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Beim Erwachen empfand Gilliatt Hunger.
Das Meer beruhigte sich zwar, aber es war doch noch zu aufgeregt, als daß schon jetzt die Abreise möglich gewesen wäre; zudem war der Tag auch schon zu weit vorgerückt. Um mit der Last, welche das Boot trug, vor Mitternacht in Guernesy anzukommen, mußte man des Morgens fort.
Obgleich ihn der Hunger drängte, begann Gilliatt doch, sich auszukleiden, das einzige Mittel, durch welches er sich erwärmen konnte.
Seine Kleider waren vom Regenwetter völlig durchnäßt, aber das Regenwasser hatte das Seewasser ausgewaschen, und daher konnten sie wieder trocken werden.
Gilliatt behielt nur seine Hosen an und krämpte sie bis zu den Kniekehlen auf.
An verschiedenen Stellen des Felsens rings um sich her breitete er sein Hemde, seine Jacke, sein Schaffell aus und befestigte dies Alles mit Steinen.
Hierauf dachte er an das Essen.
Er nahm also sein Messer, welches er immer sehr scharf und gut im Stande hielt, und löste damit von dem Granitfelsen einige Muscheln von der Art der Gienmuscheln des Mittelmeeres und die man bekanntlich roh essen kann, los. Nach so vielen und so anstrengenden Arbeiten war das aber nur eine magere Kost. Er besaß keinen Zwieback mehr; an Wasser litt er freilich keinen Mangel weiter; es hatte ihn mehr, als gesättigt, es hatte ihn überschwemmt.
Er benutzte das Fallen des Meeres, um zwischen den Felsen nach Krebsen zu suchen, und konnte auf gute Beute hoffen, da der Jagdgrund sehr günstig war.
Allein er dachte nicht daran, daß er nichts mehr kochen konnte. Hätte er sich die Zeit genommen, bis nach seiner Vorrathskammer zu gehen, so hätte er sie unter dem Regen vergraben gefunden. Das Holz und die Kohlen waren durchnäßt, und von seinem Werg, der ihm als Zündstoff diente, war nicht ein Faden trocken geblieben; es gab also kein Mittel, um Feuer anzumachen.
Uebrigens war auch die Schmiede zerstört, das Wetterdach der Esse gebrochen und der Werkstatt von dem Orkane der Garaus gemacht worden. Mit dem Reste des Werkzeuges, welches der Vernichtung entging, konnte Gilliatt allenfalls noch als Zimmermann, aber nicht mehr als Schmied arbeiten; für den Augenblick jedoch dachte er gar nicht an diese Dinge.
Von dem Magen gedrängt, hatte er sich, ohne weitere Ueberlegung, an das Aufsuchen eßbarer Dinge gemacht und streifte nicht innerhalb, zwischen den Klippen, umher, sondern draußen auf der andern Seite, vor den verborgenen Riffen, auf welchen zehn Wochen früher die Durande aufgelaufen war.
Für Gilliatt's Jagd war die Meerenge außen viel geeigneter, als innen, denn bei niedrigem Wasserstande schöpfen die Krabben gern Luft und wärmen sich an der Sonne, da diese unförmige Wesen die Wärme sehr lieben. Einen sonderbaren Eindruck gewährt es, wenn sie am hellen Tage aus dem Wasser herauskriechen. Ihr Krabbeln macht fast unwillig. Sieht man sie mit ihrem linkischen und schiefen Gange langsam und schwerfällig die untern Stufen der Felsen, wie die Sprossen einer Leiter, hinaufklimmen, so muß man sich gestehen, daß auch der Ocean sein Gezücht hat.
Und seit zwei Monaten lebte Gilliatt von solchem Gezüchte.
An jenem Tage entzogen sich jedoch die Krebse und Krabben seinen Blicken, da der Sturm diese Einsiedler in ihre Verstecke zurückgetrieben hatte und sie noch nicht völlig wieder beruhigt waren. Gilliatt hielt sein Messer offen in der Hand und trennte damit von Zeit zu Zeit unter dem Tange eine Muschel los, welche er dann beim Gehen verzehrte.
Er konnte nicht mehr weit von der Stelle sein, wo Sieur Clubin sich verloren hatte.
Gerade, als er den Entschluß faßte, auf die Meerigel und die Seekastanien zu verzichten, ließ sich ein Klappern zu seinen Füßen vernehmen. Eine große Krabbe, durch seine Annäherung erschreckt, sprang in das Wasser zurück, aber nicht weit genug, um ihm aus den Augen zu verschwinden.
Er begann also, ihr am Fuße der Klippe nachzulaufen. Sie floh.
Plötzlich war nichts mehr zu sehen.
Die Krabbe war in irgend ein Loch unter dem Felsen geschlüpft.
Gilliatt klammerte sich mit der Hand an den Vorsprüngen des Felsens fest und beugte den Kopf vor, um unter die Klippen blicken zu können; und wirklich war eine Höhlung da, in welche sich die Krabbe wahrscheinlich geflüchtet hatte.
Es war mehr als eine Höhlung, eine Art Wölbung.
Das Meer trat zwar in diese Wölbung ein, aber es war daselbst nicht tief. Den Boden bedeckten meergrüne, mit Algen umkleidete Kiesel, ein Zeichen, daß sie nie ganz trocken wurden. Sie sahen von oben wie Kinderköpfe mit grünen Haaren aus,
Gilliatt faßte sein Messer mit den Zähnen, kletterte mit Händen und Füßen an diesem Abhange herunter und sprang dann in das Wasser. Es reichte ihm fast bis an die Schultern.
Er begab sich in die Wölbung und fand sich in einem alten Gange mit den schwachen Anfängen einer Spitzbogenwölbung über seinem Haupte. Die Wände waren glatt und schlüpfrig. Er sah die Krabbe nicht mehr. Zwar stand er auf festem Boden, doch je weiter er vordrang, um so mehr nahm das Tageslicht ab und bald konnte er nichts mehr unterscheiden.
Nach etwa fünfzehn Schritten hörte die Wölbung über ihm auf und er befand sich außerhalb des Ganges. Der Raum war größer, also auch heller, und außerdem hatten sich seine Pupillen erweitert, so daß er ziemlich gut sehen konnte. Er wurde überrascht.
Er war eben wieder in jene fremdartige Höhle eingetreten, welche er einen Monat vorher besucht hatte; aber diesmal betrat er sie vom Meere aus.
Durch den Bogen, welchen er damals unter Wasser gesehen hatte, war er eben gekommen, da dieser bei ganz niedriger Ebbe gangbar war.
Seine Augen gewöhnten sich allmälig an den Ort. Er konnte ihn immer besser erkennen und er starrte vor Staunen. Er fand denselben außerordentlichen Schattenpalast, dieselbe Wölbung, dieselben Pfeiler, Blut- oder Purpurspuren, dieselbe Steinvegetation, und im Hintergrunde dieselbe Gruft, fast eine Sakristei, und denselben Stein, fast einen Altar, wieder.
Von den einzelnen Gegenständen konnte er sich kaum Rechenschaft ablegen, aber der Gesammteindruck stand lebendig vor seinem Geiste und jetzt wieder vor seinen Augen.
Er hatte jetzt wieder gerade vor sich in einer gewissen Höhe in der Wandung die Oeffnung, durch welche er das erste Mal eingedrungen, und die von dem Punkte, wo er sich jetzt befand, unzugänglich war.
Er sah neben der Spitzbogenwölbung jene niedrigen und dunklen Grotten, gleichsam Höhlen in der Höhle, wieder, welche er bereits von Weitem beobachtet hatte. Jetzt befand er sich dicht bei ihnen; die ihm nächste war trocken und leicht zugänglich.
Noch näher, als diese Einbiegung, bemerkte er über dem Wasserspiegel, im Bereiche seiner Hand, eine Querspalte in dem Granite. Wahrscheinlich hatte sich die Krabbe dorthin geflüchtet. Er streckte also seine Hand, so weit es ihm möglich war, hinein und begann diese Höhle der Finsterniß zu durchsuchen.
Plötzlich fühlte er sich am Arm ergriffen und er empfand in diesem Augenblick einen furchtbaren Schrecken.
Etwas Dünnes, Scharfes, Flaches, Glattes, Klebriges und Lebendiges hatte sich in der Dunkelheit um seinen nackten Arm geschlungen. Es stieg ihm gegen die Brust gleich dem Drucke einer Walze und dem Stoße eines Bohrers. In weniger als einer Sekunde hatte ihm eine unbeschreibbare Schneckenlinie Hand und Arm umschlossen und berührte seine Schulter. Die Spitze drang unter seiner Achsel ein.
Gilliatt wollte zurückspringen, konnte sich aber kaum bewegen. Er war wie angenagelt. Mit seiner freigebliebenen linken Hand ergriff er sein Messer, welches er zwischen den Zähnen hatte, stützte sich mit der Hand gegen den Felsen und versuchte mit einer verzweifelten Anstrengung seinen Arm zurückzuziehen. Es gelang ihm nur, das Band, welches den Arm umwickelt hatte, etwas zu beunruhigen, so daß es ein wenig zurückwich. Es war geschmeidig, wie Leder, fest, wie Stahl, und kalt, wie die Nacht.
Ein zweites, scharfes und schmales Ding kam aus dem Loche in dem Felsen hervor, wie eine Zunge aus einem Maule, leckte Gilliatt's nackten Rücken zu seinem höchsten Entsetzen und setzte sich plötzlich endlos und ganz fein langziehend, fest auf sein Haupt und umschloß seinen ganzen Körper. Zu gleicher Zeit durchflog ein unerhörter, mit nichts vergleichbarer Schmerz Gilliatt's gespannte Muskeln. Es war ihm, als wenn unzählige Lippen sich an sein Fleisch anhefteten und sein Blut auszusaugen suchten.
Noch ein drittes Ding wagte sich aus dem Felsen hervor, tastete auf Gilliatt umher, peitschte ihm die Seiten, wie eine Sehne, und befestigte sich dann an seinen Seiten.
Die Angst in ihrer höchsten Erregung ist stumm. Gilliatt stieß nicht einen Schrei aus. Es war hell genug, daß er die widerlichen, ihm anhaftenden Formen erkennen konnte. Ein viertes Band sprang ihm, schnell wie der Blitz, gegen den Bauch und rollte sich darauf fest.
Unmöglich war es ihm, diese scheußlichen Pfriemen, welche sich eng und an vielen Stellen seinem Körper angelegt hatten, durchzuschneiden oder loszureißen. Sie verursachten ihm furchtbare und eigenthümliche Schmerzen; es war ihm, als wenn er von einer Menge kleiner Mäuler auf ein Mal verschlungen würde.
Ein fünftes Ding schnellte aus dem Loche, legte sich über die andern und umschnürte Gilliatt's Zwergfell. Der Druck vermehrte die Beängstigung, er konnte kaum noch athmen.
Diese, an ihrem äußersten Ende scharf zugespitzten Riemen weiteten sich immer weiter aus. Alle fünf gehörten sicherlich demselben Mittelpunkt an und marschirten und kletterten auf Gilliatt hin und her. Er fühlte, wie sich jene dunklen Oeffnungen, welche ihm als eben so viele Mäuler erschienen, von ihrem Platze fortbewegten.
Plötzlich kam unten aus der Höhlung ein großer, runder und flacher Schleimkörper hervor. Es war der Mittelpunkt, in welchem jene fünf Riemen wie Strahlen um einen Brennpunkt zusammenliefen; an der andern Seite dieser außerweltlichen Scheibe unterschied man drei andere Fühler, welche unter der Vertiefung des Felsens geblieben waren. In ihrer Mitte befanden sich zwei Augen, welche um sich blickten und Gilliatt ansahen.
Gilliatt erkannte den Alp.
Um an den Alp zu glauben, muß man ihn gesehen haben. – Regt man seine ganze Einbildungskraft an, um einen Gegenstand zu erzielen, so ist der Alp ein Meisterstück.
Diese Ungeheuer nennen die Seeleute Thierfrüchte; die Wissenschaft heißt sie Kopffüßler und die Sage Kraken.
Ein Bild in Sonnini's Ausgabe von Buffon's Werken stellt einen Kraken vor, der eine ganze Fregatte erdrückt. Denis Montfort glaubt, daß er unter hohen Breiten wirklich im Stande ist, ein vollständiges Schiff zu verschlingen. Bory St. Vincent läugnet dies, aber nach ihm greift er in einigen Gegenden den Menschen an. Auf Serk zeigt man in der Nähe von Brecq-Hou noch heut den Felsblock, wo ein solcher Alp vor einigen Jahren einen Hummerfänger ergriff, festhielt und ertränkte. Péron und Lamarck täuschen sich, wenn sie glauben, daß der Kraken nicht schwimmen könne, da er keine Schwimmapparate hat. Der Verfasser dieses Werkes sah mit seinen eigenen Augen, wie bei Serk ein solches Unthier in der sogenannten Lodenhöhle einen Badenden schwimmend verfolgte. Nach dem Tode maß man das völlig ausgebreitete Thier: es war vier Fuß groß und zeigte die vierhundert Saugapparate ganz deutlich. Das im Todeskampf liegende Thier bewegte sie krampfhaft.
Nach Denis Montfort, einem jener Beobachter, welchen die hohe Gabe der Erkenntniß bis zur Magie hinab- oder hinaufsteigen läßt, besitzt der Kraken fast menschliche Leidenschaften: er haßt. Und wirklich liegt ja auch der Häßlichkeit der Haß zu Grunde.
Der Kraken schwimmt, aber er läuft auch. Etwas Fisch, ist er auch etwas Reptil. Mit Hülfe seiner acht Fühler kriecht er auf dem Meeresboden umher und schleppt sich wie eine Stachelraupe fort.
Er hat keine Knochen, kein Blut, kein Fleisch. Es ist ein leerer Beutel, eine Haut. Man kann seine acht Fühlfäden völlig von innen nach außen kehren wie die Finger eines Handschuhes.
Nur eine einzige Oeffnung, gerade in der Mitte seiner Strahlen, findet sich an ihm.
Das ganze Thier ist kalt.
Keine Fessel hält so, wie das Umspannen des Kraken.
Das Thier überzieht den Menschen mit seinem tausendfachen Höllenmund, die Hydra vereint sich mit ihm und er geht in sie über.
Der Tiger kann den Menschen nur verschlingen, der Kraken, o Schreck! athmet ihn ein. Er zieht Dich an sich und in sich hinein und so gefesselt, aufgelöst, ohnmächtig fühlst Du Dich langsam in diesen furchtbaren Sack, diesem Ungeheuer, entleert.
Ueber das Entsetzliche, lebendig gefressen zu werden, geht das Unbeschreibliche, lebendig getrunken zu werden.
Diese Thiere sind ebensowohl Gespenster als Ungeheuer. Ihr Leben ist bewiesen und doch unwahrscheinlich. Ihr Sein ist Thatsache, ihr Nichtsein wäre Recht. Sie sind die Amphibien des Todes. Ihre Unwahrscheinlichkeit bestätigt ihre Existenz. Sie stehen auf der Grenze zwischen Menschen- und Gedankenwelt.
Einem solchen Wesen gehörte Gilliatt seit einigen Augenblicken an.
Das Ungethüm war der Bewohner der Grotte, der Schreckgeist des Ortes, eine Art finsterer Wasserdämon.
Den Mittelpunkt aller Schönheiten der Höhle bildete das Furchtbare.
Einen Monat vorher war an dem Tage, an welchem Gilliatt zum ersten Mal in sie eindrang, die abgegrenzte Schwärze, welche er halb und halb durch die Wellen des ruhigen Wassers gesehen hatte, dieser Alp gewesen.
Er war dort zu Hause.
Als Gilliatt zum zweiten Male die Grotte betrat, um die Krabbe zu verfolgen, hatte er ein Loch bemerkt, welches er für ihren Zufluchtsort hielt, während der Alp auf der Wacht in ihm lag.
Gilliatt hatte seinen Arm in das Loch gesteckt, der Alp ihn ergriffen und hielt ihn fest.
Er war die Fliege dieser Spinne.
Gilliatt stand bis zum Gürtel im Wasser, die Füße auf den glatten und runden Kieseln, den rechten Arm umstrickt und umschlungen von den flachen Windungen der Fühler des Krakens und der Körper verschwand fast unter den Schnürungen und Kreuzungen dieser fürchterlichen Bänder.
Von den acht Armen des Ungethüms hingen drei an den Felsen und fünf an Gilliatt fest. So, auf der einen Seite an dem Granit, auf der andern an dem Menschen geklammert zog es Gilliatt nach dem Felsen hin. Zweihundertundfünfzig Schröpfköpfe lagen auf ihm. Furchtbarsten Schmerz und Ekel erregt es, von einer endlosen Hand mit elastischen, wohl drei Fuß langen, inwendig mit lebenden, das Fleisch durchwühlenden Pusteln besetzten Fingern zerdrückt zu werden.
Wie wir schon einmal sagten, von diesem Alpe kann man sich nicht losreißen. Je mehr man es versucht um so sicherer wird man gefesselt, um so mehr zieht er sich zusammen. Seine Kraft wächst mit der Deinigen. Je größeres Sträuben, desto größeres Umstricken.
Gilliatt hatte nur eine Hülfe, sein Messer, und nur die linke Hand frei, aber, wie man weiß, bediente er sich ihrer so mächtig, daß man von ihm sagen konnte, er besitze zwei rechte Hände.
Sein Messer befand sich geöffnet in dieser Hand.
Man schneidet einem Kraken nicht die Fühlfäden ab, sie sind unzerschneidbares Leder und gleiten unter der Klinge aus; außerdem legen sie sich derartig an das Fleisch an, daß ein Einschnitt in sie auch dieses verletzen würde.
Das Ungethüm ist furchtbar, jedoch giebt es eine Art, sich seiner zu entledigen. Die Fischer auf Serk kennen sie, wie Jeder weiß, der sie im Meere gewisse schnelle Bewegungen ausführen sah. Die Meerschweine kennen sie auch, denn sie beißen den Kraken so, daß der Kopf abgeht. Daher begegnet man auf dem offenen Meere so vielen Tintenfischen, Sepien und Kraken ohne Kopf.
Dieses Thier ist wirklich nur am Kopfe verwundbar, was Gilliatt sehr gut wußte.
Er hatte nie einen Kraken von solcher Größe gesehen.
Beim Kraken giebt es wie beim Stiere nur einen günstigen Augenblick, den man benutzen muß; beim Stiere ist es der, in welchem er den Hals niederbeugt; beim Kraken der, in welchem er den Kopf versteckt. Wer diesen kurzen Augenblick verfehlt, ist verloren.
Alles, was wir so eben erzählten, hatte nur einige Minuten gedauert, während Gilliatt jedoch ein beständig wachsendes Aussaugen von jenen zweihundertundfünfzig Schröpfköpfen fühlte.
Der Kraken ist ein Verräther. Er sucht seine Beute erst zu betäuben. Er ergreift sie und wartet dann so lange als er kann.
Gilliatt hielt sein Messer. Das Saugen wurde immer stärker.
Er sah das Ungethüm an und dieses ihn.
Plötzlich löste es seinen sechsten Fühlfaden von dem Felsen los, schleuderte ihn auf Gilliatt zu und versuchte damit seinen linken Arm zu ergreifen.
Zugleich steckte es seinen Kopf vor. Noch einen Augenblick und sein Rachen mußte Gilliatt erreichen und er, an den Seiten geschröpft und mit zerdrückten Armen, sterben.
Aber Gilliatt wachte, belauert lauerte er.
Er wich dem Fühler aus und in dem Augenblicke, in welchem ihn die Bestie in die Brust beißen wollte, fiel seine bewaffnete Faust auf sie herab.
Zwei Zuckungen fanden entgegengesetzt statt; die des Alp und die Gilliatts.
Es war wie der Kampf zweier Blitze.
Gilliatt stieß die Spitze seines Messers in den flachen Schild und mit einer Kreisbewegung, welche dem Drehen der Peitschenschnur beim Knallen gleicht, machte er einen Schnitt um die beiden Augen und riß den Kopf ab, wie wenn man einen Zahn ausreißt.
Es war zu Ende.
Das ganze Thier fiel hin.
Es glich einer Leine, welche sich loslöst. Sobald die Luftpumpe zerstört ist, füllt sich wieder der leere Raum. Die vierhundert Schröpfköpfe fielen auf ein Mal von dem Felsen und dem Menschen herab. Der ganze Klumpen rollte auf den Boden des Meeres hin.
Während sich Gilliatt von dem Kampfe erholte, konnte er zu seinen Füßen auf den Kieselsteinen zwei gallertartige, ungestaltete Massen wahrnehmen; hier den Kopf, dort das Uebrige des Thieres. Wir sagen absichtlich das Uebrige, denn Körper konnte man es nicht nennen.
Gilliatt, der eine krampfhafte Bewegung im Todeskampfe fürchtete, zog sich außerhalb des Bereichs der Fühlfäden des Thieres zurück.
Aber das Thier war ganz todt.
Gilliatt klappte sein Messer wieder zu.
Es war Zeit, daß Gilliatt den Kraken tödtete; denn er war fast erstickt; sein rechter Arm und sein Körper waren dunkelroth, mehr als zweihundert Geschwülste, von denen mehrere bluteten, hatten sich auf ihm gebildet. Das Gegenmittel gegen diese Verletzungen ist Salzwasser. Gilliatt tauchte darin unter und rieb sich mit der flachen Hand. Die Geschwulst verschwand unter diesen Reibungen.
Beim Zurückweichen und weiteren Vordringen in das Wasser hatte er sich, ohne es zu bemerken, jener Art Höhle genähert, welche er schon neben dem Loche, in welchem ihn der Alp erfaßt, wahrgenommen.
Diese Höhle verlängerte sich in schräger Richtung und war trocken unter den großen Scheidewänden der Grotte. Durch die Kiesel, welche sich daselbst angehäuft hatten, war ihr Boden bis über die Höhe der gewöhnlichen Fluthen gestiegen. Diese Höhlung war ein ziemlich breites und gedrücktes Gewölbe; ein Mensch konnte eintreten, wenn er sich bückte. Das grüne Licht der unterseeischen Grotte drang hinein und erleuchtete sie schwach.
Zufällig schlug Gilliatt, während er noch eilig die angeschwollenen Stellen rieb, seine Augen gedankenlos auf.
Er fühlte ein Zittern.
Es schien ihm, als wenn er in dem Hintergrunde dieses Loches in dem Schatten eine Art Gesicht erblickt hätte, welches ihn anlächelte.
Die Höhle bildete ziemlich genau eine Art Kalkofen.
Er trat hinein und schritt mit gebeugtem Kopfe auf das im Hintergrunde Befindliche zu.
Etwas lachte in der That.
Es war ein Todtenkopf.
Aber nicht nur der Kopf, sondern auch alle Gebeine des Todten befanden sich daselbst.
Ein menschliches Skelett lag in der Höhle.
Der Blick eines kühnen Mannes weiß bei solchen Begegnungen, woran er sich zu halten hat.
Gilliatt blickte um sich.
Er war von einer Menge von Krabben umgeben.
Diese Menge bewegte sich nicht und glich einem todten Ameisenhaufen. Die Thiere waren sammt und sonders leblos, todt.
Unter diesem Haufen lag das Skelett.
Man bemerkte unter diesem Gewirr von Tastern und Schalen den Schädel mit seinen Streifen, das Rückgrat, die Schenkel- und Schienbeine und die langen gekrümmten Finger mit ihren Nägeln. Die Höhlen in den Seiten waren voll Krabben, wo einst ein Herz schlug. Meeresschimmel bekleidete die Augenhöhlen, Schlüsselmuscheln hatten ihren Schleim in die Nasengruben entleert. Uebrigens gab es in diesem Felsenwinkel weder Seeeichen, noch Gräser, noch irgend einen Lufthauch. Keine Bewegung. Die Zähne grinsten.
Die beunruhigende Seite des Lachens ist das Lachen eines Todtenkopfes.
Dieser wunderbare Palast des Abgrundes, geziert und ausgelegt mit allen Edelsteinen des Meeres, enthüllte und offenbarte endlich sein Geheimniß: es war eine Raubhöhle, denn der Alp bewohnte ihn – und ein Grab, denn ein Mensch lag in ihm.
Die geisterhafte Unbeweglichkeit der Menschengebeine und des Thiergezüchtes schwankte wegen der Wiederspiegelung der unterirdischen Gewässer, welche über diesen Versteinerungen zitterten, unbestimmt hin und her. Die Krabben, schrecklich zusammengehäuft, hatten den Anschein, als wenn sie ihre Mahlzeit beendeten und das Gerippe verzehrten. Nichts kann eigenthümlicher sein, als dieses todte Gewürm über seiner todten Beute.
Gilliatt hatte den Vorrathsschrank des Krakens vor Augen.
Eine finstere Erscheinung, wenn sich auch der furchtbar entsetzliche Sachverhalt sofort erkennen ließ. Der Mensch war von den Krabben, die Krabben von dem Kraken gefressen worden.
Ueber dem Gerippe befand sich nicht das geringste Kleidungsstück. Der Leichnam war also wohl nackt angegriffen worden.
Gilliatt machte sich aufmerksam und prüfend daran, die Krabben von dem Menschen herabzunehmen. Was war er gewesen? Der Leichnam war so wunderbar gut zerlegt, daß man ihn für ein anatomisches Präparat halten konnte. Das ganze Fleisch war abgelöst, nicht ein Muskel übrig geblieben, nicht ein Knochen fehlte. Wäre Gilliatt Mediziner gewesen, so hätte er das bestätigen können. Die entblößten Knochen waren weiß, glatt und glänzten wie Stahl. Ohne einige grüne Conserven an wenigen Stellen hätte man sie für Elfenbein halten können. Die knorpeligen Scheidewände waren unter zartester Schonung verdünnt worden. Das Grab macht solche dunkeln Kleinodien.
Der Leichnam war unter den todten Krabben wie vergraben, Gilliatt grub ihn wieder aus.
Plötzlich beugte er sich lebhaft vor.
Er hatte soeben um das Rückgrat eine Art Band bemerkt.
Es war ein Ledergürtel, welcher augenscheinlich auf dem Körper des Menschen bei seinen Lebzeiten befestigt worden war.
Das Leder war ganz weich, das Schloß, welches es zusammenhielt, verrostet.
Gilliatt zog den Gürtel an sich heran. Die Wirbel leisteten jedoch Widerstand, so daß er sie zerbrechen mußte, um den Gürtel loslösen zu können. Er war noch unversehrt; nur eine Muschelkruste begann sich auf ihm zu bilden.
Er stieß sie ab und fühlte einen harten und viereckigen Gegenstand im Innern. Die Schnalle konnte er nicht öffnen, also zerschnitt er den Gürtel mit seinem Messer.
Der Gurt enthielt eine kleine Büchse aus Eisen und mehrere Guineen. Gilliatt zählte zwanzig Goldstücke.
Die eiserne Büchse war eine alte Matrosenschnupftabaksdose, welche sich durch einen Druck öffnete, aber sehr verrostet und fest verschlossen war; die völlig oxydirte Feder spielte nicht mehr.
Wiederum zog das Messer Gilliatt aus der Verlegenheit, denn ein Druck mit der Spitze seiner Klinge ließ den Deckel der Dose aufspringen.
Sie öffnete sich.
Nur Papier befand sich in ihr.
Eine kleine, sehr dünne, viermal zusammengefaltete Lage Blätter bedeckte ihren Boden. Das Papier war feucht, aber sonst unversehrt, denn der luftdichte Verschluß der Büchse hatte es vor jeder Beschädigung bewahrt. Gilliatt entfaltete es.
Es waren drei Banknoten, jede zu tausend Pfund Sterling, also im Ganzen zwanzigtausend Thaler.
Gilliatt legte die Noten wieder zusammen, that sie in die Dose, steckte auch, da es der noch übrige geringe Platz der Dose erlaubte, die zwanzig Guineen ein und schloß die Dose, so gut er konnte.
Hierauf untersuchte er den Gürtel.
Das früher von außen lackirte Leder war inwendig roh. Auf seinem fahlen Grunde waren einige Buchstaben mit starker, schwarzer Dinte aufgetragen. Gilliatt entzifferte sie und las: Sieur Clubin.
Gilliatt legte die Dose wieder in den Gurt, steckte diesen in seine Hosentasche, und überließ das Gerippe, wie den todt danebenliegenden Kraken den Krabben.
Während er sich hier befand, hatte die steigende Fluth den Zugang zur Grotte verschlossen, so daß er sie also nur verlassen konnte, wenn er unter dem Bogen ihrer Oeffnung hindurchtauchte, was er auch ohne Mühe that, da er den Ausweg kannte und Meister in allen Schwimmübungen war.
Man kennt jetzt also das Schauspiel, welches sich zehn Wochen früher an dieser Stelle ereignet hatte. Ein Ungeheuer hatte das andere gepackt: der Kraken hatte Clubin aufgefressen.
Auf dem Boden des Abgrundes waren diese beiden, aus Erwartung und Finsterniß zusammengesetzten Wesen auf einander gestoßen und das eine – das Thier – hatte das andere – die Seele – vernichtet. – Finstere Gerechtigkeit!
Gilliatt kam davon zurück, die Felsen weiter zu durchstöbern, er suchte nur nach Seeigeln und Muscheln, aber er wollte keine Krabben mehr, da es ihm schien, als wenn er dann Menschenfleisch äße.
Es lag ihm indeß doch daran, vor seiner Abfahrt noch so gut als möglich zu essen. Nichts hielt ihn mehr von seiner Abfahrt ab. Den großen Stürmen folgt stets eine Windstille, welche manchmal mehrere Tage anhält, so daß keine Gefahr jetzt von Seiten des Meeres drohte. Gilliatt war entschlossen, am folgenden Morgen abzufahren. Wegen der Fluth war es wichtig, die zwischen den Klippen befindliche Barre die Nacht hindurch zu bewahren; er rechnete aber darauf, sie mit Anbruch des Tages losmachen, den Rumpf aus den Klippen herausstoßen und nach St. Sampson segeln zu können. Die gerade aus Südost wehende Brise war genau der Wind, dessen er bedurfte.
Das erste Mondviertel im Mai begann; die Tage waren lang.
Als Gilliatt seinen Streifzug um die Felsen beendet, seinen Hunger ziemlich gestillt hatte und nach dem Theile der Meerenge zurückgekommen war, wo der Rumpf lag, war die Sonne untergegangen und die Dämmerung verdoppelte sich unter dem halben Mondlichte, die Fluth hatte ihren Höhepunkt erreicht und das Wasser begann wieder zu fallen. Der Schlot der Maschine, welcher über dem Rumpfe hervorragte, war durch den Schaum des Sturmes mit einer im Monde hellblitzenden Salzschicht bedeckt worden.
Hierdurch erinnerte sich Gilliatt daran, daß der Orkan viel Regen- und Meerwasser in den Rumpf geworfen und daß er, falls er am folgenden Morgen abreisen wollte, die Barke entleeren mußte.
Als er sie verließ, um sich auf die Krabbenjagd zu begeben, hatte er in ihr sechs Zoll Wasser gemessen; seine Schaufel war also wohl groß genug, um sie auszuschöpfen.
Als er zurückkam, überlief ihn ein Gefühl des Entsetzens, denn es befanden sich beinahe zwei Fuß Wasser in der Barke.
Furchtbarer Zwischenfall; sie hatte ein Leck.
Wäre Gilliatt eine Stunde später zurückgekommen, so hätte er außerhalb des Wassers wahrscheinlich nur den Schlot und den Mast gefunden.
Nicht einmal eine Minute zum Ueberlegen durfte er verlieren. Er mußte das Leck suchen und zustopfen und dann die Barke ausschöpfen oder wenigstens erleichtern. Die Pumpen der Durande waren in dem Schiffbruche untergegangen und Gilliatt auf die Wasserschaufel des Bootes beschränkt.
Vor Allem mußte er das Leck suchen, dies war das Eiligste.
Er begab sich sofort schaudernd an's Werk, ohne sich erst noch Zeit zum Wiederankleiden zu nehmen. Weder Hunger, noch Kälte fühlte er.
Die Barke füllte sich immer fort. Zum Glück herrschte nicht der geringste Wind, denn das leiseste Schwanken hätte sie umgeworfen.
Der Mond ging unter.
Gilliatt, tastend, gebeugt und mehr als zur Hälfte im Wasser, suchte lange vergebens, endlich fand er den Schaden.
Während des furchtbaren Windstoßes, in dem kritischen Augenblick, wo sich die Barke gebogen hatte, war sie ziemlich heftig gegen den Felsen geschleudert worden und ein Riff der kleinen Klippe hatte am Steuerbord des Kieles einen Bruch verursacht.
Das Leck befand sich leider, man könnte sagen, verhängnißvoller Weise, in der Nähe der beiden Katzensparren, das Toben des Sturmes hatte Gilliatt bei seiner schnellen Untersuchung in der Dunkelheit und im stärksten Unwetter verhindert, früher den Schaden wahrzunehmen.
Der Bruch hatte das Beunruhigende, daß er groß war, und das Beruhigende, daß er augenblicklich zwar durch das innen befindliche Wasser überdeckt wurde, sonst aber über dem Wasser sich befand.
In dem Augenblicke, als der Riß entstand, wurde die Fluth heftig in die Enge geschleudert und das Wasser über seine gewöhnliche Höhe getrieben, so daß die Welle durch den Riß eindrang, das Boot unter dieser Ueberlast um einige Zoll sank und selbst, nachdem die Wellen sich wieder beruhigt, das Gewicht des eingedrungenen Wassers die Traglinie der Barke mehr nach oben schob und das Leck unter Wasser ließ. Daher die furchtbare Gefahr. Sobald es indeß gelang, das Leck zu verstopfen, konnte man die Barke ausschöpfen, hierdurch mußte sie wieder bis zu ihrer normalen Wasserlinie steigen, so daß der Riß aus den Fluthen herausragte und, wenn er so trocken lag, seine Ausbesserung leicht oder wenigstens noch überhaupt möglich war. Wie wir schon anführten, befand sich Gilliatts Zimmermannswerkzeug noch in ziemlich gutem Zustande.
Aber welche Ungewißheit, bevor er so weit kam! Welche Gefahren! Welche schlechte Aussichten! Gilliatt hörte das Wasser unerbittlich hervorquellen. Ein Stoß und Alles konnte untergehen. Welches Elend! Vielleicht war keine Zeit mehr.
Gilliatt klagte sich bitter selbst an. Er hätte das Leck sofort suchen sollen, da ihn die sechs Zoll Wasser darauf aufmerksam machen mußten. Es war thöricht gewesen, diese sechs Zoll Wasser dem Regen und Schaum allein zuzuschreiben. Er warf sich sein Schlafen und sein Essen, seine Müdigkeit, ja fast sogar den Sturm und die Nacht vor. Alles war sein Fehler.
Diese Selbstvorwürfe mischten sich unter seine Arbeit, hielten ihn aber dabei nicht auf.
Das Leck war gefunden; dies war der erste Schritt. Es zu verstopfen, der zweite. Er konnte für den Augenblick nicht mehr thun. Man treibt unter dem Wasser nicht viel Schreinerei.
Ein glücklicher Umstand war der, daß sich das Leck in dem Räume zwischen den beiden Ketten befand, welche den Schlot der Maschine am Steuerbord festhielten. Das Stopfwerk konnte sich auf diese Ketten stützen.
Indessen wuchs das Wasser immer mehr; es überstieg schon zwei Fuß; so daß Gilliatt bis über die Knie in ihm stand.
Gilliatt hatte in der Aufbewahrungskammer des Takelwerkes ein ziemlich großes, getheertes Pfortsegel mit langen und scharfen Haken an seinen vier Ecken zur Verfügung.
Er nahm es, befestigte zwei Ecken mittelst der Haken in zwei Ringen der Rauchfang-Ketten auf der Seite des Lecks und warf es dann über Bord. Es breitete sich wie ein Tuch zwischen der kleinen Klippe und der Barke aus und versank in die Fluthen. Das Wasser, welches in den Kiel eindringen wollte, trieb es dagegen an und jemehr es drängte, um so fester hing das Segel sich an. Die Wogen selbst trieben es auf den Riß und bepflasterten ihn.
Diese getheerte Leinwand legte sich zwischen das Innere des Kieles und die Wellen draußen, so daß kein Tropfen Wasser mehr eindringen konnte.
Das Leck war verdeckt, aber nicht verstopft.
Gilliatt gewann eine kleine Frist.
Er nahm die Schöpfkelle und begann die Barke zu leeren. Es war hohe Zeit, sie zu erleichtern. Diese Arbeit machte ihn wieder etwas warm, aber seine Ermattung war so groß, daß er sich gestehen mußte, er könnte nicht zu Ende kommen und den Kiel von neuem flott machen, zumal er kaum gegessen hatte und zu seiner größten Betrübniß zugeben mußte, daß er völlig erschöpft war.
Er maß das Fortschreiten seiner Arbeit in Bezug auf das Fallen des Wassers an seinen Knieen: es fiel langsam.
Außerdem war das Eindringen des Wassers nur unterbrochen. Das Uebel war verdeckt, nicht geheilt. Das Pfortsegel wurde durch die Fluth in das Leck getrieben und begann sich in dem Kiele aufzublähen, so daß es aussah, als wenn sich eine Faust unter der Leinwand befände und sich zu durchbohren versuchte. Das feste, getheerte Segel widerstand zwar, aber es blähte sich unter wachsender Spannung immer mehr auf, so daß es ungewiß war, ob es nicht nachgeben und früher oder später zerreißen würde; dann mußte Wasser von neuem eindringen.
Alle, von solcher Noth bedrängten Seeleute wissen, daß ein Pfropfen ihre einzige Rettung ist. Man nimmt Lappen aller Art, welche sich gerade vorfinden und in der Schiffersprache »Futter« genannt werden, und stopft damit, so weit es geht, dasselbe in das Leck zurück.
Von solchem »Futter« besaß Gilliatt gar nichts. Alles was er von Lumpen oder Lappen aufgespeichert hatte, war bereits von ihm bei der Arbeit verbraucht oder von dem Unwetter fortgetrieben worden.
Vielleicht konnte er aber noch einige Reste auffinden, wenn er die Felsen genau durchsuchte. Die Barke war schon hinreichend erleichtert, um ihm eine Abwesenheit von einer Viertelstunde zu gestatten; was sollte er aber ohne Licht anfangen? Es herrschte völlige Finsterniß. Der Mond schien nicht mehr; nichts war zu sehen, als der düster besternte Himmel. Gilliatt besaß nicht einen trockenen Faden zu Zunder, keinen Talg, um Licht zu machen, keinen Zündstoff, um Feuer anzuzünden, keine Laterne, um sich leuchten zu können. Alles, in der Barke, wie auf der Klippe erschien verwirrt und undeutlich. Man hörte das Wasser um den verwundeten Kiel rauschen, das Leck selbst sah man nicht; nur mit den Händen hatte Gilliatt die wachsende Spannung des Segels bestimmen können. Unmöglich war es, in solcher Finsterniß ein fruchtbares Nachsuchen nach Segelstücken und zwischen den Felsen zerstreuten Tauenden vorzunehmen. Wie konnte er solche Lappen zusammenbringen, wenn er nicht deutlich sehen konnte? Traurig blickte er in die Nacht hinaus. Unzählige Sterne, aber nicht ein Licht.
Da sich das Wasser in der Barke verminderte, so nahm der Druck von außen zu; das Segel blähte sich immer weiter auf und rundete sich immer mehr. Es glich einem Geschwür, welches sich öffnen will. Die für einen Augenblick gebesserte Lage wurde indeß wieder drohend.
Ein Pfropf war unumgänglich nothwendig.
Gilliatt besaß nur seine Kleider, hatte sie aber, wie man sich erinnern wird, auf den Spitzen der kleinen Klippe zum Trocknen ausgebreitet.
Eilig holte er sie und legte sie auf den Bord des Kahns.
Er nahm seine Theerjacke, kniete im Wasser nieder, drückte sie in das Leck, stieß das aufgeblähte Segel nach außen und entleerte es auf diese Weise. Auf die Jacke legte er das Schaffell, hierauf sein wollenes Hemd und auf dieses sein Wamms. Alles ging hinein.
Nur noch ein Kleidungsstück hatte er an, er zog es aus und vergrößerte und befestigte mit der Hose das »Futter.« Der Pfropf war fertig und schien vorläufig seinen Zweck zu erfüllen.
Er begann nun wieder den Kiel zu leeren, aber er konnte in Folge der Anstrengungen die mit Wasser gefüllte Schaufel kaum heben. Er war nackt und zitterte vor Kälte.
Er fühlte die düstere Annäherung des Aeußersten.
Die Möglichkeit eines Glückszufalls ging ihm durch den Kopf. Vielleicht befand sich ein Segel auf offener See. Ein Fischer konnte zufällig bei den Klippen vorüberfahren und ihm zu Hülfe kommen. Der Augenblick war gekommen, wo ein Mitarbeiter unumgänglich nothwendig wurde. Ein Mensch mit einer Laterne und Alles war gerettet. Zu zweien konnte man die Barke ohne Mühe leeren; sobald sie trocken war und nicht mehr jene Ueberfülle von Wasser besaß, mußte sie bis zu ihrer Wasserlinie wieder steigen, so daß das Leck über Wasser kam, die Ausbesserung war dann möglich, man konnte an Stelle des Futters ein Stück Holz anbringen und den vorläufig vor dem Risse angebrachten Apparat durch eine gründliche Reparatur ersetzen. War dies nicht der Fall, so mußte er bis zum Tage warten, die ganze Nacht hindurch! Furchtbare Zögerung, welche das Verderben herbeiführen konnte. Gilliatt fieberte vor Aufregung. Befand sich zufällig eine Schiffsleuchte in Sicht, so konnte er von der Spitze der großen Klippe aus Zeichen geben. Das Wetter war ruhig, kein Wind mehr, kein aufgeregtes Meer, ein unter dem gestirnten Himmel sich bewegender Mensch konnte möglicherweise bemerkt werden. Ein Schiffscapitän, selbst der Besitzer einer Barke segelt Nachts nicht in den Gewässern der Douvres, ohne sein Fernrohr auf die Klippen zu richten; schon aus Vorsicht.
Gilliatt hoffte, daß man ihn bemerken würde.
Er eilte auf den Strand, faßte die Knotenschnur und kletterte auf die große Klippe.
Nicht ein Segel in Sicht. Nicht eine Laterne. So weit das Auge reichte, nur ödes Meer.
Kein Beistand und kein Widerstand war möglich.
Gilliatt fühlte sich, was bis dahin noch nicht vorgekommen war, entwaffnet.
Das dunkle Verhängniß war jetzt sein Herr. Er, mit seiner Barke, mit der Maschine der Durande, mit seiner ganzen Arbeit, seinem ganzen Glücke und seinem Muthe, sollte jetzt dem Abgrunde angehören. Er hatte keine Hülfsmittel mehr gegen den Kampf; er wurde unthätig. Wie konnte er die Fluth am Kommen, das Wasser am Steigen, die Nacht am Vorrücken verhindern? Jener Pfropf war sein einziger Stützpunkt. Er war völlig erschöpft und außer Stande, ihn zu vergrößern und zu vervollständigen; das Futter war so, wie es war und mußte so bleiben; zum Unglück war alle Anstrengung zu Ende. Das Meer hatte jenes schnell gegen das eindringende Wasser gefertigte Hinderniß in seiner Gewalt. Der Schlag einer Welle genügte, um den Riß wieder zu öffnen. Etwas Druck mehr oder weniger, darauf beruhte jetzt Alles.
Gilliatt war nur noch Zuschauer da, wo es sich um Leben und Tod handelte. Jener Gilliatt, der eine Vorsehung gewesen war, wurde in der letzten Minute durch einen vernunftlosen Widerstand aus seiner Stelle verdrängt.
Keine Prüfung und kein Schreck, von allen, die er bestanden hatte, nichts glich dieser Gefahr.
Als er auf der Klippe angekommen war, sah er sich von Einsamkeit umgeben, gleichsam von ihr ergriffen.
Diese Einsamkeit that mehr, als daß sie ihn umgab, sie schloß ihn förmlich ein.
Tausend Drohungen hatten ihm auf einmal ihre Fäuste entgegengestreckt. Der Wind war da, zum Toben bereit; und das Meer zum Brüllen. Es war unmöglich, diesen Mund – den Wind – zu verstopfen; unmöglich diese Kinnbacken – das Meer – zahnlos zu machen. Und trotzdem hatte er mit ihnen gekämpft; er hatte Brust gegen Brust mit der See gestritten und sich mit dem Sturme herumgeschlagen.
Er hatte andern Aengsten und Nöthen die Stirn geboten und mit allen Gefahren zu thun gehabt. Ohne Werkzeuge hatte er Arbeiten, ohne Hebel Lasten von der Stelle schaffen, ohne Wissen Aufgaben lösen, ohne Vorrath essen und trinken und ohne Bett und Dach schlafen müssen.
Auf dieser Klippe, der trauervollen Strebe, waren ihm der Reihe nach Fragen unter den verschiedensten und quälendsten Formen von der Natur – einer Mutter, wenn es ihr gut dünkt, und einem Henker, wenn es ihr gefällt – vorgelegt worden.
Er hatte die Einsamkeit, Hunger und Durst, Kälte und Fieber, Arbeit und Schlaf besiegt. Gegen ihn hatten sich alle Hindernisse verbündet, um ihm den Weg abzusperren.
Nach der Entblößung das Element; nach der Fluth der Sturm; nachdem Unwetter der Kraken; nach dem Ungeheuer das Gespenst.
Finsterer Hohn des Letzteren. In der Klippe, von welcher Gilliatt als Sieger zu scheiden dachte, hatte ihn der todte Clubin lächelnd betrachtet.
Das Gespenst hatte mit seinem Hohnlächeln Recht gehabt. Gilliatt sah sich verloren und war ebenfalls todt, wie Clubin.
Der Winter, der Hunger, die Ermüdung, das Zerstückeln des Strandes, das Umladen der Maschine, die Schläge der Aequinoctien, der Wind, das Gewitter, der Kraken, Alles das war nichts gegen das Leck. Gegen Alles das konnte man Hülfsmittel haben und Gilliatt hatte sie ja auch stets gefunden; gegen die Kälte Feuer, gegen den Hunger Seemuscheln, gegen den Durst Regen, gegen die Schwierigkeiten bei der Rettung Fleiß und Thatkraft, gegen die Fluth und den Sturm Wogenbrecher und gegen den Kraken das Messer. Gegen das Leck hatte er Nichts.
Das Ungewitter hinterließ ihm diesen traurigen Abschiedsgruß.
War seine Barke untergegangen, so hatte er nichts mehr zu thun, als auch vor Hunger und Kälte zu sterben, wie der andere, der Schiffbrüchige des Felsens »der Mann.«
Er hatte nicht mehr ein einziges Kleidungsstück. Er war nackt vor der Unendlichkeit.
Da, in dem Uebermaße dieser ganzen unbekannten Ungeheuerlichkeit, als er nicht mehr wußte, was man von ihm wollte, als er sich dem Schatten gegenüberbefand, in Gegenwart dieser dichten Finsterniß, in dem Rauschen der Wasser, der Wellen, der Fluthen, der hohlen See, des Schaumes, der Brandungen, unter den Wolken, den Winden, der unbestimmten zerstreuten Kraft, dem geheimnißvollen Firmamente der Fittiche, Gestirne und Gräber, unter der möglichen, sich mit ungemessenen Dingen mischenden Absicht, als er um und unter sich das Meer und über sich die Sterne unter dem Unergründbaren hatte, da beugte er sich, leistete Verzicht auf Alles, legte sich der ganzen Länge nach mit dem Rücken auf den Felsen, das Gesicht gegen die Sterne, und besiegt, und die Hände vor der furchtbaren Tiefe faltend, rief er in die Unendlichkeit: Gnade!
Niedergeschmettert von der Unermeßlichkeit betete er zu ihr.
Da lag er, allein in einer solchen Nacht auf einem solchen Felsen inmitten eines solchen Meeres, niedergefallen vor Erschöpfung, ähnlich einem vom Blitze Getroffenen, nackt, wie der Gladiator im Circus, nur anstatt des Circus hatte er den Abgrund, anstatt der wilden Thiere die Finsterniß, anstatt der Augen des Volkes die Blicke des Unbekannten, anstatt der Vestalinnen die Sterne und anstatt des Cäsaren Gott.
Es schien ihm, als fühlte er seine Auflösung bei der Kälte, der Ermattung, der Ohnmacht im Gebete, in der Finsterniß und seine Augen schlossen sich.
Einige Stunden verflossen.
Die Sonne erhob sich blendend.
Ihr erster Strahl erleuchtete auf der Platte der großen Klippe eine unbewegliche Gestalt. Es war Gilliatt.
Er lag immer noch auf dem Felsen ausgestreckt.
Die kalte und verwitterte Nacktheit hatte kein Zittern mehr. Die geschlossenen Augenlider waren todtenbleich. Die Entscheidung wäre schwer gewesen, ob er nicht schon ein Leichnam sei.
Die Sonne schien ihn zu betrachten.
Wenn dieser nackte Mensch nicht todt war, so war er so nahe daran, daß der geringste kalte Wind genügte, den Tod herbeizuführen.
Der Wind begann zu wehen, aber lau und belebend: der Frühlingshauch des Mai.
Indessen stieg die Sonne in die Tiefen des blauen Himmels; ihr weniger wagerechter Strahl wurde purpurn, ihr Licht Hitze; sie hüllte Gilliatt ein.
Gilliatt rührte sich nicht vom Flecke. Wenn er athmete, so war es ein Athmen, so leise und unhörbar, das es kaum einen Spiegel blind gemacht hätte.
Die Sonne stieg immer höher und die Sonnenstrahlen fielen immer senkrechter auf Gilliatt. Der zuerst nur laue Wind wurde jetzt heiß.
Der harte und nackte Körper Gilliatts blieb immer noch ohne Bewegung; die Haut schien jedoch weniger todtenfarben.
Die Sonne näherte sich dem Scheitelpunkte und fiel senkrecht auf die Fläche der Klippe. Ein Ueberfluß von Licht ergoß sich von der Höhe des Himmels; die weite Rückstrahlung des erhabenen Meeres verband sich mit ihr; der Felsen begann heiß zu werden und erwärmte den Menschen.
Ein Seufzer hob Gilliatt's Brust.
Er lebte.
Die Sonne setzte ihre fast glühenden Liebkosungen fort.
Gilliatt bewegte sich.
Die Ruhe des Meeres war unbeschreiblich. Es sang leise, wie eine Amme bei ihrem Kinde. Die Wellen schienen die Klippe zu wiegen.
Die Vögel des Meeres, welche Gilliatt jetzt kannten, flogen unruhig über ihm her; aber nicht mehr mit ihrer alten, wilden Unruhe, sondern mit einer gewissen Zartheit und Brüderlichkeit. Sie sahen aus, als wenn sie ihn riefen.
Eine Möve, welche ihn ohne Zweifel liebte, setzte sich vertraulich dicht neben ihn und begann mit ihm zu sprechen. Er schien sie nicht zu hören. Sie sprang ihm auf die Schulter und schnäbelte ihn leise.
Gilliatt öffnete die Augen.
Befriedigt flogen die wilden Vögel davon.
Gilliatt richtete sich auf, reckte sich wie der erwachende Löwe, eilte an den Rand der Platte und blickte unter sich in die Enge hinab
Die Barke lag da, unversehrt. Das Futter hatte gehalten und das Meer hatte es wahrscheinlich wenig zersaust.
Alles war gerettet.
Gilliatt war nicht mehr müde. Sein Kräfte hatten sich erholt. Dieser Scheintod war ein erquickender Schlaf gewesen.
Er leerte die Barke, machte den Kiel trocken und brachte das Leck über Wasser, zog sich wieder an, trank, aß und war froh.
Bei Tage besehen erforderte das Leck mehr Arbeit, als er geglaubt hatte. Es war ein ziemlich bedeutender Schaden. Gilliatt hatte den ganzen Tag mit der Ausbesserung zu thun.
Am folgenden Morgen brach Gilliatt bei Anbruch des Tages, nachdem er die Barre zerstört und den Ausgang aus der Wasserstraße wieder geöffnet, mit den Kleidern bedeckt, welche das Leck geschützt hatten, mit dem Gürtel Clubin's und den sechszigtausend Francs, in der ausgebesserten Barke neben der geretteten Maschine stehend, bei günstigem Winde und wunderbar ruhigem Meere von der Klippe auf.
Er hielt auf Guernesey zu.
In dem Augenblicke, wo er sich von der Klippe entfernte, hätte man ihn, wenn man sich dort befunden hätte, das Lied Bonny Dundee halblaut singen hören können.