem Boulatruelle ebenfalls. Es war augenscheinlich, daß er Heimlichkeiten hatte.

Im Dorfe raunte man sich zu, es sei sonnenklar, daß der Teufel in dem Walde gewesen wäre. Boulatruelle habe ihn gesehen und suche nun. »Solch' ein schlechtes Subjekt«, meinten Alle, »bringt es wohl auch fertig und findet was.« Die Freigeister aber spöttelten: »Wird sich Boulatruelle den Schatz des Teufels langen oder langt sich der Teufel den Boulatruelle?« Kurz, es war ein Gesprächsgegenstand, das den alten Frauen Veranlassung genug gab sich zu bekreuzigen.

Schließlich nahm die Geheimnißkrämerei, die Boulatruelle im Walde trieb, doch ein Ende, und er ging seiner Arbeit auf der Chaussee in der gewohnten Weise nach. Bald sprach man nicht mehr von der Sache.

Mit Ausnahme einiger Neugieriger, die sich eigene Gedanken machten. Diese meinten, es werde sich wohl nicht um einen sagenhaften Schatz gehandelt haben, nicht um Tresorscheine aus der Druckerei des Teufels, sondern um etwas Solideres und Greifbareres, das Boulatruelle halb und halb ausgeschnüffelt habe. Am meisten ging die Sache dem Gastwirt Thénardier, der als Freund Jedermanns auch mit Boulatruelle verkehrte, so wie dem Schulmeister, im Kopf herum.

Eines Abends behauptete der Schullehrer gesprächsweise, früher würde das Gericht Ermittelungen angestellt haben, was Boulatruelle im Walde treibe. Man würde schon ein Geständnis erzwungen haben. Man hätte z. B. in solchen Fällen dem Delinquenten das Haar abgeschoren und ihm langsam einen Tropfen Wasser nach dem andern auf den Kopf geträufelt. Die Qual könnte auch der stärkste und hartnäckigste Mann nicht lange aushalten.

»Hm!« meinte Thénardier, »so können wir's nicht machen. Aber vielleicht bringt man etwas aus ihm heraus, wenn man ihm Wein in die Kehle träufelt.«

Boulatruelle wurde also jetzt oft freigehalten. Er trank viel und sprach wenig. So bedeutende Quantitäten Wein man ihm auch durch seine weite Saufgurgel jagen mochte, er war verschwiegen wie ein Untersuchungsrichter. Aber die Verschwörer ließen ihm keine Ruhe und brachten ihn doch dahin, daß er ab und zu eine dunkle Aeußerung fallen ließ, so daß schließlich Thénardier und der Schulmeister sich folgende Geschichte zurecht legen konnten.

Boulatruelle erblickte eines Morgens, als er auf Arbeit ging, unter einem Strauch eine Schaufel und eine Hacke, und es kam ihm so vor, als hätte der Betreffende die Absicht gehabt sie zu verstecken. Indessen bildete er sich ein, die beiden Werkzeuge müßten Vater Six-Fours, dem Wasserträger, gehören und schlug sich die Sache aus dem Sinn. Aber am Abend desselben Tages sah er, ohne selber gesehen zu werden, da er hinter einem dicken Baum stand, wie Jemand, der die Landstraße heraufkam, sich seitwärts schlug nach der Gegend hin, wo der Wald am dichtesten war. Der Kunde, behauptete Boulatruelle, wäre Einer gewesen, der nicht in der Gegend heimisch sei, ihm aber sehr gut bekannt gewesen. In Thénardiers Sprache übersetzt, er war ein ehemaliger Zuchthauskamerad Boulatruelles. Dieser aber weigerte sich hartnäckig, den Namen zu nennen. Der »Kunde« trug etwas, das wie eine große Schachtel oder wie ein kleiner Koffer oder Truhe aussah. »Nanu!« dachte Boulatruelle. Aber erst nach sieben oder acht Minuten, behauptete er, kam er auf den Gedanken, dem Kunden nachzugehen. Aber zu spät! Der Kunde war im Dickicht verschwunden, es dunkelte auch schon, und Boulatruelle bekam ihn nicht mehr zu Gesicht. Nun hatte er sich aber am Saum des Waldes aufgestellt. Der Mond schien hell, und zwei bis drei Stunden darauf sah Boulatruelle seinen Kunden wieder aus dem Wald herauskommen, ohne Koffer, aber mit einer Schaufel und einer Hacke. Er ließ ihn vorbeigehen, ohne ihn anzureden; denn er wußte, daß der Andere dreimal so stark wie er, mit einer Hacke bewaffnet war und ihn sicherlich totschlagen werde, wenn er ihn wiedererkennen und sich erkannt sehen würde. Aber beim Anblick der Schaufel und der Hacke war unserm Boulatruelle ein Licht aufgegangen. Er rannte nach dem Strauch hin, wo er am Morgen die beiden Werkzeuge gesehen hatte, und da sie nicht mehr da waren, schloß er daraus, daß sein »Kunde« den Koffer vergraben hatte. Nun war aber der Koffer zu klein, um eine Leiche aufzunehmen; er mußte also Geld enthalten. Daher die Nachforschungen im ganzen Walde. Aber vergeblich. Er hatte keinen Schatz gehoben.

Nun dachte in Montfermeil Niemand mehr an die Sache. Nur einige alte Weiber meinten: »Der Mann hat den ganzen Techtelmechtel nicht so mir nichts dir nichts angestellt; er hat sicher gewußt, daß der Teufel da gewesen ist.«

III.
Eine angefeilte Kette

Gegen Ende Oktober 1823 sahen die Einwohner von Toulon den »Orion« in ihren Hafen einfahren, ein Schiff, das damals zu dem Mittelmeergeschwader gehörte und später in Brest als Schulschiff verwendet wurde.

So arg das Meer dieses Fahrzeug auch zugerichtet hatte, so imponirte sein Anblick doch sehr. Es führte, ich weiß nicht, was für eine Flagge, die mit elf Salutschüssen begrüßt werden mußte, und es erwiderte elf andere Schüsse. Summa: Zweiundzwanzig Schüsse. Man hat berechnet, daß die Höflichkeitssalven, der Austausch von Anstandslärm, Etikettesignale, Formalitäten auf den Reeden und seitens der Citadellen, Sonnenbegrüßungen Morgens und Abends durch die Festungen und Kriegsschiffe, Oeffnung und Schluß von Thoren täglich auf der Erde die Lösung von 150,000 überflüssigen Kanonenschüssen erfordern. Rechnet man den Schuß auf je sechs Franken, so kommen 900,000 Franken täglich heraus und im Jahr 300 Millionen, die zu Rauch werden. Aber das ist Nebensache. Während der Zeit verhungern so und so viel Arme.

Das Jahr 1823 bezeichnet jene Epoche, welche von den Anhängern der Restauration nach dem Kriege in Spanien benannt worden ist.

Dieser antiliberale Krieg, der von den französischen Bourbons zu Gunsten der spanischen geführt wurde, kostete Frankreich wenig Blut, weil nirgends gefährliche Gegenwehr geleistet wurde, brachte Wenigen Ehre, Niemandem Ruhm, Manchem Schande ein. Und ebenso unzufrieden wie der Soldat, der da glaubte, die spanischen Generäle und Festungskommandanten seien von Frankreich bestochen gewesen, ebenso unwillig war die französische Demokratie. Dieser Feldzug hatte die Unterwerfung eines Nachbarvolkes unter das Joch eines Despoten zum Zweck gehabt. Ein abscheulicher Widerspruch! Frankreichs Beruf ist die Seele der Völker zu wecken, nicht sie ersticken. Seit 1792 sind alle Revolutionen in Europa Folgen der großen französischen Revolution; Frankreich strahlt Freiheit aus. Dies ist eine sonnenklare Thatsache. »Wer das nicht sieht, ist blind!« sagte Bonaparte.

Den Bourbons wurde der Krieg des Jahres 1823 verderblich. Sie wähnten, einen großen Erfolg errungen zu haben und begriffen nicht, wie gefährlich es ist, eine Idee durch eine Armee töten zu wollen. Sie beriefen sich, um die Wirksamkeit von Gewaltstreichen zu beweisen, auf diesen Krieg und gewöhnten sich an eine abenteuerliche Politik. Da Frankreich, dachten sie dann 1830, in Spanien das absolute Königthum mit Gewalt wieder eingeführt hat, so müßte dies in Frankreich erst recht möglich sein. Sie verfielen in den gefährlichen Irrtum, daß sie den passiven Gehorsam des Soldaten für die Einwilligung der Nation hielten. Ihr Sturz im Jahre 1830 war also im Keime schon in dem Feldzug des Jahres 1823 enthalten.

Kommen wir nun zu dem Orion zurück.

Dieses Kriegsschiff gehörte, wie schon erwähnt, zu dem Geschwader, das, während die Armee in Spanien kämpfte, auf dem Mittelländischen Meere kreuzte.

Ein Kriegsschiff in einem Hafen fesselt immer die Aufmerksamkeit der Menge. Ist es doch etwas Großes, und das Volk liebt das Große.

Ein Linienschiff ist eine der herrlichsten Waffen, die das Genie des Menschen sich gegen die Mächte der Natur geschmiedet hat.

Es besteht zu gleicher Zeit aus dem leichtesten und aus dem schwersten Material, weil es gegen die drei Formen der Substanz, gegen Festes, Flüssiges und Gasförmiges, anzukämpfen hat. Es hat elf eiserne Klauen, um sich an dem Granit des Meeresbodens festhalten zu können, und eine Unzahl von Flügeln, um den Wind aufzufangen. Seinen Athem haucht es durch hundert und zwanzig Kanonen, seine Trompeten, aus und wetteifert stolz mit dem Blitze. Der Ocean versucht es mit der Einförmigkeit seiner Wasserwüste irre zu führen, aber das Schiff hat eine Seele, den Kompaß, der es leitet. In finsteren Nächten vertreten seine Laternen die Sterne. So vertheidigt es sich gegen den Wind mit Tauen und Leinwand, gegen das Wasser mit Holz, gegen Felsen mit Eisen, Kupfer und Blei, gegen die Finsternis mit Licht, gegen die Unendlichkeit des Raumes mit einer Nadel.

Will man sich einen Begriff machen von den gigantischen Bestandtheilen eines Linienschiffes, so sehe man sich unsere Werften in Brest und Toulon an. Dieser kolossale Balken ist eine Raae, jene kaum übersehbare Säule ist ein Mast. Er ist sechzig Klafter lang und mißt unten drei Fuß im Durchmesser. Der Hauptmast erhebt sich 217 Fuß hoch über die Wassertracht. Die Marine unserer Väter verwendete Kabel, wir brauchen Ketten. Legt man die Ketten eines Schiffes, das hundert Kanonen trägt, auf einen Haufen, so mißt dieser vier Fuß in die Höhe, zwanzig Fuß in die Länge, acht Fuß in die Breite. Und wieviel Holz gehört dazu, ein solches Schiff zu bauen? Dreitausend Kubikmeter, ein ganzer Wald.

Und dabei handelt es sich, wohlbemerkt, nur um die Kriegsschiffe, wie sie vor vierzig Jahren gebaut wurden, nämlich um Segelschiffe, denn seit jener Zeit hat die Anwendung der Dampfkraft, mit der man dazumal noch nicht recht umzugehen verstand, das Wunder, das man ein Kriegsschiff nennt, bedeutend vervollkommnet. Gegenwärtig besitzt man z. B. Schraubenschiffe, deren Segelwerk dreitausend Quadratmeter mißt und deren Dampfkessel zweitausend fünfhundert Pferdekräfte stark ist.

So widerstandsfähig aber solch ein Wunderwerk von Schiff auch sein mag, es kommt doch einmal eine böse Stunde, wo eine Bö die sechzig Fuß lange Raa wie einen Strohhalm zerbricht, wo der Sturm den vierhundert Fuß hohen Mast wie ein Schilfrohr niederbeugt, wo der schwere Anker von den Wogen hin und hergeschoben wird, wie eine Angel in dem Rachen eines Hechtes, wo die ungeheuren Kanonen vergeblich um Hilfe brüllen, wo all die Menschenmacht und Herrlichkeit vor einer höheren Gewalt sich beugen muß.

Jedesmal, wenn eine große Kraft sich entfaltet, um in einer eben so großen Schwäche zu enden, werden die Menschen nachdenklich. Daher die vielen Neugierigen, die sich um die Häfen versammeln, um die wunderbaren Kriegsmaschinen anzustaunen.

Tagtäglich also fanden von früh bis spät, in den Uferstraßen und auf den Dämmen, Schaaren von Müßiggängern und Maulaffen, deren Beschäftigung es war, sich den Orion anzusehen.

Das Schiff bedurfte schon seit längerer Zeit der Reparatur. Es hatten sich ehedem mächtige Schichten von Muscheln um den Kiel herum gebildet, was seiner Schnelligkeit erheblichen Eintrag that. Es war auch deswegen ein Jahr zuvor trocken gelegt worden, behufs Beseitigung der Muscheln, und war dann wieder in See gegangen. Leider hatte aber unter der Operation die Verbolzung des Kieles gelitten. In Folge dessen bildete sich ein Leck, und da zu jener Zeit, die Wegeringen nicht aus Blech gemacht wurden, ließ das Schiff Wasser ein. Dann hatte ein heftiger Windstoß das Galion und eine Stückpforte am Backbord eingestoßen und die Fockruste beschädigt. Es mußte also reparirt werden und war zu diesem Zwecke nach Toulon zurückgekehrt.

Hier lag es beim Arsenal vor Anker, der Rumpf schien am Steuerbord unversehrt geblieben, nur war die Verkleidung hier und da losgemacht, um Luft hereinzulassen.

Da spielte sich eines Morgens vor einer zahlreichen Zuschauermenge ein aufregender Vorfall ab.

Die Mannschaft war mit der Festmachung der Segel beschäftigt, als der Marsgast, der das Nockrohr des Steuerbordshauptmarssegels zu befestigen hatte, das Gleichgewicht verlor. Er schwankte und stürzte, den Kopf nach unten gerichtet, mit ausgestreckten Händen hinab, bekam aber die falsche Pertleine zu fassen und blieb so in schwindliger Höhe über dem Wasser hängen, von dem heftig erschütterten Strick hin und her geschaukelt.

Ihm zu Hülfe kommen hieß sich einer großen Gefahr aussetzen, und keiner von den erst kürzlich ausgehobenen Matrosen mochte sich einem solchen Wagniß unterziehen. Allmählich aber nahmen die Kräfte des Marsgastes ab, was an seinen Bewegungen zu erkennen war, denn sein Gesicht konnte man nicht sehen. Jeder Versuch, den er machte wieder hinaufzukommen, hatte keinen besseren Erfolg, als daß die Leine noch mehr schwankte. Der Arme schrie nicht, um keine Kraft unnütz zu verlieren, aber Alles machte sich darauf gefaßt, daß er bald fallen würde, und Manche wendeten schon die Augen ab, um das Schreckliche nicht zu sehen.

Plötzlich bemerkte man einen Menschen, der mit der Behendigkeit einer Tigerkatze an dem Mast emporkletterte. Er war roth gekleidet, also ein Sträfling, und trug eine grüne Mütze, war also ein auf Lebenszeit Verurtheilter. Als er beim Mars angelangt war, riß ihm ein Windstoß die Mütze vom Kopf, und man konnte sein weißes Haar sehen. Es war kein junger Mann mehr.

In der That hatte gleich im ersten Augenblick ein auf das Schiff zur Arbeit kommandirter Sträfling, während die Matrosen zitterten und unthätig zusahen, sich an den Wachtoffizier gewendet und ihn gebeten, er möge ihm erlauben sein Leben für den Marsgast zu wagen. Sein Anerbieten wurde angenommen, und alsbald entledigte er sich mit einem Hammerschlag der an seinem Fuß befestigten Kette, nahm einen Strick und kletterte im Nu bis zur Raa empor.

Er blieb einige Sekunden auf der Raa stehen und maß sie mit den Augen. Diese Sekunden, wo der Wind den Marsgast hin und her schaukelte, kamen Denen, die zusahen, von unten so lang vor wie Ewigkeiten. Endlich hob der Sträfling die Augen zum Himmel empor und that einen Schritt vor. Die Zuschauer athmeten auf. Nun lief er die Raa entlang bis zur Spitze, wo er den mitgebrachten Strick mit dem einen Ende festknüpfte und das andere herabfallen ließ. Dann klimmte er an diesem Strick hinab, zum größten Entsetzen der Zuschauer, denn nun hingen, statt eines Menschen, zwei über der Tiefe.

Man konnte, wenn man ihn so leicht klettern sah, an eine Spinne denken, nur daß diese Spinne das Leben, nicht den Tod, brachte. Kein Schrei, kein Wort entrang sich den geängstigten Zuschauern; Alle starrten mit fest zusammengezogenen Brauen auf die beiden Männer; Alle hielten den Athem an, als hätte sonst der Wind, der die Unglücklichen da oben herumschleuderte, stärker werden können.

Endlich war der Sträfling bei dem Matrosen angelangt. Es war auch die höchste Zeit; eine Minute später hätte der Unglückliche loslassen müssen und wäre in die Tiefe gestürzt. Jetzt band ihn der Sträfling mit dem Strick fest, an dem er sich mit der einen Hand hielt, während er mit der anderen sein Rettungswerk vollbrachte. Dann klomm er wieder bis auf die Raa empor und zog den Matrosen in die Höhe, ließ ihn eine Weile ausruhen, nahm ihn dann in die Arme und trug ihn auf der Raa bis zum Eselshaupt und von dort nach dem Mars, wo er ihn seinen Kameraden übergab.

Jetzt brach die Menge in stürmischen Beifall aus; alte Stockmeister weinten, die Frauen am Ufer sanken sich in die Arme, und Alles verlangte mit gerührtem hartnäckigem Eifer, der Mann solle begnadigt werden.

Dieser hatte sich mittlerweile angeschickt wieder hinunterzusteigen. Um schneller unten anzukommen, glitt er in das Takelwerk hinab und lief eine Raa entlang. In einem gewissen Augenblick wurde den Zuschauern bange um ihn; es schien, als wankte er, sei es, weil er müde war, sei es, weil ihn schwindelte. Plötzlich entrang sich Allen ein Angstschrei: Der Sträfling fiel ins Meer.

Es war ein gefährlicher Sturz. Neben dem Orion lag eine Fregatte, der Algesiras, vor Anker, und der Unglückliche war zwischen die beiden Schiffe gefallen. Es stand zu befürchten, daß er unter den Rumpf des einen oder des anderen gerathen könnte. Hastig sprangen vier Mann in ein Boot. Die Zuschauer feuerten sie mit Zurufen an, und abermals stand Alles eine unbeschreibliche Angst aus. Aber der Verschwundene kam nicht wieder an die Oberfläche, und so viel man auch nach ihm tauchte, sondirte, suchte, nicht einmal seine Leiche wurde gefunden.

Am nächsten Tage las man im Journal de Toulon folgende Zeilen:

»Toulon, 17. Novbr. 1823. – Gestern ist ein auf dem Orion beschäftigter Sträfling, nachdem er eben einem Matrosen das Leben gerettet hatte, ins Meer gefallen und ertrunken. Die Leiche ist nicht gefunden worden. Man vermuthet, daß er zwischen die Grundpfähle des Arsenals gerathen ist. Der Mann war in das Register unter Nr. 9430 eingetragen und hieß Jean Valjean.«


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