Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt im Verkehr mit seinen Freunden
Wilhelm von Humboldt

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Rom (1802–1808)

An Schiller.

Rom, 27. August 1803.

Ich schreibe Ihnen, lieber Freund, mit wehmütigem Herzen. Ich kann sagen, daß mich, seit ich lebe, jetzt das erste Unglück betroffen hat. Aber der erste Schlag ist auch fast der härteste, der mich je hätte treffen können. Unser ältester Knabe, Wilhelm, dessen Sie sich vielleicht dunkel erinnern, ist uns plötzlich an einem bösartigen Fieber gestorben. Das arme Kind war kaum einige Tage krank. Auf einige leichte Fieberanfälle folgte plötzlich ein heftiges Nasenbluten. Wir waren auf dem Lande in Lariccia, aber zufälligerweise hatten wir und haben noch einen deutschen Arzt bei uns, einen trefflichen Menschen, von außerordentlicher Kenntnis und Erfahrung, dem teilnehmendsten Gemüt und doch der größesten Besonnenheit und Ruhe. Dieser – er heißt Kohlrausch und ist ein Hannoveraner – tat, was er konnte, aber die Gewalt des Übels war zu heftig, und in kaum 36 Stunden lebte er nicht mehr. Sein Tod war sanft, sehr sanft, er hatte fröhliche Phantasien, litt nicht und ahnte nichts. Er liegt jetzt bei der Pyramide am Scherbenberg, von der Ihnen Goethe erzählen kann. – Ich habe mit diesem Kinde unendlich viel verloren. Unter allen, die ich habe, war er am liebsten um mich, er verließ mich fast nie, vorzüglich in den letzten Monaten beschäftigte ich mich regelmäßig mit ihm, er ging immer mit mir spazieren, er fragte nach allem, er kannte die meisten Örter, die meisten Ruinen, er war bei jedermann beliebt, weil er mit jedem und jetzt schon recht gut Italienisch sprach. Das ist nun alles dahin, und wohin gegangen? Dieser Tod hat mir auf der einen Seite alle Sicherheit des Lebens genommen. Ich vertraue nicht meinem Glück, nicht dem Schicksal, nicht der Kraft der Dinge mehr. Wenn dies rasche, blühende, kraftvolle Leben so auf einmal untergehn konnte, was ist dann noch gewiß? Und auf der andern habe ich wieder auf einmal so eine unendliche Sicherheit mehr gewonnen. Ich habe den Tod nie gefürchtet und nie kindisch am Leben gehangen; aber wenn man ein Wesen tot hat, das man liebte, so ist die Empfindung doch durchaus verschieden. Man glaubt sich einheimisch in zwei Welten ...

Ich habe keine Stimmung, heute mehr zu schreiben, mein teurer lieber Freund. Leben Sie herzlich wohl und bedauern Sie Ihren armen Freund. Die Li umarmt Sie und alle innigst; Sie können denken, was sie leidet; aber sie hat sich mit außerordentlicher Stärke, Ruhe und Geistesgegenwart genommen.

An Schiller.

Rom, 22. Oktober 1803.

Lieber Schiller, warum sind Sie jetzt nicht hier? Denn daß ich wegginge, daran kann ich und mag ich nicht denken. Rom hat mich auf alle Weise gefesselt, und schon den Boden verlassen, dem man ein teures Pfand anvertraut hat, ist schwer. Sie können wohl denken, daß ich keinen Augenblick hier bleiben würde, wenn ich in der Tat nur die geringste Gefahr für die Meinigen ahnen müßte. Aber wir haben es auch mit dem Arzt vielfach überlegt, und er ist ganz derselben Meinung. Lassen Sie mich also immer noch einige Jahre hier. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie mir dieser Aufenthalt wohl tut. Ich befand mich in keiner wünschenswürdigen Stimmung in Berlin, selbst in Paris fühlte ich mich gewissermaßen abgestumpft. Hier ist alles, was mich umgibt, belebend und erweckend; ich bin fruchtbarer in Ideen, und selbst die Wehmut, selbst der bitterste Schmerz läßt noch eine Klarheit, eine Heiterkeit im Gemüte bestehen, die doch offenbar von der Natur in den Menschen übergeht. Denn von der stillen Größe dieser Stadt und der Gebirge umher ist nun einmal jede Schilderung vergeblich. Auch die arme, gute Li fühlt dies. Ihre reine und edle Natur hat sich auch in dieser Lage trefflich bewährt. Es ist nichts dumpf und finster Schwermütiges in ihr, wie Sie mit Recht sagen, teurer Schiller, eine starke Seele, mit der feinsten zartesten Fühlbarkeit. Daher hat auch dieser Schmerz weniger nachteilig auf ihre Gesundheit gewirkt, als wir fürchteten. Sie ist in der Tat recht leidlich, und man darf auch nicht jetzt, wie ich anfangs tat, für die Folge einen plötzlichen Ausbruch des nur verhaltenen Übels fürchten.

Ihre »Braut« haben wir gelesen. Cotta schrieb mir erst, wie er sie mir schicken sollte. Indes hatten wir sie schon früher aus der Schweiz bestellt und bekommen. Sie sind ein unendlich glücklicher Mensch, lieber Schiller, diese Produktionskraft ewig in sich rege zu erhalten, und nie, glaube ich, ist es einem Dichter gelungen, so bestimmt einen selbstgezeichneten Weg zu verfolgen. In Ihnen kann niemand, welcher Ihre Stücke, wie sie nacheinander gefolgt sind, vergleicht, das verkennen. In Rücksicht der strengen Form kann keines sich mit der Braut messen. In ihr ist alles poetisch, alles folgt streng aufeinander, und es ist überall Handlung. Auch über den Chor bin ich einstimmig mit Ihnen. Er ist die letzte Höhe, auf der man die Tragödie der Wirklichkeit, dem prosaischen Leben entreißt und vollendet die reine Symbolik des Kunstwerks. Niemand hat noch bisher seine Idee so rein aufgefaßt, als Sie in Ihrer zugleich unübertrefflich geschriebenen Einleitung. Euripides schon, möchte ich sagen, hatte keinen Begriff mehr von ihm, und seitdem hat man sich kaum mehr als die Einwebung lyrischer Stücke in das Gespräch gedacht. Der Begriff der Musik, falsch verstanden, hat alles zuletzt noch mehr in Verwirrung gebracht. Nur über den Gebrauch, den Sie in Ihrem Stück von dem Chore gemacht haben, müssen Sie mir eine Bemerkung erlauben. Wenn ich Sie recht verstehe und wenn das, was ich mir immer schon vorher beim Chore dachte, mit Ihren Ideen übereinstimmt, so ist der Chor dazu da, die gleichsam physische Gewalt der Empfindung des Zuschauers, da wo sie eben zur bloßen Teilnahme an den handelnden Personen, als wirklichen Wesen, herabsinken will, auf einmal zu brechen, und sie, auf ein unermeßliches Feld geschleudert, mit einer künstlerischen und daher doppelt ergreifenden Stärke zu der in dem Kunstwerk symbolisierten Idee zurückzuführen. Sein erster Zweck ist also, den Stoff zu intellektualisieren. Weil aber der Verstand so gut als das Gefühl, beide ohne Phantasie, dem Kunstwerk fremd sind, so verlangt auch das intellektualisierende Organ der Tragödie eine Darstellung von der Einbildungskraft, und gerade, damit dies Organ, als seiner Natur nach, ruhig, betrachtend und für die Handlung gleichgültig, nicht das Gleichgewicht gegen die handelnden Personen und ihr leidenschaftlich rasches Fortschreiten verliere, so muß es in der Phantasiedarstellung einen Zuwachs an sinnlichem Gehalt, Musik und Tanz bekommen. Kürzer könnte man sagen, daß der Chor das einzige Mittel war, durch das es einem an sich rein naiven Volke gelang, eine an sich sentimentale Dichtungsart, wie die Tragödie ist, auszuführen. Denn in Shakespeare, selbst in Goethe, z. B. im Egmont, vor allem aber in Ihren letzten Stücken, im Wallenstein und der Jungfrau, die ich gerade zu diesem Behuf wieder gelesen, ist es mir jetzt ganz deutlich sichtbar, daß, weil Sie das Bedürfnis fühlten, die Prosa des Lebens in der Poesie der Tragödie auszutilgen, und Sie daher immer jenen ersten Zweck des Chors auf andre Weise zu erfüllen suchten, Sie sentimentaler, betrachtender, philosophischer (wie es das unphilosophische und unpoetische Publikum nennt) geworden sind, als sonst je geschehen wäre. Wenn bei diesen Stücken etwas Dumpfes und Schweres in der Empfindung des Lesers zurückbleibt, so liegt es daran, weil ihnen für diesen intellektuellen Zweck das sinnliche Moyen fehlte. Der Effort, den die handelnden Personen machen müssen, um ihre vereinzelte Individualität an etwas Größeres zu verlieren, teilt der Zuschauer mit ihnen, da der Chor hingegen dasselbe leicht und klar ausspricht. Was aber dem Kunstwerk an Leichtigkeit und Klarheit abgeht, das entbehrt es auch an Größe. Dies nun vorausgesetzt, habe ich an Ihrem Chor zweierlei zu tadeln. Er ist den handelnden Personen zu nah und hat in sich nicht den Reichtum, den er haben könnte. Es fehlt ihm also, Sie sehn, wie rasch ich anklage, zugleich an Ruhe und an Bewegung. Ich glaube nicht, daß Sie hätten den Ihrigen zu Rittern der beiden Brüder machen sollen. Da sie jeder einem andern Herrn folgen, sind sie nicht mehr reine Bürger von Messina, und da ihr eigner Ehrgeiz ins Spiel kommt, ist ihr Urteil nicht das Unparteiische des Schicksals, so wie es sich in Menschen ausspricht. Sie sagen einmal in Ihrer Vorerinnerung, welch ein schlechter Ersatz für den Chor in der französischen Tragödie ein Vertrauter sei. Das aber scheint mir die gefährlichste Klippe, daß der Chor immer, in unsrer Art der Tragödie, einen Anstrich davon bekommen kann, und damit ist augenblicklich alles verloren. Denn der Chor muß ohnmächtig, dienend und schwach sein, aber frei und nicht einmal durch Neigung gefesselt. Hier aber tritt freilich eine ungeheure Schwierigkeit ein. Bei uns soll alles motiviert sein, und wie motiviert man den Chor, ohne seinem reinen Begriff zu schaden? Wenn das, was mich bei dem Ihrigen anstößt, Grund hat, so liegt es, dünkt mich, eben an dieser Schwierigkeit. Denn sonst haben Sie mit großer und bewundernswürdiger Kunst diese meinem Begriff nach fehlerhafte Anlage gut zu machen gesucht. Allein, und hier wäre mir Ihr Urteil wichtig, muß denn die Strenge des Motivierens auch in diesem Stück beobachtet werden? Daß die Handlung selbst mit vollkommener Notwendigkeit auseinander herfließe, hat seinen natürlichen Grund. Allein der Chor ist wie der Himmel in einer Landschaft. Es versteht sich von selbst, daß er da sei; denn jede Handlung geht durchs Gerücht mehr oder minder, schneller oder langsamer ins Volk aus, und prosaisch ausgedrückt ist der Chor immer nur das urteilende Volk, es sind die Achivi, die immer leiden, wenn die Könige rasen. Auch hier noch mehr Strenge zu fordern, scheint mir moderne Unart, die wieder aus dem leidigen Begriff der Illusion herstammt. Den Chor, nicht auf die unbedeutende Art, wie die Alten es hier und da tun, sondern auf eine für die ganze Ökonomie des Stücks wichtige und geltende zu teilen, halte ich für vortrefflich. Wie unsre Poesie überhaupt weniger sinnlich ist, wie wir minder auf Musik und Tanz zählen können, seit Musik und Tanz nicht mehr bloß der Dichtkunst dienen wollen, und das Publikum sie nicht mehr in dieser Dienstbarkeit liebt, so muß man eine andre Mannigfaltigkeit, ein andres Leben für die Phantasie suchen, welches die sinnliche Darstellung der einfachen Idee des Chors erhebe. Allein Ihre Teilung hat mich nicht ganz befriedigt. An sich wäre das Alter gewiß ein ganz schicklicher Teilungsgrund. Allein da beide Teile Ihres Chors noch jetzt dienende und mitwirkende Ritter sind, so wird schon einmal die Teilung nicht rein genug. Es ist nur ein mehr und ein weniger, nur Jüngling und Mann, und da dieser Unterschied nun noch zu dem Umstand, daß beide Teile verschiednen Parteien dienen, hinzukommt, so gibt er eigentlichen Zwiespalt, da er nur Kontrast zeigen sollte. Denn in allem, was auf die Handlung Bezug hat, muß der Chor, wie ich ihn mir denke, mit sich selbst vollkommen übereinstimmend sein, er kann aber verschiedne Ansichten haben, verschiedene Empfindungen können durch dasselbe Interesse gerührt werden. Endlich fragt man sich auch, warum ein Bruder gerade nur ältere, der andre jüngere Ritter hat, und hier dürfte die Forderung des Motivierens mit mehr Strenge gemacht werden können. Niemand kann zwar leugnen, daß geradewie Sie ihn behandelt haben, der Chor eine ungeheure Wirkung tut: er verdoppelt das Leben und die Poesie Ihres Stücks, weil er an die handelnden Individuen handelnde Massen anknüpft. Allein ich vergleiche ihn mit der Idee, welche Sie selbst aufgestellt haben. In dieser, als wahrer Chor, spricht er sich in Ihrer Braut, dünkt mich, mehr durch seine Gesänge, als durch seine Gestalt und sein Dasein aus, und darum finde ich von dieser Seite die Symbolik nicht rein und nicht vollkommen.

Ich habe geglaubt, bei diesem Punkt verweilen zu müssen, teurer Freund, weil die Einführung des Chors auf die Bühne eine zu wichtige Sache ist, um nicht von allen Seiten überlegt zu werden, und ich schmeichle mir, daß meine Bemerkungen Ihnen selbst dann nicht unlieb sein werden, wenn Sie dieselben auch ungegründet finden sollten. Sie werden Ihnen die warme Teilnahme zeigen, die ich nie aufhören werde, an Ihren Beschäftigungen zu nehmen; sie werden Ihnen beweisen, wie gern ich mich in die Zeit zurückversetze, wo wir diese Dinge gemeinschaftlich besprachen, und über die Grundsätze können wir nicht uneins sein. Ich sehe eben, da ich noch einmal Ihre Vorerinnerung durchgehe, daß Sie die Teilung des Chors entschuldigen und darauf aufmerksam machen, daß sie nur da angebracht sei, wo der Chor selbsthandelnde Person ist. Allein ich glaube in der Tat, seine Teilung, auch als reiner Chor, müßte große Vorzüge haben. Er ist einmal der Repräsentant der Menschheit, und er müßte sie, dächte ich, voller und reicher darstellen, wenn ihre verschiedenen Klassen sich einzeln und geschieden aussprächen.

Über die Höhe, in der Sie Ihr Stück gehalten haben, geht nichts. Das Hohe, Künstlerische daran, die reine Kunstform werden nur wenige fühlen; aber der Schwung der Gedanken, die Erhabenheit der lyrischen Partien, dies innige Verweben Ihres Stoffs in alle größten Ideen aller Zeiten kann niemand entgehn, selbst die Einfachheit der Behandlung wenigstens muß vielen fühlbar sein. Was ich indes wünschte, wäre, daß Sie mit diesen neuen Forderungen, die Sie, nach dem Gelingen dieses Stücks, mit Recht an sich machen können, bald wieder einen in sich schwereren, schon durch seinen Umfang mühsam zu bändigenden Stoff, wenn nicht einen wie Wallenstein, doch wie die Jungfrau behandelten. Der unkünstlerische Teil des Publikums wird zwischen der Braut und diesen, das läßt sich voraussehn, Vergleichungen anstellen und den letztern in jeder Rücksicht den Vorzug geben, schon darum, weil sie, neben der künstlerischen Wirkung, auch einer durch ihren bloßen Stoff fähig sind. Eine gewisse Wahrheit liegt aber dennoch diesen Urteilen, wenn man sie wirklich fällt, zugrunde. Es ist noch ein andrer Unterschied zwischen der alten und neuen Tragödie als der der bloßen Kunstform, und es gilt hier eine Verbindung, die ich in hohem Grade für möglich halte. In jeder Szene Ihres neuen Stücks ist das schon sichtbar, überall geht Reflexion und Empfindung in Tiefen ein, welche der Alte in seinem heitern Sonnenlicht zu verschmähen scheint, die er aber, unparteiisch gestanden, nicht kannte. Es ist aber auch noch mehr. Freilich scheint es an sich einerlei, wenn man nur den letzten Zweck, die Darstellung der reinen Kunstform an seinem Gegenstande, erreicht, wie viel oder wenig man vom Stoff in das Gemälde aufnimmt und wie weit man den Gegenstand auszeichnet. Aber es versetzt das Gemüt in eine andre Stimmung, wenn eine reichere Welt sich bewegt, und wenn nicht bloß die großen Partien der Menschheit, wenn auch seine Charakternoten erscheinen. Es ist unendlich bewundernswürdig, und ich habe es eigens studiert, mit wie wenig Zügen Sie die beiden Brüder so fest charakterisiert haben, daß jeder nur auf seine Weise die Zuschauer berühren kann, ebenso die Mutter und Beatricen; es ist das der höchste Gipfel der Kunst und die höchste Weisheit des Künstlers, nicht über die Forderung seines Zweckes hinauszugehn, und wer, wie Sie, auch gezeigt hat, daß er zugleich in der ganz entgegengesetzten Gattung Meister ist, in dem, sieht man, ist das, was er diesmal unterläßt, nicht Schranke. Es ist vielmehr nur Mangel an echtem und großem Kunstsinn, welcher der Charakterschilderung einen viel wichtigeren Anteil an der tragischen Wirkung beigemessen hat, als ihr eigentlich genommen gebührt. Eins indes verdient doch in Betrachtung zu kommen. Wir sind einmal ein reflektierendes und sentimentales Geschlecht, und wer unter uns nicht reflektiert, genießt darum nicht unbefangener; wir beschäftigen einmal die Sinne minder als den Verstand, das Gefühl mehr als die Einbildungskraft; wir brauchen, um auf unsere Weise gerührt zu werden, einen durch Verstand und Gefühl mannigfaltiger ausgearbeiteten Stoff. Insofern läßt sich alles sogenannt Romantische, glaube ich, in Wahrheit verteidigen. Die Kunst ist allerdings nur eine, keiner Zeit, keiner Nation ausschließend angehörig. Allein die Kunst ist auch nur eine Art, wie der Mensch sich und die Welt sinnlich idealisiert; sie ist mehr als einer Ausführung fähig, und das Verschiedenartigste kann sich in ihr, wie in einem gemeinschaftlichen Mittelpunkte begegnen. Sollte daher nicht auch, wenn Sie den bizarren Ausdruck verzeihen, das Romantische einer Ausführung in echt antiker Kunstform fähig sein, und sollte darin nicht für uns das Höchste bestehen? Wenigstens scheint unleugbar, daß man dadurch auch etwas gewinnt, was der echtesten Kunst keineswegs gleichgültig ist, das Pragmatische, dessen (im Gegensatz gegen das Chimärische und Phantastische) auch Sie in Ihrer Einleitung erwähnen. – Sie werden finden, daß ich zu sehr dem Stoff das Wort rede; aber einer nicht künstlerischen Natur ist das zu verzeihen, und nur durch Hinüber- und Herüberschwanken kommt man zur Wahrheit. Doch müssen Sie nicht glauben, daß ich meinte, es fehle Ihrem Stück an der Realität, die ein Kunstwerk haben muß. Vielmehr habe ich bewundert, wie unbegreiflich gut es Ihnen gelungen ist, einem Stoff, für den nichts im Gemüt des Lesers vorbereitet ist, der nicht einmal auf einem schon die Seele füllenden Grunde erscheint, der ferner an sich sogar künstlich ist und bei minder guter Behandlung hätte spielend aussehen können, vor der Einbildungskraft volle Geltung zu verschaffen. Alles in diesem Werk besteht nur durch die dichterische Form und besitzt und bedarf nichts außer ihr.

... Aus einer Stelle Ihres Briefs, liebster Freund, muß ich schließen, daß Sie meine Lage für anders halten als sie ist. Sie scheinen zu glauben, daß sie mich sehr aus meinem ehemaligen gewohnten Kreise herauszieht. Das ist aber nicht der Fall, und wenn Sie einige Wochen lang hier sein könnten, würden Sie finden, daß ich ziemlich wie ehemals lebe. Sie müssen nur bedenken, daß mein Geschäft hier, der Natur der Sache nach, die Politik nur wenig angeht. Es verbindet mich daher nicht, mich, wie ich an andern Orten müßte, beständig in Gesellschaften herumzutreiben, und noch weniger macht mich Sorge oder große Verantwortlichkeit andern Beschäftigungen fremd. Der wichtigste Teil desselben besteht in einzelnen Angelegenheiten; diese gehen, dem eigentlichen Interesse nach, fast immer Privatleute an und haben nur insofern für mich eine höhere Wichtigkeit, als man verlangt, daß ich sie gerade auf diese oder jene Weise betreiben soll, und als es einen selbst interessiert, dem Zwang, den man von Rom aus sogar auch in den entferntesten Gegenden noch ausüben möchte, so viel es angeht, zu steuern. Zeit kosten diese Dinge freilich, sie nehmen mir ein paar Tage der Woche, wenn ich die weitläufige Geschäftskorrespondenz mitrechne, ganz und an den übrigen viele Stunden mit Schreiben, Besuchen usf. Die politische Korrespondenz, wenn sie auch nur ein Berichten von Neuigkeiten ist, will auch besorgt sein, und da ich chiffrieren, dechiffrieren, Abschreiben, alles selbst besorgen muß, so gehört freilich eine gewisse Arbeitsamkeit und Ordnung dazu, um fertig zu werden und sich Freiheit nebenher zu verschaffen. Doch geht das schon gut; wenn ich bisher noch nichts hier gearbeitet habe, so ist es mehr, weil Rom selbst ein eignes und langwieriges Studium ist, weil eine so neue Natur – denn neu bleibt einem Rom, wenn man, möchte ich sagen, auch alles andre gesehen hat –, um im Gemüt auszuwirken, Zeit braucht. Daher nennen wir uns oft im Scherz das Volk, das mit Spazieren den Tag lebt. Dann ist auch gewiß wahr, daß, wenn alle Zeit nur Zeit der Muße ist und gar kein Zwang eine bestimmte Zeitanwendung fordert, man manche Zeit verliert. Ich verzweifle also nicht, ich hoffe vielmehr gewiß, hier auch wissenschaftlich noch immer aufs mindeste gleich tätig zu sein als ehemals, und wenigstens, mein teurer Freund, seien Sie überzeugt, daß mein Interesse, meine Richtungen sich nie ändern werden. Der Maßstab der Dinge in mir bleibt fest und unerschüttert; das Höchste in der Welt bleiben und sind die – Ideen. Diesen habe ich ehemals gelebt, diesen werde ich jetzt und ewig getreu bleiben, und hätte ich einen Wirkungskreis, wie der, der jetzt eigentlich Europa beherrscht, so würde ich ihn doch immer nur als etwas jenem Höheren Untergeordnetes ansehn, und das ist meine wahre Meinung. Es ist damit wie mit der Erziehung. Man muß tun von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, was die Vernunft und der Verstand befehlen, mehr aber für sich, zu seiner und der Vernunft Beruhigung, als für die Sache. Wo man sich nicht entbrechen kann zu handeln, da gibt es nun einmal keinen andern Standpunkt und keinen andern Weg. So wie man sich aber auf den wahren Standpunkt der Betrachtung erhebt, so weiß man recht gut, daß in Erziehung und Regierung, aus der sorgfältigen wie aus der nachlässigen Behandlung, aus der zweckmäßigen wie aus der unsinnigen, aus dem Wohlstand wie aus dem Elend der Menschen, der Geist des Individuums, der Nationen und der Zeiten wie eine Flamme herausschlägt, und daß nichts dabei zu tun ist als zuzusehen, was sie ergreift. Dennoch will ich nicht leugnen, daß man nicht durch eine Geschäftslage einiges wirklich aufopfert. Allein auch da hat es mir, ehe ich sie einging, nicht an Überlegung gefehlt. Ich war einige Jahre vorher in einer nicht glücklichen Stimmung für die Produktion; ich wußte so vielerlei, ich kannte manches besser als viele andre, und doch schloß sich nichts fest zu einem Resultate zusammen; ich konnte mit dem tätigen Teil meiner Existenz unmöglich zufrieden sein. Es schien mir daher besser, meiner Tätigkeit einen bestimmten, wenn gleich gewöhnlichen Gang zu geben, und ich suchte nur den aus, der imstande war, mich zugleich wieder in einen wichtigeren einzuführen. Auch glaube ich mich in meiner Berechnung nicht geirrt zu haben. Rom hat schon erweckend und belebend auf mich gewirkt und fährt fort, es zu tun; ich fühle mich fruchtbarer als sonst; ungeachtet des absoluten Mangels an allem für Ideen und Empfindungen interessanten Umgang – denn darin sind die Li und ich nur aufeinander eingeschränkt – erhalte ich mich doch und ohne Anstrengung, nur indem ich mich gehen lasse, lebendig in ihnen; noch also ist nichts, das mich meinen Entschluß, meine Lage zu ändern, bereuen ließe. Ich habe mehr Wut und Selbstvertrauen als sonst und besonders als in der Periode, die meinem Hergehn am nächsten vorherging. Denn ewig wird es mich schmerzen, daß zum letzten Male Sie mich gerade in einem Augenblick sahen, wo ich bedrückter als je war. Es war der Moment des Übergangs. Ich war unzufrieden (in Rücksicht auf mich selbst und meine Tätigkeit) mit meiner vorigen Existenz und ungewiß der folgenden. Sie würden jetzt zufriedener mit mir sein.

Das waren Selbstgeständnisse, teurer Freund, zu denen ich gegen Sie immer offen bin, die ich aber nicht gemacht haben würde, wenn mich nicht eine Stelle Ihres Briefes darauf geführt hätte. Denn auch gegen den vertrautesten Freund rede ich nicht gern über mich, weil man über sich immer leichter schief urteilt als über einen andern. Bleiben Sie mir, mein lieber Guter, was Sie mir sind, und glauben Sie gewiß, daß, welche Entfernung uns auch immer trennen mag, mein Interesse Ihnen ewig gleich nahe ist, und daß das kleinste in Ihrer Beschäftigung mehr Wichtigkeit für mich hat als alles, was ich unternehmen könnte. Denn – ich muß schließen, wie ich anfing – Sie sind der glücklichste Mensch! Sie haben das Höchste ergriffen und besitzen Kraft, es festzuhalten. Es ist Ihre Region geworden; und nicht genug, daß das gewöhnliche Leben Sie darin nicht stört, so führen Sie aus jenem besseren eine Güte, eine Milde, eine Klarheit und Wärme in dieses hinüber, die unverkennbar ihre Abkunft verrät. So wie Sie in Ideen fester, in der Produktion sichrer geworden sind, hat das zugenommen. Für Sie braucht man das Schicksal nur um Jahre zu bitten. Die Kraft und die Jugend sind Ihnen von selbst gewiß ...

Karoline an Humboldt.

Erfurt, 18. April 1804

... Ach, auch mir, meine Seele, glaube es nur, bleibt die Erinnerung der früheren, der ersteren Jahre unsrer Verbindung ewig gegenwärtig und teuer. Ich könnte auch gleich wieder mit Dir in dieselbe einfache Situation, in dieselbe tiefe Einsamkeit zurückgehn, und wer weiß, was geschieht, wenn wir lang genug leben sollten, um daß die Kinder etabliert und von uns getrennt wären. Du hast es mir aus der tiefsten Seele geschrieben, wenn Du in Deinem Briefe sagst, es komme nicht darauf an, glücklich zu leben, sondern bloß darauf, alles Menschliche zu erschöpfen und sein Schicksal zu vollenden. Geahnet habe ich es immer und es auch einmal ausgesprochen; aber tiefer und ganz, ganz hab ich es seit unsers Wilhelms Tod empfunden. Die Tiefe und Unendlichkeit des Lebens hat sich seitdem vor mir aufgetan, und das Großmenschliche erblüht, ersteht, wie soll ich sagen, gewiß und einzig nur da, wo das Individuum sich weder im Genuß des Glücks noch des Schmerzes schont.

An Karoline.

Rom, 26. Mai 1804

... Schillers Abreise ist ein wahrer Geniestreich. Schon öfter haben wir in ihm gesehen, wie es geht, wenn einer, der immer nur in seinen Dichtungen lebt, auf einmal ins Leben eingreifen will. Fast alle Pläne, die wir von ihm noch bisher kannten, waren barock oder wurden so ausgeführt. Ich zweifle daran, daß er Glück in Berlin macht. Man hat schon Vorurteil gegen ihn, man wird ihn stolz und wenig angenehm finden, und er wird unzufrieden mit der Stadt und den Menschen zurückkommen, wenn nicht die Sucht, die man jetzt in Berlin zu haben scheint, auf einmal alles für Wissenschaft und Kunst zu tun, auch ihm nützlich wird.

Der Staël habe ich wirklich nicht wieder geschrieben. Es wird mir aber auch allemal sehr sauer. Der Briefwechsel mit ihr hat nichts sehr Befriedigendes, und trotz aller unsrer gegenseitigen Zuneigung ist doch eine unendliche Kluft zwischen uns beiden. Das habe ich oft gefühlt; auch muß ich gestehen, ist sie meist herzlicher mit mir gewesen als ich mit ihr. Eben das, was Du auch anführst, das Treiben nach Ruhm und Lärm, ist mir durchaus entgegen; sie hat keine Stille im Gemüt, und wenn ich manchmal mit etwas unzufrieden sein möchte, so ist es nur, weil das Leben doch auch mich oft hindert, mich der, die in mir ist, ausschließend hinzugeben. Im Grunde geht es mir mit ihr, wie ihr mit mir. Jeder von uns beiden hat den andern recht gern; aber jeder kennt doch, auch der Gattung nach, etwas Besseres und ihm Heimischeres. Daß Du viel mit der Staël hättest leben können, hätte ich sehr gewünscht. Ich hätte wissen mögen, ob sie je dahin gekommen sein würde, Dich tiefer zu kennen. Im Grunde ist ein Wesen wie das Deine, das sich immer gleich bleibt, nicht für sie. Es muß einzelne Blitze geben, wo sie wahres Feuer erkennen soll. Am lächerlichsten war sie mir mit Alexander. Eigentlich würden sich beide sehr gut gefallen haben. Aber aus bloßer Eitelkeit, die schon, ehe ein Wort gesprochen wurde, beleidigt war, sprach er vor ihr so gut als gar nicht.

Daß Du so wohl bist, ist mir ein inniger Trost, liebe Li. Ach! bleibe nur so, mein Einziges, und komme so wieder. Froh wie ehemals können wir nicht mehr zusammen sein, da wir nicht mehr alles wie ehemals haben, was uns lieb ist; aber glücklich sind wir doch in der Gegenwart durch uns und die Kinder und auch in der Vergangenheit durch Erinnerung. Die Stelle in Deinem Brief über Wilhelms Geburtstag hat mich innig gerührt. Sage aber nicht, liebe Li, daß Du ihn hättest mit Deinem Leben erhalten mögen. Es läßt sich darüber nichts sagen, und das Liebste läßt sich nicht wieder mit dem Liebsten erkaufen. Glaube mir, wie lange wir ihn auch überleben möchten, es werden uns, wenn wir tot sind, nur wenige Tage erscheinen, daß wir von ihm getrennt waren. Laß uns so lange mit Liebe fest aneinander halten; Du sagst sehr recht, daß es eine schöne Idee ist, daß er unberührt von den wehen Freuden und den Leiden des Lebens hingegangen ist, und sein Vorunshingehen hat uns, das fühl ich immer so deutlich, die Grenzen des Daseins erweitert. Ich war noch vor kurzem bei seinem Grabe. Es ist so still und schön. Die Pyramide immer so düster und ernst und durch den blauen Himmel so göttlich gemildert. Ich bleibe dabei, liebe Li, ich stürbe gern hier, und doch hoffe ich es nicht. Wenn ich sehr lang lebte, käme ich wohl wieder her. Aber ob wir so hier bleiben werden, ob es sich mit unsern Kindern, dem übrigen Leben vertragen wird, weiß ich nicht. Sehr leid würde es mir tun, Wilhelms Grab zu verlassen. Aber wenn die Umstände fordern, wenn die Vernunft spricht. Man lebt glücklicher allein mit der Liebe. Aber laß uns ruhig die Zeit abwarten. Vielleicht macht sich unser Schicksal von selbst unsern Wünschen entsprechend...

An Schlabrendorf.

Rom, 27. Juni 1804

... Daß Sie Ihre Abreise immer noch hinausschieben, billige ich von ganzer Seele. Ich bin überzeugt, wie ich Ihnen ehemals schrieb, daß die politischen Schritte gegen Sie nicht so gefährlich sind; wollten Sie aber gar das Kleinste nur dagegen tun, so hörte alle fernere Belästigung auf. Und ich bleibe dabei, wie auch ein fremdes Land sein mag, man hat mehr Unabhängigkeit, mehr Ruhe, mehr Indifferenz gegen die Torheiten, die doch überall geschehen, als in seinem Vaterlande.

Mit dem unsrigen sieht es so jetzt in jeder Rücksicht mißlich aus, und die Stimmung der einzelnen – von dem öffentlichen rede ich nicht einmal – ist zwar lustiger und an sich auch besser als anderwärts, aber auch bizarrer und verkehrter. Wirklich aber sollten Sie hierherkommen, lieber Freund, die Gelegenheit mit meiner Frau wäre sehr gut, und hier ist eigentlich das Land, moralisch auszuruhen, ohne einzuschlafen. Eine Menge von Fragen, deren schlechte Beantwortung in Frankreich oder Deutschland ärgert, werden hier gar nicht aufgeworfen; die ganze Nation, nicht das Volk bloß, ist noch oder wieder in einer Art Naturzustand, und wenn auch keine Energie des Charakters hier ist, so ist doch Lebendigkeit des Organismus und eine Art sinnlicher Stärke und Naivität. Man hört doch – und das schon scheint mir nicht wenig – eine kräftigere Sprache um sich reden, und man sähe es endlich ruhig mit an, wenn auch in den Menschen noch weniger zu finden wäre, weil man an dem Lande und den Umgebungen genug hat. In Frankreich ist man zu sehr auf das Lebendige reduziert, das doch da meistenteils lebloser ist als hier ein nur halb behauener Stein.

Ich will damit Frankreich und Paris nicht lästern, ich wäre vielmehr recht gern selbst in dem, wie Sie ihn sehr gut nennen, nicht leicht vergeßbaren Orte. Aber Sie können mir nicht verdenken, daß ich jetzt, da ich in Rom bin, auch die Vorzüge Roms stark fühle, und wer das Ganze nur wie eine laterna magica ansieht, dem kommt es wirklich nur darauf an, Bilder, nicht aber dieses oder jenes zu sehen. Nimmt man aber die paar Verhältnisse aus, an denen man in der Tat mit ganzer Seele hängt, und die Ideen, denen die Gegenstände nur zum Stoff dienen, so kann man wirklich alles übrige mit ziemlicher Gleichgültigkeit ansehen.

... Es freut mich, daß Sie über die Familie L. meiner Meinung geworden sind. Ich habe die Frau früher und vor ihrer Verheiratung gekannt und nie nur ein Gran gesunder Natur in ihr gefunden. Es war immer ein überspanntes Wesen, ein Gemisch von echter Gemeinheit und eingebildeter Hoheit, und was ich ihr immer am meisten habe absprechen müssen, war wahres und herzliches Gefühl. Zu bedauern bleiben indes beide immer. Denn jeder allein wären sie doch unstreitig nicht zu einer solchen Tollheit ausgeschlagen, die jetzt fast als Krankheit betrachtet und behandelt werden muß.

... Leben Sie jetzt herzlich wohl, lieber Freund, und machen Sie meiner Frau die Freude, Sie recht oft zu sehen. Sie ist Ihnen sehr gut und hat sich vorzüglich Ihretwegen sehr auf die Pariser Reise gefreut. Gedenken Sie dann auch meiner und der Freude, die ich immer an unsern vergnügten und gesprächreichen Abenden gehabt habe. Mit aufrichtiger und inniger Freundschaft

Ihr H.

An Karoline.

Marino, 11. Juli 1804.

... Marino liegt im Grunde nicht schön. Aber der Vorteil, den See an dem schönen Gehölz, durch das Du fuhrest, zu sehen und das so nah zu haben, wiegt auch sehr viel auf. Das Gehölz ist ein wahrer Park, immer trocken, ohne Staub, fast ohne Menschen. Nur muß man immer steigen, und für Dich wäre es unbequem. Aber für meine Verachtung der Flöhe, liebe Seele, werde ich recht bestraft. Glaubst Du, daß ich die ersten Nächte kein Auge habe zutun können? Millionen! Der Kanonikus hat endlich eine List ersonnen, echt homerisch. Er hat zwei Mädchen gesagt, ich hätte einen unendlich kleinen, aber kostbaren Stein in meiner Stube, wo das wahre Nest war – die andern waren besser –, verloren, und sie sollten ihn suchen. Die armen Mädchen krochen nun auf allen Vieren in der Stube herum, und wie der Kanonikus es berechnet hatte, so sprangen alle Flöhe auf ihre Röcke und Hemden. Er stand immer ganz listig dabei, und wie er sie ganz schwarz sah, brachte er sie zum Hause heraus. Seitdem aber hat sich gefunden, daß eine Frau neben mir sich alle Morgen ausflöht und mir die Flöhe an das Fenster auf die berühmte Loge wirft, von wo U. die schöne Aussicht pries. Der Kanonikus hat das zwar untersagt; allein sie meinte, sie hätte kein ander Fenster, und behalten könnte sie die Flöhe nicht. Der unermüdete Kanonikus hat aber den Vice-duca, den Gendarmen des Orts, dahin gebracht, ein eigenes Mandat ausgehen zu lassen, durch welches der Frau bei sechs Piaster Strafe verboten wird, sich an dem Fenster, das nach Sr. Exzellenz Loge geht, auszuflöhen, und der Kanonikus hält von Tagesanbruch an ein Mädchen gegenüber, um scharf auf die Dame zu wachen. Wie die Unglückliche seitdem nun ihre Flöhe selbst verarbeiten mag, weiß Gott! Verzeih die lange Geschichte; aber Du mußt doch, wo Du so von allen wegen der Flöhe entfernt wohnst, nicht ganz Italien vergessen. Die Adel(e) hat weniger gelitten, in ihrer Stube sind weniger.

Gabrielle ist von einer Lustigkeit hier, die unbeschreiblich ist, sie lacht und spricht durch das ganze Haus. Nur wachsen tut sie nicht. Sie muß aber wirklich in Marino heiraten, denn es hat einen unglaublich guten Einfluß auf sie und ihre Gesundheit... Die Adel hat hier einen ganz sicheren Balkon, auf dem sie manchmal steht und der nach der Straße geht. Von da herab hält sie Konversationen mit den Kindern, die sich unten versammeln, wirft auch wohl manchmal einen Bajokko hinunter, aber selten, weil sie das Aufheben liebt. Neulich hatte sie eine göttliche Szene. Sie erzählte den Kindern sehr weitläufig, daß sie in Paris geboren wäre – das ließen sie nun so hingehen –, daß sie einen Mann hätte – da lachten sie schon – und daß sie sechs Kinder hätte. Darüber machten die unten einen großen Lärm. Adel nahm das aber so übel, daß sie sich auf die Erde warf und fürchterlich weinte. Wie sie indes sah, daß das Weinen nicht half, sprang sie auf einmal auf, lief wieder hin und schimpfte nun aus vollem Halse: »Maledetto bestie« und Gott weiß was für entsetzliche Schimpfwörter, und immer dazwischen: »E vero, e vero, ho sei creature«, zum Totlachen...

Auf das Halsband von Wilhelms Haaren freue ich mich unendlich. Ach! Du glaubst nicht, wie er mich hier beständig und in jedem Augenblick begleitet. Diese achttägige Einsamkeit ist mir vorzüglich darum so lieb gewesen, weil ich so ungestört habe seiner denken können. Es ist mir, als wäre er mir noch näher in diesen Bergen, die ich immer mit ihm sah, als bewohnte er sie auf eins noch eigenere Weise. Ich fühle immer mehr, daß das Gefühl seines Verlustes auch durch nichts nur getauscht werden kann. Jedes unsrer Kinder ist mir unendlich lieb. Aber an keines Stelle läßt sich ein anderes setzen. Adelheid hat wohl einiges von Wilhelm; aber die Art der Sanftmut und der Klugheit, der Fröhlichkeit und des Fleißes hat keines wieder. Ich kann es mir nicht denken, auch jetzt nicht, daß wir ihn nie wiedersehen sollten; schon so oft hier im Gehölz ist es mir gewesen, als müßte er mir begegnen...

An Karoline.

Marino, 24. Juli 1804.

... Von Goethe und Schiller höre ich gar nichts. Beide sind mir, wie Du weißt, Briefe schuldig, überhaupt habe ich noch in keiner Zeit so in aller Rücksicht vereinzelt gelebt. Ich kann indes nicht sagen, daß ich eine andere Sehnsucht als die nach Dir fühlte. Je weniger ich mich gerade gegen andere äußern kann, desto mehr lebe ich in mir. Ich lese sehr viel Dichter und bin tief im Dante. Es ist wunderbar, daß gerade je älter ich werde, ich desto mehr eigentlich Freiheit in meinem Denken und Empfinden gewinne und der Phantasie viel mehr Rechte lasse als ehemals, da ich sehr jung war. Ich fühle erst jetzt recht lebendig, daß sich das Tiefste und Beste, ja so das recht eigentlich Menschliche nur in der erdichteten Gestalt ausdrückt, und daß die höchste Kunst eigentlich darin bestände, seine ganze Ansicht des Lebens in eine Dichtung zu verwandeln, in der doch der ganze Kern der Erfahrung und Wirklichkeit unverloren bliebe. Und eigentlich ist das wohl leicht möglich, aber leichter zu tun als auszusprechen. Denn in Erfahrung und Dichtung erscheint uns eigentlich dieselbe Gestalt, die Wahrheit des Daseins, dort in seiner unmittelbar empfundenen Anschaulichkeit, hier in seiner schrankenlosen Unendlichkeit. Ich habe in jedem Zeitpunkte meines Lebens wohl immer eine Richtung gehabt, hierin das eigentlich Rechte zu erkennen. Es ist dieselbe Richtung gewesen, die mich an Dich, liebes, teures Wesen, so innig angezogen hat; aber ich habe so manchmal, was ich besser fühlte, mit Räsonnement vermischt; ich begreife erst jetzt ganz, wie man vom Menschen, dem Leben und der Welt nichts wissen kann, was man nicht tief aus seinem eigenen Dasein schöpft oder vielmehr an sich selbst wahr macht. Menschheit und Natur lassen sich nicht begreifen, wie man es nennt; man kann sich ihnen nur lebendig und durch Aneignung nähern. Nur indem man sich die tausendfachen Gestalten ihres Erscheinens aneignet, ahnt man einigermaßen ihre Unendlichkeit oder fühlt vielmehr, daß sie alles und eins sind. Man lernt dadurch auf den Punkt kommen, von dem aus alles Streitende in den einzelnen Gestalten verschwindet und ihre ganze individuelle Kraft doch rein erhalten ist. Nur auf dieser Ansicht ist es möglich, im eigentlichsten Sinne des Worts über dem wirklichen Leben zu schweben und es doch ganz auszufüllen, und es gehört nichts dazu als eine recht tiefe Verachtung des Irdischen, das ist umgekehrt nichts zu tun, zu denken und zu betrachten, als der Idee wegen und für sie alles zu wagen und zu leiden, und eine womöglich noch ärgere Verachtung alles Phantastischen, das ist alles sogenannten Idealischen, dem keine echte Erfahrung und Wirklichkeit zugrunde liegt, um dahin zu gelangen. Ist man aber da, so ist man auch auf dem Punkte, wo alle menschlichen Dinge ihre wahre Gestalt behalten und doch nichts mehr Schrecken und Ekel erregt, der Schmerz selbst durch seine bildende Tiefe zu einer fruchtbaren Arbeit des Gemütes wird, wo aus der vollkommenen Übereinstimmung mit sich selbst eine unbesiegbare innere Heiterkeit hervorgeht und die kalte eiserne Notwendigkeit selbst nur als eine Macht erscheint, an der man sich und sein Schicksal vollendet. Je mehr man dazu lebendige Gestalten in sich vereinigen kann, je kürzer und leichter ist der Weg, und Erfahrung und Dichtung bleiben daher immer die reichsten Quellen des Lebens, weniger sogar durch das, was sie unmittelbar leisten, als durch die Stimmung, in die sie versetzen...

An Karoline.

Marino, 29. August 1804

... Wir wäre es Montagnacht beinah schlimm ergangen, so endigte es indes bloß komisch. Ich ging mit dem Kanonikus allein in dem hiesigen Park, der Colonna gehört, spazieren. Da er ganz nah ist, so gingen wir etwa nur eine Stunde vor Sonnenuntergang aus. Dieser Park, mußt Du nun wissen, ist ein tiefes und enges Tal, auf beiden Seiten von Bergen eingeschlossen, auf denen die Mauer läuft, die aber an einigen Stellen zerbrochen ist. Durch eine solche Stelle kamen wir hinein. Inwendig ist alles verwachsenes Gesträuch und hohe Bäume, himmlische Gruppen mitunter. Wir hielten uns eine gute Stunde auf und gingen darauf zurück. Im Zurückgehen durch den Park verloren wir den engen und verwachsenen Fußsteig; aber da der Kanonikus immer glaubte, gleich die Mauer wiederzufinden, so arbeiteten wir uns geduldig mit manchem blutigen Riß durch die Dornengebüsche durch. Aber alles Arbeiten war vergeblich, wir kamen dicker und dicker hinein, und die Nacht brach an. Wir hielten Rat, gingen nach allen Seiten, aber keiner von uns wußte mehr Weg noch Richtung, und wenn wir auch die letztere an den Sternen sahen, so verlor man sich gleich beim Hin- und Herdrehen in dem Dickicht. Endlich kamen wir auf einen leeren Fleck wie eine Stube groß, wo ein alter Baumstamm lag, der ein sehr natürliches Kanapee abgab. Wir ruhten da ein wenig aus, hörten fast die Leute in Marino sprechen, waren aber so von Dorngebüsch eingeschlossen, daß der Kanonikus versicherte, es sei vergeblich, wir müßten die Nacht dableiben. Ich setzte mich also geduldig auf den Baumstamm und freute mich an dem prächtigen Himmel. Der Fomahaut ging gerade hinter Monte Cavo auf und erinnerte mich deutlich an den Burgörner Kirchberg. Der stets geschwätzige Kanonikus erzählte mir bei der Gelegenheit, daß ein Wolf in der Nähe sei, der schon viel Esel zerrissen habe, er habe aber ein Messer und einen Dornstock, und es habe nichts zu sagen. Ich hatte zwar nur ein kleines Rohr, das jetzt mein ewiger Begleiter ist; ich dachte aber bei mir, daß er diesen Kampf allein bestehen sollte, ich hätte mich auf einem Baumstamm verschanzt. So blieben wir ruhig, bis der Kanonikus ausrechnete, wir hätten bis zum Tag noch acht Stunden zu warten. Die Betrachtung war zu ernsthaft; ich versicherte ihm also, wir müßten, wie es auch werde, durchbrechen, und so kamen wir wirklich nach unglaublichen Mühseligkeiten und der Kanonikus mit zerlumpten Strümpfen und zerrissenen Händen zu Hause an, wo man uns eben hatte wollen mit vielen Menschen aufsuchen lassen...

An Karoline.

Marino, 11. September 1804.

... Glaube mir, liebe Li, das ist das eigentlich Geheimnisvolle, Furchtbare, aber auch Wohltätige in des Menschen Existenz, daß er und das Schicksal in zwei verschiedenen Sphären wandeln, die er aber doch, nur in unabsehbaren Fernen, vereinigt erblickt oder ahnet. Der Mensch muß nie nach etwas anderem als nach der Notwendigkeit des Augenblicks handeln; der Erfolg muß ihn unbekümmert lassen; wenn ihn alsdann das Geschick zu einem großen Glück oder einem großen Unglück lenkt, dann führt ihn Schmerz oder Genuß in eine unbekannte Region ein, dann erkennt er eine ihm unerreichbare und doch verwandte Macht, entdeckt Kräfte in sich, die ihm wirklich bis dahin fremd waren, zu verknüpfen, was sonst widerstrebend schien, Gewißheit zu fühlen, wo er sich nur Ahnung erlaubte. So bildet sich das, worauf alle innere Größe und alles innere Glück beruht: der unwiderstehliche Hang, sein eigentliches Dasein nur da zu suchen, wo sich die recht tief empfundene Wirklichkeit in Unendlichkeit auflöst; und im handelnden Leben die Ruhe und Besonnenheit, die sich in jeder Lage nur nach dem bestimmt, was der Moment und die Vernunft gebieten; und aus dieser Festigkeit des Handelns und der Ruhe jenes Daseins geht die Kraft hervor, der auch der Glückliche bedarf, das Leben zu ertragen, den Zwiespalt des Geschicks mit den Wünschen der Brust selbst noch zu einer neuen Quelle, wenn nicht des Glücks, doch des Genusses selbst im Schmerz, und wenigstens immer größerer und tieferer Gefühle zu machen. Dem eigenen Vorwurf kann daher der Mensch nicht entgehen, wenn er handelt, wie er nicht soll; aber Veranlassung eines Erfolges kann er nie sich nennen, und das ist wirklich eine der größesten Wohltaten des Himmels, unsere Handlungen gleichgültig gemacht zu haben für den Weltlauf und nur wichtig für die innere Ansicht und die innere Zurechnung. Das Schicksal kann nur eine wohltätige Macht sein, und aller wahrer Schmerz ist nur eine Dumpfheit, die sich nach der Freiheit sehnt, deren ungestörten Genuß sie mit Sicherheit ahnt ...

An Karoline.

Rom, 9. Oktober 1804.

... Denn wie verdunkelt es auch oft zufällig sein mag, so drückt sich das Höchste doch im Menschen am reinsten aus; wo es sich in der Seele verwischt hat, rettet es sich oft noch in die Form, die ihre ursprüngliche Reinheit sicherer bewahrt; in einzelnen Fällen sieht man es immer in seiner vollen Schönheit strahlen, und wenn man nur erst dahin gekommen ist, recht zu fühlen, daß das höchste Menschliche nur eine hell und rein entfaltete Erscheinung des schlicht und einfach Natürlichen ist, so findet man überall seine Spuren. Freilich aber erschließt sich das nur einem selbst ähnlich gebildeten Sinn, und je mehr man also auf diese Weise im Leben nur den Menschen sucht und im Menschen das Leben findet, desto reicher, sich selbst genügender, unabhängiger wird man selbst, desto menschlicher und menschlichen Gefühlen berührbarer in allen Punkten seines Wesens und von allen Seiten der Schöpfung her. Das ist es eigentlich, liebe Li, wohin mich meine Natur treibt und worin ich lebe und webe. Hier ist für mich der letzte Schlüssel alles Verlangens, der Hafen, von dem aus man keine Segel mehr spannt. Denn darüber geht nun nichts; das dient nicht mehr zu etwas anderem, sondern hat seinen Zweck und sein Ende in sich selbst. Wer, wenn er stirbt, sich sagen kann: Ich habe so viel Welt, als ich konnte, erfaßt und in meine Menschheit verwandelt, der hat sein Ziel erfüllt, der kann nicht wünschen, wieder anzufangen, um nun erst das Rechte zu ergreifen. Er hat getan, was im höheren Sinne des Wortes Leben heißt, und es ist Torheit, das Leben einem fremden Zweck unterwerfen zu wollen. Man spinnt es aus wie der Seidenwurm, solange der Faden reicht, und damit ist es am Ende...

Schiller an Humboldt.

Weimar, 2. April 1805.Schillers letzter Brief an seinen Freund; Humboldt erhielt ihn erst nach Schillers Tod.

Ich könnte es vor dem Himmel nicht verantworten, teurer Freund, wenn ich die schöne Gelegenheit, die sich mir darbietet, Ihnen ein Wort des Andenkens zu sagen, unbenutzt ließe. Ist es gleich eine unendlich lange Zeit, daß ich Ihnen nicht eine Zeile gesagt, so kommt es mir doch vor, als ob unsre Geister immer zusammenhingen, und es macht mir Freude zu denken, daß ich mich auch nach dem längsten Stillstande, mit gleichem Vertrauen wie da wir noch zusammen lebten, an Ihr Herz legen kann. Für unser Einverständnis sind keine Jahre und keine Räume. Ihr Wirkungskreis kann Sie nicht so sehr zerstreuen, und der meinige mich nicht so sehr vereinseitigen und beschränken, daß wir einander nicht immer in dem Würdigen und Rechten begegnen sollten. Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, daß die Dinge uns formten und nicht wir die Dinge.

Daß ich in dieser langen Zeit unsers stockenden Briefwechsels auf meine Art tätig war, wissen Sie und haben es, wie ich denke, gelesen. Ich wünschte auch, von Ihnen selbst zu hören, wie Sie mit meinem Teil zufrieden sind; es ist ein erlaubter Wunsch, denn bei allem, was ich mache, denke ich, wie es Ihnen gefallen könnte. Der Ratgeber und Richter, der Sie mir so oft in der Wirklichkeit waren, sind Sie mir, in Gedanken, auch noch jetzt, und wenn ich mich, um aus meinem Subjekt herauszukommen, mir selbst gegenüberzustellen versuche, so geschieht es gerne in Ihrer Person und aus Ihrer Seele.

Noch hoffe ich, in meinem poetischen Streben keinen Rückschritt getan zu haben, einen Seitenschritt vielleicht, indem es mir begegnet sein kann, den materiellen Forderungen der Welt und der Zeit etwas eingeräumt zu haben. Die Werke des dramatischen Dichters werden schneller als alle andre von dem Zeitstrom ergriffen, er kommt selbst wider Willen mit der großen Masse in eine vielseitige Berührung, bei der man nicht immer rein bleibt. Anfangs gefällt es, den Herrscher zu machen über die Gemüter; aber welchem Herrscher begegnet es nicht, daß er auch wieder der Diener seiner Diener wird, um seine Herrschaft zu behaupten. Und so kann es leicht geschehen sein, daß ich, indem ich die deutschen Bühnen mit dem Geräusch meiner Stücke erfüllte, auch von den deutschen Bühnen etwas angenommen habe.

Seit dem Tell haben Krankheiten und Zerstreuungen meine Tätigkeit öfters unterbrochen; eine Reise nach Berlin im vorigen Frühjahr, darauf im Sommer eine heftige Krankheit, und dieser furchtbar angreifende Winter haben mich ziemlich von meinem Ziel verschlagen. An Vorsätzen und Entwürfen fehlte es zwar nicht; aber ich schwankte zu lange hin und her und habe mich erst seit einigen Monaten für eine neue Tragödie entschieden, die mich wohl bis Ende dieses Jahres beschäftigen wird. Um diesen Winter doch nicht ganz untätig zu sein, habe ich, da ich nichts Eigenes machen konnte, die Phedre von Racine übersetzt und spielen lassen, und diese nicht so ganz leichte Arbeit hat mir eine angenehme Übung gegeben. Zur Ankunft unserer Erbprinzessin machte ich ein kleines Vorspiel, das ich Ihnen hier beilege. Es ist ein Werk des Moments und im Verlauf weniger Tage ausgedacht, ausgeführt und dargestellt worden. Eine Sammlung meiner Theaterstücke, womit diesen Sommer der Anfang gemacht wird, wird mit diesem Vorspiel, dem Carlos und der Jungfrau von Orleans eröffnet.

Goethe war diesen Winter wieder sehr krank und leidet noch jetzt an den Folgen. Alles rät ihm, ein milderes Klima zu suchen und besonders dem hiesigen Winter zu entfliehen. Ich liege ihm sehr an, wieder nach Italien zu gehen, aber er kann zu keinem Entschlusse kommen; er fürchtet die Kosten und die Mühseligkeiten, auch mögen ihn vielleicht andere Einflüsse binden. Unter diesen Umständen hat er freilich nicht viel im Poetischen leisten können; aber Sie wissen, daß er nie untätig und sein Müßiggang nur ein Wechsel der Beschäftigung ist. Er hat in diesem Winter eine ungedruckte sehr geistreiche Satire von Diderot übersetzt, die diesen Sommer bei Göschen herauskommt. Auch ist er mit Herausgabe ungedruckter Briefe von Winkelmann beschäftigt, und zuweilen ließ er sich auch mit vieler guter Laune in der Literaturzeitung hören. Er wird, wenn es irgend seine Gesundheit erlaubt, Ihnen gewiß auch mit dieser Gelegenheit schreiben. Wir sahen uns diesen Winter selten, weil wir beide das Haus nicht verlassen durften.

Daß ich Anträge gehabt, mich in Berlin zu fixieren, wissen Sie, und auch, daß mich der Herzog von Weimar in die Umstände gesetzt hat, mit Aisance hier zu bleiben. Da ich nun auch für meine dramatischen Schriften mit Cotta und mit den Theatern gute Akkorde gemacht, so bin ich in den Stand gesetzt, etwas für meine Kinder zu erwerben, und ich darf hoffen, wenn ich nur bis in mein fünfzigstes Jahr so fortfahre, ihnen die nötige Unabhängigkeit zu verschaffen. Sie sehen, daß ich Sie ordentlich wie ein Hausvater unterhalte; aber ein solches Häuflein von Kindern, als ich um mich habe, kann einen wohl zum Nachdenken bringen.

Übrigens leben wir hier in einem sehr angenehmen Verhältnis, und ich habe es noch keinen Augenblick bereut, daß ich es dem Aufenthalt in Berlin vorgezogen habe. Wäre ich freilich ein ganz unabhängiger Mensch, so würde ich dem Süden um vier Grade näherrücken.

Von unserer literarischen Welt überhaupt kann ich Ihnen wenig berichten, denn ich lebe wenig mehr in ihr. Die spekulative Philosophie, wenn sie mich je gehabt hat, hat mich durch ihre hohlen Formeln verscheucht, ich habe auf diesem kahlen Gefild keine lebendige Quelle und keine Nahrung für mich gefunden; aber die tiefen Grundideen der Idealphilosophie bleiben ein ewiger Schatz, und schon allein um ihrentwillen muß man sich glücklich preisen, in dieser Zeit gelebt zu haben. Um die poetische Produktion in Deutschland sieht es aber höchst kläglich aus, und man sieht wirklich nicht, wo eine Literatur für die nächsten 30 Jahre herkommen soll. Auch nicht ein einziges neues Produkt der Poesie weiß ich Ihnen seit langer Zeit zu nennen, was einen neuen Namen an der Spitze trüge und was einem Freude machte. Dagegen regt sich die eselhafte Nachahmungssucht der Deutschen mehr als jemals, eine Nachahmung, die bloß in einem identischen Wiederbringen und Verschlechtern des Urbilds besteht. Solcher Nachahmungen hat auch mein Wallenstein und meine Braut von Messina vielfach hervorgebracht, aber man ist auch nicht um einen Schritt weiter gefördert.

Aber nun auch genug von meinen und von den deutschen Angelegenheiten. Ich wünschte, mir anschaulich zu machen, wie Sie in Rom leben und worin Sie leben. Der deutsche Geist sitzt Ihnen zu tief, als daß Sie irgendwo aufhören könnten, deutsch zu empfinden und zu denken. Frau von Staël hat mich bei ihrer Anwesenheit in Weimar aufs neue in meiner Deutschheit bestärkt, so lebhaft sie mir auch die vielen Vorzüge ihrer Nation vor der unsrigen fühlbar machte. Im Philosophieren und im poetischen Sinne haben wir vor den Franzosen einen entschiedenen Schritt voraus, wieviel wir auch in allen andern Stücken neben ihnen verlieren mögen.

Haben Sie Ihre Bekanntschaft mit Schlegeln nun in Rom erneuert, und wie stehen Sie mit ihm? Die Welt vernimmt jetzt wenig von diesen beiden Brüdern; aber das Unheil, was sie in jungen und schwachen Köpfen angerichtet, wird sich doch lange fühlen, und die traurige Unfruchtbarkeit und Verkehrtheit, die jetzt in unserer Literatur sich zeigt, ist eine Folge dieses bösen Einflusses.

Sagen Sie der guten Li meine herzlichsten Grüße; es war für mich eine schmerzliche Freude, als ich sie im vorigen Jahr hier wieder sah, und ich leugne nicht, daß ich sehr viel für sie gefürchtet. Desto inniger freuen mich nun die guten Nachrichten, die wir von ihr gehört. Auch dem Herrn Kohlrausch bitte ich, mein Andenken zu erneuern.

Ich ersuche Sie, liebster Freund, inliegenden Brief an G. ja recht bald zu besorgen. Er wartet schon fast ein Jahr auf meinen Brief und wird mich beinahe aufgegeben haben.

Tausendmal umarme ich Sie, mein teurer Freund, und wünsche, daß mich dieser Brief Ihnen ganz so, wie Sie mich sonst gekannt, wieder darstellen möchte.

Schiller.

An Goethe.

Rom, den 5. Juni 1805.

Ich freute mich kaum Ihres Briefes, mein inniggeliebter Freund, als ich durch Fernow die schreckliche Nachricht von Schillers Tode empfing. Nichts hat mich je gleich stark erschüttert. Es ist das erstemal, daß ich einen erprüften Freund, mit dem sich durch Jahre des Zusammenseins Gedanken und Empfindungen innig vermischt hatten, verliere, und ich fühle jetzt die Trennung, die Entfernung, in der wir in den letzten Jahren lebten, noch schrecklicher. Seinen letzten Brief schrieb er mir im September 1803 über meines Wilhelms Tod. Er war über meinen Schmerz sehr bewegt; aber was er darin wünscht und hofft, ist in Erfüllung gegangen. Er ist hingeschieden, ohne selbst einen von denen, die ihm zunächst lieb war, verloren zu haben. Seine schwächliche Konstitution, sagt er, lasse es ihn hoffen. Wäre er selbst uns nicht so früh entrissen worden! Jetzt denke ich oft, er hätte die letzten Jahre seines Lebens hier zubringen sollen. Rom würde einen großen Eindruck auf ihn gemacht haben, er hätte das mit sich hinübergenommen. Er hätte sich vielleicht auch länger erhalten, der strenge Winter scheint ihm doch verderblich gewesen zu sein, vielleicht auch die ewige Anstrengung, die nachgelassen oder doch milder gewirkt hätte, wenn er seinen äußern Sinn durch große Umgebungen getragen, seine Einbildungskraft durch eine ihrer würdigere Natur um sich her unterstützt gefühlt hätte. Wie einsam Sie sich fühlen müssen, kann ich mir denken; und doch beneide ich Sie unendlich. Sie können sich doch noch den Ton der Worte seiner letzten Tage zurückrufen; mir ist er wie ein Schatten entflohen, und ich muß alles, was ihn mir lebhaft zurückruft, aus einer dunklen Ferne mühsam herbeiholen. Wie oft ist es mir eingefallen, daß der Mensch sich leichtsinnig trennt, zerreißt, was ihn beglückt und mutwillig nach dem Neuen hascht. Wenn die wahre Ungewißheit des menschlichen Schicksals den Menschen so lebendig vor Augen stände, als sie es sollte, würde kein Mensch von Gefühl je sich entschließen, die Spanne Landes zu verlassen, auf der er zuerst Freunde umarmte.

Sie, liebster Goethe, sollten jetzt den nächsten Winter in Italien zubringen. Solange Schiller lebte, hätte ich Sie nie recht ernstlich einladen mögen. Sie besaßen sich gegenseitig, keiner von Ihnen hätte für eine lange Trennung Ersatz gefunden. Jetzt, da dies Band zerrissen ist, sollten Sie auf eine Zeit ein schöneres Land und die Umgebungen suchen, die Ihnen schon aus dem Andenken her so wert sind. Die politischen Umstände scheuen Sie nicht. Selbst wenn, wie ich nicht glaube, Krieg entstände, kann man, trauen Sie meiner Erfahrung, ruhig genießen und das armselige Getreibe um sich her ruhig geschehen lassen. Die äußeren Unbequemlichkeiten Italiens sollen Sie nicht drücken. Die ersten Wochen wohnen Sie bei uns, richten sich dann mit Muße ein; in dieser Rücksicht hat Rom, wie jede viel von Fremden besuchte Stadt, seit Ihrem Hiersein unstreitig gewonnen. Für Ihre Gesundheit wäre mir auch nicht bange. Das mildere Klima muß Ihnen wohltätig sein, und Sie finden auch künftiges Jahr noch Kohlrausch bei mir im Hause, der Sie ja, denke ich, in Weimar gesehen hat, und den Schiller sehr liebte. Tun Sie es, mein Bester. Über uns können Sie ganz gebieten, so einsam Sie wollen, und so viel in unserer Gesellschaft, als Ihnen lieb ist, leben. Wenn Ihnen Rom wirklich noch teuer ist, so lassen Sie sich nicht durch kleine Bedenklichkeiten abhalten. Ein Genuß, wie Natur und Kunst ihn Ihnen hier gewähren müssen, verdiente selbst, daß man ihm große Opfer brächte, und wie glücklich Sie uns machten, welchen neuen unbeschreiblichen Reiz Sie Rom für mich geben würden, sage ich Ihnen nicht, weil ich Sie nicht bestechen, sondern nur Ihnen anraten möchte, was ich rein und allein auch für Sie unendlich wohltätig halte.

Sagen Sie mir doch bald, ob sich unter Schillers Papieren noch etwas Unbekanntes erhalten hat? Ich glaube es zwar nicht, es war nicht seine Art, etwas lange liegen zu lassen. Es schmerzt mich jetzt, daß er in den letzten Jahren so wenig Prosaisches geschrieben hat. Der Schriftsteller spricht in der Prosa mehr unmittelbar sich selbst aus, und nach ihm, nach einem Laute seines Wesens sehne ich mich. Wie aber in Leben und Kunst alles so ewig unvollendet bleibt! Jedes Schauspiel Schillers ist eigentlich ein neuer Versuch; er ging immer von der Liebe zur Kunst, immer von dem Wunsche, ihr eine neue Seite abzugewinnen, aus, und kaum möchte ich sagen, daß die große Reihe seiner dramatischen Produktionen ein Resultat darüber vollendet hätte. In jedem ist ein sichtbarer Fortschritt, wenigstens immer einer, durch den man dem Ziele, das er sich vorsteckte, näher kommt; hätte er gelebt, er hätte endlich klar gesehen und sich bis zum Gipfel hinausgearbeitet; nach ihm, wer kann auf dieser Bahn weitergehen? In wem ist diese Verbindung kritischer und intellektueller Kraft? Es wäre schrecklich, wenn die deutsche Poesie ihren Zenit schon wieder erreicht haben sollte, da beinahe wir sie entstehen sahen. Und doch ist es gewiß so. Erhalten Sie sich jetzt uns, mein Teuerer. Verlieren auch wir Sie einmal, so ist überall Nacht und Verwirrung...

Von ganzer Seele Ihr Humboldt.

An Chr. G. Körner.

Rom, den 8. Juni 1805.

Tausend Dank für den Einfall, mein teurer geliebter Freund, mir gerade jetzt, nach Schillers Tode, wieder zu schreiben. Auch mir sind Sie zuerst eingefallen; wir standen in vieler Rücksicht in gleichem Verhältnis zu ihm und haben gleichviel verloren. Mir ist es in der Tat, als hätte ich auf einmal eigentlich den Leitstern aller meiner intellektuellen Richtungen verloren, und ich wage es noch nicht zu entscheiden, wie es eigentlich auf mich wirken wird. Wenn ich bis jetzt etwas schrieb, wenn ich nur einen Entwurf machte zu schreiben, dachte ich mir eigentlich ihn als einzigen Beurteiler und Richter. Alles Beste in mir war immer an ihn gerichtet, und zugleich gab er mir auch immer die Stimmung und Kraft. Mit unendlicher Wahrheit sagen Sie, mein Lieber, daß in seinen Dichtungen das Persönliche eine so große Wirkung ausübte. Wirklich sprach er die Menschheit nur immer in ihren höchsten Momenten aus und erschien bei weitem mehr individuell als Goethe. Wenn Sie unter dem Idealischen das Gebiet der Ideen verstehen, so weiß ich ihn nicht besser zu charakterisieren, als daß er von diesem Idealischen durchdrungen war und kaum je von etwas anderm nur leicht berührt wurde. Geradezu etwas über ihn zu schreiben, denke ich nicht. Es würde ihm nur schaden. Wollte ich schreiben, wie ich denke, so würde man über Parteilichkeit und vorgefaßte Meinung schreien; und kalt abwägen, in den großen Seiten nicht den Quell malen, aus dem die Kraft hervorströmte, sondern die Dämme und Beschränkungen, in welchen der Zufall sie manchmal festhielt, die kleinen Schwächen abwägen, um hernach ein abgezirkeltes Urteil zu fällen, das mag ein anderer über den Toten tun. Aus dieser Schwierigkeit den Ausgang zu finden, denn einen Ausgang gibt es freilich, gehört ein Feuer der Empfindung, eine Glut der Darstellung dazu, die den Leser zu der Begeisterung mit fortreißt, in der man einen großen Geist sehen muß, wenn man ihn und nicht sein zufälliges Schicksal sehen will. Dazu ist mir die Fähigkeit versagt. Allein führte mich irgendein Gegenstand gelegentlich auf ihn, ja dann, mein Lieber, würde ich mich gern über ihn und mit aller Wärme aussprechen, die mir sein bloßer Name einflößt. Und was können leicht wir beide in Ideen schreiben, wo er nicht mitten unter uns träte?

Haben Sie aber nicht auch bei diesem Tode, mein teurer Freund, das Gefühl gehabt, daß die bessere Welt vor uns hingeht und wir der minder guten preisgegeben bleiben? Mir hat dieser Verlust eines der stärksten Bande gelöst, die mich an Deutschland knüpften. Es ist, als bannte mich das Schicksal immer fester in dies Land, das nur Schatten beleben und in dem alles Lebendige nur wie durch Zufall in eine Einöde gebannt scheint. Möchten Sie nur einmal diese trümmerbedeckten Hügel, diese wüsten Fluren und diese langsamen gelben Tiberwogen gesehen haben, um ein anschauliches Bild davon zu haben. Wenn Sie recht lebhaft zu fühlen vermögen, wie es in der Seele wird; wenn sie sich durch und durch in Vergänglichkeit und Trümmer versenkt, aber die Trümmer die Trümmer einer Welt sind, so haben Sie den Eindruck, den Rom auf mich macht. Das erste Gefühl ist Wehmut; aber die Unermeßlichkeit des Dahingeschwundenen gibt der Wehmut eine Größe, die wieder heiter wird und wieder in lichtem Äther über der Erde schwebt. Alles, was einen großen Eindruck macht, oder alles, was in rechter Stimmung empfunden wird, wirkt, dünkt mich, symbolisch. Das Unbekannte und nie zu Erkennende strebt in einem sichtbaren Zeichen aus. Sich selbst so zu einem Symbole des Weltalls umzuschaffen, wäre die höchste Aufgabe der Menschheit. Gehen Sie von dieser Idee aus, die, wie ich gern gestehe, jetzt und seit längerer Zeit meine Lieblingsidee ist und für mich den Schlüssel alles Daseins, wie es ist und sein soll, enthält, so ist Rom das Symbol zugleich der Vergänglichkeit und des Weltzusammenhangs, wie er intellektuell und ästhetisch für uns existiert. Hier gewann griechische Kunst Festigkeit, von hier zerstreute sie sich und ging aus in die Ferne und in die Irre. Hier nahm das Christentum und mit ihm aller sentimental religiöse Mystizismus denselben Gang. Um daher durch die Phantasie in diesen Mittelpunkt der Weltansicht gestellt zu werden, muß man hierher gehen und hier lange bleiben. In fruchtbarer Einsamkeit legen sich erst hier die Weltgestalten deutlich und ruhig auseinander, Gedanke und Empfindung schmilzt klar, Wehmut und Frohsinn heiter ineinander über, und auf der Grenze zwischen Leben und Tod tritt man leichter in jenem auf und neigt sich sanfter zu diesem hinüber.

Hier haben Sie, Lieber, mit wenig Worten meine Ansicht meines Aufenthalts hier und den Schlüssel meiner Existenz. Ich fühle mich sehr glücklich, ich bin nie heiterer in einer doch sehr verwickelten Geschäftstätigkeit, nie fruchtbarer in Ideen, nie poetischer gestimmt, nie zufriedener mit meiner häuslichen Lage, nie ungeteilter dem Andenken derer, die ich verloren habe, gewidmet gewesen als hier. Es fehlt mir bloß eins, nach dem ich ringe; aber ich weiß nicht, ob ich es je erreichen werde. Es ist mir oft, als hätte mir die Natur nur Auge, das Hohe zu sehen, und Sinn, das Tiefe zu fühlen, gegeben, aber Flügel und Sprache versagt. Ich möchte etwas gemacht haben, in dem ich mich selbst eigentlich achten könnte, eine Reihe von Ideen entwickelt haben, durch welche die innere Ansicht der Menschheit weiterrückte.

Solange ich hier bin, denke ich darauf. Nach und nach hat der rohe Entwurf in meinem Kopf einige Gestalt bekommen; da er eben begann, sich der Ausführung zu nähern, ist mir Schiller entrissen worden, auf den dabei alles berechnet war. Ich habe nämlich nicht lange nach einem Gegenstand herumgesucht, an dem ich mich prüfen könnte. Das einzige, was mir in dieser Art Befriedigung gewähren kann, ist, mich selbst auszusprechen. Das Letzte im Menschen, dessen Dasein einmal Denken und Beobachten ist, ist immer das Resultat, in dem er die Betrachtung seiner und der Welt verknüpft. Dies von mir wollte ich schildern, wollte es Schillern gegenüber in freien, an ihn gerichteten Bruchstücken tun. Diese Form ist jetzt unmöglich, die Sache gebe ich natürlich nicht auf. Wenn ich mich deutlich ausgedrückt habe, so werden Sie sehen, daß, was ich zeigen möchte, eigentlich das Dasein, die Bedeutung und der Fortschritt des intellektuellen Lebens in dem Individuum, der Natur und der Geschichte ist. Ich fühle, daß der Gegenstand groß ist, tief wie jede Philosophie und umfassender, weil er nicht bei einem menschlichen Vermögen, der Spekulation, seine Grenze findet; aber er ist nicht eigentlich weitläufig. Es ist nicht nötig, einen weiten Raum zurückzulegen; es kommt nur darauf an, den eigentlichen Gesichtspunkt zu finden, und alles springt von selbst ins Auge. Man muß sich bloß vielfach hin und her wenden, Nationen und Zeilen durchlaufen, um von verschiedenen Seiten aus diesem Punkte beizukommen; denn unmittelbar und gerade möchte kein Weg dahin führen.

Um nur überhaupt noch meine Fähigkeit so isoliert, wie ich hier bin, zu arbeiten, zu prüfen, habe ich vorigen Sommer und Herbst den Agamemnon fertig übersetzt und das schon Gemachte überarbeitet. Im Winter sollen Sie ihn gedruckt haben und mir Ihr Urteil sagen.

Die Basken sind ein Stück schnell fortgerückt und dann liegengeblieben. Aber es kommt nur auf ein paar Monate an, und die will ich ihnen jetzt widmen. Daß ich solange schwieg, liebster Körner, geschah zum Teil mit Fleiß. Sie hatten mir gesagt, Sie hätten keine Freude an meinem Sein in Italien, wenn Sie nicht sehen, daß ich hinfort auch für mich tätig sein könnte; daher wollte ich nicht mit leeren Händen vor Ihnen erscheinen. Jetzt schreiben Sie mir oft. Wir sind unglücklicherweise jetzt allein. Lassen Sie uns treu zusammenhalten und rechnen Sie auf meine Liebe zu Ihnen und mein Andenken an Schiller. Meine Frau grüßt mit mir Sie und die Ihrigen herzlich.

Ihr H.


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