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Die Grotte entließ ihre Besucher nicht ohne Weiteres. Der Eintritt war nicht bequem gewesen, doch der Ausgang bot noch viel bedeutendere Schwierigkeiten. Gilliatt legte dennoch den Heimweg zurück und begab sich niemals wieder in die Höhle. Er hatte darin nicht gefunden, was er suchte, und seine Zeit gestattete ihm keine weitere Befriedigung seiner Neugier.
Ohne Säumen begann er seine Schmiedearbeit. Da ihm Handwerkszeug fehlte, mußte er dasselbe anfertigen.
Das Wrack lieferte ihm das Brennmaterial, die See war sein Triebrad, der Wind sein Blasebalg, ein Felsblock ersetzte den Amboß, sein natürliches Talent diente ihm statt der Wissenschaft, seine Willenskraft als Macht.
Gilliatt begann seine Arbeit mit brennendem Eifer.
Das Wetter zeigte sich seinem Streben geneigt. Es war immer noch trocken und die Aequinoctialwinde übten ihre Herrschaft auf die schonendste Weise. Trotz der Märzzeit blieb es stille. Die Tage nahmen zu. Das Himmelsblau, die sanfte Bewegung des Meeres, die Heiterkeit des Mittags, schienen jede böse Absicht auszuschließen. Die See lächelte im Sonnenschein. Ein zärtliches Vorspiel würzt künftigen Verrath. Das Meer ist mit dergleichen Liebkosungen nicht geizig. Hat man es mit diesem Weibe zu thun, so hüte man sich vor seinem Lächeln.
Es wehten nur gelinde Lüfte; der hydraulische Blasebalg arbeitete um so besser. Starker Wind wäre hinderlich gewesen.
Gilliatt hatte eine Säge. Er verfertigte sich eine Feile. Mit ersterer bearbeitete er das Holz, mit letzterer die Metalle. Auch bediente er sich der Feuer- und der Kneipzange, dieser eisernen Hände des Schmieds. Erstere packt, letztere formt; die eine versieht die Dienste des Daumens, die andere vertritt den Zeigefinger.
Das Handwerkszeug ist ein Organismus. Gilliatt verschaffte sich allmälig Hülfstruppen und schmiedete sich seine Waffenrüstung.
Aus einem Reifholz machte er ein Schirmdach für seinen Feuerheerd.
Eine seiner ersten Sorgen war das Aussondern und Ausbessern der Blockrollen. Auch setzte er die Räder und Kästen der Flaschenzüge wieder in Stand, trennte alles Splitterwerk von den zerbrochenen Balken und stutzte ihre Enden zu; wie wir schon sagten, besaß er zur Ausführung seiner Zimmerarbeiten eine Menge Schiffstrümmer, die er früher aufgespeichert und ihren Formen und Stoffen gemäß geordnet hatte. Das Holz der Strandeiche und Kiefer lag auf seinem bestimmten Platz, wie Krummhölzer, Katzsparren und Decklukeinfassungen auf dem ihrigen. Er konnte dieser Hülfsmittel seiner Zeit nothwendig bedürfen. –
Jeder, der eine Zugwinde herstellen will, muß nicht nur Balken und Flaschenzüge, sondern auch Seile haben. Gilliatt verbesserte die Kabeltaue und Grelinge. Er spannte die zerrissenen Segel und es gelang ihm, die aus ihren Säumen gezogenen Halbseile zu Troß umzuarbeiten. Mit diesem fügte er das Tauwerk zusammen. Leider konnten diese künstlichen Ausbesserungen sich nicht lange halten, ohne zu verfaulen, weshalb Gilliatt eilen mußte, sie in Tätigkeit zu setzen. Aufgelöste Seile hatte er freilich benutzt, aber es fehlte ihm an Theer.
Als das Tauwerk hergestellt war, setzte Gilliatt die Ketten in Stand.
Dank des spitzen Vorsprungs seines Ambosses gelang es ihm, plumpe, aber haltbare Ringe zu schmieden. Mit diesen verband er die Enden der zerrissenen Ketten und verlängerte sie.
Auf eigene Hand schmieden, ist mehr als unbequem. Dennoch kam Gilliatt zum Ziel. Freilich hatte er nur kleine, wenig massenhafte Gegenstände herzustellen, die er mit Hammer und Zange formte, indem er jedes dieser Werkzeuge in einer Hand gefaßt hielt.
Weshalb wandte er alle diese Mühe an? Wir werden es erfahren.
Er mußte die Schneide seiner Axt und die Zähne seiner Säge mehrmals schärfen. Um die Letzteren spitzen zu können, hatte er sich eine dreieckige Feile verfertigt.
Bei irgend einer Gelegenheit bediente er sich des Gangspills der Durande. Der Kettenhaken zerbrach. Er schmiedete einen neuen daraus. Mit Hülfe seiner Zangen und seines Meißels, den er in der Weise eines Schraubenschlüssels anwandte, unternahm er es, die beiden Räder des Schiffes zu zerlegen. Es gelang ihm. Man wird nicht vergessen haben, daß dies keine Unmöglichkeit war. Die Räder hatten eine eigenthümliche Construction. Die Treträder, welche sie umgaben, schützten sie. Aus den Brettern der Letzteren zimmerte Gilliatt zwei Kisten, in denen er alle Theile der beiden Laufräder, sorgfältig numerirt, aufbewahrte.
Sein Stück Kreide leistete ihm hierbei kostbare Dienste. Die beiden Kisten stellte er auf den sichersten Platz des Schiffsverdecks.
Nach Beendigung dieser Vorarbeiten stand Gilliatt der Hauptschwierigkeit seines Unternehmens gegenüber.
Es war ein Leichtes gewesen, die Räder zu zerlegen; schwer hielt es aber, dasselbe mit der Maschine zu thun.
Ueberdies hatte Gilliatt keine klare Anschauung von dem Bau des Getriebes.
Wenn er auf's Gerathewohl zu Werke ging, konnte er der Maschine unverbesserlichen Schaden zufügen, und selbst, wenn er die Unklugheit eines Versuchs hätte begehen wollen, mußte er andere Werkzeuge haben als solche, wie man sie in einer Höhle statt der Schmiede, mit Hülfe eines Zugwindes statt des Blasebalges und auf einem als Amboß dienenden Kiesel anfertigen kann. Das Streben, die Maschine auseinanderzulegen, war von der Gefahr, dieselbe zu zerstören, begleitet.
Man glaubte einer unausführbaren Sache in's Auge zu sehen.
Dem Anschein nach stand Gilliatt vor einer Schranke, die Unmöglichkeit heißt.
Was war zu beginnen?
Er hatte seine Idee.
Nicht wissen, was thun, treibt zum Versuchen. Die Unentschlossenheit ist eine Träumerei und wird durch ihre Neugierde zur Kraft. Wissen bringt manchmal aus der Fassung giebt oft schlechten Rath. Hätte [Vasco da] Gama Kenntnisse gehabt, so wäre er vor dem Vorgebirge der Stürme zurückgewichen, und Columbus würde Amerika nicht entdeckt haben, wenn er ein guter Kosmograph gewesen wäre.
Der zweite Besteiger des Montblanc war ein Gelehrter, Saussure; der erste ein Schäfer, Balmat.
Diese Fälle bilden gleichwohl, wie wir im Vorbeigehen bemerken wollen, die Ausnahme und verringern den Werth der eigentlichen Wissenschaft nicht im Geringsten. Der Unwissende kann finden, der Gelehrte allein kann erfinden.
Die Barke lag immer noch in der Bucht des »Mannes«, wo ihr das Meer nichts anhaben konnte, vor Anker und Gilliatt hatte, wie man sich erinnern wird, Alles so hergerichtet, daß sie ihm völlig bequem zur Hand war. Er ging hin und maß sorgsam die Größe ihres Querbalkens an mehreren Stellen, namentlich die Hauptkoppel, dann kehrte er zur Durande zurück und maß den großen Durchmesser des Maschinenbodens, welchen er, ohne die Räder, um zwei Fuß schmäler als den größten Querbalken der Barke fand, so daß die Maschine in dieser Platz hatte.
Wie konnte man sie aber hineinschaffen?
Kurze Zeit darauf hätte ein Fischer, welcher toll genug gewesen wäre, sich zu solcher Jahreszeit in dieser Gegend aufzuhalten, seine Kühnheit durch den Anblick einer ganz eigentümlichen Geschichte zwischen den Douvres-Felsen belohnt gefunden.
Er hätte nämlich Folgendes wahrgenommen: Vier starke Balken gingen in gleichen Zwischenräumen von der einen Klippe zur andern und waren auf die haltbarste Art, durch Einzwängen in die Felsen, befestigt. An dem kleinen Douvre ruhten und endigten ihre äußersten Spitzen gegen Vorsprünge des Felsens; an dem großen Douvre waren ihre andern Enden von einem kräftigen Arbeiter, der auf dem einzurammenden Balken selbst stehen mußte, mit starken Hammerschlägen in die steilen Böschungen getrieben worden.
Diese Balken waren etwas länger, als der Zwischenraum breit war, so daß sie äußerst fest hielten und etwas schräg lagen. Ihr spitzer Winkel war dem großen und ihr stumpfer dem kleinen Douvre zugekehrt. Sie schlossen schwach und ungleichmäßig ab, was ein Fehler war. Davon abgesehen, hätte man glauben können, sie seien zur Aufnahme eines Docks angelegt worden. An diesen vier Balken waren vier Krahnen angebracht, alle mit Tauen und Hemmungen; gewagt und sonderbar schien dabei nur das zu sein, daß sich der Flaschenzug mit den beiden Rollen an dem einen und der einfache Kloben am entgegengesetzten Ende des Balkens befand. Dieses Abweichen von der Regel war zu groß, um nicht gefährlich werden zu können, wahrscheinlich aber für das Unternehmen, welches hier ausgeführt werden sollte, zweckdienlich. Die Flaschenzüge waren stark und die Kloben fest.
An diesen Krahnen befanden sich Kabel, welche von Weitem wie Fäden aussahen, und unter diesem luftigen Apparate von Flaschenzügen und Gerüsten glaubte man an jenen Fäden den gestrandeten Rumpf der Durande hangen zu sehen.
Aber so weit war es noch nicht. Senkrecht unter den Balken waren acht Oeffnungen in dem Deck angebracht, vier Backbord und vier Steuerbord von der Maschine, und acht andere gerade unter diesen im Kiele. Die Taue, welche senkrecht von den Flaschenzügen herabliefen, wurden durch die Steuerbordöffnungen in den Schiffsraum eingeführt, gingen dann unter dem Kiele und der Maschine fort, gelangten wieder durch die Oeffnungen am Backbord in das Schiff, stiegen von Neuem durch das Deck in die Höhe und waren schließlich um die vier Kloben an den Balken geschlungen; hier faßte sie eine Art Hißtau und vereinigte sie zu einem einzigen Kabel, welches ein einziger Arm lenken konnte. Ein Haken und eine durchbohrte Rolle, durch deren Loch dies Kabel lief und sich abhaspelte, vollendeten den Apparat und hemmten ihn nötigenfalls.
Durch dieses Zusammenlaufen der Taue mußten die vier Krahnen zu gleicher Zeit arbeiten und so die Arbeit gleichmäßig vertheilt werden. Es gehörte die richtige Zügelung der vorhandenen Kräfte, ein starkes Steuerruder in der Hand eines gewandten Piloten dazu, dies Unternehmen auszuführen. Die sehr geniale Befestigung des Hißtaues hatte einiges von den vereinfachenden Eigenschaften der heutigen Weston-Winden und des alten, von Vitruve erfundenen Polyspaston. Gilliatt war darauf gekommen, ohne Vitruve, der nicht mehr, und ohne Weston, der noch nicht lebte, zu kennen. Die Länge der Kabel wechselte mit der ungleichen Abschüssigkeit der Balken und hob diesen Fehler zum Theil wieder auf. Taue waren gefährlich, die weißen Stricke konnten reißen; Ketten wären besser gewesen, aber sie hätten sich schlecht von den Winden abgehaspelt.
Dies Alles war zwar voller Fehler, aber als die That eines einzigen Menschen staunenerregend.
Uebrigens wollen wir die Beschreibung jetzt abbrechen.
Man wird es begreiflich finden, daß wir viele Einzelheiten, welche die Sache zwar für Fachgenossen deutlicher, für Andere aber unverständlicher macht, mit Schweigen übergehen.
Die Spitze des Maschinenrauchfangs ging zwischen den beiden Mittelbalken hindurch.
Gilliatt hatte, ohne es zu ahnen, und unbewußt Unbekanntes nachahmend, nach drei Jahrhunderten den Mechanismus des Zimmermans von Salbris wiederhergestellt, jenen rohen und fehlerhaften Mechanismus, gefährlich für den, welcher wagen sollte, mit ihm zu arbeiten.
Aber selbst die gröbsten Fehler verhindern eine Maschine nicht, so gut als möglich zu arbeiten; sie hinkt, aber es geht doch. Der Obelisk auf dem Sanct-Peter-Platze zu Rom ist gegen alle Regeln der Statik aufgestellt worden. Czaar Peter's Wagen war so gebaut, daß er bei jedem Schritt umzufallen schien, und doch rollte er vorwärts. Wie viele Ungehörigkeiten an der Maschine zu Marly! Alles an ihr war falsch und doch gab sie Ludwig XIV. zu trinken.
Wie dem auch sei, Gilliatt hatte Vertrauen und war sogar von dem Erfolge so fest überzeugt, daß er am Tage seiner Abreise in den beiden Bordseiten der Barke zwei Paar eiserner Ringe einließ, welche eben so weit von einander abstanden, als die vier Ringe auf der Durande, welche die vier Ketten des Rauchfangs festhielten.
Gilliatt hatte seinen Plan jedenfalls schon fix und fertig; denn da alle Aussichten gegen ihn waren, so wollte er wenigstens alle Vorsicht auf seiner Seite haben.
Er that Dinge, welche unnütz schienen; ein Beweis aufmerksamen Vorbedachtes!
Seine Art, vorwärts zu gehen, hätte, wie wir schon bemerkt haben, einen einfachen Beobachter, ja sogar einen Sachverständigen, außer Fassung gebracht.
Ein Zeuge seiner Arbeiten, der zum Beispiel gesehen hätte, wie er mit unerhörter Anstrengung und mit Lebensgefahr acht bis zehn große Nägel, welche er selbst geschmiedet hatte, in den Fuß der beiden Douvres beim Anfange der Durchfahrt einschlug, hätte schwerlich verstanden, wozu sie dienen sollten, und sich wahrscheinlich gefragt, was diese ganze Arbeit bezwecke.
Hätte er dann gesehen, wie Gilliatt das Stück des Vordertheils, welches, wie man sich erinnert, am Strande festhaftete, maß, hierauf ein sehr festes Greling an seinem obern Rande befestigte, mit Axtschlägen die ausgefugten Balken, welche es festhielten, lostrennte, es mit Hülfe der abnehmenden Fluth, welche es von unten vorwärts stieß, während er nach oben zog, aus der Straße schleppte und schließlich mit großer Mühe dieses schwere Planken- und Balkengerüst, welches breiter, als die Einfahrt in die Meerenge selbst war, mittelst des Greling an den Nägeln, welche er in dem Grund des kleinen Douvre eingetrieben hatte, befestigte; dies Alles würde ein Beobachter vielleicht noch weniger verstanden und sich gesagt haben, daß, wenn Gilliatt, um sich seine Arbeit zu erleichtern, die Straße zwischen den Douvres durch diese Barrikade isoliren wollte, er nur nöthig gehabt hätte, sie während der Fluth fallen zu lassen, die sie dann stromabwärts geführt hätte.
Gilliatt hatte aber wahrscheinlich seine Gründe für seine Arbeit.
Um die Nägel in den Grund des Douvre einzutreiben, benutzte er alle Spalten in dem Granit, vergrößerte sie nach Bedürfniß und trieb zuerst Holzkeile und dann in diese die eisernen Nägel hinein.
Dasselbe machte er an den beiden andern Felsen, welche sich östlich, auf dem andern Ende der Klippenreihe befanden; er schlug in alle Sprünge Holzstückchen ein, als wenn er auch diese Risse für eine etwaige Aufnahme von Krampen vorbereiten wollte; dies schien aber nur eine einfache Voraussetzung zu sein; denn er befestigte keine Nägel in ihnen. Selbstverständlich konnte er kluger Weise in seiner schlimmen Lage seine Materialien nur im Augenblick der höchsten Noth und je nach Maß und Bedürfniß verwenden. Noch eine neue Schwierigkeit zu allen schon vorhandenen.
Nach Vollendung der ersten Arbeit begann eine zweite. Gilliatt ging unverzüglich von der einen an die andere und unternahm entschlossen dieses Riesenwerk. –
Der Mensch, welcher sich all diesen Arbeiten unterzog, hatte ein schreckliches Aussehen bekommen.
Gilliatt rieb bei diesen vielfachen Anstrengungen seine ganzen Kräfte auf einmal auf und konnte sie nur schwer wieder ersetzen.
Einerseits hatten ihn Entbehrungen, anderseits Erschöpfung abgemagert. Sein Kopf- und Barthaar war lang geworden. Er besaß nur noch ein ganzes Hemde. Seine Füße waren bloß; denn den einen Schuh hatte ihm der Wind und den andern das Meer entführt. Splitterchen sprangen während der Arbeit von dem rohen und sehr gefährlichen Ambosse, dessen er sich bediente, los und brachten ihm an Händen und Armen kleine Wunden bei, welche eigentlich mehr Schrammen, als Wunden waren, aber in Folge der scharfen Luft und des Seewassers sehr schmerzten.
Er war hungrig, durstig und es fror ihn.
Sein Behälter mit süßem Wasser war leer, sein Roggenmehl aufgebraucht, er besaß nur noch etwas Biskuit, das er mit den Zähnen zerbrechen mußte, da es ihm an Wasser, um es aufzuweichen, fehlte.
Allmälig, Tag für Tag nahmen seine Kräfte ab und entzog ihm der fürchterliche Felsen die Lebenskraft.
Trinken, Essen, Schlafen, nichts war für ihn nothwendiger geworden.
Er aß, wenn es ihm gelang, eine Seemuschel oder Krabbe zu fangen, und trank, wenn er sah, daß sich ein Seevogel auf einer Felsenspitze niederließ. Er kletterte dann dort hin und fand daselbst eine Lache mit etwas süßem Wasser. Er trank nach dem Vogel, bisweilen auch mit ihm zusammen, denn die Möven und Schwalben hatten sich an ihn gewöhnt und flogen nicht fort, wenn er sich näherte. Gilliatt fügte ihnen, selbst wenn er ganz ausgehungert war, nichts Böses zu. Wie man sich erinnern wird, war er in Bezug auf Vögel abergläubisch, während sich diese ihrerseits vor seinen verwirrten und zerzausten Haaren und seinem langen Barte nicht mehr fürchteten, denn diese Umwandlung in seinem Aussehen beruhigte sie; sie fanden in ihm keinen Menschen mehr, sondern hielten ihn für ein wildes Thier.
Die Vögel und Gilliatt waren jetzt gute Freunde. Diese Armen halfen sich gegenseitig. So lange Gilliatt Gerste gehabt, hatte er ihnen kleine Brocken von den Kuchen, die er sich machte, hingeworfen; dafür zeigten sie ihm jetzt die Stellen, an denen sich Wasser fand.
Er aß die Muscheln, welche in gewisser Beziehung den Durst löschten, roh; die Krabben kochte und röstete er zwischen zwei glühend gemachten Steinen, da er keinen Topf hatte, wie die Wilden auf der Insel Feroë.
Unterdessen näherten sich einige Vorboten des Aequinoctiums. Es war Regen eingetreten, aber ein feindlicher. Kein Guß- und Platzregen, sondern lange, feine, gefrorne, durchdringende, scharfe Spitzen, welche Gilliatts Kleider bis auf die Haut und seine Haut bis auf die Knochen durchbohrten. Dieser Regen gab ihm wenig zu trinken und durchnäßte ihn sehr.
Hülfe ließ dieser des Himmels unwürdige Regen ihm nicht zu Theil werden; dagegen barg er viel Elend für Gilliatt und verfolgte ihn länger, als eine Woche hindurch, bei Tage und bei Nacht. Dieser Regen war eine schlechte That von oben.
Nachts schlief er in seinem Felsloche nur, wenn er sich bei der Arbeit zu sehr angestrengt hatte. Die großen Seemücken stachen ihn und er erwachte mit Pusteln bedeckt.
Er hatte das Fieber, es hielt ihn aufrecht; denn das Fieber regt auf und doch tödtet es. Instinktmäßig kaute er Flechten oder sog an den Blättern der wilden Cochlearia, den magern Schößlingen der trockenen Spalten auf den Klippen. Im Uebrigen beschäftigte er sich wenig mit seinen Leiden, denn er hatte keine Zeit, sich ihretwegen von seiner Beschäftigung abzuhalten. Die Maschine der Durande befand sich in gutem Zustande. Das genügte ihm.
In jedem Augenblicke zwang ihn seine Arbeit, sich bald im Nassen, bald im Trocknen aufzuhalten. Er ging in das Wasser und wieder aus ihm, wie man aus einem Zimmer seiner Wohnung in ein anderes geht.
Seine Kleider trockneten aber nicht mehr. Sie waren von dem Regenwasser, welches nie versiegte, und von dem Seewasser, welches nie trocknet, durchdrungen, so daß Gilliatt völlig im Nassen lebte.
Man gewöhnt sich daran, im Nassen zu leben. Die armen Irländer: fast nackte Greise, Mütter, junge Mädchen, Kinder, welche den Winter in freier Luft unter Platzregen und Schnee, in den Häuserwinkeln der Straßen London's eng zusammengekauert zubringen, sind stets durchnäßt und leben und sterben so.
Naß sein und Durst haben. Gilliatt ertrug diese sonderbare Qual. Er biß manchmal in den Aermel seiner Theerjacke.
Das Feuer, welches er anmachte, erwärmte ihn kaum; denn in freier Luft ist es nur eine halbe Hülfe; man verbrennt auf der einen Seite und erfriert auf der andern.
Gilliatt, schweißtriefend, zitterte vor Kälte.
Alles ringsum widerstand ihm in einer Art furchtbaren Schweigens. Er fühlte sich überall angefeindet.
Die Dinge haben ein finsteres Non possumus und ihre Trägheit ist eine dunkle Warnung.
Ein unendlicher schlechter Willen umgab Gilliatt. Er hatte Hitze und Frost. Das Feuer verzehrte ihn, das Wasser machte ihn erstarren, der Durst brachte ihm Fieber, der Wind zerriß seine Kleider und der Hunger durchwühlte seinen Magen. Er hielt den Druck einer erschöpfenden Gesammtheit aus. Ein ruhiger und großartiger Widerstand, der augenscheinlich die Unverantwortlichkeit des Unglücks besaß, aber voll einer gewissen wilden Einmüthigkeit war, drängte von allen Seiten auf Gilliatt ein, der es fühlte, wie er sich unerbittlich auf ihn stützte. Kein Mittel, um sich ihm zu entziehen. Er war fast wie eine Person. Gilliatt hatte die Empfindung, als ob ein dunkler Haß und Widerwillen danach strebe, ihn zu verkleinern und der ihn nur zur Flucht treiben wollte; aber, da er blieb, seine unbesiegbaren Feindseligkeiten auf ihn ausschüttete. Da man ihn nicht hinauswerfen konnte, so warf man ihn zu Boden. Welches »Man?« Das Unbekannte. Das würgte und drückte ihn zusammen und nahm ihm Platz und Athem. Er wurde von der Unsichtbarkeit gefoltert. Jeden Tag drückte sich diese geheimnißvolle Schraube um eine Umdrehung tiefer.
Gilliatt's Lage mitten unter solchen beunruhigenden Ereignissen glich einem unehrlichen Zweikampfe, in welchem ein Verräther hilft.
Das Bündniß der finstern Mächte hatte ihn umschlossen. Er faßte den Plan, sich ihrer zu entledigen. So jagt der Gletscher die erratischen Blöcke fort.
Scheinbar, fast ohne damit in Berührung zu kommen, zerfetzte und zerriß ihn dies geheime Bündniß, es brachte ihn zum Aeußersten und machte ihn, so zu sagen, vor dem Kampfe kampfunfähig. Deshalb arbeitete er doch mit weniger Unterbrechungen, als früher; aber je mehr das Werk vorrückte, desto mehr ging es mit dem Arbeiter zurück.
Der doppelte Douvre, dieser Drachen aus Granit mitten auf offener See, hatte Gilliatt aufgenommen, erhalten, eintreten und ihn arbeiten lassen. Dieser Empfang glich der Gastfreundschaft eines offenen Rachens.
Die Wüste, das weite Meer, der Raum, wo es für den Menschen Gefahren giebt, die stille Unfreundlichkeit der Erscheinungen, welche ihrem Laufe folgen, das große allgemeine Gesetz der Unversöhnlichkeit und des Widerstandes, die Ebbe und Fluth, die Klippe, jene schwarze Plejade, von der jede Spitze einen Drehstern, den Mittelpunkt unzähliger, allen Richtungen zueilender Sterne bildet, ein unverständliches Bündniß der Gleichgültigkeit der Dinge gegen die Verwegenheit eines Wesens, der Winter, das Unwetter und die ringsum wogende See hüllten Gilliatt ein, umzogen ihn immer dichter, schlossen sich gewissermaßen über ihm und schlossen ihn von den Lebenden ab, wie eine Zelle, welche um einen Menschen in die Höhe steigt. Alles gegen, nichts für ihn; er war allein, verlassen, schwach, zerschlagen, vergessen; seine Proviantkammer leer, sein Handwerkszeug zerbrochen oder unbrauchbar; Hunger und Durst quälten ihn am Tage, und die Kälte in der Nacht; er hatte Wunden und Risse, Lumpen auf seinen Geschwüren, Löcher in den Kleidern und Wunden im Fleische, zerrissene Hände, blutende Füße, abgemagerte Glieder, bleiche Gesichtsfarbe und Feuer in den Augen.
Ein herrliches Feuer: den sichtbaren Willen. Das Auge des Menschen ist so beschaffen, daß sich in ihm die Tugend des Menschen wiederspiegelt; es sagt uns, was für ein Mensch in uns lebt. Wir versichern uns durch das Licht, welches unter unsern Lidern ruht. Kleine Geister blinzeln mit den Augen, große schleudern Blitze. Glänzt nichts hinter der Pupille, so denkt auch nichts im Gehirne und es liebt nichts im Herzen. Wer liebt, will; und wer will, blitzt und leuchtet. Der Entschluß bringt dem Blicke jenes wunderbare Feuer, welches aus dem Verbrennen der furchtsamen Gedanken entsteht.
Die Beharrlichen sind die Erhabensten. Wer tapfer ist, hat nur einen Antrieb; der Wachsame nur ein Mittel, der Muthige nur eine Tugend; der in Wahrheit Beharrliche ist hingegen wirklich groß. Fast das ganze Geheimniß großer Herzen liegt in dem einen Worte: Perseverando. Die Beständigkeit ist für den Muth, was die Rolle für den Hebel: die beständige Erneuerung des Stützpunktes. Möge das Ziel auf der Erde oder im Himmel sein; ihm entgegenstreben, darin beruht Alles; im ersten Falle ist es ein Columbus, im zweiten ein Jesus. Das Kreuz ist so einfach, daher sein Ruhm. Sein Gewissen nicht überlegen und seinen Willen nicht entwaffnen lassen, dadurch leidet und siegt man. In moralischen Dingen schließt Fallen ein Steigen nicht aus. Aus dem Falle entspringt die Auferstehung. Die Mittelmäßigen lassen sich durch ein scheinbares Hinderniß zurückschrecken; die Starken nicht. Untergang ist ihnen nur Möglichkeit, Sieg Gewißheit. Man konnte Stephan alle möglichen guten Gründe anführen, damit er sich nicht steinigen lasse. Die Verachtung vernünftiger Gegengründe schafft jenen erhabenen besiegten Sieg, welcher Märtyrerthum heißt.
Alle Anstrengungen Gilliatt's schienen sich an das Unmögliche anzuklammern, der Erfolg war gering oder langsam und er mußte viel ausgeben, um wenig zu erhalten; aber eben das läßt ihn als großartig und leidenschaftlich erscheinen.
Um vier Balken über einem Wracke aufzurichten, und in diesem den rettbaren Theil loszulösen und für sich allein herzustellen, um an diesem Strande wieder Krahnen mit ihren Tauen anzubringen, dazu hätte es so vieler Vorbereitungen, Arbeiten und Anstrengungen, so vieler Nächte auf hartem Lager und so vieler Tage voller Qual bedurft, daß darin das Elend der einsamen Arbeit bestand. Unheil in der Ursache, Noth in der Folge. Gilliatt hatte mehr gethan als das Elend angenommen, er hatte es gewollt. Aus Furcht vor einem Mitarbeiter, denn ein Mitarbeiter hätte zum Nebenbuhler werden können, suchte er keinen Genossen. Das vernichtende Unternehmen, die Gefahr, den Zweifel, die sich selbst vervielfältigende Arbeit, den möglichen Untergang des Retters bei der Rettung, den Hunger, das Fieber, die Entbehrungen, den Widerstand, alles das auf sich allein zu nehmen, hatte er die Selbstsucht gehabt.
Er befand sich unter einer Art von furchtbarer Luftpumpe. Die Lebenskraft zog sich allmälig von ihm zurück, aber er bemerkte es kaum.
Die Erschöpfung der Kräfte erschöpft nicht den Willen. Glauben ist erst die zweite Macht; Wollen die erste. Die Berge, welche nach dem Sprüchworte der Glauben versetzt, sind nichts gegen das, was der Willen thut. Alles was Gilliatt an Kraft verlor, gewann er an zäher Ausdauer wieder. Das Zusammenschrumpfen des physischen Menschen unter der zurückschreckenden Wirkung dieser wilden Natur diente nur zur Vergrößerung des moralischen Menschen.
Gilliatt fühlte keine Müdigkeit oder, um besser zu sagen, er erkannte sie nicht an. Die Weigerung der Seele, den abnehmenden Kräften des Körpers zuzustimmen, ist eine unendliche Kraft.
Gilliatt sah die Fortschritte, welche seine Arbeit machte, aber nur diese. Er war elend, ohne es zu wissen. Sein Ziel, welches er beinahe erreicht hatte, wich ihm nicht aus den Augen. Er litt all jenes Leiden, ohne daß ihm ein anderer Gedanke als der »Vorwärts« kam. Sein Werk stieg ihm zu Kopfe. Der Willen wurde trunken. Man kann sich auch geistig berauschen und ein solcher Rausch heißt Heldenmuth.
Gilliatt war gewissermaßen ein Hiob des Oceans; aber ein Hiob, welcher stritt, kämpfte, den Widerwärtigkeiten Trotz bot, siegte und wenn das Wort für einen armen Matrosen, welcher Krabben und Muscheln fischte, nicht zu groß ist – ein Hiob Prometheus.
Nachts öffnete Gilliatt manchmal seine Augen, betrachtete den Schatten und fühlte sich fremdartig bewegt.
Es bemächtigte sich seiner die Angst.
Der Schatten übt einen gewissen Druck aus.
Das tiefe Dunkel, das zu durchdringen unmöglich ist, eine Mischung von Licht mit diesem Dunkel; man weiß nicht, welchem besiegten und düstern Licht; aufgelöste Helle, bei der es undeutlich ist, ob sie Sonne oder Asche; Millionen von Lichtern und doch kein Licht; ein weiter Brand, welcher sein Geheimniß nicht sagt: ein Zerstieben des Feuers in Staub, der einem stillstehenden Fluge von Funken gleicht, die Unordnung des Strudels und die Unbeweglichkeit des Grabes, die Aufgabe, welche eine Oeffnung im Abgrunde bietet, ein Räthsel, welches sein Gesicht zeigt und verbirgt, die verschleierte Unendlichkeit der Finsterniß: das ist die Nacht. Dieses Bündniß drückt auf den Menschen.
Diese Bereinigung aller Geheimnisse auf ein Mal, der Geheimnisse der Welt und des Unheils häuft sich über dem Menschen zusammen.
Der Druck des Schattens wirkt umgekehrt auf die verschiedenen Gattungen der Seele. Der Mensch erkennt sich unvollkommen vor der Nacht. Er sieht das Dunkel und fühlt die Schwäche. Der schwarze Himmel ist der blinde Mensch, der Mensch, welcher der Nacht in's Angesicht blickt, stürzt hin, kniet nieder, wirft sich zu Boden, legt sich flach auf die Erde, verkriecht sich in ein Loch oder sucht Flügel. Fast immer will er dieser ungestalteten Gegenwart des Unbekannten entfliehen; frägt sich, was es ist, zittert, beugt sich, ist unwissend; bisweilen will er auch fortgehen.
Wohin gehen?
Dorthin.
Dorthin? Was ist das und was giebt es dort?
Diese Neugierde sucht augenscheinlich verbotene Dinge, denn auf dieser Seite sind alle Brücken rings um den Menschen abgebrochen. Die Arche der Unendlichkeit fehlt; aber das Verbotene zieht an, denn es ist ein Strudel. Wohin der Fuß nicht geht, kann der Blick dringen; wo der Blick still steht, kann der Geist noch weiter. Es giebt keinen Menschen, der nicht wagt, so schwach und gebrechlich er auch immer sein mag; seiner Natur nach, spürt und sucht der Mensch vor der Nacht. Für die Einen ist sie ein Fallen, für die Andern ein Steigen. Das Schauspiel ist düster. Das Unbestimmbare mischt sich hinein.
Ist die Nacht heiter, ist sie ein Schattengrund. Ist sie stürmisch, ist sie ein Nebelgrund. Die Unbegrenztheit entzieht sich und bietet sich zu gleicher Zeit an, verschlossen für die Versuche und geöffnet für die Vermuthungen. Unzählige Lichtstreifen machen die bodenlose Dunkelheit noch schwärzer. Blitzende und funkelnde Gestirne. Dinge, welche erwiesenermaßen in dem Unbekannten existiren; schreckliche Herausforderung, eine Berührung dieser Helle zu versuchen. Es sind die Maßstäbe der Schöpfung in dem Absoluten, die Marken der Entfernung, dort wo es keine Entfernungen mehr giebt; ein scheinbar unmögliches und doch wirkliches Ausmessen der Tiefen. Ein mikroskopischer Punkt, welcher glänzt, dann ein andrer, noch ein andrer und wiederum ein andrer, es ist die Undurchdringlichkeit, die Endlosigkeit. Dieses Licht ist ein Heerd, dieser Heerd ein Stern, dieser Stern eine Sonne, diese Sonne ein All, dieses All ein Nichts. Jede Zahl ist in der Unendlichkeit Null.
Dieser Welten, welche nichts sind, giebt es wirklich. Indem man sie anerkennt, fühlt man den Unterschied, welcher das Nichtssein von dem Nichtsein trennt.
Das Unerreichbare mit dem Unerklärbaren bildet den Himmel.
Aus dieser Betrachtung löst sich eine erhabene Erscheinung los: Das Großwerden der Seele durch das Staunen.
Die Scheu vor dem Heiligen ist dem Menschen eigentümlich; das Thier kennt sie nicht. Die Vernunft findet in diesem erhabenen Schrecken ihren Untergang und ihren Prüfstein.
Der Schatten ist einfach, daher der Schreck; zu gleicher Zeit ist er auch zusammengesetzt, daher die Ohnmacht. Seine Einheit drückt auf unsern Geist und raubt ihm die Lust, Widerstand zu leisten. Durch seine Vielfältigkeit bewirkt er, daß man ihn rings um sich, auf allen Seiten, erblickt; man scheint seine plötzliche Ankunft fürchten zu müssen. Man giebt sich so zu sagen hin und hütet sich. Man ist in der Gegenwart des Alls, daher die Unterwerfung, und in der Wahrheit, daher das Mißtrauen. Die Einheit des Schattens enthält ein Vielfaches. Geheimnißvolles Vielfaches, sichtbar in der Materie, fühlbar im Geiste. Das bewirkt Schweigen; ein Grund, noch wachsamer zu sein.
Die Nacht – der Verfasser hat es schon an andern Stellen gesagt – ist der eigentliche und normale Zustand der abgesonderten Schöpfung, von welcher wir einen Theil ausmachen. Der Tag, kurz in der Dauer, wie im Raume, ist nur eine Sternennähe.
Das nächtliche Wunder des Alls vollführt sich nicht ohne Reibung und jede Reibung einer solchen Maschine ist eine Verletzung des Lebens. Diese Reibungen der Maschine nennen wir das Böse. Wir fühlen in dieser Dunkelheit das Uebel, das geheime Leugnen der Gottheit, die verhüllte Schmähung der Thatsachen lehnt sich gegen das Ideale auf. Das Uebel macht durch eine unbestimmbare, tausendköpfige Mißgeburt die weite Gesammtheit des Alls, verwickelt sich und findet sich überall ein, um Widerstand zu leisten. Es ist der Sturm und verzögert den Gang des Schiffes, es ist das Chaos und fesselt das Entstehen einer Welt. Das Gute hat die Einheit, das Böse die Allgegenwart. Das Böse zerstört das Leben, was ganz logisch ist; es bewirkt, daß die Fliege von dem Vogel und der Planet vom Komet verschlungen wird. Das Uebel ist ein Strich durch die Schöpfung.
Die nächtliche Dunkelheit macht vollkommen schwindlig. Wer in sie eindringt, sinkt in ihr unter und geht in ihr zu Grunde. Keine Anstrengung hält einen Vergleich mit dieser Prüfung der Dunkelheit aus. Es ist das Studium eines Nichts.
Kein bestimmter Ort, wo der Geist ruhen könnte; Ausgangspunkte ohne Endpunkt; ein Gewirr sich widersprechender Lösungen; alle Verzweigungen des Zweifels, sich zu derselben Zeit einstellend, die Verästelung der Erscheinungen, welche sich ohne aufzuhören unter einem unbestimmten Drucke entblättern, alle Gesetze, sich gegenseitig ineinander stürzend, ein unergründliches Durcheinander, welches ein Vegetiren der Mineralien und Lebendigwerden der Vegetation bewirkt, den Gedanken wägt, die Liebe strahlen läßt und die Anziehung liebt; die ungeheure Reihe von Angriffen aller Fragen, welche sich in der endlosen Dunkelheit entwickeln. Das Ungewisse, welches das Unbekannte zur Welt bringt; die kosmische Gleichzeitigkeit in voller Erscheinung, nicht für den Blick, sondern für die Vernunft, in dem großen unendlichen Raum und das sichtbar geordnete Unsichtbare, das ist die Finsterniß. Der Mensch steht unter ihr.
Er kennt nicht die Einzelheiten, trägt aber, im Verhältnis zu seinem Geiste, das furchtbare Gewicht der Gesammtheit. Dieser Druck trieb die chaldäischen Schäfer zur Sternkunde. Unfreiwillige Enthüllungen dringen aus den Poren der Schöpfung; ein Austritt der Wissenschaft findet gewissermaßen von selbst statt und gewinnt den Unwissenden. Jeder Einsiedler wird unter diesen geheimnißvollen Eindrücken, oft ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, ein Naturphilosoph.
Die Dunkelheit ist untheilbar; bewohnt, ohne Ortswechsel von dem Absoluten, und auch mit Ortswechsel. Man bewegt sich in ihr, das beunruhigt. Eine heilige Bildung durchläuft ihre Entwicklungsstufen daselbst. Vorbedachtsamkeiten, Mächte und gewollte Bestimmungen arbeiten dort gemeinsam ein unermeßliches Werk aus. Ein fürchterliches und schreckliches Leben ist darin. Es giebt dort große Zusammenhäufungen unter den Gestirnen, die Sternen-, die Planetenfamilie, die Milchstraße, das Quid divinum der Strömungen, der Ausflüsse der Polarisationen und der Anziehungen; die Umarmung und die Abstoßung, eine prächtige Ebbe und Fluth allgemeinen Gegensatzes, die Unwägbarkeit frei mitten unter Brennpunkten; die Lebenskraft in den Kugeln, das Licht außerhalb der Kugeln, das umherirrende Atom, das zerstreute Samenkorn, befruchtende Curven, Begegnungen des Zusammendringens und des Kampfes, unerhörte Vorbereitungen, Entfernungen, welche Träumen gleichen, schwindelnde Umkreisungen, Versinken ganzer Welten in das Unberechenbare, Wunder, welche sich gegenseitig in der Dunkelheit verfolgen, einen Mechanismus, stetes Sphärenrauschen auf der Flucht, Räder, deren Umdrehungen man fühlt; der Gelehrte behauptet, der Unwissende fühlt und zittert; es besteht und entfernt sich; es ist unerkämpfbar, unerreichbar, unnahbar. Man ist bis zur Niedergeschlagenheit überzeugt, fühlt eine unbestimmte, schwarze Erscheinung auf sich, kann nichts fassen und wird durch das Ungreifbare zerdrückt.
Ueberall das Unbegreifliche, nirgends das Unverständliche.
Und dazu tritt noch die furchtbare Frage: Ist dieses Innewohnen ein Wesen?
Man ist im Dunkel, man hört und sieht es.
Indessen geht und rollt die dunkle Erde weiter; die Blumen sind sich dieser riesenhaften Bewegung bewußt; das Leinkraut öffnet sich um elf Uhr Abends und die Meerlilie um fünf Uhr Morgens. Ueberwältigende Regelmäßigkeit.
In andern Tiefen schafft sich der Wassertropfen eine Welt, keimt das Aufgußthierchen, tritt die großartige Fruchtbarkeit aus dem Samenfaden, bereitet das Unergründbare seine Größe aus und offenbart sich die Umkehrung der Unendlichkeit; eine Diatomee erzeugt in einer Stunde dreizehnhundert Millionen neue.
Welche Zusammenstellung aller Räthsel auf ein Mal!
Das Unverkleinerliche zeigt sich.
Man wird zum Glauben gezwungen. Glauben aus Zwang, das ist der Erfolg. Aber glauben genügt nicht, um ruhig zu sein. Der Glauben hat eine unbeschreibbare und merkwürdige Sucht nach Formen. Daher die Religionen. Nichts ist so drückend, als ein Glauben ohne Umriß.
Was man auch immer denkt und will, welchen Widerstand man auch immer in sich fühlt; den Schatten anblicken, heißt nicht anblicken, sondern betrachten.
Was soll man aus diesen Erscheinungen machen! Wie sich unter ihrem Zusammentreffen bewegen! Dieses Räthsel zu lösen, ist unmöglich. Welche Träumerei allen diesen Endpunkten anpassen? Wie viele tief verborgne, gleichzeitige, stammelnde, sich durch ihre eigne Menge verdunkelnde Enthüllungen, scheinbares Lallen des Wortes! Der Schatten ist ein Schweigen, aber dieses Schweigen sagt Alles. Eine Mittelkraft löst sich davon majestätisch ab: Gott ist der unbegreifbare Begriff, der im Menschen lebt. Die Vernunftschlüsse, die Anklagen, die Verneinungen und die Religionen gehen darüber hinfort, ohne ihn zu verringern. Diesen Begriff bestätigt der Schatten in seiner Gesammtheit, aber Verwirrung liegt auf allem Uebrigen. Furchtbare Immanenz. Der unbeschreibbare Einklang der Kräfte offenbart sich durch das Bestehen des Gleichgewichts in dieser ganzen Dunkelheit. Das All schwebt; nichts fällt. Die unaufhörliche und unermeßbare Ortsveränderung geht ohne Unfall und Bruch vor sich. Der Mensch nimmt an dieser Bewegung des Vorrückens Theil und die Menge der Schwankungen, welche er erfährt, nennt er das Geschick. Wo fängt das Geschick an? Wo hört die Natur auf? Welchen Unterschied giebt es zwischen einem Ereigniß und einer Zeit, zwischen einem Kummer und einem Regen, zwischen einer Tugend und einem Stern? Ist eine Stunde nicht eine Welle? Die sich bewegenden Räder greifen beständig ineinander ein und setzen, ohne dem Menschen zu antworten, ihre hartherzigen Umdrehungen fort. Der Sternenhimmel ist eine Erscheinung von Rädern, Balanciers und Gegengewichten; die höchste Betrachtung, verdoppelt durch das höchste Nachsinnen; die ganze Wirklichkeit; noch mehr: das ganze Insichversenken. Nichts geht darüber hinaus. Man fühlt sich ergriffen in der Gewalt dieses Schattens ohne die Möglichkeit eines Entweichens; sieht sich in den Zähnen dieses Rades, bildet einen wesentlichen Bestandteil eines unbeachteten Alls und fühlt das Unbekannte in sich mit einem Unbekannten außer sich geheimnißvoll Brüderschaft schließen. Das ist die höchste Verkündigung des Todes. Welche Qual und welches Entzücken zu gleicher Zeit! Dem Unendlichen anhängen und dadurch dazu geführt werden, sich selbst eine notwendige Unsterblichkeit, vielleicht eine mögliche Ewigkeit zuzuschreiben; in dem wunderbaren Wogen dieser Sündfluth des allgemeinen Lebens die unertränkbare Beharrlichkeit des Ich fühlen! Die Sterne betrachten und ausrufen: Ich bin eine Seele, wie Ihr! Die Finsterniß betrachten und ausrufen: Ich bin ein Abgrund, wie Du!
Dieses Riesenhafte ist die Nacht.
Das Alles, durch die Einsamkeit noch vergrößert, drückte auf Gilliatt.
Verstand er es? Nein.
Fühlte er es? Ja.
Gilliatt war ein großer, wirrer Geist und ein großes, wildes Herz.
Die von Gilliatt ausgesonnene Rettung der Maschine war, wie wir schon sagten, ein ächtes Riesenunternehmen; und man kennt seine Geduld bei diesem Riesenunternehmen und ebenso seinen Fleiß. Der Fleiß geht bis in das Wunderbare, die Geduld bis in den Tod. So fand zum Beispiel ein Gefangener, Thomas, auf dem St. Michaelsberge Mittel, die Hälfte einer Mauer in einen Strohsack zu stecken. Zu Tulle schnitt im Jahre 1820 ein anderer Gefangener Blei auf der als Spazierplatz dienenden Plattform des Gefängnisses. Woher nahm er das Messer? Man kann es nicht ahnen. Er schmolz dieses Blei; aber mit welchem Feuer? Man weiß es nicht. Er goß dieses geschmolzene Blei, aber in was für eine Form? Man weiß es. In eine Form aus Brodkrume; und mit Hülfe dieses Bleies und dieser Form machte er einen Schlüssel und öffnete damit ein Schloß, von dem er nie etwas anders sah, als das Loch. Solch unerhörte Geschicklichkeit besaß auch Gilliatt. Er wäre die steile Böschung von Boisrosé hinauf- und wieder hinabgeklettert. Er war der Trenck einer Brandung und der Latude einer Maschine.
Das Meer, sein Gefangenwärter, überwachte ihn.
Uebrigens, wir müssen es gestehen, so undankbar und schlecht auch der Regen war, so zog Gilliatt doch Vortheil aus ihm. Er hatte seinen Vorrath von süßem Wasser einigermaßen wieder hergestellt; aber sein Durst war unlöschbar und er leerte seinen Wasserbehälter fast eben so schnell, als er ihn füllte.
Eines Tages, ich glaube, es war am letzten April oder ersten Mai, war Alles fertig.
Die Maschine war zwischen den acht Tauen der Krahnen auf jeder Seite zwischen vier gleichsam eingeschlossen. Die sechszehn Oeffnungen, durch welche diese Kabel liefen, waren auf der Brücke und unter dem Kiele durch Schnitte mit der Säge angebracht, die Dielen gleichfalls mit der Säge, das Gerüst mit der Axt, das Eisenwerk mit der Feile und die Fütterung mit zwei Meißeln bearbeitet worden. Der Theil des Kiels, über welchem sich die Maschine befand, war viereckig losgetrennt, so daß er mit der Maschine gehoben werden konnte und ihr als Stütze diente. Diese ganze furchtbare Last hielt nur an einer Kette, welche selbst nur noch mit einem Feilenstriche zusammenhing. Ist Alles so weit vorgeschritten und dem Ende so nahe, dann ist Eile Klugheit.
Das Meer stand niedrig, der Augenblick war günstig.
Es war Gilliatt gelungen, den Radbaum, dessen äußerste Enden hinderlich sein und das Aufwinden stören konnten, loszumachen und dieses schwere Stück senkrecht im Innern der Maschine selbst anzubringen.
Es war Zeit, zu Ende zu kommen. Zwar fühlte sich Gilliatt, wie wir schon gesagt haben, nicht matt, da er es nicht sein wollte, aber wie sah es mit seinem Handwerkszeug aus. Die Schmiede war allmälig unbrauchbar geworden, der Amboß gesprungen, der Blasebalg begann schlecht zu arbeiten und da der kleine Wasserfall Meerwasser enthielt, so hatte sich in den Gelenken des Apparats Salz niedergeschlagen und hinderte deren Spiel.
Gilliatt ging zum »Mann,« musterte die Barke, überzeugte sich, daß in ihr Alles in Ordnung war, besonders die vier Ringe am Tri- und Backbord, lichtete dann den Anker und kehrte rudernd mit ihr zu den beiden Douvres zurück, deren Zwischenraum sie durchließ, da das Wasser tief und die Oeffnung breit genug war. Gilliatt wußte bereits seit dem ersten Tage, daß man die Barke bis unter die Durande bringen konnte.
Dies Unternehmen war jedoch sehr schwer; es erforderte die Genauigkeit eines Juweliers; und das Einführen der Barke in die Klippe war um so mißlicher, als es für Gilliatts Zwecke mit dem Sterne, also mit dem Steuer zuerst geschehen mußte. Auch war es wichtig, daß ihr Mast und Takelwerk vor dem Wracke, auf der Seite des Schlupfhafens, blieben.
Diese vermehrten Schwierigkeiten machten das Unternehmen selbst für Gilliatt unbequem. Es handelte sich nicht mehr, wie bei der Klippe »der Mann«, um einen Barrenschlag, man mußte Alles zusammen thun: stoßen, ziehen, schleppen und sondiren. Gilliatt gebrauchte nicht weniger als eine Viertelstunde dazu, aber Alles lief gut ab.
In fünfzehn bis zwanzig Minuten war die Barke unter der Durande angebracht und von ihr beinahe festgeschlossen. Gilliatt gabelte sie mit ihren beiden Ankern so ein, daß der stärkste dem heftigsten Winde, welchen er zu fürchten hatte, dem West, entgegenarbeitete. Hierauf senkte er mit einem Hebel und der Winde die beiden Kisten in die Barke hinab, welche die abgenommenen Räder enthielten und deren Schlingen ganz fest waren. Diese beiden Kisten sollten als Ballast dienen.
Dann befestigte Gilliatt an dem Haken der Ketten der Winde die Schlingen des Balancirtaues, welches für die Krahne als Hemmung bestimmt war.
Für das, was Gilliatt vorhatte, waren die Fehler der Barke ebenso viele gute Eigenschaften; sie hatte kein Deck, die Belastung mußte auf den Kiel drücken und sie dadurch mehr Fahrwasser erhalten. Da sich ihr Mast vorn, vielleicht zu weit nach vorn, befand, so mußte die Belastung leichter von Statten gehen und da sich der Mast außerhalb des Wracks befand, so konnte nichts die Abfahrt hindern. Die Barke war wie ein Huf, auf dem Meere ist nichts so fest und beständig, als diese Hufform.
Plötzlich bemerkte Gilliatt, daß das Meer stieg. Er blickte sich um, woher der Wind komme.
Nur eine schwache Brise wehte, und zwar aus Westen; eine schlechte Gewohnheit, welche der Wind aber zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche liebt.
Die Fluth in der Douvre-Klippe verhält sich beim Steigen, je nach der Richtung des Windes, verschieden. Je nachdem sie die Brise treibt, dringt die See bald von Ost und bald von West in diese Meeresenge ein. Kommt sie von Ost, so ist sie gut und sanft; von West hingegen ungestüm. Das kommt daher, weil der Ost, welcher vom Lande herweht, wenig Kraft hat, der West aber, welcher über dem atlantischen Ocean streicht, das ganze Wehen der Unendlichkeit mit sich bringt. Selbst eine scheinbar ganz leichte Brise, welche aus Westen kommt, ist beunruhigend. Sie rollt die großen Wellen aus unbegrenzter Ferne herbei und treibt zu viel Wasser auf ein Mal in den engen Schlund.
Ein Wasser, welches sich in einem Abgrund verliert, ist immer furchtbar. Es ist mit dem Wasser, wie mit der Menge, welche auch flüssig ist. Das, was eindringen kann, ist geringer, als das, was eintreten will, daraus entsteht die Vernichtung für die Menge und das Zucken für das Wasser. So lange der West regiert und wäre es der schwächste Hauch, so haben die Douvres täglich zweimal diesen Angriff auszuhalten. Das Meer hebt sich, die Fluth steigt; der Felsen widersteht; der kleine Hafen öffnet sich nur spärlich, die mit Gewalt eingetriebene Woge springt und brüllt und die hohle See schlägt rasend die beiden innern Seiten der Straße. Bei dem geringsten Westwinde bieten die beiden Douvres folgendes eigenthümliche Schauspiel; draußen auf dem Meere die Ruhe; innen die Aufregung. Diese beschränkte und unbegrenzte Wuth hat nichts mit einem Sturm gemein; sie ist nur eine Rebellion der Wogen, aber schrecklich. Die Winde aus Nord und Süd fassen die Klippe von der Seite und regen die Wellen in der Straße nur wenig auf. Im Osten grenzt der Eingang, wie man sich erinnern wird, an den Felsen »der Mann;« die gefährliche Oeffnung des Westens befindet sich an dem entgegengesetzten Ende, genau zwischen den beiden Douvres.
An dieser Westöffnung befand sich Gilliatt mit der gescheiterten Durande und der festgeankerten Barke.
Ein Unglück schien unvermeidlich und drohte schon, denn es verfügte über eine zwar geringe, aber doch hinreichende Menge des ihm nothwendigen Windes.
Binnen wenig Stunden mußte das Anschwellen der wachsenden Fluth einen furchtbaren Kampf in der Douvres-Enge beginnen. Die ersten Wellen brandeten schon. Dieses Anschwellen, die Springfluth des ganzen atlantischen Oceans, hatte die Gesammtheit des Meeres hinter sich. Kein Windstoß, kein Zorn, sondern eine einfache Alles beherrschende Welle, mit einer Schnellkraft in sich, welche Amerika verläßt, um an Europa sich zu brechen und einen Schlag von zweitausend Meilen besitzt. Diese Welle, die Riesenbrandung des Oceans, mußte auf die Oeffnung in der Klippe stoßen, sich an den beiden Douvres, den Eingangsthürmen und Pfeilern der Straße, brechen, durch die Fluth und das Hinderniß anschwellen, von den Felsen zurückgeworfen und von dem Winde übertrieben der Klippe Gewalt anthun, mit dem ganzen Strudel des besiegten Widerstandes und der vollen Wuth der gefesselten Welle zwischen den beiden Mauern eindringen, dort die Durande und die Barke finden und beide zerbrechen.
Gegen diese Möglichkeit bedurfte es eines Schildes, den Gilliatt besaß.
Man mußte die Fluth daran verhindern, mit ihrer ganzen Gewalt einzudringen, ihr verbieten zu steigen, wodurch sie zerstören mußte, ihr den Durchgang verlegen, ohne ihr den Eintritt zu verweigern, ihr widerstehen und nachgeben, dem Drucke der Welle auf den Schlupfhafen, worin die ganze Gefahr bestand, zuvorkommen, an Stelle des Einstürmens ein gemächliches Eindringen setzen, der Woge ihre Aufregung und rohe Kraft nehmen, diese Wuth zur Sanftmuth zwingen und das aufregende Hinderniß durch ein beruhigendes ersetzen.
Gilliatt, der stärker als der Starke, Gemsenmanöver in den Gebirgen und Sapajou-Unternehmen in den Wäldern vollführte, der bei den schwankend und schwindelig machenden Sprüngen den kleinsten Kieselstein zu benutzen wußte, der in das Wasser sprang, aus dem Wasser sprang, im Kielwasser schwamm und den Felsen, mit einem Strick zwischen den Zähnen und einem Messer in der Hand, zu erklettern verstand, – löste mit der ihm eigenthümlichen Geschicklichkeit das Greling, welches, schwebend und an die Böschung des kleinen Douvre gelehnt, den Vordertheil der Durande hielt; machte aus dicken Tauenden eine Art von Haspeln, welche dies Netz an den großen, in den Granit eingelassen Nägeln befestigen sollten, ließ auf diesen Haspeln jene, einer Schleusenthür ähnliche Planken-Armatur spielen, bot ihre Seite, wie man es mit dem Backen eines Steuerruders macht, dem Wasser dar, welches eines ihrer Enden vorwärts trieb und an den großen Douvre führte, während die Tauhaspeln auf dem kleinen Douvre ihr anderes Ende zurückhielten, bewerkstelligte auf dem großen Douvre, mit Hülfe der schon im Voraus eingeschlagenen Nägel, dieselbe Art der Befestigung, wie auf dem kleinen, schloß dieses mächtige Balkengerüst innig an den doppelten Pfeiler des Schlupfhafens auf, kreuzte auf dieser Barre eine Kette, wie ein Degengehänge über einem Panzer, und in weniger als einer Stunde wendete sich dieser Verschluß gegen die Fluth und vertrat den Eingang in die Straße zwischen den Klippen, wie eine Thür.
Dieses mächtige Gerüst einer gewaltigen Masse von Balken und Planken, welches liegend ein Floß und stehend eine Mauer bildete, war von Gilliatt mit Hülfe der Fluth und mit zauberhafter Geschicklichkeit angebracht worden. Das Kunststück war fertig geworden, bevor die steigende Fluth Zeit hatte, es wahrzunehmen.
In diesem Falle hätte Jean Bart wieder das berühmte Wort angewandt, welches er jedesmal dem Meere zurief, wenn er einen Schiffbruch geschickt vermied: »Angeführt den Engländer!« Wie man weiß, nannte Jean Bart den Ocean, wenn er ihn beleidigen wollte, den Engländer.
Nachdem Gilliatt die Meerenge so versperrt hatte, dachte er an die Barke. Er rollte genug Kabel auf die beiden Anker ab, daß sie mit der Fluth steigen konnte, ein ähnliches Verfahren, wie das, welches die alten Seeleute »mit Knoten ankern« nannten. Bei alle dem wurde Gilliatt nicht überrascht, denn er hatte an Alles schon vorher gedacht; ein Sachverständiger hätte es an den beiden, mit ihren glatten Klobenwerken an dem Sterne der Barke befestigten Rollen gesehen, über welche zwei Grelinge liefen, deren Enden schief durch die Ringe der beiden Anker gingen.
Indessen war die Fluth schon bis zur halben Höhe gestiegen; in einem Augenblicke kann schon der Schlag ihrer Wellen, selbst wenn sie ruhig sind, kräftig werden. Was Gilliatt erwartet hatte, ging in Erfüllung. Die Fluth rollte kräftig gegen die Barke, stieß gegen sie, staute sich an ihr auf und ging dann unter ihr durch. Draußen war es die hohle See, drinnen ein Eintröpfeln. Gilliatt hatte eine Art von caudinischen Engpässen für das Meer ersonnen und es dadurch besiegt.
Der schreckliche Augenblick war gekommen.
Es handelte sich jetzt darum, die Maschine in die Barke zu bringen.
Einige Augenblicke hindurch stützte Gilliatt seine Stirn auf seine linke Hand, den linken Ellbogen auf die rechte Hand und dachte nach; dann stieg er auf das Wrack, von dem ein Theil, die Maschine, losgemacht werden, der andere aber, der Rumpf, zurückbleiben sollte, und schnitt die vier Seile, welche am Back- und Steuerbord der Durande die vier Ketten des Schlotes festhielten, durch. Da die Seile nur aus Hanf bestanden, so gelang ihm das mit seinem Messer.
Die vier Ketten hingen frei und ohne Anhang an dem Schlote hinab.
Von dem Wracke stieg er in den Apparat, welchen er gemacht hatte, schlug mit dem Fuße gegen die Balken, untersuchte die Flaschenzüge und Rollen, berührte die Kabel, prüfte die Ansatzstücke, überzeugte sich, daß das weiße Tauwerk nicht tief durchnäßt war, daß nichts fehlte und sich nichts bog, sprang dann von dem hohen Lukenrande auf das Deck und stellte sich neben die Winde in den Theil der Durande, welcher an den Douvres bleiben sollte. Dort war sein Platz während der Arbeit.
Ernst und nur von nützlicher Erregung erregt, warf er einen Blick auf die Krahne, ergriff hierauf eine Feile und begann die Kette, welche Alles in der Schwebe hielt, zu durchschneiden.
Man hörte das Knirschen der Feile unter dem Grollen des Meeres.
Die Kette der Winde, welche an dem Balancir-Tau befestigt war, befand sich dicht neben seiner Hand, so daß er sie leicht fassen konnte.
Plötzlich hörte man ein Krachen. Die Kette, welche von der Feile zerschnitten wurde, war mehr als halb durchgefeilt und eben gerissen; der ganze Apparat fing zu schwanken an. Gilliatt hatte nur noch Zeit, sich auf das Balancirtau zu stürzen.
Die zerrissene Kette peitschte den Felsen, die acht Kabel dehnten sich aus, der ganze losgesägte und losgeschnittene Theil riß sich vom Wracke los, der Bauch der Durande öffnete sich und der auf die Kabel drückende Eisenboden der Maschine erschien unter dem Kiele.
Hätte Gilliatt nicht zeitig das Tau ergriffen, so wäre ein Sturz erfolgt. Jetzt war aber seine furchtbare Hand da und so wurde es nur ein Herabsinken.
Als Jean Bart's Bruder, Peter Bart, jener starke und kluge Trunkenbold, jener arme Fischer aus Dünkirchen, welcher den Großadmiral von Frankreich duzte, die in der Bai von Ambleteure verlorene Galeere Langeron rettete und um diese schwere schwimmende Masse aus der Mitte der Brandung jener gefährlichen Bai herauszuschaffen, das große Segel im Flattern mit Meerbinsen zusammenband, als er wollte, daß diese Binsen, sich selbst zerbrechend, das Segel dem Winde zum freien Spiel überließen, vertraute er sich dem Brechen der Binsen ebenso an, wie Gilliatt dem Reißen der Kette; es war dieselbe merkwürdige Kühnheit, von demselben überraschenden Erfolge gekrönt.
Das Tau, welches Gilliatt gefaßt hatte, hielt gut und arbeitete wunderbar. Wie man sich erinnern wird, war es dazu bestimmt, den Kräften, welche aus mehreren in eine zusammengezogen waren und einer gemeinsamen Bewegung gehorchten, das Gleichgewicht zu halten. Es hatte einige Aehnlichkeit mit einer Boyleine, wirkte aber nicht auf ein Segel, sondern auf einen Mechanismus.
Gilliatt stehend und die Hand an der Winde, fühlte, so zu sagen, dem Apparate den Puls.
Hier zeigte sich Gilliatt's Erfindungsgabe auf das Deutlichste.
Ein auffallendes Ineinandergreifen fand statt.
Während die völlig losgelöste Maschine der Durande gegen die Barke hinabstieg, hob sich diese gegen jene hin. Das Wrack und das Rettungsboot halfen sich gegenseitig, gingen einander entgegen, suchten sich und ersparten sich die halbe Arbeit.
Die Fluth schwoll ohne Geräusch zwischen den beiden Douvres an, hob die Barke und näherte sie der Durande; sie war mehr als besiegt, sie war gezähmt. Der Ocean bildete einen Theil des Mechanismus.
Das steigende Wasser hob die Barke nicht rückwärts, sondern sanft und beinahe vorsichtig, als wenn sie aus Porzellan gewesen wäre.
Gilliatt hatte die Kräfte dieser beiden Arbeiter, des Wassers und des Apparates, vereint, gegeneinander abgemessen und regelte, unbeweglich an der Winde stehend, gleich einer fürchterlichen Bildsäule, der alle Bewegungen auf einmal gehorchen, die Geschwindigkeit des Sinkens nach der des Steigens.
Kein Springen in der Fluth, kein Schwanken in den Krahnen. Es war ein merkwürdiges Zusammenspielen aller dienstbar gemachten Naturkräfte. Einerseits war die Anziehungskraft der Maschine, andererseits die Fluth das Boot. Die Anziehungskraft der Gestirne – die Fluth – und die der Erde – die Schwere – schienen sich mit einander verständigt zu haben, um Gilliatt zu dienen. Ihr Gehorsam kannte weder Zögerung noch Aufenthalt, und durch den Willen eines Geistes wurden diese unthätigen Kräfte zu thätigen Hülfsmitteln. Von Minute zu Minute schritt das Werk vor; der Zwischenraum zwischen der Barke und dem Wrack verminderte sich unmerklich. Die Annäherung geschah schweigend und gewissermaßen für den Menschen, welcher zugegen war, furchtbar. Das Element hatte einen Befehl erhalten und führte ihn aus.
Fast in demselben Augenblick, als die Fluth zu steigen aufhörte, hörten auch die Kabel auf sich abzurollen. Plötzlich, aber ohne Bewegung, standen die Flaschenzüge still. Die Maschine hatte, wie unter der Leitung einer Hand, in der Barke Platz genommen. Sie stand in ihr gerade, aufrecht, unbeweglich und fest. Die Stützplatte ruhte mit ihren vier Ecken senkrecht auf dem Kiele.
Es war vollbracht.
Gilliatt blickte überwältigt hin.
Das arme Wesen war von der Freude nicht verwöhnt. Er beugte sich unter einem unermeßlichen Glücke, fühlte, wie alle seine Glieder zitterten, und er, der bis dahin keine Verwirrung gekannt hatte, begann vor seinem Siege zu beben.
Er betrachtete die Barke unter dem Wracke und die Maschine in der Barke. Er schien es nicht zu glauben. Man hätte sagen können, er war auf das nicht vorbereitet, was er gethan hatte. Ein Wunder war unter seinen Händen hervorgegangen und er erblickte es mit Staunen.
Dieses Staunen dauerte nur kurze Zeit.
Gilliatt machte eine Bewegung wie Jemand, der erwacht, stürzte auf die Säge zu, schnitt die acht Taue durch, sprang dann in die Barke, von welcher ihn jetzt, Dank ihrem Steigen durch die Fluth, eine Entfernung von höchstens zehn Fuß trennte, ergriff eine Rolle mit Troß, machte vier Schlingen, steckte sie durch die Ringe, welche er schon früher angebracht hatte, und befestigte an Bord der Barke auf beiden Seiten die vier Ketten des Schlotes, welche noch vor einer Stunde an Bord der Durande festsaßen.
Nachdem der Rauchfang angeschlossen war, machte Gilliatt den oberen Theil der Maschine los. Ein viereckiges Stück der Brückenplatte der Durande hing daran fest. Gilliatt schlug es ab und befreite die Barke von diesem überflüssigen Ballaste von Planken und Brettern, welche er auf den Felsen warf. Nützliche Erleichterung!
Uebrigens war die Barke, wie man wohl erwarten konnte, unter der großen Last der Maschine fest geblieben und hatte sich nur wenig gesenkt. Die Maschine der Durande war zwar schwer, aber nicht so wuchtig, als der Steinhaufen und die Kanone, welche die Barke schon früher von Herm geholt hatte.
So war Alles beendet und er brauchte die Maschine nur noch fortzufahren.
Alles war noch nicht beendigt.
Gilliatt mußte den Schlupfhafen wieder öffnen, welchen das Vordertheil der Durande verschloß, und die Barke sofort aus der Klippe schaffen, das lag klar auf der Hand. Auf offenem Meere ist jede Minute kostbar. Der Wind war schwach, kaum ein Kräuseln zeigte sich auf hoher See; der sehr schöne Abend versprach eine ebenso schöne Nacht. Das Meer war stillstehend, aber die Ebbe begann sich schon fühlbar zu machen; der Augenblick war für die Abfahrt äußerst günstig. Er verließ mit der Ebbe die Douvres, landete mit der Fluth in Guernesey und konnte mit Tagesanbruch in St. Sampson sein.
Aber ein unerwartetes Hinderniß stellte sich ein. Trotz seiner Vorsicht hatte Gilliatt eine Kleinigkeit vergessen.
Die Maschine war frei, der Rauchfang aber nicht.
Die Fluth hatte dadurch, daß sie die Barke dem in der Luft schwebenden Wrack näherte, die Gefahren des Herablassens verringert und die Rettung abgekürzt; aber in Folge dieser Verminderung des Zwischenraums blieb der obere Theil des Schlotes in dem klaffenden Rahmen stecken, welchen gewissermaßen der offene Kiel der Durande bildete. Der Rauchfang wurde von ihm festgehalten, als ob er zwischen vier Mauern gesteckt hätte.
Die Dienstleistung der Wellen wurde durch diesen hinterlistigen Streich gestört.
Wie es schien, hatte das zum Gehorsam gezwungene Meer einen Hintergedanken. Die Ebbe konnte das Werk der Fluth vielleicht zerstören.
Der etwas mehr als drei Klafter hohe Schornstein steckte acht Fuß tief in der Durande; das Niveau des Wassers war im Begriff um zwölf Fuß zu sinken und der Schornstein, indem er mit dem Holländer dem Meeresgrund näher kam, gewann oben einen Spielraum von vier Fuß, konnte also in's Schwanken gerathen.
Wie lange mochte es währen, ehe er diese Freiheit erlangte? – Sechs Stunden.
Nach Verlauf derselben war es nicht weit mehr von Mitternacht. Doch wie konnte man zu jener Zeit eine Ausschiffung versuchen? In welchen Canal sollte das Fahrzeug sich durch die Klippen winden, in denen sich schon bei Tage Niemand zurechtfand? Und wer wollte sich in jenen Hinterhalt von Untiefen wagen?
Gilliatt war gezwungen, den folgenden Tag abzuwarten.
Sechs verlorene Stunden konnten ihm mindestens zwölf andere kosten.
Er durfte nicht einmal daran denken, den Eingang des Felsgäßchens zu öffnen, um weiter arbeiten zu können.
Gilliatt mußte sich auch ausruhen.
So lange er sich zwischen den Douvresklippen befand, hatte er alles Andere gethan, nur nicht die Arme gekreuzt; dies that er jetzt zum ersten Mal.
Diese gezwungene Pause erzürnte und empörte ihn fast, als hätte er selber sie verschuldet. Was würde Déruchette sagen, sähe sie mich hier müßig stehen? fragte er sich.
Und doch bedurfte er so nothwendig des Sammelns neuer Kräfte.
Der Holländer stand jetzt zu seiner Verfügung und er beschloß die Nacht auf ihm zu verbringen.
Er holte sein Schaffell von dem großen Douvre, speiste einige Schlüsselmuscheln und Seekastanien und trank, da er großen Durst halte, fast den ganzen Wasserrest seiner Schiffsflasche. Dann hüllte er sich in das Fell, dessen Wolle ihm wohl that, legte sich wie ein Wächterhund in die Nähe seiner Maschine, zog die Galerienne über seine Augen und sank in Schlummer.
Wie von einer Springfeder emporgeschnellt, erwachte er plötzlich inmitten der Nacht.
Er öffnete die Augen.
Die Douvres über seinem Haupt erglänzten wie vom Wiederschein einer starken, hellen Kohlengluth. Die ganze schwarze Façade war von diesem Licht beleuchtet.
Woher kam dies Feuer?
Aus dem Wasser.
Das Meer schien in Flammen zu stehen. So weit das Auge reichte, wogte es wie Feuersgluth, doch hatte dieselbe nicht den gewöhnlichen rothen Schein, auch kein Knistern, keine Hitze und Purpurröthe, nicht das kleinste Geräusch begleitete sie. Ein weitverbreiteter bleicher Glanz zitterte über dem Wasser. Es war keine Feuersbrunst, sondern ein Seegespenst.
Die Erscheinung glich der fahlen Gluth, welche eine Flamme, das Erzeugniß eines Traumes, in dem Innern einer Todtengruft entzündete.
Man mache sich eine Vorstellung von einer in Brand gesetzten Finsterniß.
Die Nacht, die unermeßliche, aufgestörte und verwirrte Nacht, schien der Brennstoff des eisigen Feuers zu sein. Das Dunkel trat als Element in dies Lichtphantom. Alle Fischer des Canals kennen das phosphorische Leuchten, welches Warnungen für die Seefahrer enthält.
Bei diesem Leuchten verlieren alle Gegenstände ihre wirkliche Beschaffenheit. Ein geisterhaftes Wesen durchdringt sie und läßt sie durchsichtig erscheinen. Die Felsen sind nur noch Umrisse. Ankertaue gleichen rothglühenden Eisenstangen. Fischernetze glänzen im Wasser wie ein Maschenwerk von Feuer. Die eine Hälfte des Ruders ist Ebenholz, die andere, im Wasser befindliche, funkelt wie Silber. Tropfen, die in's Meer zurückfallen, verwandeln sich in Sterne. Jede Barke läßt einen Kometenschweif hinter sich. Matrosen, deren Kleider durchfeuchtet sind, gleichen brennenden Menschen. Taucht man seine Hände in die Fluth, so tragen sie beim Herausziehen glühende Handschuhe, doch ist es ein todtes Feuer, das nicht brennt. Der nasse Arm wird zum glimmenden Brand. Alle im Meer befindlichen Dinge rollen mit der Flammenströmung hinweg. Die Fische sind feurige Zungen und zerrissene Blitze, welche in einem bleichen Abgrund züngeln.
Jenes helle Leuchten war durch Gilliatt's geschlossene Augenlider gedrungen. Nur ihm verdankte er sein Erwachen. Es war hohe Zeit aufzustehen.
Nach der Ebbe folgte jetzt eine neue Fluth.
Der Schornstein der Maschine, welcher während Gilliatt's Schlaf frei geworden war, stand im Begriff, von dem über ihm gähnenden Wrack gepackt zu werden.
Er stieg langsam empor.
Nur noch ein Fuß fehlte und er fuhr wieder in die Durande.
Die Fluth braucht etwa eine halbe Stunde, um einen Fuß hoch zu steigen. Längere Zeit blieb Gilliatt also nicht, wenn er die schon in Frage stehende Rettung völlig ausführen wollte.
Er richtete sich blitzschnell empor.
So sehr die Verhältnisse ihn auch drängten, konnte er doch nicht umhin, das Meerleuchten einige Minuten nachdenklich zu betrachten.
Er kannte die See aus dem Grunde. Wider ihren Willen und oft von ihr gemißhandelt, war er lange Zeit ihr Gefährte gewesen. Das geheimnißvolle Wesen, welches Ocean heißt, konnte nichts beabsichtigen, was Gilliatt verborgen geblieben wäre.
Er eilte schnell zu den Hißtauen, ließ sie langsam nach, ergriff dann, da der Gabelanker ihn nicht mehr hinderte, den Bootshaken des Holländers, stützte sich an die Felswand und steuerte nach dem, einige Klafterlängen jenseits der Durande liegenden Ausgang des Felsengäßchens. Es machte Raum, wie die Matrosen von Guernesey sagen. In weniger als zehn Minuten war der Holländer aus dem Bereich unterhalb des Wracks. Es stand nicht länger zu befürchten, daß der Schornstein wieder in die Schlinge der Durande gerieth. Mochte die Fluth immerhin steigen.
Er betrachtete erst das Meerleuchten und lichtete dann die Anker, doch nicht um abzufahren, sondern weil er den Holländer auf's Neue und zwar in der Nähe des Ausgangs befestigen wollte.
Bisher hatte er sich nur der beiden Anker seines eigenen Fahrzeuges bedient, ohne den kleinen Anker der Durande zu benutzen, welchen er, wie man weiß, in den unterseeischen Klippen auffand. Er bewahrte ihn für dringende Fälle in einem Winkel des Holländers, nebst einem Vorrath von dreidrähtigen Seilen und Hißtau-Blockrollen und seinem Ankertau, das er im Voraus mit sehr spröden Feuerflaschen versehen hatte. Gilliatt warf auch diesen dritten Anker, was auf lebhafte Besorgniß und doppelte Vorsicht schließen ließ.
Das phosphorische Leuchten, welches er überwachte und unverwandt beobachtete, bedrohte ihn vielleicht, während es ihm zu gleicher Zeit nützte. Ohne dasselbe wäre er ein Gefangener des Schlafs geblieben und die Nacht hätte ihn betrogen. Jenes Licht erweckte und erleuchtete ihn. Es bewirkte in den Klippen eine trübe Tageshelle, die Gilliatt zwar beunruhigte, ihm aber insofern diente, als sie die Gefahr zeigte und seinen Abzug möglich machte. Wollte er von nun an die Segel spannen, war der Holländer mit der Maschine frei und unbehindert.
Gilliatt schien indeß weniger und weniger an eine Abreise zu denken. Als er den Holländer quer vor Anker gelegt hatte, holte er die stärkste Kette aus seinem Lagerhaus, befestigte jedes ihrer Enden an zwei Nägeln, von denen der eine in den kleinen, der andere in den großen Douvre geschlagen war und verstärkte so das Bollwerk von Futterplanken und Balken, welches die an der Außenseite kreuzweis gespannte Kette bereits sicherte. Weit entfernt, die Einfahrt zu öffnen, versperrte er dieselbe vollends.
Das Meerleuchten dauerte zwar noch fort, nahm aber allmählig ab. Der Tag begann zu dämmern.
Plötzlich lauschte Gilliatt.
Er glaubte in unermeßlicher Ferne ein schwaches, undeutliches Geräusch zu hören.
Bisweilen entsteigen der Tiefe grollende Laute.
Er lauschte zum zweiten Mal. Das leise Tönen ließ sich wieder vernehmen. Gilliatt schüttelte den Kopf, wie Jemand, der da weiß, um was es sich handelt.
Einige Minuten später befand er sich am entgegengesetzten Ende des Felsgäßchens, das bis jetzt offen war und trieb mit starken Hammerschlägen große Nägel in den Granit der beiden Eisfelsen, dieses, dem Mann benachbarten Ausgangs, eine Vorkehrung, die er früher an der Einfahrt der Douvres getroffen hatte.
Die Spalten dieser Felsen waren alle ausgebessert und mit kernigem Eichenholz gefüllt. Da die Klippe gerade hier aus sehr mürbem Gestein bestand, diente sie vielen Eidechsen zur Wohnung und Gilliatt war im Stande, noch mehr Nägel darin anzubringen, als am entgegengesetzten Fundament der beiden Douvres.
Plötzlich, als würde es ausgelöscht, endigte das Meerleuchten und die mit jedem Augenblick abnehmende Morgendämmerung herrschte an seiner Stelle.
Als Gilliatt die Nägel eingeschlagen hatte, schleppte er Balken, Taue und Ketten herbei und begann, ohne die Augen eine Secunde von seiner Arbeit zu wenden, den Ausgang des Passes mit Bohlen zu versperren, indem er diese in horizontaler Richtung befestigte und durch Taue zusammenfaßte, eine der lockern Verschanzungen, welche die heutige Wissenschaft anerkennt und mit dem Namen Wellenbrecher belegt hat.
Wer mit eigenen Augen – zum Beispiel in Rocquaine, Guernesey oder Bourg-d'eau in Frankreich, die Wirkung beobachtet hat, welche einige in den Fels gerammte Pfähle hervorbringen, begreift die Bedeutung dieser so einfachen Vorkehrung. Der Wellenbrecher ist eine Zusammensetzung der Verschärfung, die man in Frankreich épi und in England dick nennt. Wellenbrecher sind die »spanischen Reiter« der Festungswerke, die im Wasser zur Abwehr des Sturmes erbaut werden. Nur mit Hülfe dieser Macht kann man gegen das Meer kämpfen.
Die Sonne hatte inzwischen vollkommen heiter ihre Himmelsbahn betreten. Das Meer war still, die Luft klar.
Gilliatt beschleunigte seine Arbeit. Auch er war ruhig und doch lag Angst in seiner Hast.
Mit großen Sätzen eilte er von Fels zu Fels, von der Verschanzung zum Magazin und wieder zurück nach der Verschanzung. Bald schleppte er einen Katzsparren, bald eine Verdeckslukeneinfassung herbei. Die Nützlichkeit seiner Ansammlung von Zimmerwerk erwies sich. Es war klar, daß Gilliatt einem vorhergesehenen Ereigniß gegenüber stand.
Eine starke Eisenstange diente ihm als Hebebaum, mit dessen Hülfe er die Balken fortschaffte.
Das Werk ging so schnell von Statten, daß man sagen konnte, es wuchs empor, anstatt ausgeführt zu werden. Wer nie der Arbeit eines Pioniers zugesehen hat, kann sich keine Vorstellung von einer solchen Eile machen.
Der östliche Eingang war noch enger als der westliche. Er hatte nur eine Breite von fünf oder sechs Fuß. Dies kam Gilliatt zu Statten. Da der zu befestigende Platz nur klein war, mußte die Verschanzung jedenfalls besser Stich halten, und konnte überdies leichter hergestellt werden. Die querliegenden Bohlen genügten also, senkrecht einzurammende waren überflüssig.
Als Gilliatt die ersten Balken vor dem Eingang angebracht hatte, stieg er auf dieselben und lauschte.
Das Grollen der See ließ sich deutlicher vernehmen.
Gilliatt setzte seine Arbeit fort. Er vervollständigte sie durch die beiden Krahnbalken der Durande, welche er mit dem Querbalken zusammenfügte, indem er durch die Blockrollenräder der letzteren Hißtaue zog, und diese um das Gebälk befestigte. Das Ganze durchschürzte er dann mit Ketten.
Das vollständige Machwerk war nichts Anderes als eine Art Geflechte, dessen Stäbe durch Bohlen vertreten wurden, während Ketten die Weidengerten waren.
Gilliatt vervielfachte die Befestigungen und schlug die fehlenden Nägel in die Verschanzung.
Da er viele Eisenstangen in dem Wrack vorgefunden hatte, konnte er einen großen Vorrath von Nägeln schmieden.
Während seiner Arbeit zermalmte er Schiffszwieback mit den Zähnen. Er hatte Durst, ohne ihn löschen zu können, denn es fehlte ihm an süßem Wasser. Den Rest in seiner Schiffsflasche trank er bereits am vorigen Abend.
Er fügte noch vier oder fünf Balken zu den übrigen und stieg dann zum zweiten Mal auf die Verschanzung, um zu lauschen.
Das ferne Geräusch war verstummt. Alles schwieg.
Das Meer lag in stiller Herrlichkeit da. Es verdiente jedes Madrigal, welches die Bürger ihm widmen, wenn sie mit seinem Betragen zufrieden sind: »ein Spiegel« – – – »ein See« – – – »Oel« – – – »ein Schäker« – – – »ein Hammel« – – Die tiefe Himmelsbläue war des dunkeln Meergrüns würdig – Saphir und Smaragd, die einander bewundern durften. Sie hatten einander nichts vorzuwerfen. Kein Wölkchen in den Lüften, keine Schaumflocken aus dem Wasser. Eine strahlende Aprilsonne stieg über all' dieser Pracht empor. Das Wetter konnte nicht schöner sein.
Am äußersten Horizont strich eine lange schwarze Reihe von Zugvögeln dahin. Sie flogen schnell und näherten sich der Erde. Es hatte den Anschein, als wären sie auf der Flucht.
Gilliatt fuhr fort, den Wellenbrecher zu erhöhen, so weit die Krümmung der Felsen es gestattete.
Gegen Mittag dünkte ihm der Sonnenschein heißer, als natürlich war.
Die Mittagsstunde ist entscheidend für den Tag. Gilliatt stand auf dem festen Flechtwerk, das er soeben vollendet hatte, und begann seine unbegrenzte Umgebung zu beobachten.
Das Meer war nicht nur ruhig, sondern träge. Kein Segel ließ sich erblicken. Der Himmel war noch immer klar, doch hatte das Blau sich in Weiß verwandelt. Dieser Umstand befremdete ihn. Am westlichen Horizont zeigte sich ein kleiner Fleck von krankhafter Farbe. Er behauptete unbeweglich seinen Platz, nahm aber an Umfang zu. In der Nähe der unterseeischen Klippen bemerkte man ein sanftes, leises Kräuseln der Fluth. Gilliatt hatte wohl gethan, seinen Wellenbrecher zu bauen.
Ein Unwetter zog herauf.
Der Abgrund hatte sich entschieden, eine Schlacht zu liefern.