Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden
Wilhelm von Humboldt

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An Jacobi.

Paris, 26. Oktober 1798.

Das Stillschweigen, das Sie seit nunmehr beinah zwei Jahren gegen mich beobachten, hat mich tief geschmerzt, liebster Freund; ich habe es um so stärker empfunden, als unser schönes Beisammensein in Wandsbek mich durch den ungestörten Genuß Ihres täglichen Umgangs verwöhnt und mir auch für die Folge die Hoffnung eines minder unterbrochenen Briefwechsels eingeflößt hatte. Monate sind es, daß ich mir vorgesetzt hatte, es zu brechen, aber immer ist mir bei der Ausführung irgendein Hindernis dazwischen gekommen. Ich wünschte Ihnen mit irgendeinem Reisenden zu schreiben und versäumte unglücklicherweise die Gelegenheiten, die sich mir dazu zeigten. Ich eile um so mehr, jetzt die zu benutzen, die sich mir eben darbietet.

Sie wissen längst, daß ich mich seit fast einem Jahre hier aufhalte. Sie kennen mich zu sehr, um nicht zu wissen, daß ich nicht leicht aus dem Kreise von Gedanken und Beschäftigungen herausgehe, in den ich mich einmal festgesetzt habe. So ist es mir auch hier gegangen. Mein Nachdenken und meine Tätigkeit haben sich auch hier so ziemlich um dieselben Gegenstände herum gedreht, die mich in Deutschland beschäftigten; ich habe mich viel und genau um Frankreich und seine jetzige Lage bekümmert, aber ich bin darum schlechterdings nicht aus meiner eigentümlichen Assiette herausgekommen; ich bin vielmehr mitten in Frankreich nur ein noch viel eingefleischterer Deutscher als vorher geworden. Der Umgang mit einigen deutschen Freunden, die ich teils hier fand und die teils nach mir hier angekommen sind, hat viel dazu beigetragen, und wieviel hätte ich nicht um die Freude gegeben, Sie manchmal bei einigen dieser Unterredungen zu sehen, wo gerade die Dinge abgehandelt wurden, die auch Ihnen die nächsten und liebsten sind.

Das schlimmste Bild von Paris wird Ihnen BaggesenJens B., 1764 auf Seeland geboren, wurde 1811 Professor in Kiel, 1812 Justizrat in Kopenhagen, starb 1826 in Hamburg. Bald nach dem Tode seiner Frau heiratete er in Paris abermals – Orpheus und Euridice. (den ich Sie herzlich von mir zu grüßen bitte) entwerfen. Sie haben unstreitig einen Brief von ihm an S. gelesen, in dem er es als eine wahre Hölle, und zwar nicht wie eine Miltonsche oder Klopstocksche, sondern so, wie sie in einer französischen Epopee sein würde, matt, schal und langweilig beschreibt. Auch hat er, wie Sie gewiß auch schon wissen, seinem Sängerberufe wahrhaft getreu, wie ein andrer Orpheus eine Euridice hier zu entführen getrachtet, und wird, wie er mir beim Weggehn sagte, das Abenteuer im Juni ganz vollenden, wo ich ihn hier wiederzusehen denke, wenn ich nicht indessen auf meinem Büßungswege in die Unterwelt (denn das sonnige Licht ist doch nur in Deutschland oder Dänemark) weiter vorgerückt bin. Nach der Beschreibung unsres Freundes bedarf man in der Tat einer Entschuldigung, wenn man so lange hier bleibt, als ich mich jetzt hier aufhalte.

Wenn man die Sache mit philosophischen Augen betrachtet, so befindet sich diese Nation allerdings in einer sonderbaren und bedenklichen Lage. Ich rede jetzt nicht von den Umständen des Tages, nicht von dem Mißklange, der zwischen der Verfassung, wie manche sie sich denken oder träumen, und dem Geiste und dem Charakter der Nation, wie er noch wirklich ist, nur zu sehr bemerkt wird; nicht von der angeblichen Sittenverderbnis, über die so viel und laut geschrien wird. Vieles von diesem ist lange nicht so arg, als man es gern machen möchte; wenigstens nicht schlimmer als an manchem andern Ort; und wenigstens sind dies, wie es mir vorkommt, nur Nebenfolgen eines ganz andern und bei weitem schlimmeren Übels, das ungleich älter ist; das die Revolution freilich nicht geheilt, aber auch wahrlich nicht hervorgebracht hat; das durch sie nur jetzt klarer ins Auge fällt.

Jede Nation nämlich, wie jeder Mensch überhaupt, braucht, dünkt mich, eine innere Triebfeder, eine lebendige, immer rege Kraft, aus der sich seine höhere Tätigkeit, sein eigentümliches Dasein entwickeln kann. Ein solches inneres Prinzip des Lebens vermisse ich in dieser Nation; und gerade weil ich dies wahrhaft heilige Feuer, das allein die Menschheit zugleich läutert und nährt, mehr als irgendwo sonst in der deutschen Nation antreffe, so wächst dadurch, wie ich nicht leugne, meine tiefe Achtung und meine innige Anhänglichkeit für sie.

Die Erscheinung, die sich einem anitzt am häufigsten aufdrängt, ist Mattigkeit und Schwäche. Nirgends sieht man Energie, Feuer und Leben. Ich rede hier nicht von den äußeren Begebenheiten, sonst würde viel gegen mich sprechen; aber da können einzelne Umstände und einzelne Menschen entscheidende Impulse geben, ich rede überhaupt nicht von der politischen Stimmung, ich beschränke mich bloß auf das, was eigentlich national ist, auf den Gang der Meinungen und des Geistes, die Bildung des Charakters, die Sitten usf. – und hier ist jener Ausspruch nur zu wahr. Nur ein Teil der Wissenschaften macht merkliche Fortschritte; gerade aber der, welcher den Menschen am nächsten liegt, der eben auch eine höhere Spannung des Geistes und Gefühls erheischt, die Philosophie in allen ihren Teilen, liegt und schlummert ganz und gar; die Poesie macht bloß einige schwache und meist vergebliche Anstrengungen, ihrem längst erreichten Maximum nur wieder irgend nahe zu kommen; in der Kunst zeichnet sich nur wenig aus; der Gesellschaft mangelt das bessere Leben, das Interesse des Geistes und Herzens; und selbst den öffentlichen Vergnügungen fehlt es an Raschheit und Mannigfaltigkeit, sie sind oft einförmig und langweilig, und selbst der verschriene Luxus ist für die Masse der Menschen, die hier zusammengedrängt sind, nicht weit her; wenn er die Eitelkeit derer befriedigt, die ihn zeigen, so gibt er dem Zuschauer verhältnismäßig nur immer wenig zu bewundern oder zu belachen.

Größtenteils ist diese Stimmung unstreitig eine Folge der Begebenheiten der letztverflossenen Jahre und der jetzigen Lage. Die Revolution hat viel zu sehr nur physisch gewirkt; die Schreckenszeit hat mit ihrem eisernen Arme Frankreich in eine starre Betäubung versenkt, von der die Folgen nur noch zu sehr fühlbar sind; die Dauer des Kriegs hat auch das ihrige getan, und selbst die oft noch schimmernde und doch immer verzögerte Hoffnung des Friedens ist hierin verderblich. Man erlaubt sich eher die Hände in den Schoß zu legen, wenn man eine Epoche, die freilich zur Begünstigung aller Tätigkeit notwendig ist, in einer gewissen Nähe vor sich sieht. Großenteils ist also jene Erscheinung nur zufällig und vorübergehend. Aber zum Teil ist sie auch, glaube ich, tief in dem Charakter der Nation gegründet, und dies muß der Philosoph ausspähen, wenn er über die Gegenwart hinausblicken will. Der Mensch rückt nicht wahrhaft weiter fort, wenn er nicht Ideale vor Augen hat, wenn nicht die Ideen des Guten, Wahren und Schönen in andern und höhern Bildern, als die uns täglich im bloß logisch Richtigen, Nützlichen und gefällig Harmonischen begegnen, vor uns stehen. Diese Ideale, der Blick auf sie, das, was man, wie ich neulich irgendwo las, sehr gut Echappées ins Unendliche nennen kann, fehlt den Franzosen. Zwar nimmt ihre Einbildungskraft allerdings auch einen ähnlichen Flug; aber eben weil es bloß die Phantasie ist, die dahin gelangt, so bleibt es gehaltleer, und man vermißt den innern Sinn, der ein lebendiger Zeuge ist, daß jene erhabnen Urbilder nicht übermenschliche Fremdlinge sind, sondern in dem Innern des menschlichen Busens wohnen, aus dem sie auch abstammen. Man vermißt die tiefe Energie des Geistes, die, durch wahre, aber innere Erfahrung bereichert, nicht bloß Verhältnisse von Begriffen, sondern wahres Dasein entdeckt; man vermißt den großen bildenden Sinn, durch welchen der echte Dichter die Natur auffaßt und darstellt; man vermißt endlich, und dies natürlich am schmerzlichsten, das reine sittliche Gefühl, das, auf den strengen Begriff der Pflicht bezogen, den erhabenen, auf das begeisternde Bild einer hohen und idealischen Menschheit, den schönen und edlen, und in beiden Fällen den uneigennützigen Tugendhaften bildet.

Wenn es möglich wäre, diesen Ausspruch in schneidender Strenge zu verstehen, so wäre er das törichtste Verdammungsurteil, das der Stolz eines Menschen über eine Nation aussprechen könnte. Allein, so können Sie, mein Lieber, mich nicht mißverstehen.

Es ist keine Frage und braucht nicht einmal erwähnt zu werden, daß jene, die Hauptenergien des menschlichen Gemüts, in einer Nation, die, als Masse betrachtet, und gerade durch ihre Naturanlagen, so große Achtung und Bewunderung verdient, tätig und mächtig sein müssen, und selbst wenn man, was doch immer noch sehr übertrieben wäre, den Franzosen ableugnen wollte, daß sie zur wahren Philosophie, Poesie und Sittlichkeit auf der eigentlichen und echten Bahn gelangten, so könnten sie noch immer andere gleichfalls zum Ziele führende Wege dahin einschlagen. Was ich meine, ist eigentlich nur das, daß die Richtung ihrer Kultur, nicht bloß ihrer geistigen Tätigkeit, einen gerade vom Ziel abführenden Weg anweist, sondern auch die Quellen selbst verunreinigt, aus welchen sie entspringt; daß sie, sobald sie über diesen Gegenstand, die notwendige Art der Bildung, räsonnieren, geradezu demjenigen widerstreben, was sie allein aufsuchen sollten, und daß (dies ist der härteste Teil meiner Anklage) in dem gesamten Schatz ihrer Literatur – die doch immer als die Darstellung des gesamten Gedankensystems die richtigste Quelle der Kenntnis einer Nation, besonders einer so hoch kultivierten, bleibt – kein einziges Denkmal vorhanden ist, aus dem sich ein entschiedenes Streben nach tiefer Philosophie, rechter Poesie oder erhabener und idealischer Sittlichkeit in vollkommener Reinheit und ohne allen Zusatz irdischer Schlacken (wenn Sie mir den Ausdruck erlauben) erweisen ließe.

Die ursprünglichen Naturkräfte stehen also bei dieser Nation mit der Kultur nicht nur, wie überall, in einem Streit, sondern auch in einem solchen, der notwendig mit der Niederlage des einen beider Teile endigen muß, und für den es keine Schlichtung in einer kultivierten Natur gibt. Denn was jene als ihre freieste Tätigkeit ansehen müßten, verwirft diese unerbittlich als Schwärmerei und Wahn. In diesem Streit müssen aber notwendig die ersteren unterliegen, da endlich doch immer die Form und der Gedanke siegen, und alles, wie stark es auch sei, untergehen muß, das keinen intellektuellen Ausdruck zu finden vermag. Sie werden um so leichter unterdrückt, als die französische Natur mehr gesund als derb, mehr leichtgestimmt als kraftvoll ist und als diese Nation eine so wunderbare allgemeine Bildungsfähigkeit besitzt, daß die Kultur, wenn sie einmal schädlich wirkt, auch weit allgemeiner schadet als bei ihren Nachbarn.

Darum scheint es mir in der Tat wahr, daß das innere und bessere Leben hier meistenteils zerknickt wird; und weil es schon viele Generationen hindurch dieselbe Operation erfahren hat, nun auch wirklich schwächer entglimmt, da der Mensch gerade da niedergedrückt wird, wo er anfängt emporzustreben. Darum erfahre ich auch hier fast das Gegenteil von dem, was ich in Deutschland fühle. In Deutschland vergißt man gern die Masse, um bei einigen Individuen stehenzubleiben; hier, so achtungswert auch viele einzelne sind, flüchtet man sich doch gern zu diesem wirklich bewundernswürdig sanften, guten und verständigen Volke hin. In Deutschland lebe ich lieber in der Zukunft als in der Vergangenheit (denn mit der Gegenwart ist man doch in der Regel nirgends zufrieden), hier verweile ich am liebsten in dem vorigen und selbst der letzten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Denn wenn man von französischer Kraft spricht, so findet man sie in der Tat nur da eigentlich noch versammelt.

Es gibt hier jetzt mehrere gute Köpfe, die sich mit Eifer mit Metaphysik beschäftigen, die auch ein großes Verlangen haben, die Kantische zu kennen. Aber der wahre Zeitpunkt einer Revolution in diesem Fache ist noch lange nicht gekommen. Ob sie gleich ihre Philosophie selbst mangelhaft finden, so sind sie doch mit dem Wege, auf den sie Condillac gebracht hat, vollkommen zufrieden und halten ihn für den einzigen wahren. Sie wollen nichts als Analytiker sein und verdrehen und verschlichten jeden Gegenstand, dem sich nun einmal nicht durch Analysis beikommen läßt; und für die Analyse selbst fehlt ihnen die notwendige Strenge und Schärfe. Sie haben ein ungeheures Schreckbild: angeborene Ideen; und dafür muß alles gelten, was in das eigentlich nicht weiter Erklärbare eingreift, man möge es nun innere Geistesform oder das Ich oder allgemein das Ursprüngliche und Unvermittelte, oder im Praktischen Vernunft oder Vernunftinstinkt usf. nennen. Man erschöpft vergebens die reichste Mannigfaltigkeit der Formen, alles soll auflösbar, alles bis zur Sensation zurückführbar sein, die selbst nachher natürlich an nichts Festem hängen kann. Mit notwendigem Setzen, mit der Abstraktion von aller äußern Erfahrung, mit dem durchaus Bedingungslosen darf man gar nicht kommen. Alles dies sind nur Scheinbilder der metaphysizierenden Vernunft.

Bei dieser Philosophie muß natürlich aller Begriff echter Tugend verschwinden und sich in einen bloß vernünftigen Eigennutz auflösen. Auch ist es dieser letztere, den die hiesigen Moralisten recht allgemein fühlbar machen möchten. Der Hang, nach Grundsätzen zu handeln, ist dem französischen Charakter nicht einmal in dem Grade eigen, als er einem Nationalcharakter eigen sein kann; von Gefühlen besorgen sie immer Schwärmerei; es bleibt also nichts übrig als Gewohnheiten. Dies ist um so furchtbarer, als die Moralität sonst mächtige Stützen verliert. Wirklich übertriebene Furcht vor Fanatismus und Aberglauben bringt gegen jede religiöse Empfindung (wenigstens bei einer großen Zahl von Köpfen, indes andere mit nicht großem Glücke deistische Ideen allgemein zu machen suchen), welcher Art sie auch sei, entweder Erbitterung und Haß oder wenigstens eine bloß verachtende Toleranz hervor, und wird derselben unstreitig eine der Aufklärung noch ungünstigere Richtung geben. Andere Arten erhöhter Empfindsamkeit fehlen gleichfalls, und so muß natürlich, da der Mensch doch einmal einer innern Bewegung bedarf, die Einbildungskraft durch keine Regel geleitet müßig umherschweifen oder die nicht durch Empfindung gemilderte Leidenschaft außerhalb suchen, was allein in uns zu finden wäre.

In diesem Zustande könnte die Kunst, besonders die Dichtkunst, eine große Hilfe gewähren; allein daran ist hier nicht zu denken, wo selbst die, welchen die französische, über die sie wirklich erhaben sind, weder den Geist noch das Herz erfüllt, sie dennoch für die höchste Poesie und die ihnen unendlich mehr verwandte englische z. B. für etwas Edleres, Gehaltvolleres und Besseres, nur nicht für Poesie anerkennen: ein sicherer Beweis, daß ihnen der eigentliche Kunstsinn mangelt; daß sie in dem, was sie Poesie nennen, nur eine gewisse bestimmte äußere Form fühlen und in dem Wahren und Echten mehr durch den Gehalt als durch das, was eigentlich Kunstform ist, angezogen werden.

Die griechische Einfachheit und Zartheit, die sich so ganz auf diese Seite neigt, ist dem französischen Charakter durchaus fremd, ebenso die nordische Derbheit und Stärke; und doch sproßt wohl nur aus der glücklichen Vereinigung beider die schönste poetische und philosophische Blüte empor, die vielleicht darum künftig einmal am besten auf deutschem Boden fortkommt, weil die Natur die Deutschen am wenigsten mit einseitigen Vorzügen begabt hat, welche die Erreichung allgemeiner Vollkommenheit hindern könnten, sie mehr kräftig ausgestattet als selbst geformt hat.

... Sehen Sie, liebster Freund, das Bisherige nur als eine Herzenserleichterung meines beunruhigten vaterländischen Gewissens an. Sonst kann ich nicht leugnen, verweile ich wenig bei diesen Seiten, die man bald in den ersten Wochen bemerkt, und spüre mehr dem Tiefern, Verstecktern und Bessern nach. So bekannt auch im allgemeinen die Haupteigentümlichkeiten dieses Nationalcharakters sind, so führt doch seine genauere Betrachtung noch auf Resultate, die für die allgemeine Menschenkenntnis schlechterdings nicht unwichtig sind. Vor allem lernt man, wie der Verstand, wenn er nicht hoch, aber dabei einseitig bearbeitet ist, gleichsam die Rolle aller übrigen Fähigkeiten zu spielen imstande ist, welche Gestalt unter seiner Herrschaft die Phantasie annimmt, und wie selbst das Gefühl seiner Natur nach die Forderungen desselben umwandeln kann, ohne dieselbe ganz aufzugeben. Denn das, was ihn in diesem Charakter so merkwürdig macht, ist gerade die ihm an sich fremdartige Verbindung mit einem nicht bloß lebhaften, sondern heftigen, immer unruhigen und doch immer nach einem äußern und schnell zu erreichenden Ziele strebenden Temperament. Er disponiert dadurch das Gemüt mehr zur Leidenschaft als zum bloß stillen, sich selbst genügenden Gefühl und bringt dadurch eigene Modifikationen der Empfindung hervor, in denen man ihn immer wiedererkennt. In den spätern Griechen (schon im Euripides) werden Sie oft auch eine räsonnierende und sophistisierende Empfindung bemerkt haben; aber hier ist beides viel inniger miteinander amalgamiert. Die Empfindung nimmt in der Tat einen höhern Flug, als es die eigentlich physische vermöchte; sie ist wahrhaft Empfindung, denn sie ist weder kalt noch erkünstelt; aber sie besitzt ein Raffinement, sie führt eine Sprache, die allein den Anteil des Verstandes verraten würde, wenn sich sonst auch nicht in der Spannung, in die sie die Seele versetzt, in dem zerstörenden Feuer, dem es an aller wohltätig erwärmenden Glut fehlt, Mangel an eigentlichem Sinn, an Natureinfachheit, an Empfänglichkeit zeigte. Freilich sieht man dies nur selten in einer gewissen Vollkommenheit, da es in dieser nur in wirklich großen Seelen erscheinen kann; aber es ist, dünkt mich, das, was der Beredsamkeit Rousseaus z. B. vorzüglich der Beredsamkeit der Leidenschaft eine so eigentümliche Farbe gibt. In welche Sprache man das zu übersetzen versuchen möchte, so verliert es immer gerade sein eigentliches Wesen, und wie es da ist, kann man nicht leugnen, ist es nicht nur in sich schön und groß, sondern entdeckt auch neue Nuancen, neue Seiten in dem menschlichen Gemüte. Gerade darin, in einem Gebrauche von Begriffen in einem Gebiete, in dem sonst der Begriff nichts vermag, in einer künstlichen Verbindung bloßer Verhältnisbeziehungen, in einer aufs feinste berechneten Stellung aller Teile des Gedankens scheint mir die große Stärke auch der französischen Sprache zu liegen. Keine andere kommt ihr in der Kunst des Räsonnements gleich, und wenn man es epigrammatisch ausdrücken wollte, so könnte man sagen, daß keine soviel durch bloße Worte auszurichten vermag.

Es gibt eine Eigenschaft, die dem Franzosen vorzugsweise vor dem Deutschen eigen ist, und in der der letztere viel von dem erstern lernen könnte – die Besonnenheit, die so wenig bloß ruhig ist, daß sie ihm auch in der höchsten Bewegung nicht fehlt. Der Deutsche ist so oft in dem Falle, sich zu schämen, der Franzose nur äußerst selten; und ich sage dies hier gar nicht ironisch. Wir Deutschen unterscheiden immer ganz bestimmt zwei gleichsam ganz verschiedene Welten, eine unsichtbare und eine sichtbare, ein inneres und ein äußeres Dasein, und vergessen sehr oft, daß wir, indem wir reden, schreiben und handeln, aus dem erstern heraustreten. Dadurch sind wir dunkel, oft (da wir uns so oft nur als Natur zeigen) unfein und beinahe immer formlos. Bei den Franzosen ist es gerade das Gegenteil: sie berechnen alles auf die Wirkung, und dies ist es, was im großen und im kleinen ihnen die politischen und gesellschaftlichen Vorteile über ihre Nachbarn gibt. Man verfolge nur mit rücksichtsloser Kälte einen Zweck, und man wird ihn immer erreichen. Wer immer nur darauf denkt, wie er handeln, wenig, wie er sein will, der wird in dem äußern Leben unfehlbar sein.

Aber es wird dadurch doch zugleich etwas bei weitem Achtungswürdigeres erreicht. Diese Rücksicht auf den Gebrauch und das äußere Leben hindert vielleicht das tiefe Forschen nach Wahrheit, aber es bewahrt auch vor einer Menge Schimären und erleichtert die Verbreitung des wirklich Gefundenen; sie lähmt vielleicht den hohen und idealischen Flug der Empfindung, aber sie bricht auch die Gewalt des rohen Naturtriebs; und vor allem bringt sie das Streben nach einer gewissen Kunstform hervor, welches nicht nur der allgemeinen Politur, sondern auch der Kunst in ihrem echtesten Begriffe äußerst wesentlich ist. Diese größere Kunstmäßigkeit ist in der Tat in ihren Schauspielern, in ihren Dichtern, in ihren Prosaisten, ja selbst im Umgange und im täglichen Gespräch äußerst auffallend und macht, daß ihnen eigentlich alle übrigen Nationen auf gewisse Weise roh vorkommen müssen. Vielleicht rührt auch daher ihr Urteil, daß nur sie eigentlich Einfachheit und Natürlichkeit besitzen, weil sie freilich alles wegschneiden, was nur irgend zu üppig scheinen könnte.

Wenn die Franzosen je eine große Tiefe des Geistes und Herzens gewinnen, wenn sie dann damit die ihnen in so hohem Grade eigene Gabe verbinden, das, was sonst nur einsam in einzelnen Köpfen ruht, in den täglichen Umlauf des Lebens zu bringen, so können sie erstaunlich wohltätig für Europa werden, für das sie bis jetzt fast durch alle Zeiten hindurch nur beunruhigend gewesen sind. Und ich glaube allerdings, daß es dahin noch einst kommen wird. Ein Charakterzustand wie der, den ich Ihnen im vorigen und ich glaube nicht unwahr schilderte, muß beinahe von selbst zum Durchbruche führen; wirklich haben die Franzosen an einer gewissen Solidität gewonnen, nur daß es bis jetzt eine solche ist, die, ohne die Achtung sehr zu erhöhen, die Liebenswürdigkeit beinahe vermindert; auch bekümmern sie sich sorgfältiger um fremde Sprachen und fremde Geistesbildung.

Zwar wendet man gegen eine solche fortschreitende Bildung (oder vielmehr gegen eine solche umkehrende, denn es müßte eine Art der Wiedergeburt vorgehen) gewöhnlich die Hindernisse ein, welche die Sprache ihnen in den Weg legen würde; allein daran glaube ich nicht recht. Es gibt eigentlich wenig Dinge in einer Sprache, die so fest sind, daß sie keine Umänderung erlaubten, und das Feld des willkürlichen Gebrauchs ist immer noch groß genug, daß das wahre Genie sich mit Freiheit darin bewegen kann. Das Genie schafft sich ja immer selbst seine Sprache. Von den ersten Anfängen seiner Ausbildung an nuanciert es für sich die Bedeutungen der Worte, bildet es sich (alles innerhalb selbst der strengsten Grammatik) seine eignen Phrasen, verwebt es mit einem Worte seine Individualität in seine Sprache. Welche neue Wendung hat nicht die französische schon durch Rousseau, Mirabeau usf. erhalten! Weil aber freilich eine dem Widerstande verhältnismäßige Kraft erfordert wird, um in diesem Kampfe zu siegen, so kann es sein, daß einzelne wirklich verstummen, weil ihre Individualität zu schön und zart ist, um in der Sprache ihrer Nation einen Ausdruck zu finden. Das einzige, was man von der französischen vielleicht behaupten könnte, wäre die Unmöglichkeit, je einen eigentlich dichterischen Teil zu bekommen. Französische Poesie kann leicht untergehen und unwiederbringlich untergehen; darüber werden sich aber die leicht trösten, welche die Poesie nur der Kindheit der Nationen anweisen.

Ich kann nicht leugnen, daß ich auf die Entwicklung des französischen Geistes äußerst begierig bin. Aber freilich muß, um davon Früchte zu sehen, erst Friede geworden, erst allgemeiner Wohlstand (wozu trotz der Not des Tages der Same doch reichlich ausgestreut ist) verbreitet, erst das Gemüt in Freiheit, der Geist in Schwung gesetzt sein. Bis dahin können nur vorbereitende Schritte geschehen, großes Vorrücken kann man nur in den Teilen der Wissenschaften erwarten, von denen ich hier gar nicht sprach, nur in den mathematischen und naturhistorischen. Denn vergessen muß man auch nicht, daß ein Beurteiler wie ich, den Franzosen immer gewissermaßen Unrecht tut, weil er in einem durchaus andern Fach lebt und webt, als worin sie vorzüglich sind ...

Ich habe das Glück gehabt, hier mehrere Menschen zu finden, mit denen es möglich ist, einen sehr interessanten Umgang zu haben. Nur ist der Umgang hier freilich etwas sehr Unterbrochenes. Eine meiner neuern Bekanntschaften ist die Staël,Anne Louise Germaine, Baronin von Staël, 1766–1817. Wir werden dieser geistreichen Pariserin in den Briefen noch häufig begegnen. in der Tat eine äußerst merkwürdige Frau, und recht geschaffen, der französischen Bildung neue Gestalten zu geben, da sie offenbar mehr und etwas anderes besitzt als das, was gewöhnlich in dem französischen Nationalcharakter liegt.

Unter den Deutschen, die seit längerer Zeit sich hier aufhalten, ist Schlabrendorf, den Sie kennen, unstreitig bei weitem der interessanteste. Er erinnert sich Ihrer mit herzlichem Anteil, und ich bin überzeugt, daß auch trotz vieler Verschiedenheiten in Meinung und Denkungsart sein Umgang Ihnen viel Vergnügen gewähren würde.

Baggesen ist uns hier eine überaus angenehme Erscheinung gewesen. Ich kannte ihn noch gar nicht und war doch durch vieles, was ich von ihm gehört hatte, sehr auf seine Bekanntschaft gespannt. Er hat eine durchaus eigne Geistesform und echte Genialität. Nur selten trifft man gewiß eine Phantasie an, die soviel Beweglichkeit doch mit soviel Tiefe und gesetzmäßiger Bildungskraft verbindet, das einige seiner poetischen Stücke ganz unleugbar dartun. Grüßen Sie ihn noch einmal herzlich von uns.

Von meinen hiesigen Arbeiten werden Sie bald eine sehen, für die ich mir hier recht eigen Ihre Aufmerksamkeit erbitten möchte. Vieweg in Berlin wird Ihnen ein Bändchen »Ästhetische Versuche« überschicken, die ich im vorigen Winter hier geschrieben habe. Sie werden darin eine Beurteilung von Goethes Hermann und Dorothea, aber zugleich viel Allgemeines über Poesie und Kunst überhaupt finden. Wie herzlich würde ich Ihnen danken, wenn Sie mir ein Wort eines gütigen Urteils darüber sagten. Ich bedarf dessen um so mehr, da ich in der Tat immer fast nur in Rücksicht auf die wenigen Menschen schreibe, deren Geist ich kenne, und die immer lebendig vor meinen Gedanken stehen, sobald es mir gelingt, in einiger Tiefe in das Gebiet der Ideen einzudringen. Über den Gegenstand selbst, glaube ich, werden wir einig sein. Auch sehen Sie, daß ich den Mut nicht verloren habe, meine freie Meinung über die Werke derer zu sagen, die ich meine Freunde nennen darf. Denn auch hier bin ich des lebhaften Widerspruchs eines Teils des Publikums fast gewiß ...

Wilhelm v. Humboldt an seinen Schwiegervater.

Madrid, 15. November 1799.

Verehrungswürdigster Herr Vater!

Sie werden durch die zwei Briefe, welche meine Frau Ihnen von den Pyrenäen und von hier aus geschrieben hat, bereits ersehen haben, daß wir mit unsern Kindern gesund und vergnügt allhier angekommen sind. Hier hätte ich Ihnen selbst, teuerster Herr Vater, schon Nachricht von mir geben sollen; allein die Beschäftigungen und Zerstreuungen, die eine Reise durch ein neues und in vieler Rücksicht merkwürdiges Land, dem wir doch nur eine kurze Zeit widmen können und wollen, veranlaßt, werden mir hoffentlich bei Ihnen zu einiger Entschuldigung dienen. Unsere allseitige Gesundheit ist, Gott sei Dank, sehr gut. Meine Frau befindet sich sogar leidlicher als sonst gewöhnlich um diese Jahreszeit, und die Kinder sind vollkommen gesund und munter. Auch hat uns die Witterung sehr begünstigt. Wir haben, seitdem wir hier sind, sehr gutes und schönes Wetter und so gelinde Luft gehabt, daß wir nicht einmal Kaminfeuer gebraucht haben. Erst jetzt fängt es an, etwas kälter zu werden. Meine Frau wird Ihnen geschrieben haben, daß ich im Escorial dem König und der Königin vorgestellt worden bin. Ich glaube aber nicht, daß sie Ihnen etwas Ausführliches über die Zeremonie des sogenannten Handkusses gemeldet hat, die in der Tat für einen, der nur deutsche Höfe gesehen hat, sehr wunderbar ist. Diese Zeremonie geschieht sechsmal im Jahr; nämlich am Geburt- und Namenstage des Königs, der Königin und des Prinzen von Asturien. Der König sitzt alsdann in einem großen Saal an einem mit einer reichen Samtdecke bedeckten Tische. Auf der anderen Seite des Tisches sitzt die Königin, gegenüber sind die Garden und Hofbedienten und zur Seite hinter dem Könige die Gesandten und Fremden, von welchen letzteren ich jetzt wohl ziemlich der einzige war. Der König und die Königin sind mit Diamanten überdeckt. Alles, was sonst an einer Mannskleidung von Stahl oder Metall zu sein pflegt, Knöpfe, vier Sterne neben- und untereinander, die Agraffe des Huts und des Ordensbandes auf den Schultern, das Degengefäß, der Stockknopf, die Schnallen usw., alles ist von Diamanten, und die Königin trägt ihrer so viel auf dem Kopf, daß es ihr in der Tat sehr inkommodieren muß. So werden die Türen des Saales geöffnet, und nun kommen diejenigen, welche dem Könige die Cour machen wollen, hinein und küssen mit einer Kniebeugung dem Könige und der Königin die Hand. Diesmal waren nur etwa 300 Personen zum Handkuß gegenwärtig, sonst aber hat man bis 600 und darüber gezählt. Nach geendigtem Handkuß spricht König und Königin mit den Gesandten und Fremden. Auch soll sich die Königin nicht übel nehmen, manchmal zu sagen: »A présent je m'en vais laver toutes ces cochonneries.« Sowohl der König als die Königin waren sehr gnädig gegen mich und sprachen viel mit mir. Sie erinnerten sich meines Bruders und schienen viel Anteil an seiner Reise zu nehmen.

Hier beschäftigen wir uns vorzüglich mit der ungeheuren Menge von Gemälden, die sich hier zusammen befinden. Es ist in der Tat wunderbar, welche Schätze von Malerei der König von Spanien besitzt. Was in den gewöhnlichen Reisebeschreibungen angeführt steht, ist bei weitem der geringste Teil. Meine Frau schreibt sehr genau die Sujets und die Ausführung der merkwürdigsten auf, und ich hoffe, es wird auch Ihnen einmal Freude machen, bei unsrer Zurückkunft diese Beschreibung, die jetzt schon mehrere hundert Gemälde enthält, anzusehen. Ich beschäftige mich noch genauer mit der Literatur, die man beinahe in Spanien selbst studieren muß, weil es fast überall an Büchern dieser Gattung mangelt. Es ist nicht zu leugnen, daß es einige recht gelehrte und aufgeklärte Leute hier gibt, die weniger prätensionsvoll und ansprechend sind als wie Gelehrte in Frankreich. Weil aber noch immer ein großer Druck und gar keine Freiheit herrscht, und weil ferner das Publikum im ganzen weder aufgeklärt noch gebildet genug ist, fast gar kein Buchhandel existiert, so haben die meisten von diesen Männern wenig oder nichts geschrieben und können also außer Spanien nicht bekannt sein und kaum es werden. Der König wendet eine äußerst große Summe des Geldes auf die Wissenschaften und Kunst; einige Universitäten sind außerordentlich reich dotiert; die von Salamanca z. B. hat gegen 60 000 Rtl. Fondsmasse, was bei der geringen Menge von Professoren sehr ansehnlich ist. Aber auf allen diesen Anstalten ruht eine Art Unglück. Denn trotz dieses Aufwandes geschehen doch schlechterdings keine Fortschritte, und namentlich die Universitäten sind außerordentlich schlecht, wie jeder Spanier selbst einzugestehen bereit ist. Die Chemie und Mineralogie wird jetzt unstreitig einige Fortschritte machen, da der König nicht nur zwei neue Lehrstellen für diese Wissenschaften errichtet, sondern auch zwei fleißige und gelehrte Männer darin zu Professoren ernannt hat. Da wir nicht lange hier zu bleiben gedenken, so haben wir nicht viel Gesellschaft besucht. Doch gibt es einige Häuser, in denen wir manchmal die Abende zubringen. Zu diesen gehört hauptsächlich das des dänischen Gesandten, des Barons von Schubart, des Schwagers des Grafen von Schimmelmann, das des amerikanischen Herrn Humphreys, des französischen Guillemardet und von spanischen das der Prinzessin Castelfranco, der Marquise Santa Cruz, des Marquis Granda und Marquis Colonella.

Die Prinzessin Castelfranco und Marquise Santa Cruz sind Deutsche, die erstere eine Gräfin Stolberg, die andere eine Gräfin Wallenstein aus Böhmen. Der Marquis Granda macht zugleich Bankiergeschäfte. Er ist ein Mann, der wahrscheinlich über 15 000 000 Livres im Vermögen besitzt; weil es aber hier unmöglich ist, wegen der vielen zum größten Schaden der Landeskultur bestehenden Majorate große Güter zum Kauf zu finden, so muß er sein Vermögen im Handel geltend machen. Er ist zugleich Staatsrat und hat den Titel Exzellenz, wird aber jetzt leider gar nicht gebraucht, was um so mehr zu bedauern ist, als er ein überaus kluger Mann ist und sehr ausgedehnte Kenntnisse im Finanzfache besitzt. Der jetzige Staatsminister Urquijo ist, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, ehemals Gesandtschaftssekretär in England gewesen und hat dort meinen Bruder gekannt, was diesem letzteren die Erlaubnis, nach Amerika zu reisen, erleichtert hat. Er hat auch mich mit vieler Artigkeit behandelt und mich gleich zum Essen gebeten, was sonst hier nicht gewöhnlich ist.

Über die neuliche Veränderung in Frankreich werden auch Sie, verehrungswürdigster Vater, sich gewundert haben. Sie ist jedermann sehr unerwartet gekommen. Ob ich sie gleich in ihren Ursachen und wahrscheinlichen Folgen von hier aus nicht beurteilen kann, so freut mich dennoch das gar sehr daran, daß mehrere mir persönlich bekannte Leute von unverkennbaren Talenten an die Spitze der Geschäfte gekommen sind, und daß auch zum Frieden mir die Hoffnung größer scheint. Wenigstens habe ich jetzt keinen Zweifel, daß ich werde durch Frankreich nach Deutschland zurückgehen können. Vielleicht kann ich sogar im Sommer über Frankfurt gehen; wo nicht, so muß ich den Weg über Wesel wählen, was mir aber unangenehm sein würde; denn da ich auf alle Fälle unmittelbar und zuerst zu Ihnen, teuerster Herr Vater, eilen möchte, so wäre dieser Weg auf alle Fälle ein Umweg. Wir freuen uns unendlich auf diese Rückkehr, die gewiß im Sommer gegen den Herbst statthaben wird, da wir Spanien mit dem Frühjahr verlassen werden. Wir bleiben jetzt etwa nur noch drei Wochen hier in Madrid und reisen alsdann in die mittäglichen Provinzen Spaniens, um uns so Barcelona und den Grenzen Frankreichs zu nähern.

Caroline küßt Ihnen tausendmal die Hände sowie auch die Kinder. Ich empfehle mich Ihrem gnädigen und wohlwollenden Andenken und verbleibe ewig mit der kindlichsten Ehrfurcht

Ihr gehorsamster Sohn Humboldt.

An Graf von Schlabrendorf.

Gustav v. Schl., 1750-1824, lebte bei deutscher Abstammung seit 1789 fast ununterbrochen in Paris. Beide Humboldts wie in lebhaftem Maß auch Caroline von H. genossen jedes Zusammensein mit diesem sprudelnd anregenden Original, in welchem ein geistig vornehmer, anhänglicher Mensch steckte, mit ungetrübter Freude. Varnhagens von Ense Aufsatz über Schlabrendorf entlockte dem alten Humboldt die Rückschau: »Ich habe den Aufsatz über unsern ewig denkwürdigen Freund mit großem Vergnügen gelesen. Er hat mich lebendig in die Zeit meines Umgangs mit ihm zurückversetzt, und es ist Ew. Hochwohlgeboren, wie es mir scheint, sehr gut gelungen, aus den Charakterzügen und der Handlungsweise des Mannes gerade so viel auszuheben, als dem großen Publikum ein anschauliches Bild zu geben vermochte, und ihn doch auch wieder so zu schildern, daß auch die tiefer Eingeweihten ihn gern in der Schilderung wiedererkennen. Daß darum doch nicht ganz der Eindruck entsteht, den wir gerade bei diesem uns teuer und ehrwürdig Gewesenen wünschten, muß Sie nicht irren. Es gibt mittelmäßige und große Menschen, welchen man ihre Verdienste und Vorzüge gleich barer Münze auf den Tisch zählen kann. Zu diesen gehörte Schlabrendorf nicht. Er wollte tiefer gekannt, er wollte mehr als gekannt, wirklich empfunden sein. Wer nicht in den ersten Tagen seines Umgangs von ihm hingerissen war, nicht gleich bewies, daß er Sinn für ihn besaß, mit dem war jeder Streit über ihn vergebens, wie ich sehr oft mich selbst davon überzeugt habe. Es kann daher auch wohl keine Schilderung hinter ihm zurückbleiben, die sein wahres inneres Wesen, eins der merkwürdigsten und seltensten, das sich je auf Erden gefunden hat, zusammengesetzt aus der wehmütigsten Weichheit und dem unerschütterlichsten Mute, wiedergäbe.«

Valencia, 7. März 1800.

Verzeihen Sie mir, mein teurer Freund, daß Sie seit meiner Abreise von Paris nichts von mir gehört haben... Die, welche gereift sind (meist Vornehmere) haben einen fremden Firnis, der doch die natürliche Roheit nur sehr unvollkommen überdeckt. Denn den Vorwurf der Roheit kann man dieser Nation, in Vergleichung mit den Franzosen wenigstens, mit Recht machen. In dem weniger Ungebildeten aber, besonders in der Mittelklasse, ist diese Roheit rein negativ, es ist eigentlich Mangel an seiner Kultur, dieser Teil ist ohngefähr wie bei uns die Bürger in kleinen Landstädten, gutmütig, dienstfertig und freimütig, aber geradezu und ohne Vielseitigkeit und Gewandtheit. Der andere Teil, der sich mehr durch das Ausland gebildet hält, ist gewöhnlich oberflächlich und seicht, verachtet seine eigne Nation, betet Frankreich an und würde doch von einem Franzosen (wenn er offen redete) immer noch ein nur erst halb geleckter Barbar genannt werden. Das Unglück für die spanische Kultur scheint mir, so sonderbar es klingt, die geographische Lage des Landes. Von ganz Europa sind sie allein mit Frankreich zu Lande verbunden, alles, auch die Produkte Englands und Deutschlands, kommen ihnen durch Frankreich zu, und gerade ist die französische Kultur die, die ihnen am wenigsten taugt. Es ist ganz offenbar, daß jetzt eine beträchtliche Anzahl aufgeklärter Menschen in Spanien existiert, daß eine noch größere sich dieser Stufe nähert; aber alles geht natürlich stufenweise. Sie finden hier Menschen, welche sogenannte vorgebliche Wunder bestreiten, um die wahren zu retten; Sie finden andre, die noch völlige Jansenisten sind (und dies sind gerade mit die Aufgeklärtesten); andre endlich, die sich einer bloß philosophischen Religion nähern usf., kurz alle die Nuancen, die auch bei uns in Deutschland wenigstens noch vor wenig Jahren gewöhnlich sind. In diese Nuancen aber, sehen Sie selbst, geht, was von Frankreich zu ihnen herüberkommt, nicht ein; es trägt alles einen Stempel, es schlägt auf einmal alles nieder, was jenseits der Pyrenäen Vorurteil heißt, und kann also nur zum oberflächlichen Nachbeten führen. Erlaubte man in Spanien ein freies und gründliches Studium der Exegetik und Kirchengeschichte, machte man die Kenntnis des Englischen und Deutschen gemeiner, so würde man (ich glaube es mit Gewißheit behaupten zu können) in wenig Jahren sehr eigentümliche Früchte sehen ... Bei diesen Hindernissen muß man erstaunen, wie solche Menschen, ohne je aus Spanien zu kommen, sich haben so ausbilden können, wie man sie wirklich antrifft. Bei der Poesie gerät die Lebhaftigkeit für die französische Literatur in ein sonderbares Gedränge. Die Spanier haben immer die französischen Dichter arm und kalt genannt, und es ist klar, daß dies jetzt noch mehr der Fall sein muß. Dennoch will ihnen kräftigere Speise ebensowenig schmecken. Sie kennen Shakespeare hier und da; aber sie urteilen nicht viel besser darüber, als die Franzosen. Moratin hat neuerlich den Hamlet übersetzt und sagt in der Einleitung ganz deutlich, daß Dinge, wie sie sich die noch barbarischeren Engländer gefallen ließen, in Spanien nicht geduldet werden würden. Sie klagen über Mangel an Empfindung und Herz und geraten in Entzücken über – Geßners Idyllen. Den Werther lieben sie zwar auch, aber in der französischen Übersetzung. Wo die neueren Dichter sentimental werden, sind sie schwach oder gar läppisch. Es scheint, als schadete in allen mittäglichen Nationen die Einbildungskraft dem Gefühl; auch ist uns Deutschen in der Kunst die kräftigere Sentimentalität von den Engländern gekommen und durch ein sonderbares Glück ist es uns gelungen, sie durch das Studium der Alten in eine höhere umzubilden. Unter den mittäglichen Nationen aber scheinen die Spanier eine besondere Stelle einzunehmen; sie haben offenbar mehrere Charakterseiten, die man nordische zu nennen geneigt sein möchte, einige, die sie uns Deutschen sehr nahe bringen. Ihre Sprache ist noch wenig, vorzüglich zum philosophischen Gebrauche, gebildet, aber sie hat sehr gute Anlagen und große Vorzüge vor der französischen wenigstens. Was aus ihr, wie aus der Nation überhaupt einmal werden wird (eine Frage, die man sich, wie schimärisch sie auch zu sein scheint, doch nie enthalten kann, aufzuwerfen), ist schwer zu bestimmen. Es scheint mir aber noch schwerer bei der französischen, von deren Sprache wenigstens (besonders nach Ihrem System über die Muttersprachen, das auch gar sehr das meinige ist) man wohl sagen möchte: So Ihr nicht wieder zurückkehrt in Mutterleib ...

Meine Frau, die recht leidlich wohl ist, grüßt Sie herzlich. Die Kinder sind gesund und munter und reden etwas Spanisch. Himmel und Land sind rein göttlich, und wenn mir etwas leid tut, so ist es, diese Gegend vor dem vollen Frühling schon wieder zu verlassen.

Leben Sie innigst wohl, und vergessen Sie einen Freund nicht, der Sie herzlich achtet und liebt.

Einen Zug eines Knaben in Malaga muß ich Ihnen doch erzählen. Wir aßen bei seinen Eltern, und mein Junge, der ein paar Jahre jünger als er war, rang sich mit ihm und warf ihn auf die Erde. Den folgenden Tag sagte der Knabe zu seiner Mutter: Wäre es nicht in unserm Hause gewesen, so hätte ich es nicht so hingehen lassen, daß der Preuße, der jünger als ich war, mich Spanier zur Erde warf; aber heute will ich zu ihm gehn und ein Messer nehmen und ihn totstechen. Welche Begriffe von Gastrecht, Nationalehre und Rache, und der Knabe war 7 Jahr alt!

Der lückenhafte Text wurde sinngemäß von Alb. Leitzmann ergänzt.

An Goethe.

Paris, 30. Mai 1800.

... Ich habe jetzt nur noch etwa vierzehn Tage mit der Staël zusammen hier zugebracht, sie aber da täglich gesehen. Ich liebe sie sehr; bei manchen sehr weiblichen Zügen fehlt ihr freilich viel zu dem, was wir schöne Weiblichkeit nennen, und bei einem bewundernswürdigen Verstande ist sie nur selten, was uns geistvoll heißt. Aber sie besitzt eine unglaubliche Gutmütigkeit, bringt selbst mitten im Kreise kleinlicher Verhältnisse, der sie oft umgibt, alles auf Ideen und Empfindungen zurück, läßt der Natur und dem Gefühl ihr Recht, räsonniert nie wie hier so gewöhnlich, bis alle Wahrheit mit Stumpf und Stiel vertilgt und alles in Schall und Wort aufgelöst ist, sondern räsonniert sich vielmehr immer auf die Punkte hin, bei denen das bloße Räsonnement nun nichts mehr ausmacht, ist fast immer unparteiisch und vielseitig in ihren Ansichten und groß und edel in ihrer Empfindungsart. Sie kommt mir immer wie ein freierer Charakter und kühnerer Geist vor, der, seitdem er anfängt, die Fittige zu bewegen, in den Kinderrock französischer Armseligkeit eingeschnürt ist. Auf gewisse Weise sind zwar ihre Bücher wie bei allen Menschen weniger als sie, aber auf andre auch mehr. Denn selten findet man sie im Gespräch so einsam, so ruhig oder so vertieft als in ihren Schriften. Ihre »Leidenschaften« scheinen mir immer ihr bestes Werk; dies kann natürlich für seinen eigentlichen Gehalt nur schwach sein. Um den Zustand der ganzen Literatur in allen Ländern und Zeilen zu beurteilen, fehlt es ihr natürlich an Philosophie und Gelehrsamkeit zugleich. Sie hat keinen deutlichen Begriff von dem, wohin der Mensch gelangen soll, und sieht alle Literaturen doch eigentlich als Französin an. Sie werden erstaunen zu finden, wie unrichtig die Griechen behandelt sind. Wir Deutschen erkennen nicht genug, wieviel wir einzig dadurch gewinnen, daß Homer und Sophokles uns nah und gleichsam verwandt geworden sind. Wie sie über die Deutschen urteilen kann, sehen Sie selbst. Aber es sind auch einige Aussprüche, die mir viel wert sind ... Sie sagt, man tadle Sie, Werthern noch ein andres Leiden als die Liebe gegeben, Erniedrigung seines natürlichen Stolzes durch gesellschaftliche Verhältnisse hinzugefügt zu haben, und fährt dann fort: Goethe voulait peindre un être, souffrant par toutes les affections d'une âme tendre et fière; il voulait peindre ce mélange de maux, qui seul peut conduire un homme au dernier degré du désespoir. Les peines de la nature peuvent laisser encore quelques ressources; il faut que la société jette ses poisons dans la blessure, pour que la raison soit tout à fait altérée et que la mort devienne un besoin.W. v. Humboldt kündigt Goethe die Zusendung des Buches der Staël an, das zu Beginn des Jahres erschienen war: De la litérature allemande considerée dans ses rapports avec les institutions sociales.

Goethes Antwort ist verloren; damit entgeht uns auch sein und Schillers Urteil über Frau von Staëls Buch über die Literatur. Am 10. Oktober schreibt ihm Humboldt wieder:

Ihr Urteil über das Buch der Staël hat mich sehr gefreut. Es trägt das Gepräge der Billigkeit, die man ihr selten widerfahren läßt. Wie Ihnen ist es auch mir immer vorgekommen, als sei ihr der Kreis, in den Erziehung und Bildung unter Franzosen und durch französische Literatur sie gebannt hat, zu enge, als strebte sie, sich davon loszumachen, ohne daß dies doch jemals gelingen kann. Es ist ein wunderbares Phänomen, mitten in einer Nation manchmal Menschen zu finden, die einen fremden Geist in diesen Banden der Nationalität tragen, und manche Vorurteile abzulegen; aber sie ist doch vollkommen dahin gelangt, einzusehen, daß, was in der deutschen Literatur eigentümlich genannt werden kann, in einer andern Welt liegt, als in die sich je ein Franzose verstiegen hätte. Sie ist sogar so sehr davon überzeugt, daß eine fast unüberspringbare Kluft diese beiden Gebiete voneinander absondert, daß sie mir neulich mit ausdrücklichen Worten sagte, daß fremdes Blut wie in ihr dazu notwendig sei, es nur zu suchen – ein Geständnis, was merkwürdig genug ist, wenn Sie bedenken, wie wenig Wert sie sonst und ihre Koterie auf den Ehrennamen der Fremden legen, mit dem man sie nur zu oft belegt hat.

Humboldt unterrichtete Frau von Staël im Deutschen. Humboldts (in Millins Magasin encyclopédique von 1799) erschienener Versuch, die Ideen seines ästhetischen Werts über Goethes Hermann und Dorothea in französischer Sprache darzustellen, wurde hauptsächlich in Rücksicht auf Frau von Staël unternommen, der das deutsche Original zu schwierig war.

»Ich bin«, schreibt Humboldt am 5. Januar 1805 an Karoline aus Rom, »nie in die Staël verliebt gewesen, und es hätte meiner Menschenkenntnis wenig Ehre gemacht, wenn ich es je hätte werden können«.

An Schiller.

Anfang September 1800.

Ich habe mich seit vierzehn Tagen sehr anhaltend mit Ihnen beschäftigt, mein teurer Freund; denn ich habe Ihren Wallenstein gelesen, und wenn ich zu denen gehörte, an welche dieser Genuß am spätesten kam, so bin ich, denk' ich, auch vielleicht der, in welchem er am längsten und anhaltendsten dauert.

Wir redeten oft miteinander über diese Dichtung, da sie noch kaum mehr als entworfen war. Sie sahen sie als den Prüfstein an, an dem Sie Ihre Dichterfähigkeit versuchen wollten. Mit Bewunderung, aber auch mit Besorgnis sah ich, wieviel Sie an diesen Versuch anknüpften. Hundertmal ist mir während des Lesens das Ende des Reiterliedes eingefallen: »und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein«. Sie haben um das Höchste gerungen, und wenigstens was das Poetische betrifft – das wird Ihnen schwerlich irgendeiner streitig machen – das Höchste erreicht.

Solche Massen hat noch niemand in Bewegung gesetzt; einen so vielumfassenden Stoff noch niemand gewählt; eine Handlung, deren Triebfedern und Folgen, gleich den Wurzeln und Zweigen eines ungeheuren Stamms, so weit verbreitet und so vielfach gestaltet zerstreut liegen, niemand in einer Tragödie dargestellt. Sie haben Wallensteins Familie zu einem Haus der Atriden gemacht, wo das Schicksal haust, wo die Bewohner vertrieben sind; aber wo der Betrachter gern und lang an der verödeten Stätte verweilt. Noch kein Kunstwerk hat mich in eine so neue und so konsequent zusammenhängende Welt versetzt; keine Gestalten haben mich bisher so bestürmt und verfolgt.

Sie klagten mir oft über die Dürre Ihres Stoffs; aber vielleicht hat gerade diese unleugbare Trockenheit desselben Sie gezwungen, mehr zu tun, als bloß sie zu überwinden. Sie haben sich, das sieht man deutlich, jahrelang in diesen Stoff eingesponnen und ihn zur Welt ausgebildet. Wahrlich nicht das Machen, aber das Walten des Kunstgeists ist unverkennbar in Ihrem Werk; aber man erstaunt nur mit doppelter Bewunderung, da Sie nun hervortreten und es sich selbst überlassen, zu sehen, in welchem Grade es Natur ist.

Ich habe in Ihren Stücken vorzüglich das Eigentümliche aufgesucht, das, was mir, nach so langem Entbehren Ihres Umgangs, am lebhaftesten Sie zurückführen könnte. Ich habe es vor allem in der Größe der tragischen Wirkung gefunden. Sie haben in dem Kampf des Menschen mit dem Schicksal unmittelbar die streitenden Mächte selbst eingeführt: die Freiheit und die Abhängigkeit des Menschen, und den Kampf genau so geendigt, wie es der Geist und das Herz billigen und wünschen. Darum erhalten Sie sich durchaus auf der gefährlichen Höhe der Tragödie und nähern sich nirgend dem Drama – eine Verirrung, von der bei genauer Untersuchung nur sehr wenige Dichter frei sind. Ihre Begebenheiten sind nicht, wie im Drama, Folgen einzelner Handlungen, sondern notwendige Begleiter dieser Charaktere; ihre Hauptcharaktere sind nicht, wie die des Dramas, durch einzelne Leidenschaften, Vorzüge und Mängel verschieden, sie sind es durch den Griff, den sie einmal für allemal in die Dinge und dadurch in ihr Schicksal getan, dadurch, daß sie eine ganze Gattung von Dingen an sich gerissen, eine andre von sich gestoßen haben, daß sie – der einzig wahre Begriff der zur Tragödie notwendigen Charaktergröße – eine solche Kraft und Lebendigkeit des Wollens besitzen, daß sie sich die Richtung aus sich selbst und auf einmal vorschreiben, statt dieselbe stückweis von den Umständen zu empfangen.

Aber es ist auch darin noch etwas Eigentümliches in Ihrem Wallenstein, daß die Empfindung, welche die Katastrophe mit sich führt, nicht bloß eine unglaubliche Klarheit des Blicks auf den Gegenstand zugleich zuläßt, sondern unmittelbar selbst ausstrahlt. Sie ist nicht Schmerz, nicht Rührung, sondern starres Entsetzen; und das Entsetzen besteht gerade darin, daß die in niederschlagender Helle erscheinende Furchtbarkeit des Gegenstandes das Gefühl, das unaufhörlich seine Kraft mit ihm vergleicht, in sich zurückdrängt. Es ist für die Empfindung, was das Erhabne für die Einbildungskraft ist, und die einzige Stimmung, die in dem höchsten Grade der Spannung noch poetisch bleiben kann, da die tiefe Rührung leicht in kleinmütigen Schmerz und dieser in Dumpfheit übergeht. Durch diese größere Klarheit, die Sie dem Blick über Menschheit und Schicksal gewähren, vollenden Sie nun leichter den Kreis der tragischen Wirkung und flößen dem Gemüt eine höhere Kraft ein, Freiheit und Schicksal, die es erst so gewaltsam trennen sah, wieder zusammenzuknüpfen.

Offenbar ist indes dieser Ihr Weg auch der gefährlichste für den Dichter. Man entfernt sich leicht von dem Menschen, wenn man ihn zu hoch über ihn selbst hebt, und unleugbar gibt es noch eine andre Art der Tragödie, welche ich die elegische nennen möchte, die bloß mit der schmerzlichen Empfindung des abhängigen Loses der Menschheit und der Ergebung in den Willen einer unbekannten Macht endigt. Die Alten kannten keine andre Gattung, und Goethe hat ihr in seinen schönsten Stücken eine neue Schönheit zu geben verstanden. Sein Egmont ist vielleicht die schmelzendste Ausführung derselben. Ich sage mit Fleiß schmelzend, weil mir dies Stück immer wie eine Musik von Empfindungen vorgekommen ist. Es greift nicht sowohl in den geschäftigen Ernst des Lebens ein, als es in bald lieblichen, bald wehmütigen und zerreißenden, aber immer sanften Träumen hinschwebt.

Was Sie auf Ihrem Wege gerettet hat – denn ich glaube nicht, daß man Sie irgend mit Recht eines Mangels an der notwendigen poetischen Wärme zeihen kann –, ist die sorgfältige Ausarbeitung Ihres Stoffs in alle seine Teile. Sie umgeben, Sie umstricken, möchte ich sagen, Ihren Zuschauer mit Leben, alles hängt äußerlich, der gewöhnlichen Verknüpfung der Umstände nach, zusammen; innerlich zeigen sich die echten Quellen, die mächtigsten Triebfedern des Lebens; diese schließen sich unter sich eng zusammen. Indes geht die Handlung fort; wo man hinblicken mag: auf die unmittelbare Größe der bewegten Massen, auf die Strenge des Zusammenhangs der Teile, auf die Stetigkeit der erregten Empfindungen, auf die idealische Höhe der inneren Richtungen – überall findet man sich für das Vergangne befriedigt und für das Folgende aufs neue erregt. Diese echt dichterische Ausbildung Ihres Stoffs ist schlechterdings tadellos, und daß Sie gefühlt haben, daß es darauf und allein darauf ankomme, diesem Umstand haben Sie, dünkt mich, Ihr Gelingen zu verdanken. Ja, es muß sogar jedem Leser auffallend sein, daß sich Ihr Stück durch diese Ausbildung auch von den besten andern zu seinem Vorteile unterscheidet. Wenigstens habe ich noch bei keinem so das Gefühl gehabt, daß die poetische Ausbildung des Stoffs – statt nur auf den einzelnen Gebrauch berechnet zu sein – so sehr über das Stück hinausreichte; da diese Welt einmal geschaffen war, scheint es, hing es nur von Ihnen ab, was und wieviel Sie davon zeigen, wo anfangen, wo aufhören wollten ...

Bei der Katastrophe des Wallenstein habe ich deutlich empfunden, daß die Ruhe, die man mit Recht bei keiner poetischen Wirkung vermissen will, nur darauf beruht, daß man jede angeregte Stimmung nur mit voller Kraft bis an ihr Ende durchführe. Nichts kann eigentlich so zerreißend sein, als der Ausgang Ihres Stücks. Dennoch fühlt sich das Gemüt zuletzt in völliger Harmonie und ausgesöhnt mit dem Schicksal und der Menschheit. Max und Thekla sind der Empfindung gefolgt, der sie ihr Leben anvertraut hatten; das einzige, was ihnen und an ihnen uns wert war, ist auf ewig durch ihren Tod gesichert und geborgen. Wallenstein konnte nicht still stehn und nicht zurückgehn. Ein so gewaltiges Fortstreben der Kräfte mußte fortrollen, bis es zerschellte. Das, was siegend hinter ihm zurückbleibt, kann freilich nur Mißbilligung, sogar Verachtung bei uns finden; aber es verbinden sich auch schöne und wohltätige Ideen damit. Wallenstein war eine so fürchterliche, so gewaltsame Erscheinung, daß die Hoffnung friedlicher Ruhe unmittelbar mit seinem Fall eintritt. Die furchtbarste Idee Ihrer ganzen Dichtung und die ihr zu einem Schauder erregenden Hintergrunde dient: die Übermacht der Heere, die nicht bloß dieser oder jener Provinz, sondern allem ruhigen Bürgerdasein einen endlosen Krieg ankündigt, sinkt mit ihrem Schöpfer dahin. Ein gewaltig übergetretener Strom kehrt in sein Bett zurück; Saaten können wieder grünen, Völker wieder glücklich sein.

Das ist gerade so groß, daß die Summe alles Menschendaseins sich in Ihren Stücken so klar und kurz zusammenzieht. Die innere und reine Menschengröße, die sich einer Idee hingibt und lieber untergeht als sie verläßt, auf der einen Seite; auf der andern die näher dem Boden verwandte, beschränktere Gemütsstimmung, die, leichter befriedigte Wünsche nährend, Ruhe, Zufriedenheit und äußeres Glück sucht, und die Sie sehr zweckmäßig nur in Massen, und nicht unmittelbar, sondern nur in dem Kontrast der ihr Zerstörung drohenden Kriegsmacht, und in den weisen Reden Octavios und den begeisterten Schilderungen seines Sohns dargestellt haben. Dieser beschränkteren Stimmung widerspricht jene Größe nicht. Max und Thekla können ebensowohl auf Erden glücklich sein, als der Erde entbehren. Nicht also Wallenstein, denn sein Geist nimmt keine rein menschliche Richtung. Er begnügt sich nicht an den Gütern, die niemandes Eigentum sind, und will die nicht teilen, die, wenn sie einer besitzt, der andre entbehren muß. Er zählt sich (wie er selbst in den Piccolominis sagt) den hellgebornen Joviskindern zu und gehört doch (wie er Max nicht ableugnet) der Erde an. Wer, wo und wie es geschehen mag, die Sphären verwechselt, der kann keine grenzenlose Bahn verfolgen, sondern muß früh oder spät untergehen ...

Wallenstein gleicht einer Naturkraft, und jeder tragische Held muß es unfehlbar mehr oder weniger. Es muß ein gleichsam unreiner, fremdartiger Stoff in die Masse kommen, damit eine Gärung entstehe und das Lautre und Fehllose, das eigentlich auf den Zuschauer wirken soll, sich rein abscheide. Aber Wallenstein ist es dadurch auf eine so große Weise, daß alles Schiefe in ihm und alles Mißgeschick außer ihm allein aus seinem Charakter, und in diesem nur aus jenem Verwechseln der Sphären, aus dem Suchen des Unvergänglichen im Vergänglichen entsteht. Er hat nun nicht die Klarheit, welche jeder leidenschaftliche Charakter an sich trägt, und das Schicksal erscheint nicht als eine blinde Gewalt. Sogar er selbst, und dies tut eine erstaunliche Wirkung, sieht bei jedem Schritt klar vor Augen, was er tut; kennt sein Unrecht und seine Gefahr. Aber er hat sich selbst, und wieder durch das übermütige Gefühl seiner Größe verführt, nach und nach unlösbar verstrickt. Dadurch haben Sie Ihr Stück den griechischen sehr nahe gebracht, wie es überhaupt durch die schöne und weise Mäßigung, die neben der vollen Stärke darin herrscht, und durch die vollendete Reife, trotz seines offenbar modernen Charakters, dem antiken schlechterdings nicht untreu ist.

Ich habe Wallensteins öfteres unschlüssiges Zaudern tadeln hören; mir aber ist es sehr richtig berechnet vorgekommen. Es ist immer nur zugleich die Folge seiner edelmütigen Scheu vor dem Unrecht und des Gefühls von Kraft, mit dem er nie von den Umständen und dem Augenblick abzuhängen glaubt. Daß Wallenstein schnell handeln kann, wo es nur darauf ankommt zu handeln, daran kann niemand zweifeln; daß er zögert, wo er sich zu einer ganzen Reihe von Entschlüssen bestimmen soll, ist in einem nicht affektvollen, ja kaum einmal leidenschaftlichen Charakter, in einem Menschen, der nur ein einziges tiefes Streben, an dem für ihn alles hängt, kennt und an sich grübelnder Gemütsstimmung ist, natürlich. Der Tadel rührt wohl nur daher, daß die Tadler, wie Illo und Terzky, von der Größe dessen, was er sucht, eigentlich keinen Begriff haben. Er will keine gemeine Empörung, keine gemeine Usurpation, er macht sich – und das ist gerade sein Unglück – kein Blendwerk, er sieht nur zu klar, was rein und edel und was alltäglich ist. Er will das Größeste und Außerordentlichste in Wirklichkeit darstellen und greift darum nach einer Königskrone; aber indem er die Hand ausstreckt, fühlt er, daß sie kein Stoff ist, in dem sein Gepräge sich ausdrückt. Darum hat er kein bestimmtes Verlangen, keinen reinen Entschluß. Unglückdrohende Gestirne entfernen nicht sein Handeln von dem entscheidenden Moment, sondern er sucht nur einen Vorwand am Himmel für das unschlüssige Zögern in seiner Brust. Er fühlt wohl, daß, was er will, über die Kräfte der Natur hinausgeht, und in der Unruhe, die ihn umtreibt, geben ihm die unverständlichen Geheimnisse einer schimärischen Kunst eine scheinbare Befriedigung. Doch ist es mir, besonders bei ein paar Stellen, vorgekommen, als hätten Sie von dieser Neigung zur Sterndeuterei einen etwas sparsameren Gebrauch machen können.

Die Zeichnung des Charakters Theklas hat mir durchaus eigentümlich geschienen. So ganz Natur und so bloß die Natur, ist mir nicht nur bei Ihnen, sondern überhaupt nichts vorgekommen. Es ist die volle und reine Kraft der Liebe, die in diesem Busen waltet und ihr diese Freiheit, diese Stärke und diese Besonnenheit gibt. Das Eigne Ihrer Behandlung liegt in der Strenge, mit der Sie, ich sage nicht bloß alles überflüssige, sondern auch alles, was nur mehr täte, als den Charakter zu zeigen, zurückgewiesen haben. Nur Sparsamkeit, nur sogar scheinbare Kälte in den Äußerungen läßt in die Tiefe sehen und in die Tiefe wirken. Thekla ist gerade nur so weiblich, als es ein Weib sein muß; sie ist nur so Geliebte und Tochter; sie ist, ehe sie das alles ist, und außerdem sie selbst, und kennt nur sich und ihre Bestimmung. »Ich kann's ihr nicht ersparen,« sagt sie, und mit der Sicherheit, welche der tiefe Ernst der Empfindung immer gibt, folgt sie ihrer Bahn und verläßt ihre Mutter.

Wie Goethes Iphigenia und Ihre Thekla, so weist kein alter und kein moderner Dichter einen dritten Charakter auf. Der Platz, den Thekla einnimmt, macht, daß sie noch ernster und feierlicher auftritt.Diese Parallele und Humboldts Urteil über Schillers Thekla erscheinen uns unverständlich. Die Natur erscheint größer und tiefer in ihr, weil sie sich weniger ausspricht und von einer heldenmäßigeren Leidenschaft beseelt ist.

Die Achtung ihres Vaters gegen sie wirft ein schönes Licht auf ihn selbst zurück. Es scheint mir meisterhaft, daß Sie diesen einzigen Zug aufgespart haben, ihn vor unsern Augen an die Seinigen zu knüpfen.

Eine ganze Masse von Menschen, und zwar als einen einzelnen Charakter, in einem Stück aufzuführen, wie Sie in den Pappenheimern getan haben, ist unleugbar neu, aber von der größesten Wirkung. Es ist das einzige Menschlich-Große, was sich aus der wilden Masse des Heers hervorhebt, es gibt dem Entschluß Maxens ein entscheidenderes Gewicht, vermehrt den Drang und das Schauderhafte seines Abtretens, und die Treue dieser Menschen gegen ihren Führer schließt sich wunderbar schön an die Treue der Liebe in Thekla an. Die gerechte Sache gewinnt durch diese Menge nicht nur mehr Masse, sondern auch durch ihren Edelsinn die Würde wieder, die sie durch die listige Art, wie man sie zu retten sucht, zu verlieren Gefahr läuft. Maxens und Theklas Gemütsstimmung, der furchtbare Entschluß, lieber ihr Leben aufzugeben als das Recht ihrer Empfindungen, verliert das schimärische Ansehn, in das alles Idealische leicht verfliegt, indem eine ungebildete und rohe Menge aus freier Wahl die gleichen Gefühle und das gleiche Schicksal teilt. Diese Pappenheimer – unzertrennlich und durch das edelste Band, durch gleichen Sinn für Recht und Treue, mit Max und Thekla verbunden – bleiben nun auch das einzige, worauf in der größesten Zerrüttung, im äußersten Entsetzen der Blick sich heftet, und worauf verweilend das Gemüt wieder Ruhe gewinnt. Einen würdigeren Anteil hat nie ein Dichter einer Volksmasse an einer tragischen Handlung gegeben.

Überhaupt aber sind Ihre drei Stücke dadurch durchaus neuer Gattung, daß, um eine einzelne Erscheinung in einem einzigen Menschen anschaulich zu machen, Sie den Blick durch ganze große Massen hindurch führen mußten. Wallenstein erschien schlechterdings nur als ein Vermeßner, wenn man nicht durch das ganze Heer, vom Gemeinen bis zum General, die Gründe des Vertrauens sah, das er haben konnte, dasselbe nach seinem Willen zu führen.

Daß Sie die Herzogin, die in den wenigen Malen ihres Erscheinens eine so treffliche Wirkung tut, nicht mehr zeigen, scheint mir sehr zweckmäßig. Ihr Schicksal, bei ihrem Charakter, hätte zuletzt nur ohne allen Ersatz das Gemüt des Zuschauers schmerzhaft zerrissen, wenn Sie ihr mehr Anteil an der Handlung verstattet hätten.

Buttlers Charakter ist poetisch vollkommen gerechtfertigt. Er ist ein roher Mensch, aber von ungemeiner Kraft und von ungemeiner Reizbarkeit für den Begriff der Ehre, in dem er wahre Begriffe und Begriffe des Vorurteils mischt, dabei tief und versteckt leidenschaftlich. Er glaubt sein Ehrgefühl vom Kaiser beleidigt und verläßt ihn aus Rache; er sieht, daß ihn Wallenstein gemißbraucht hat, und seine Rachsucht wechselt jetzt nur den Gegenstand. Dennoch kann ich nicht leugnen, daß mir dieser Buttler der Stein des Anstoßes im Wallenstein ist. Der Teil des Plans, auf dem gar nicht hauptsächlich – denn Wallenstein ist immer, auch ohne das, dem Tode geweiht, und Sie konnten gewiß mancherlei Wege wählen –, aber nach der Art, die Sie ergriffen haben, die Katastrophe beruht, befriedigt mich nicht ganz. Buttler ist allerdings ein taugliches Subjekt, jemand unwiederbringlich dem Tode zu überliefern. Allein seine Umänderung von Wallenstein wider ihn ist mir zu schnell, und der Erfolg nachher, bei seinem doppelten Betragen zu leicht. Allerdings ist seine Umänderung motiviert, und das hinlänglich, aber auf eine Art, die nicht allen Verdacht der Willkür des Dichters ausschließt, und ob ich schon sonst nicht gleich den Stab über alle Motive dieser Gattung brechen möchte, so sind diese Ihre Stücke doch übrigens davon frei. Eine Treulosigkeit, wie Wallenstein hier an Buttler begeht, ist einem nicht bloß nicht lieb, sondern auch an Wallenstein fremd, und der Gedanke, daß dieser Kunstgriff einmal das einzige Mittel war, sich Buttlers zu vergewissern, nicht hinlänglich befriedigend.

Sei indes dieser Tadel auch ungegründet, so hätte ich doch gewünscht, Buttler wäre weniger in den beiden letzten Akten auf dem Theater geschäftig. Ein Charakter, wie der seinige – die unerbittliche Härte der Erinnyen, ohne ihre innere Gerechtigkeit, aber mit dem Scheine des äußeren Rechts – ist der furchtbarste Anblick, den man sich denken kann; so wenig ich auch eine solche Gestalt aus der Tragödie verbannen wollte, so möchte ich es doch dem Zuschauer ersparen, sie lange zu sehen. Auch die Szene mit den Mördern hätte ich weggelassen oder beträchtlich abgekürzt.

Dagegen tut Gordon eine vortreffliche Wirkung. Seine Weichmütigkeit gibt diesen letzten Szenen eine sanftere Rührung, und seine bescheidene Mäßigung bereitet uns nach und nach darauf vor, daß eine so furchtbar aufstrebende Macht wie Wallenstein notwendig und mit Recht in Nichts zerfallen muß.

Über die Eigentümlichkeit Ihres Dichtergenies, worüber wir oft miteinander sprachen, glaube ich durch den Wallenstein nunmehr fast genügende Aufschlüsse erhalten zu haben. Man hat Ihnen immer eine vorzügliche tragische Stärke eingeräumt, man hat in allen Ihren Produkten wahrhaft dichterische Gewalt über die Empfindung und erhabne Größe der Gedanken erkannt, man hat Ihnen ebensowenig Zartheit und Weichheit abgesprochen, und selbst der Ausdruck des Naiven ist Ihnen sehr gut gelungen. Wenn man tadelte, so war es, weil man Sie manchmal mehr ungeheuer als groß zu finden glaubte, weil man Ungleichheiten, Höhen und Tiefen dicht beieinander bemerkte, endlich weil man, welche Wirkung auch Ihre dichterischen Gestalten ganz unleugbar ausübten, doch – gleichsam selbst über diese Wirkung erstaunend – nicht immer in Ihnen die wahre Natur erkannte. Jetzt glaube ich deutlich zu sehen, daß dieser Tadel größtenteils nur daher entstand, daß, weil Sie selbst sich noch nicht durchaus rein entwickelt hatten, auch der nicht verwerfliche Zuschauer Sie nicht klar ins Auge fassen konnte.

Denn das, dünkt mich, ist der Unterschied zwischen Ihren neuesten Stücken und den älteren, daß derselbe Charakter in jenen weniger ausgearbeitet – aber ebendarum vielleicht auch stärker und frischer –, in diesen fast vollendet erscheint.

Worin sich also Tadel und Lob bei Ihnen vereinigten, das kommt auf ein Übergewicht der Subjektivität über die Objektivität hinaus, man mochte es nun mißbilligend als Mangel an Naturwahrheit verstehen oder nur, Ihre Eigentümlichkeit bestimmend, als einen ungewöhnlichen Prozeß, durch den Sie dieselbe, wo Sie sie nicht aus der ersten Hand empfingen, durch sich selbst gleichsam wiederherstellten.

Daß die Gewalt der eignen und inneren Richtung mehr über Sie vermag als der äußere Eindruck, ist mir ungezweifelt. Vielleicht auf niemand, als auf Sie, üben Ideen eine so gewisse und ausschließende Kraft aus; nur wenige Menschen sind in dem Grade gerecht, nur äußerst wenige in so großem Verstande gütig, und nur bei den seltensten kann man so sehr auf unverbrüchliche Treue rechnen, wenn man einen Platz in Ihren Ideen gewonnen hat. Verzeihen Sie diesen Rückblick auf Ihren Charakter, lieber Freund; aber Ihre Stücke haben mich ebensosehr zu Ihnen selbst als zu den großen Bildern hingezogen, die Sie zurücklassen.

Dennoch hat man höchst unrecht getan, wenn man Sie mehr zum Denker bestimmt glaubte, oder wenn man – denn wohin hat sich nicht das Urteil verirrt? – in Ihnen eine Vereinigung dichterischer und philosophischer Anlagen, die jede einzeln schwächte, zu sehen glaubte. Ihre Natur hat offenbar eine völlig bestimmte Richtung, und diese ist so rein dichterisch, als es vielleicht je eine gegeben hat.

Das Übergewicht, das Sie (meiner Meinung nach) in der Tat charakterisiert, liegt in der Einbildungskraft selbst, es ist das der Kraft ihres fortschreitenden Strebens über das verweilende Vergnügen an der Ausbildung des erzeugten Stoffs. Das Feuer der Ihrigen entzündet sich unaufhörlich von neuem durch eigne Reibung. Sie mögen Gegenstände oder Empfindungen schildern, so stellen sich dieselben bei Ihnen nicht wie freiwillig und durch gegenseitige Entwicklung aneinander. Eine unverkennbare Kraft führt sie herbei, stellt sie zusammen oder strömt sie, wie aus einer unbekannten Quelle, aus. Denn man sieht nirgends, woher diese Kraft nun stammt, sie hat keinen erklärbaren Entstehungsgrund und keine erkennbare Absicht – und darin gerade liegt das Dichterische in ihr.

Obgleich alles in uns nur Folge, und obgleich kein Mensch etwas anders ist als sein unteilbares Wirken im gegenwärtigen Augenblick, so heftet doch die Einbildungskraft die flüchtigen Erscheinungen auch räumlich nebeneinander und macht dadurch ebensowohl ein gleichzeitiges Überschauen als ein vorübergehendes Mustern möglich. Es gibt daher auch Menschen, die, mit heftigerer Bewegung, das Neue ergreifen, das sich in ihnen erzeugt, und andre, die, verweilender, mehr den Zusammenhang beachten, an dem es sich abwickelt.

In Ihrer Einbildungskraft ist das beflügelte Forteilen der Zeit hervorstechend vor der Rückwirkung des erzeugten Stoffs. In jedem Augenblick taucht ein Gegenstand auf; in ihn ist das Vorige, das, als vergangen, schlechterdings hinter uns liegt, verschmolzen, und in dem Dunkel, das ihn noch drückt, liegt das Folgende verhüllt. Jeder Schritt ist eine neue Kraftentwicklung, die, je nachdem Sie der Gegenstand führt, pathetisch, als schmerzhaftes Erzeugen, oder so erhaben, daß darin alles Pathetische verschwindet, als freies Ausströmen der Überfülle erscheint. Darum üben Ihre Produkte eine größere Gewalt aus; darum haben sie nicht das sich immer in jedem Augenblick wiederherstellende Gleichgewicht, aber im ganzen, wenn nun in dem letzten Punkt die ganze Reihe wieder aufblitzt, gleich schöne Ebenmaß, gleich volle Harmonie; darum erscheint das Einzelne minder freiwillig und zufällig, aber das Ganze gehört keiner Absicht an. Jeder Ring der Kette ist schnurgerade nach dem Gewichte gesenkt, das sie zieht; aber das Gewicht ist unsichtbar wie der Ring, an dem ihr erstes Glied hängt. Die Folge von Bildern, die uns beschäftigt, stammt aus der bewegten Menschennatur, sie eilt nach der Auflösung dieser Bewegung hin, die sich aber, ohne jemals erreicht zu werden, nur in der Unendlichkeit verliert – mehr fühlen wir nicht.

Jede Dichtung bildet auf einem gewissen Grade der Höhe einen vollendeten Kreis um sich. Die Dichtung der Alten und die doch gleich originelle Goethes tun es nach und nach; sie erweitern sich vom Mittelpunkt aus, der Gegenstand wirkt in die Ferne, die Ferne auf ihn zurück. Sie folgen pfeilgerade einer Richtung, und erst dann schlägt sich der Kreis um den Leser, wann derselbe in dieser Richtung plötzlich angehalten und durch diese Stockung sich selbst wiedergegeben wird. So ist es offenbar im Wallenstein. Ehe Wallenstein fällt, reißt nur er uns fort; ist er gefallen, so wendet sich der Blick zurück und zur Seite, die mannigfaltigen Bahnen der Menschheit, wohin ihr inneres Streben sie reißt, wohin ihr äußeres Glück sie einladet – liegen offen da. So ist es auch in den lyrischsten Ihrer Produkte, der Freigeisterei der Leidenschaft und der Resignation.

Dem dichterisch bewegten Gemüt offenbart sich notwendig das Höchste, das es zu fassen vermag, und hier zeigt sich eine neue Verschiedenheit der Ansichten und der Köpfe. In Ihnen entscheidet hier wieder die innere, rein aus sich selbst schaffende Kraft; diese bricht durch und macht sich Licht. Daher ist immer Klarheit in Ihnen, nicht die stille und ruhige, die aus der Ordnung entsteht, in der sich die Gegenstände selbst freiwillig lagern, sondern eine mächtige, neben und über einem scheinbar verwirrenden Getümmel und selbst hervorgehend aus der Kraft seiner Reibung. Ebendaher ist auch das Letzte in Ihnen nie der Stoff, nie das unmittelbare Leben, sondern der Gedanke, der Geist, der darin, verstanden oder unverstanden, waltet.

Das Letzte, worauf die Dichtkunst führt, ist immer, wie sie selbst, etwas Unauflösbares, Unerklärbares; es kommt nur darauf an, wo man den Knoten faßt, ob näher, in der Erscheinung selbst, oder weiterhin in ihrem rätselähnlichen Sinn. Zu dem letzteren gehört natürlich eine höhere Kraft des Geistes. Denn wenn man eine Erscheinung in Gedanken, in ihre Bedeutung, auflöst, so ist, unmittelbar, alles klar und verständlich, und man muß erst den Gedanken wieder in die Tiefe verfolgen, um auf das Dunkel zu stoßen, das nun kein Licht weiter aufhellt, weil es die rein vorgelegte Aufgabe des Menschendaseins ist, die aufzulösen man sich selbst überspringen müßte.

Dahin nun gelangen Sie, wie jeder echte Dichter, immer; aber Sie wissen auf diesem Punkt einen Bund zwischen der Einbildungkraft und der Vernunft zu schließen, durch den es erscheint, daß nicht das Vermögen der Sinne, sondern die Kraft des Gedankens durch die Phantasie, auf einem ihm unbekannten Wege zu einem Ziel geführt werde, das ihm allein unerreichbar gewesen sein würde. Sie zeigen die Unendlichkeit, indem Sie geradezu die Kraft wecken, deren Wesen es ist, der Unendlichkeit nachzustreben, und überraschen uns, indem Sie es durchaus als Dichter (allein durch Phantasie) tun, was in Ihnen ein außerordentliches Vermögen voraussetzt und in uns eine ungewöhnliche Bewegung hervorbringt.

Diesem Streben, auch dem Dunkel noch Funken des Lichts abzugewinnen, haben Sie die lyrisch-didaktische Gattung zu danken, die Ihnen allein angehört. Man hat Sie in diesen Stücken manchmal getadelt, einen zu schwer philosophischen Stoff gewählt zu haben. Aber es gibt entweder gar keine didaktische Dichtkunst, oder sie hat nur da Gültigkeit, wo nur noch die Einbildungskraft, nicht aber der argumentierende Verstand weiter vordringen kann. Wenn ich mich verständlich genug ausgedrückt habe, so werden Sie sehen, lieber Freund, daß ich Sie nicht auf eine Gattung, ja nicht einmal auf einen Stil beschränke. Zwar glaube ich sicherlich, daß die dramatische Gattung immer diejenige sein wird, in der Sie sich am leichtesten und reinsten zeigen werden; allein auch die epische, deren sinnliche Klarheit und nur zum Beschauen einladende Ruhe so sehr von dem Gange, den ich in Ihrer Einbildungskraft zu sehen glaube, abweicht, würde Ihnen und gleich gut gelingen. Sie würden, nur auf anderm Wege, zu den gleichen Resultaten kommen und aus der Stimmung des Lesers, die, innerhalb derselben Grenzen, einer großen Mannigfaltigkeit von Abstufungen fähig ist, eine andre Tönung geben. Dann aber erlaubt Ihnen auch Ihr Charakter bei weitem mehr, fast jede Eigentümlichkeit andrer nachzubilden. Er hat weniger als andre Naturschranken und verstattet Ihnen mehr Freiheit.

Von andern Dichtern – denn man kann es nicht vermeiden, Vergleichungen anzustellen – kann ich nur Goethe und Shakespeare mit Ihnen vergleichen. Alle andern stehen zu weit von Ihnen entfernt, sollten sie auch gleiche Dichterstärke mit Ihnen besitzen. Der Alten erwähne ich hier nicht.

Mit Goethe teilen Sie, genauer als sonst wohl zwei Dichter, den ganzen Umfang der Dichtkunst in Absicht auf den Stil. Der Gang seiner Einbildungskraft ist von dem der Ihrigen gänzlich verschieden. Er führt die Erscheinungen des Lebens anders ein, er legt sie anders an unser Herz, er erhebt anders zur geistigen Betrachtung. Auch wo er selbst schafft, scheint er noch zu empfangen; er erscheint fast immer mehr um sich schauend und bloß aussprechend, was er sah, als in sich arbeitend und forteilend. Er kann nicht mehr Objektivität haben als Sie, denn man kann Ihnen hierin keinen Vorwurf machen, nicht mehr Wahrheit, nicht mehr Leben. Aber er hat es auf eine andre Weise, und seine Dichtung steht dem Menschen im ganzen vielleicht näher.

Er bleibt mehr innerhalb der Grenzen der bloß empfindenden, leidenden oder genießenden Menschheit stehen, er wendet sich an eben diesen Teil unsres Ichs, und darum vorzüglich hat er keine höhere, aber eine andre Wahrheit und Wärme. Er weiß aus diesen Schranken hinaus gleich gut auf das Höchste zu gehen; aber er hat nicht dieselbe Raschheit der Bewegung, nicht dasselbe Drängen der Erscheinungen, und erschüttert wohl gleich tief, aber minder heftig. Er wirkt mehr von außen, Sie mehr von innen auf den Menschen; man kommt auf beiderlei Weise zum Ziel, aber man fühlt bei Ihnen die eigne innre Kraft höher angestrengt. Sie wirken stärker auf den selbsttätigen Teil des Menschen, den Sie unwiderstehlich bestimmen; er macht wenigstens die Notwendigkeit des Wirkens desselben minder sichtbar, weil er zuerst und unmittelbar den anschauenden und empfindenden stimmt.

Es ist schwer, unter Goethes Werken etwas dem Wallenstein in Absicht des Sujets Ähnliches zu finden. Doch bietet Götz von Berlichingens Unternehmung, sich aus gemeinnützigen Absichten der Gewalt des Kaisers zu widersetzen, einige Ähnlichkeit mit Wallenstein, und weit mehr der Charakter seiner Frau mit dem der Herzogin dar. Solche Charaktere so lang, so nah, so in verschiedenen Lagen zu zeigen, als Goethe getan hat, wäre Ihnen, glaube ich, ebenso unmöglich gewesen als Goethen Ihr Wallenstein oder Ihr Max. Am meisten berühren Sie sich wohl noch in Thekla. Aber ich weiß nicht, ob es Goethen möglich gewesen wäre, sie vorzüglich durch das zu zeigen, was ihre hohe und reine Natur von sich ausstößt, wodurch Sie ihr gerade die Größe und eine tief erschütternde Wahrheit gegeben haben. Zeigten Sie sie mehr positiv, so erschütterte sie weniger, als sie rührte. Doch ist es gerade das, was Goethe immer tut. Auch seine einfachsten Charaktere läßt er viel sehen, zeigt nicht bloß sie im Leben, sondern (möchte ich sagen) auch das Leben an ihnen. So im Götz, so Klärchen im Egmont, so Gretchen im Faust und selbst Iphigenia. Daher haben seine Gestalten eine gewisse Weichheit und Lebenswärme vor den Ihrigen voraus, aber die Ihrigen dafür eine mehr imponierende Größe, gerade durch die sichtbarere Bestimmtheit der Umrisse eine höhere Kraft, das Gemüt, sogleich nach vollendetem Effekt, zum weiteren Fortwirken zu bestimmen.

Shakespeare hat, wenn mich nicht alles trügt, dieselbe Richtung der Einbildungskraft gehabt als Sie; er ist nur auf einem Punkt stehen geblieben, über den Sie hinausgehen, und dadurch hat er Vorzüge vor Ihnen, aber auch Nachteile. In der erschütternden Schilderung des Lebens halte ich ihn für unerreichbar. Er faßt unmittelbar die Erscheinung, bleibt bei ihr stehen und hält uns bei ihr fest; er hat nun alles Furchtbare, alles Düstre und Trostlose, was das Ringen des Menschen mit dem Schicksal immer mit sich führt, wo man keinen Blick darüber hinauswirft; aber er hat auch die ganze Sinnlichkeit, die ganze Größe, die ganze Wahrheit der unmittelbaren Wirklichkeit. Für Shakespeare aber, wie für die Alten, macht noch etwas anders den Streit mit den Neueren ungleich. In dieser Entfernung der Zeit sehen wir in ihnen mehr als ihre Werke – sie selbst; und einen Geist, wie den Shakespeareschen, mit den Fesseln und der Dunkelheit seines Jahrhunderts ringen zu sehen, erschüttert das Gemüt schon an und für sich. Die hohe Klarheit, den reinen Überblick über Menschheit und Schicksal kann Shakespeare nicht gewähren, die Kunstvollendung, die ihm fehlt, noch abgerechnet.

Nachdem Sie im Wallenstein zwar einen wenig für sich dichterischen, aber weitumfassenden Stoff bearbeitet haben, wünschte ich Sie wohl in einem Stücke zu sehen, bei dem nur ein einzelner Punkt des Menschen, eine einzige Leidenschaft im Spiele wäre. Ein solches Stück – wie z.B. Othello ist – muß noch gewaltsamer die Brust durchwühlen, und es wäre höchst interessant zu sehen, welche Auflösung eine Bearbeitung auf Ihre Weise dem Gemüt geben würde. Auch auf Ihre Maria Stuart bin ich äußerst begierig. Dem Sujet nach zu urteilen, müssen Sie sie mehr ins Rührende und Elegische hinein behandelt haben.

Eine merkwürdige Eigentümlichkeit bietet noch, dünkt mich, die Art dar, wie Sie die Sprache behandeln, das Verhältnis, in dem Sie zu ihr stehen. Da Sie weniger Verwandtschaft mit den bildenden Künsten besitzen, so bleiben Sie strenger bei dem, was der Dichtkunst ausschließend angehört. Da Sie nicht gerade vorzugsweise die Beschauungskraft Ihres Lesers bei einem, nur mit Hilfe der Sprache geschilderten Gegenstand verweilen, so halten Sie sich mehr an diejenige sinnliche Wirkung, welche die Sprache, als vom Menschen stammend und mit allem in ihm verwandt, auf sein Denken und Empfinden, mithin auf sein Vorstellen überhaupt ausübt. Sie behandeln diese weniger als ein Mittel, einen Gegenstand (dem Sie hauptsächlich das Gelingen Ihrer Wirkung anvertrauten) zu zeigen, sondern bei weitem mehr als ein Erzeugnis des menschlichen Geists, wodurch er sich das ihm Fremde menschlich aneignet, und durch dessen zweckmäßigen Gebrauch er bestimmt werden kann, eine Reihe von Anschauungen und Empfindungen aus sich selbst zu entwickeln.

Die Sprache stellt offenbar unsre ganze geistige Tätigkeit subjektiv (nach der Art unsres Verfahrens) dar; aber sie erzeugt auch zugleich die Gegenstände, insofern sie Objekte unsres Denkens sind. Denn ihre Elemente machen die Abschnitte in unserm Vorstellen, das, ohne sie, in einer verwirrenden Reihe fortgehen würde. Sie sind die sinnlichen Zeichen, woran wir die verschiedenen Zonen der einzelnen Gegenstände bestimmen, und wodurch wir (um alle falsche Vorstellung eines räumlichen Stoffs zu vermeiden) gewisse Portionen unsres Denkens zu Einheiten machen, die sich zu andern Zusammensetzungen und Verrichtungen brauchen lassen. Die Sprache ist daher, wenn nicht überhaupt, doch wenigstens sinnlich das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet, oder vielmehr seiner dadurch bewußt wird, daß er eine Welt von sich abscheidet.

Sie übt aber auf die Art unsres Denkens einen andern, gleich wichtigen Einfluß aus. Die Analogie ihrer Bildung, die sie eigentlich zu einer Sprache und zu dieser oder jener bestimmten macht, verbindet jeden einzelnen Teil in ihr aufs festeste mit allen übrigen, und denken wir uns diese sehr groß oder nehmen wir unsern Sinn für sie sehr geschärft an, so wirkt der Teil gerade ebenso auf uns als das Ganze. Die Sprache wirkt daher nicht bloß wie ein Gemälde durch ein Zusammennehmen der nebeneinanderstehenden Partien, sondern zugleich und sogar hauptsächlich wie eine Musik, in welcher die vergangnen und noch folgenden Töne nur dadurch in dem gegenwärtigen mitwirken, daß sie ihn verstärken und brauchen. Eben das nun ist auch der Fall mit unsrer geistigen Tätigkeit. Das Vergangne ist vergangen, das jetzt Tätige ist nur die durch alle bisherige Übung gestärkte und zu dieser Tätigkeit in diesem Augenblick bestimmte Kraft. Da wir aber die Sprache selbst und nur nach und nach und nur für und durch unser Denken mühsam gebildet haben (ein Fall, in dem sich jeder befindet, dem Wörter mehr als leerer Schall sind, da jedes echte Verstehen ein neues Prägen von Ausdrücken ist), so bringt uns die Sprache unaufhörlich die Arbeit unsres Geistes, und zwar in lauter bis auf einen gewissen Punkt gelungenen, aber immer nur halb vollendeten Versuchen zurück, die also auch immerfort zum weiteren Fortarbeiten zugleich Stimmung und Leitung gewähren.

Das nun ist es, was ich die eigentliche Kraft der Sprache nennen möchte, ihre Fähigkeit, den Trieb und die Kraft zu erhöhen, immerfort – wie Sie es nennen wollen – mehr Welt mit sich zu verknüpfen oder aus sich zu entwickeln. Indes ist auch so das Resultat ihres Wirkens nur auf dem Wege zum Ziele, nicht an diesem selbst ausgedrückt. Es kommt nicht auf mehr oder weniger, nicht auf Reichtum des Besitzes, sondern auf die Stärke der Kraft an. Alle unsre Endlichkeit rührt daher, daß wir uns nicht unmittelbar durch und an uns selbst, sondern nur in dem Entgegensetzen eines andren erkennen können, besteht in einem ewigen Trennen unsres Wesens in einzelne Kräfte, der Welt in einzelne Gegenstände, der Menschheit in einzelne Menschen, des Daseins in vorübergehende Zeiten. Da diese Endlichkeit nicht in der Tat aufgehoben werden kann, so muß sie es in der Idee; da es nicht auf göttliche Weise geschehen kann, muß es auf menschliche. Des Menschen Wesen aber ist, sich zu erkennen in einem andern; daraus entspringt sein Bedürfnis und seine Liebe. Das einzige, was daher übrigbleibt, ist alle zu irgendeiner Zeit und auf irgendeine Weise erlangte Stärke und jegliche Richtung der inneren Kraft so eng in einen Augenblick zu versammeln, daß, da einmal keiner erscheinen kann, in dem sie unendlich und in Verschmelzung mit einem unendlichen Objekt wirke, sie doch immer einen ereile, in dem es voller, an einem größeren Objekt und in innigerer Berührung mit ihm geschehe. Dahin aber zu gelangen, ist die Sprache das einzige sinnliche und – als aus der innersten Menschheit stammend und nur in ihr möglich – menschliche Mittel; zu diesem Zweck muß man sie brauchen und tauglich machen. Daß man aber die Bestimmung des Menschen so festsetze und sie weder in einer Wirkung, noch in der ganzen Menschheit noch in der Dauer eines ganzen Daseins suche, scheint mir notwendig. Wer dies letztere tut, sieht den, für den er doch sorgen will, mehr oder weniger als ein Werkzeug zu fremden Zwecken an. Ein fühlendes und wirkendes Wesen kann die höchste Befriedigung nur in eigener Tat und nur in einem ungeteilten Augenblick, in der Gegenwart finden. Die Zukunft erinnert an Bedürfnis, und die Erinnerung der Vergangenheit ist wehmütig oder kalt.

In dies Geschäft, die Sprache diesem höheren Bildungszweck zuzuführen, greift nun geradezu (und zwar allein unter allen Künsten) die Dichtkunst ein, wenn diese nämlich ihrem Endzweck vollkommene Genüge leistet. Denn alsdann bestimmt sie die Sprachfähigkeit (d. i. die Fähigkeit, innere Gedanken und Empfindungen und äußere Gegenstände vermöge eines sinnlichen Mediums, das zugleich Werk des Menschen und Ausdruck der Welt ist, gegenseitig auseinander zu erzeugen, oder vielmehr seiner selbst, indem man sie in beide teilt, klar zu werden), diese Fähigkeit bestimmt sie, tätig und allein den Gesetzen der Einbildungskraft gemäß tätig zu sein. Indem sie also den Menschen nötigt, künstlerisch zu wirken, nötigt sie ihn zugleich, nicht nur mit seiner ganzen Menschheit (denn das tut alle Kunst), sondern auch gerade auf die einzige Weise zu wirken, auf welche der Mensch vor sich selbst klar werden, und da von dieser Klarheit alle Ausbildung abhängt, auf welche er sich ausbilden kann.

Wer die Dichtkunst anders behandelt, und leider geschieht dies nur zu oft, der verwandelt sie bloß in eine Malerei und Musik durch Sprache oder in ein Räsonnement durch Bilder und erkauft einen größeren Umfang der Kunst durch einen beträchtlichen Verlust an Stärke. Um bis auf jenen eigentlichen Punkt zu gelangen, muß man, außer dem Künstler, zugleich in hohem Verstande Mensch sein, und da nun neue mächtige Kräfte beschworen und bewegt werden, so gehört wieder mehr Künstlergewalt dazu, diese der Einbildungskraft zu unterwerfen. Da es aber in jenem Punkt durchaus darauf ankommt, daß der Mensch sich im ganzen verstehe und bilde, so rückt man dem Ziele näher, je mehr sentimentalen und philosophischen Gehalt man den Werken der Dichtkunst gibt, oder vielmehr, je mehr man die Kräfte des Menschen gerade aus dem Punkte bewegt, von dem aus sich alle auf einmal aus der Stelle heben lassen. Darum hat unter allen Künsten wenigstens die Dichtkunst gewiß Fortschritte gemacht. Denn wenn gleich die Alten mehr sinnliche Schönheit der Sprache besitzen, so hat unsere Sprache – vermöge des Fortrückens der Menschheit überhaupt – eine feinere intellektuelle Ausbildung und eine den Menschen tiefer und innerlicher bewegende Kraft. Wo in Absicht der Kunst überhaupt die Alten unleugbar voranstehen, finden wir bei der wahren Eigentümlichkeit der Dichtkunst aufs mindeste Ersatz.

Allein auch bei gleich richtiger Behandlung der Sprache kann man dieselbe mehr als Gegenstände malend und Empfindungen ausdrückend brauchen und mehr (indem sie dasselbe tut) wie ein bloßes Vehikel der Kraft, die, Anschauungen und Empfindungen auffassend, nur ihrer Tätigkeit Luft und Bahn sucht; das letztere scheint mir in Ihnen, vorzüglich in Vergleichung mit Goethe, charakteristisch. Bei gleichem Ziel und gleichen Resultaten ist es ein wichtiger Unterschied, von welcher Seite man ausgeht, und in der Sprache vereinigt sich einmal die Welt, die sie darstellt, und der Mensch, der sie schafft. Sollte nicht Goethe mehr jene im Auge haben, nicht gleichsam seine anschauende und empfindende Kraft mit seiner ausdrückenden messen, darin oft ringen und das Werkzeug anklagen, das er gebrauchen muß, die Sache – gerade darum, weil er eine mehr auf Anschauung gehende Stimmung hat – mehr und deutlicher von demselben trennen? Sollten Sie hingegen – mit einer subjektiveren Stimmung – nicht mehr die Richtung, die Bahn überhaupt, als den einzelnen Gegenstand verfolgen, mehr seine Beziehung auf den Menschen (sein Abstammen aus ihm und sein Rückwirken auf ihn) als ihn selbst und getrennt ins Auge fassen; sollte darum der Ausdruck nicht ihn freiwilliger hervorrufen, und sollten Sie nicht seltener die Sprache der Armut beschuldigen, ja sie weniger abgesondert von der Sache betrachten? Wenigstens scheint mir Goethes Sprache da, wo sie auf seine Weise (denn ich übergehe bei Ihnen beiden allgemeine Vorzüge) schön ist, sich vorzüglich durch die Reinheit des Maßes auszuzeichnen, in dem jeder Ausdruck die volle Sache, sie ganz und nichts als sie gibt. Wo es die Ihrige ist, da bewundere ich ein reiches und prächtiges Fortrollen der Ausdrücke, das uns mit sich fortreißt, jedes Bild, jede Empfindung bestimmt (aber nur das) hervorruft und vor der folgenden wieder verlöscht. Sie haben beide auch im Stil, und ich glaube, in gleichem Grade das Verdienst, genau den Punkt zu treffen, in dem Objektivität und Subjektivität sich streng die Wage halten müssen. Insofern es aber der Sprache ausschließend zugehört, nicht bloß Zeichen eines Gegenstandes zu sein, sondern diesen dem Menschen durch Verständlichkeit näher zu bringen, behandeln Sie sie mehr ihrer Eigentümlichkeit gemäß und die Dichtkunst mehr wie eine redende Kunst – als von der Seite, wo sie der bildenden verwandt ist.

An Schlabrendorf.

Berlin, 13. Juli 1801.

... Heimisch bin ich hier noch nicht geworden, und vielleicht dauert es, ehe ich es werde. In Paris machte ich einen Staat im Staat aus und brauchte mich nicht mit dem Ort, ja kaum mit den Menschen zu amalgamieren. In der Vaterstadt ist das immer etwas anders. Doch bin ich für diesen Winter wenigstens nicht für eine stille häuslich-zufriedene Existenz besorgt. Wir werden in Tegel leben, der Schnee wird den lästigen Besuch von uns abwehren; wir werden nur den angenehmeren behalten oder allen entbehren. Dann wird uns freilich immer Ihr lieber Besuch fehlen, dem wir jeden Abend so gern entgegensahen; wir werden uns oft danach sehnen; aber wir werden die Sehnsucht durch Pläne täuschen, bald wieder in Ihrer Nähe zu sein, wenn Sie nicht in die unsrige kommen. Wie schön wäre es, wenn Sie den Winter bei uns in Tegel wären; es sollte Ihnen doch manches auch dort gefallen, und wir könnten ganz ungestört und unerinnert die ganzen Nächte durchplaudern! Denn dort karridelt niemand, bis der helle Morgen anbricht.

Ich treibe mich hier ziemlich viel in Gesellschaft herum, und es ist nicht leicht eine Art derselben, die ich nicht wieder besucht hätte. Von den Veränderungen, die ich etwa gefunden habe, kann ich Ihnen nicht viel sagen. Es ist hier wie überall gegangen: alle Verhältnisse sind loser geworden. Dadurch hat sich der Zwang vermindert; ein gewisser Grad von Annehmlichkeit ist dabei unstreitig gewonnen; ob aber auch mehr, möchte ich bezweifeln. Zwar spricht man mehr von reell interessanten Dingen auch in der größten Gesellschaft, nur nicht gerade auf eine interessantere Weise. Hang zum Luxus und zur Sinnlichkeit haben sehr zugenommen; das entgegengesetzte Beispiel, das der König gibt, existiert ohne große Wirkung daneben. An warmem Eifer für diese oder jene Sache möchte ich eine Abnahme behaupten. Wenigstens habe ich das Schicksal, in einigen meiner genaueren Bekannten eine gewisse Kälte für Ideen gefunden zu haben, die allein sonst meinem Umgang mit ihnen Leben gaben. Sie, der Sie so lange abwesend sind, würden die größeste Veränderung in Absicht der auswärtigen Gesandten antreffen. In Ihrer Zeit konnte man sie nur mit Vorsicht sehen. Jetzt macht fast niemand ein Haus als sie. Ich bin meist alle Abende bei dem spanischen, der ein gebildeter und interessanter Mann ist. Der Minister Haugwitz hat mir sehr viel über Sie gesprochen. Er scheint wirklich ein lebhaftes persönliches Interesse an Ihnen zu nehmen. Ich soll ihn bei Ihnen entschuldigen, daß er Ihnen nicht, als Sie ihm neulich schrieben, geantwortet. Er hätte gleich gehörig sollen die Sache von selbst arrangieren. Ich sollte Sie auch, wenn ich könnte, vermögen, recht bald und womöglich noch in diesem Jahre zurückzukommen. Das möchte ich nun wohl meinetwegen mehr als wegen des Auftrages; aber an der schnellen Wirksamkeit meines Zuredens muß ich leider sehr zweifeln. Ich habe darauf geantwortet, was Sie mir gesagt hatten. Er drang aber sehr in mich, dafür zu tun, was ich könnte; außer den persönlichen Gründen, die er anführte, daß er Sie gern wiedersehen möchte usw., sagte er, es könne Ihnen doch übelgenommen werden; bisher sei es nicht geschehen; aber Sie fänden vielleicht selbst einen Grund mehr für das Zurückkommen darin, daß man gegen ein so langes Außenbleiben gar nichts geäußert habe; es werde ihm leid tun, wenn man Sie vielleicht in der Folge deshalb ungleich beurteilte. Außer H. habe ich niemand gefunden, der sich sehr lebhaft Ihrer erinnert hätte, außer Biester, der Ihnen sehr gut ist. Wo Ihrer aber erwähnt wurde, habe ich deutlich gesehen, daß auch nicht das mindeste Vorurteil gegen Ihren Aufenthalt in Paris oder über die Ursachen desselben oder über Ihre Grundsätze herrscht. Ich glaube im ganzen Ernst, daß es jetzt schwerer ist, hier ein Sonderling zu heißen als in Paris. Ihren Vetter habe ich auch nicht gesehen, ob ich gleich in seinem Hause wohne. Er hat ein Sommerquartier im Tiergarten gemietet, und ich habe ihn dort immer verfehlt.

Mit der deutschen Literatur sieht es etwas lahm aus. Fast nur in der Philosophie geschieht noch etwas, und auch das ist nicht viel. Unter den Dichtern steht Schiller leider zu allein da. Goethe hat durch seine Krankheit im Winter viel gelitten. In der Schlegelschen Clique, denn es hängt einmal da alles klettenartig zusammen, ist viel Gutes, aber auch viel Roheit, und etwas eigentlich Bedeutendes ist doch gar nicht daraus entstanden. Fast in allen Fächern stehen ein oder höchstens zwei Menschen allein, und das Interesse ist meist nur ein Interesse der Neugierde. Es ist wirklich traurig, aber merkwürdig zu sehen, welche tote Eiskälte seit etwa 15 Jahren alle lebendige Wärme zum Starren gebracht hat. Ich kann mir die Erscheinung doch nicht anders erklären, als daß teils durch Hinwegräumung einiger Schranken, teils durch ein zur Mode gewordenes Reich- und Vornehmtun der platte gesellschaftliche Verkehr unter den Menschen erstaunlich zugenommen hat. Dadurch ist die Einsamkeit verloren gegangen, in der sich sonst die Jüngeren bildeten, und an die Stelle der nach innen zurückweisenden Scheu ist Sucht zu spötteln und witzeln getreten. Denn auch in der Bücherwelt hat dieser gemeine Konversationston seine Stelle gefunden.

Aber ich breche ab. Ich vergesse, daß ich nicht mehr in der rue des deux Siciles bin, wo ich Ihre Antwort vernehmen konnte. Diese glücklichen Zeiten werden ja wieder kommen; sollte auch alles in der Welt kalt und unteilnehmend werden, so können doch wir gegenseitig mit Sicherheit aufeinander rechnen.

Ewig Ihr H.

An Schiller.

Tegel, 11. Mai 1802.

... Der König hat zwei diplomatische Posten in Italien; einen Residenten in Rom und einen Chargé d'affaires in Neapel. Der erstere wird jetzt rappelliert und hier angestellt, der letztere ist gestorben. Beide Stellen werden nun in meiner Person vereinigt, doch muß ich in Rom wohnen, weil die Geschäfte der Residentur (lauter geistliche für unsre katholischen Provinzen) notwendiger und dringender sind als die bloße diplomatische Korrespondenz des letzteren. Auf dem Wege soll ich den König von Etrurien von unserm König bekomplimentieren. Diese Stelle ist nichts weniger als glänzend; ich konnte auf eine eigentliche Gesandtenstelle Anspruch machen, und dies ist bloß eine Residentur. Indes vertauschte ich sie jetzt mit keiner andern ohne Ausnahme. Sie ist in einem Lande, nach dem ich mich an sich sehnte, das ich besonders gern jetzt mit Spanien vergleichen möchte, und das mir auch in Rücksicht des Sprachstudiums wichtig ist, weil ich darin die Kenntnis der südlichen Sprachen vollenden kann; dann bin ich verhältnismäßig und dafür, daß ich keine Repräsentation zu machen habe, nicht übel bezahlt. – Deutschland und wieder auf mehrere Jahre zu verlassen, ist freilich immer etwas Großes, besonders für mich. Ich bin einmal sehr deutsch, und werde es ewig bleiben. Aber ich bin auch vorzugsweise vor andern gestimmt, einigermaßen selbst dazu gemacht, mit dem vaterländischen Stoff das in der Fremde Erworbene zu verbinden, und am Ende kehre ich doch gewiß nach Deutschland zurück. Sie, mein teurer inniggeliebter Freund, sehe ich vor meiner Abreise noch gewiß, die abermalige Trennung von Ihnen und Goethe und Körner ist das, was mich eigentlich schmerzt. Aber wie wenig haben wir uns auch jetzt genossen, und wie wenig Aussicht war für die Zukunft! Ihnen würde ich nie, auch wenn sich günstige äußere Umstände ereigneten, raten können, in Berlin zu wohnen, und ich fand in sehr vielen Dingen unübersteigliche Hindernisse, mich in Weimar zu etablieren. Auf immer werde ich nicht in Rom sein. Es fehlt bei uns in der Karriere, in die ich komme, an brauchbaren Subjekten, und man wird mich bald wo anders hinschicken wollen. In den Zwischenzeiten komme ich natürlich hierher zurück, und wir sehn uns wieder. Vielleicht kämen auch Sie einmal nach Italien? Ihnen würde ich es mehr als Paris raten, und wir verlebten dann glückliche Monate in deutschem Gespräch unter italienischem Himmel! Von Herzen Adieu! H.


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