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Vor vierzig Jahren, also um 1823, gelangte der Spaziergänger, der sich in die abgelegene Umgegend der Salpêtrière wagte und den Boulevard bis zur Barrière d'Italie hinaufging, in ein Gebiet, wo ihm Paris, so zu sagen, allmählich entschwand. Es war gerade keine Einöde, denn es kamen Fußgänger hier durch; es war nicht das flache Land, denn man sah Häuser und Straßen; es war keine Stadt, denn die Straßen hatten tiefe Geleise, wie Feldwege und waren mit Gras bewachsen; es war kein Dorf, denn dazu erhoben sich die Häuser zu hoch. Jedenfalls aber war es in diesem Theil von Paris des Nachts unheimlicher, wie in einem Walde, und am Tage so ungemüthlich, wie auf einem Kirchhofe.
Die Gegend hieß das Quartier des Marché-aux-Chevaux. In dem ödesten Theil dieses Stadtviertels, in der Nähe der Rue des Vignes-Saint-Marcel stand zwischen zwei Gartenmauern ein Haus, das auf den ersten Blick klein wie eine Hütte aussah und in Wirklichkeit so groß wie eine Kathedrale war. Dies lag daran, daß es mit der schmalen Seite an die Straße stieß und man zuerst nur eine Thür und ein Fenster sah. Zudem hatte es nur ein Stockwerk.
Diese Thür bestand aus wurmstichigen Brettern, die durch schlecht behauene plumpe Querleisten mühsam zusammengehalten waren. Sie stieß fast unmittelbar an eine sehr steile Treppe mit hohen Stufen. Ueber der Thüröffnung sah man ein Schindelbrett mit einem dreieckigen Loch, das eine Luke, ein Guckfenster vorstellte und mit überaus zweideutigen, staubigen Lappen drapirt war.
Die Treppe führte zu einem langen Flur empor, zu dessen beiden Seiten leidlich bewohnbare Zimmer von verschiedener Größe lagen. Von den Fenstern dieser Räume hatte man eine trübselige Aussicht auf die wenig bebaute, unschöne Umgegend.
Die Briefträger nannten dies Haus Nr. 50 und 52, aber bei den Leuten der Nachbarschaft hieß es das Gorbeausche Haus, nach seinem ehemaligen Eigenthümer Meister Gorbeau.
Vor diesem Hause hielt Jean Valjean an.
Er griff in seine Westentasche, langte einen Hausschlüssel hervor, schloß die Thür auf und ging, indem er noch immer Cosette auf dem Rücken trug, die Treppe hinauf. Oben angelangt, schloß er mit einem zweiten Schlüssel eine andere Thür auf. Das Zimmer, das er jetzt betrat, war ziemlich geräumig und enthielt eine Matratze, die auf der bloßen Erde lag, einen Tisch, ein paar Stühle und in einer Ecke einen eisernen Ofen, in dem ein lustiges Feuer brannte. Im Hintergrunde sah man ein Gurtbett. Auf dieses legte Jean Valjean die Kleine, ohne daß sie munter wurde.
Dann schlug er Feuer und zündete ein Licht an, das schon auf dem Tische bereit stand und betrachtete, wie in der verflossenen Nacht, Cosette mit Blicken, aus denen überschwängliche Güte und Rührung sprach. Die Kleine ihrerseits schlief ruhig und mit der Vertrauensseligkeit, die nur die höchste Kraft und die höchste Schwäche verleihen kann.
Jean Valjean neigte sich nieder und küßte dem Kinde die Hand, wie neun Monate zuvor die Hand der gleichfalls schlafenden Mutter.
Dasselbe wehevolle, andächtige, übermächtige Gefühl erfüllte jetzt wieder sein Herz.
Es war schon heller Tag, als das Kind noch immer schlief. Plötzlich polterte ein schwer beladener Rollwagen an dem Hause vorüber und erschütterte es in seinen Grundfesten.
»Gleich, gleich, Frau Wirtin!« rief Cosette mit ängstlicher Stimme, wälzte sich hastig vom Bett herunter und streckte, noch schlaftrunken, den Arm nach der einen Zimmerecke aus.
»Mein Besen! Wo ist denn mein Besen!«
Jetzt machte sie die Augen ganz auf und sah Jean Valjean, der ihr freundlich zulächelte.
»Ach so! Guten Tag!«
Kinder machen sich rasch mit Freude und Glück vertraut. Besteht doch ihr Wesen aus Glück und Freude.
Dann bemerkte sie Kathrinen, die am Fußende ihres Bettes lag und that, während sie mit der Puppe spielte, hundert Fragen an Jean Valjean. Wo sie wäre? Ob Paris groß sei? Ob auch Frau Thénardier nicht kommen würde? U. s. w. Plötzlich sah sie sich im Zimmer um und rief entzückt: »Wie hübsch das hier ist!«
Es war eine greuliche Bude, aber sie war ja jetzt von ihren Tyrannen befreit.
»Soll ich fegen?« fragte sie ein ander Mal.
»Spiele!« antwortete Jean Valjean.
So verging der ganze Tag. Cosette fühlte sich unaussprechlich glücklich in der Gesellschaft ihrer Puppe und ihres Wohlthäters, ohne daß sie sich über ihre Beziehungen zu ihm viel Kopfzerbrechen machte.
Bei Tagesanbruch stand Jean Valjean wieder an Cosettens Bett und wartete regungslos, bis sie erwachen würde.
Es zog jetzt etwas Neues in seine Seele ein.
Jean Valjean hatte nie in seinem Leben irgend ein menschliches Wesen geliebt. Seit seinem fünfundzwanzigsten Jahr stand er allein in der Welt da. Er war niemals Vater, Bräutigam, Ehemann oder Jemandes Freund gewesen. Im Zuchthaus war er bösartig, trübsinnig, keusch, unwissend und menschenfeindlich. Seiner Schwester und ihrer Kinder erinnerte er sich so gut wie gar nicht mehr. Er hatte alles Menschenmögliche gethan, um sie wiederzufinden, und als diese Versuche fruchtlos ausfielen, sie vergessen. Die andern, zarteren Regungen seiner Jugend waren, wenn er deren überhaupt empfunden hatte, längst gestorben.
Als er Cosette sah, als er sich ihrer bemächtigt und sie befreit hatte, fühlte er eine vollständige Umwälzung in seinem innern Menschen. Seine ganze Liebefähigkeit wurde wach und widmete sich dem Kinde.
Es war dies die zweite Einkehr in sein Innerstes, die zweite größte Veränderung seines moralischen Ichs. Der Bischof hatte ihm die Sonne der Tugend gezeigt; jetzt ging in seinem Herzen die Morgenröthe der Liebe auf.
Auch Cosette wurde, ohne es zu merken, eine Andere. Sie war, als ihre Mutter von ihr ging, so klein, daß sie sich ihrer nicht mehr erinnerte. Dann hatte sie, wie die Weinrebe sich an Alles anklammert, Menschen gesucht, die sie lieben würden. Aber Jedermann hatte sie abgewiesen, die Thénardiers, Eponine, Azelma, und andere Kinder. Sie hatte den Hund geliebt, der aber war gestorben. Jetzt wo sie erst acht Jahre zählte, hatte das bejammernswerte Geschöpfchen ein kaltes Herz. Ohne ihre Schuld. Nicht die Fähigkeit, Liebe zu empfinden, die Möglichkeit, sie zu bethätigen, fehlte ihr. Deshalb durchdrang gleich am ersten Tage Liebe zu ihrem Wohlthäter alle ihre Gedanken und Gefühle. Sie hatte eine Empfindung, die sie bis jetzt nicht gekannt, daß sie ihre geistigen und sittlichen Anlagen entfalten konnte. Ihr Wohlthäter kam ihr nicht mehr alt vor, noch arm. Sie fand Jean Valjean's Gesicht schön, so wie sie seine armselige Stube für hübsch erklärte.
Dergleichen glückliche Wirkungen bringt die Morgenröthe, die Kindheit, die Jugend, die Freude hervor. Sie werfen bunte, herrliche Lichtreflexe auf die elendeste Hütte und lassen sie prächtig wie ein Palast erscheinen. Solch einen Palast hat ja wohl ein Jeder von uns einst gehabt.
Die Natur – Jean Valjean war neunundfünfzig, Cosette acht Jahre alt – hatte zwischen Beide einen tiefen Graben gezogen, aber das Schicksal füllte ihn aus und ermöglichte, daß diese, durch ihr Alter so verschiedenen, durch ihr Unglück einander so ähnlichen Wesen sich vereinigten. Eine von diesen entwurzelten Existenzen ergänzte die andere. Cosettens Instinkt suchte einen Vater, und Jean Valjean sehnte sich nach einem Kinde. Sich begegnen und sich finden, bedeutete für Beide dasselbe.
Jean Valjean's Zufluchtsort war gut gewählt; er durfte hoffen, daß er hier in völliger Sicherheit leben würde.
Sein Zimmer war das einzige im Hause, dessen Fenster auf den Boulevard hinausging, und da er kein Gegenüber hatte, brauchte er nicht zu fürchten, daß er beobachtet werden könnte.
Das Erdgeschoß des Hauses, eine Art Schuppen, diente als Remise für Gärtner und Gemüsebauern. Dieser Raum hatte keine Verbindung mit dem ersten Stock, wo Jean Valjean wohnte. Hier oben waren noch verschiedene Wohn- und Bodenräume, aber nur der eine davon war bewohnt, von der alten Frau, die Jean Valjeans Wirtschaft besorgte.
Diese Alte, die Vicewirtin des Hauses, hatte zu Weihnachten das Zimmer an ihn vermiethet. Er hatte sich ihr gegenüber für einen ehemaligen reichen Mann ausgegeben, der durch die Entwertung der spanischen Obligationen ruinirt worden sei, und daß seine Enkelin bei ihm wohnen werde. Er zahlte dann sechs Monat Miethe voraus und beauftragte die Alte, Möbel für dies Zimmer und Kabinett zu kaufen, zur rechten Zeit Feuer im Ofen zu machen und überhaupt Alles für seine Ankunft bereit zu halten.
Eine Woche verging nach der andern, und die Beiden führten in ihrer erbärmlichen Bude ein glückliches Leben.
Vom frühsten Morgen an war Cosette auf den Beinen und lachte, plapperte, sang nach Herzenslust, munter wie ein Vögelchen.
Zeitweise schien sie ernst gestimmt und betrachtete ihren schwarzen Anzug. Sie war nicht mehr in Lumpen gehüllt, sie trug Trauerkleidung. Also hatte sie das Elend hinter sich und war in das Leben eingetreten.
Jean Valjean begann, sie das Alphabet zu lehren. Bei diesem Unterricht kehrte er bisweilen im Geiste zu jener Zeit zurück, wo er im Bagno lesen gelernt hatte, um desto mehr Böses thun zu können. Und nun sollte diese Idee zu etwas so ganz Anderem ausschlagen! Jetzt war er Lehrer eines kleinen Mädchens geworden. Wenn er an diese Verändrung dachte, umspielte die Lippen des Galeerensklaven ein glückliches, verklärtes Lächeln.
Cosette lesen lehren und sie spielen lassen, darin ging so ziemlich Jean Valjeans Leben jetzt auf. Außerdem erzählte er ihr von ihrer Mutter und ließ sie Gebete lernen.
Sie nannte ihn Vater und kannte ihn bei keinem andern Namen.
Ganze Stunden brachte er damit zu, ihr zuzusehen, wie sie ihre Puppe an- und auskleidete, und ihrem fröhlichen Geplauder zuzuhören. Das Leben hatte jetzt eine Interesse für ihn. Die Menschen schienen ihm gut und gerecht, er klagte Niemanden mehr an und sah keinen Grund, warum er nicht recht alt werden sollte, nun ihn Cosette lieb hatte. Sie würde ihm, dachte er, eine lichte Zukunft bringen, und da ja auch die Besten von selbstsüchtigen Nebengedanken nicht frei sind, empfand er eine gewisse Freude darüber, daß sie voraussichtlich häßlich sein werde.
Wir wollen hier eine rein persönliche Meinung einschalten, aber bei dem Seelenzustande, in dem sich Jean Valjean damals befand, bedurfte es wohl einer Begegnung mit einem Wesen, das er lieben konnte; sonst hätte er nicht im Guten beharrt. Er hatte gerade die Bosheit der Menschen und das Elend der Gesellschaftsordnung von einer neuen Seite kennen gelernt, die ihm freilich nur einen Theil der Wahrheit zeigte, das Loos des Weibes in der Gestalt Fantinens und die Obrigkeit, insofern sie durch Javert vertreten wurde. Dies Mal war er ins Zuchthaus zurückgewandert, weil er Gutes gethan, und neue Bitterkeit, Ekel, Lebensüberdruß erfüllte ihn ganz und gar; sogar die Erinnerung an den Bischof war schon etwas verblaßt und bedurfte einer Belebung, um wieder hell erstrahlen zu können. Wer weiß, vielleicht war Jean Valjean nahe daran, den Muth zu verlieren und wieder in die Gewalt des Bösen zu gerathen. Aber sobald er Liebe hegen lernte, fühlte er sich wieder gestärkt. Leider war er ja nicht minder schwach, als die kleine Cosette. Er beschützte sie, und sie verlieh ihm Kraft. Ihm dankte sie es, wenn sie durch das Leben kommen konnte, durch sie konnte er tugendhaft bleiben. Eins stützte das Andere. Wie wunderbarer Mittel bedient sich doch das Schicksal, um die sittlichen Kräfte im Gleichgewicht zu erhalten!
Jean Valjean gebrauchte die Vorsicht, nie bei Tage auszugehen. Jeden Abend machte er einen Spaziergang von ein oder zwei Stunden, manchmal allein, öfter noch mit Cosette und suchte dann die einsamsten Nebenalleen der Boulevards auf. In die Kirche – er bevorzugte Saint-Médard wegen der Nähe – ging er des Nachts. Wenn er Cosette nicht mitnahm, blieb sie bei der Alten; sie zog seine Gesellschaft aber vor und entsagte sogar ihm zu Liebe gern den traulichen Gesprächen mit Kathrinen. Er hielt sie dann immer bei der Hand und unterhielt sich mit ihr.
Bei diesem Leben gewann Cosettens Charakter natürlich sehr an Heiterkeit.
Die Alte führte die Wirtschaft, kochte, und besorgte die Einkäufe für Jean Valjean.
Sie lebten frugal; er ließ wohl einheizen, im Ganzen aber war die Haushaltung eine überaus bescheidene. Das von der Vicewirtin angeschaffte Mobiliar veränderte er nicht; nur ließ er an Stelle der Glasthür, die zu Cosettens Kabinett führte, eine Vollthür einsetzen.
Er trug noch immer seinen gelben Rock, seine schwarze Kniehose und seinen alten Hut. Auf der Straße hielt man ihn für einen Armen und es kam vor, daß gutmüthige Leute ihm eine Kupfermünze in die Hand drückten. Die nahm er an und dankte mit einer tiefen Verneigung. Bisweilen begegnete er aber doch einem Armen, der ihn um eine milde Gabe bat; dann drehte er sich um, ob Niemand ihn sehe, trat verstohlen an den Unglücklichen heran, gab ihm eine Kupfer- oder Silbermünze und machte sich dann eiligst aus dem Staube. Das hatte einen Uebelstand. Er wurde nämlich in dem Stadtviertel bekannt, als »der Bettler, der Almosen gab.«
Die alte Vicewirtin, eine mürrische und neidische Person, beobachtete Jean Valjean unausgesetzt, ohne daß er eine Ahnung davon hatte. Sie war schwerhörig und in Folge dessen geschwätzig. Zu Anfang versuchte sie Cosettte auszuforschen: diese aber konnte, da sie nichts wußte, auch nichts sagen, außer daß sie aus Montfermeil kam. Eines Morgens aber sah die Aufpasserin Jean Valjean sonderbarer Weise in einen der unbewohnten Räume des ersten Stocks hineingehen. Sie schlich sich in das gegenüberliegende Zimmer und beobachtete von hier aus ihren geheimnißvollen Miether, der – offenbar aus Vorsicht – mit dem Rücken gegen die Thür stand. Da beobachtete sie, wie er ein Etui, eine Scheere und Zwirn aus der Tasche nahm, den einen Schoß seines gelben Rockes auftrennte und ein Stück gelbliches Papier herauszog, das die Alte als einen Tausendfrankenschein erkannte. Es war erst der zweite oder dritte, den sie in ihrem ganzen Leben gesehen, und sie bekam einen solchen Schreck, daß sie davonrannte.
Einen Augenblick darauf kam Jean Valjean zu ihr und bat, sie möchte einen Tausendfrankenschein wechseln gehn; er habe Tags zuvor seine halbjährlichen Zinsen bekommen. – »Wo?« dachte die Alte. »Er ist erst um sechs Uhr Abends ausgegangen, und zu der Zeit ist das Bureau gewiß nicht geöffnet.« Die Alte wechselte den Schein und meldete die Geschichte samt ihren Mutmaßungen und Ausschmückungen allen Gevatterinnen der Umgegend, die darüber in eine nicht geringe Aufregung geriethen.
An einem der folgenden Tage trug es sich zu, daß Jean Valjean in Hemdsärmeln auf dem Flur Holz sägte, während die Alte das Zimmer aufräumte. Sie war allein, denn Cosette sah auf dem Flur ihrem Pflegevater zu. Da bemerkte die alte Spionin Jean Valjeans Rock an einem Nagel und unterzog ihn einer gewissenhaften Untersuchung. Die Naht war wieder zugenäht, und als sie ihn betastete, fühlte sie dicke Stöße Papier in den Schößen und um die Aermelausschnitte. Kein Zweifel! Das waren wieder Tausendfrankenscheine.
Außerdem konstatirte sie, daß alle möglichen Sachen in den Taschen steckten. Abgesehen von dem Zwirn, den Nadeln, der Scheere, die sie schon gesehen, auch eine große Brieftasche, ein sehr großes Messer und, was doch sehr verdächtig war, mehrere Perrücken von verschiedener Farbe. Offenbar führte der Besitzer des Rockes alle diese Sachen für gewisse Fälle immer mit sich.
So kamen die letzten Tage des Winters heran.
Unweit der Kirche Saint-Médard pflegte auf dem Randstein eines zugeschütteten Gemeindebrunnens ein Bettler zu hocken, dem Jean Valjean gern ein Almosen gab und den er auch bisweilen anredete. Die Konkurrenten dieses Bettlers behaupteten, er stehe im Solde der Polizei. Es war ein fünfundsiebzigjähriger, ehemaliger Kirchendiener, der immerzu Gebete murmelte.
Eines Abends, als Jean Valjean ohne Cosette an dieser Stelle vorüberkam, saß der Bettler wieder da, unter der so eben angezündeten Laterne. Wie gewöhnlich schien der Mann zu beten und hielt sich stark nach vorn geneigt. Jean Valjean ging auf ihn zu und drückte ihm ein Almosen in die Hand. Der Bettler sah empor, faßte Jean Valjean scharf ins Alge und beugte sich dann rasch wieder herunter. Jean Valjean zuckte zusammen, als sei ein Blitzstrahl vor ihm niedergefahren. Ihm däuchte, er habe nicht den alten scheinheiligen Kirchendiener, sondern ein anderes ihm wohlbekanntes und fürchterliches Gesicht gesehen. Es ward ihm zu Muthe wie Einem, der unversehens einem Tiger gegenüber steht. Er trat erschrocken, halb gelähmt zurück und wagte weder zu athmen noch zu sprechen, weder zu bleiben noch davon zu laufen, während der Bettler den Kopf gesenkt hielt und ihn nicht mehr zu beachten schien. Vielleicht war es der Instinkt, der Trieb der Selbsterhaltung, der Jean Valjean davon abhielt, einen Laut von sich zu geben. Allmählich beruhigte er sich aber etwas, als er sah, daß die äußere Erscheinung des Bettlers, seine Statur, seine zerlumpte Kleidung dieselbe war wie alle Tage.
»Unsinn! Mir träumt! Es ist ja unmöglich!«
Aber die Gemüthserschütterung war eine sehr tiefe, nachhaltige.
Als er in der Nacht über den Vorfall nachsann, bereute er, daß er den Mann nicht angeredet und ihn genöthigt hatte, sich noch einmal aufzurichten.
Am nächsten Abend kehrte er zu derselben Stelle wieder zurück. Auch der Bettler saß wieder da. – »Guten Tag, alter Freund!« redete ihn Jean Valjean entschlossen an und gab ihm einen Sou. Der Bettler richtete sich auf und sagte mit kläglicher Stimme: »Vielen Dank, guter Herr!« – Es war der alte Kirchendiener.
Jean Valjean fühlte sich vollkommen beruhigt und lachte über sich. »Wie in aller Welt bin ich dazu gekommen, Den für Javert zu halten!« dachte er.
Einige Tage darauf – es mochte acht Uhr Abends sein – saß er in seinem Zimmer und ließ Cosette laut buchstabiren, als er unten die Hausthür gehen hörte. Das fiel ihm auf. Die Alte, die einzige Bewohnerin des Hauses außer ihm, ging, um Licht zu sparen, mit Anbruch der Nacht zu Bett. Jean Valjean winkte also Cosette, sie möge sich still verhalten, und hörte, wie Jemand die Treppe heraufkam. Es konnte die Alte sein; vielleicht war sie unwohl geworden und zum Apotheker gegangen. Jean Valjean horchte. Es waren schwere Tritte, die wohl von einem Manne herrührten; aber die Vicewirtin trug schweres Schuhzeug, und alte Frauen treten fast eben so schwer auf, wie Männer. Immerhin blies Jean Valjean sein Licht aus und flüsterte Cosetten die Worte ins Ohr: »Geh' recht leise zu Bett!« Während er sie auf die Stirn küßte, hörte das Geräusch der Schritte auf und Jean Valjean blieb unbeweglich und mit verhaltenem Athem, mit dem Rücken gegen die Thür, auf seinem Stuhl sitzen. Nach einer geraumen Weile, als er nichts hörte, wendete er sich geräuschlos um und sah durch das Schlüsselloch einen Lichtschein. Offenbar stand da Jemand mit einem Licht in der Hand und horchte.
Nach einigen Minuten zog sich der Lauscher zurück, ohne daß Jean Valjean Geräusch von Schritten vernahm. Der Betreffende mußte also wohl seine Stiefel ausgezogen haben.
Jean Valjean legte sich vollständig angekleidet auf sein Bett und konnte die ganze Nacht hindurch kein Auge zuthun.
Bei Tagesanbruch, als er vor Müdigkeit eben anfing einzuschlummern, weckte ihn das Geknarr einer Thür, das von dem anderen Ende des Flurs an sein Ohr drang, und dann hörte er dieselben Schritte, wie am vergangenen Abend. Er stand rasch auf und sah durch das ziemlich große Schlüsselloch. Er erblickte einen Mann, der dies Mal, ohne anzuhalten, an seinem Zimmer vorüberging. Der Flur war noch zu dunkel, als daß man das Gesicht hätte unterscheiden können; aber als der Mann an der Treppe anlangte, fiel das Licht von draußen so, daß die Umrisse der Gestalt sich scharf abzeichneten, und Jean Valjean konnte ihn gerade von hinten sehen. Es war ein Mann von hohem Wuchse, der mit einem langen Rock bekleidet war und einen Knüttel unter dem Arm trug. Er hatte einen gewaltigen Nacken, der an Javert erinnerte.
Jean Valjean hätte einen Versuch machen können, ihn, sobald er auf der Straße sein würde, durch sein Fenster zu beobachten. Aber er hätte dazu das Fenster aufmachen müssen und das wagte er nicht.
Als die Alte um sieben Uhr Morgens kam, um das Zimmer in Ordnung zu bringen, warf ihr Jean Valjean einen durchdringenden Blick zu, fragte sie aber nicht. Sie war wie gewöhnlich.
Während sie aber fegte, sagte sie:
»Sie haben gewiß diese Nacht Jemand kommen hören?«
Für sie, die hochbejahrte Frau, war, namentlich in einem solchen Stadtviertel acht Uhr Abends schon tiefe Nacht.
»Ja richtig!« rief er, scheinbar ganz unbefangen. »Wer war denn das?«
»Ein neuer Miether, den wir jetzt im Hause haben.«
»Wie heißt er?«
»Ich kann mich nicht mehr genau entsinnen. Dumont oder Daumont. So ungefähr.«
»Was ist er?«
Die Alte sah ihn mit ihren listigen Augen an und antwortete:
»Rentier, wie Sie.«
Sie dachte sich bei dieser Antwort vielleicht nichts Besonderes, aber Jean Valjean traute ihr in dem Augenblick Hintergedanken zu.
Gleich nachdem die Alte fortgegangen war, legte er hundert Franken, die er im Schrank liegen hatte, zu einer Rolle zusammen und steckte sie in seine Tasche. So vorsichtig er aber dabei auch zu Werke ging, damit Niemand ihn hören sollte, so glitt ihm doch ein Fünffrankenstück aus der Hand und rollte mit großem Geräusch auf dem steinernen Fußboden herum.
Beim Einbruch der Nacht ging er hinunter und sah sich auf dem Boulevard nach allen Seiten um. Er sah Niemand. Der Boulevard war vollständig menschenleer. Allerdings konnte sich Einer hinter den Bäumen versteckt haben.
Nun stieg er wieder in sein Zimmer hinauf, nahm Cosette bei der Hand und ging mit ihr davon.