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»Gefühl fürs Wahre, Gute und Schöne adelt die Seele und beseligt das Herz; aber was ist es, selbst dieses Gefühl, ohne eine mitempfindende Seele, mit der man es teilen kann!
Noch nie wurde ich von der Wahrheit dieses Gedankens so lebhaft und so innig durchdrungen, als in dem jetzigen Augenblick, da ich mich, auf ungewisse Hoffnung des Wiedersehens, von Ihnen trennen muß. Hoffnung des Wiedersehens: Doch geschah es noch zweimal nach vielen Jahren. – Dokument, das hierher gehört: vgl. die Einführung
Pyrmont, den 20. Juli 1788.
Wilhelm von Humboldt.«
So lautete das Stammbuchblatt, das der einundzwanzigjährige Student der Rechte, Wilhelm von Humboldt, der um zwei Jahre jüngeren Pfarrerstochter Charlotte Hildebrand beim Abschiednehmen überreichte. Sie hatte ihren, nach dem plötzlichen Tode der Gattin, erholungsbedürftigen Vater in das herrlich gelegene Modebad begleitet und hier den jungen Aristokraten kennen gelernt, der von Göttingen aus, wo er an der berühmten Georgia Augusta studierte, einen kurzen Ausflug in das schöne Weserland unternommen hatte und im selben Hause Wohnung fand, das den Pfarrer Hildebrand mit seiner schönen Tochter beherbergte. Zwei gleichgestimmte Seelen hatte das Schicksal hier zusammengeführt, und schnell war der für Frauenschönheit empfängliche Jüngling von seiner anmutigen Tischnachbarin bezaubert, deren große blaue Augen noch später an der Greisin einem Gutzkow auffielen. »Schlank gewachsen, über das Maß der mittleren Größe hinaus, war Charlotte doch von vollen Formen. Ihr frisches Gesicht war von reichen blonden Locken umrahmt.« »Drei glückliche Tage« verlebten die beiden jungen Menschen im regsten Gedankenaustausch in den herrlichen Alleen und der wundervollen Umgebung des idyllischen Pyrmont, und dann kam der Abschied, und man ging in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen auseinander. Doch 26 Jahre sollten vergehen, bis das Schicksal beide Menschen wieder zusammenführte, freilich unter ganz anderen Bedingungen, als sie damals hätten ahnen können.
Den weltgewandten Freund ließ der Strudel des Lebens bald das Pyrmonter Erlebnis vergessen. Ihr aber waren jene Tage »die ersten, ungekannten Regungen erster erwachender Liebe, so geistiger Art, wie sie wohl bei der edleren Jugend immer sind, und das Stammbuchblatt blieb ihr das einzige Pfand und Siegel der reinsten und zugleich der einzigen, wahren Lebensfreude, die ihr das Schicksal zugewogen«. Und während ihn das Leben fast mühelos auf die höchsten Höhen geleitete, wurde sie vom Schicksal schwer geprüft, und nichts Bitteres blieb ihr erspart. In sorgloser Kindheit wuchs Charlotte Hildebrand (im Mai 1769 geboren) auf dem Pfarrhofe zu Lüdenhausen auf. In dem schönen Pfarrhause mit seinem großen Garten und den geräumigen Wirtschaftsgebäuden hatten schon der Vater und Großvater des Pfarrers Hildebrand das Amt des Geistlichen bekleidet, und die Familie gehörte zu den wohlhabenderen unter den Landgeistlichen. Während die Mutter Charlottes, mehr praktisch veranlagt, den großen Haushalt mit Umsicht leitete, war der Vater ein »vielgelehrter, tiefdenkender, in der Ideenwelt lebender, sogar in Traumvisionen zuweilen bis zum magnetischen Hellsehen sich vertiefender Mann«, der ganz und gar in seinen klassischen Studien aufging. Er leitete selbst den Unterricht seiner Kinder, und Charlotte mußte an dem Lateinunterricht, den der Vater den beiden Söhnen erteilte, teilnehmen, während sie mit ihren Schwestern die französische Sprache bei einer aus der Schweiz stammenden Erzieherin lernte, an der Charlotte Zeit ihres Lebens mit rührender Anhänglichkeit hing. Das heranwachsende junge Mädchen, schwärmerisch veranlagt, lebte ganz in der gefühlsseligen Stimmung, wie sie damals durch die Romane eines Richardson gepflegt wurde. Damals schloß sie auch ihre ersten Freundschaften, die zum Teil fürs Leben halten sollten, wie mit dem lippischen Generalsuperintendenten Ewald. Eine Freundschaft mit der Tochter eines Arztes in der kleinen hessischen Universität Rinteln war auf ihr Leben von nachhaltigem Einfluß. In der romantischen Liebesgeschichte ihrer Freundin Henriette Lotheisen spielte sie die Vermittlerin, und diese Erlebnisse wurden auch für sie von folgenschwerer Bedeutung, indem sie unter dem Einfluß der Freundin die Ehe mit einem Manne einging, der ihr als Mensch gleichgültig war, durch den sie aber Eingang in die Gesellschaft fand. Schon vor der Pyrmonter Reise war sie die Braut des Dr. Diede geworden, eines wohlhabenden Juristen, der in der Residenz Kassel ein großes Haus machte. Die Eltern waren mit dieser Verbindung nicht einverstanden, aber doch hielt Charlotte – auch nach der Bekanntschaft mit Humboldt – an dem Verlöbnis fest und wurde bald nach dem Tode der Mutter Diedes Gattin. Das gesellschaftliche Leben in Kassel täuschte sie anfangs darüber hinweg, daß ihre Ehe nicht glücklich war, aber die Abneigung gegen Diede führte zu einem Bruch, als sie in ihrem Hause, in dem zahlreiche Offiziere verkehrten, die Bekanntschaft eines Kapitäns von Hanstein machte und diesem ihre Neigung zuwandte. Heftige Eifersuchtsszenen veranlaßten sie, ihren Mann zu verlassen und zu Hanstein zu flüchten, auf dessen Ehrlichkeit sie baute. Ihre Ehe wurde geschieden und sie schuldig gesprochen. Dieses Ereignis bewirkte, daß sie bald vereinsamt dastand; und auch ihr Vater sagte sich von ihr los. Nun begannen für sie schwere Jahre der Prüfung, denn Hanstein, an dessen Liebe sie unerschütterlich glaubte, hielt sie von Jahr zu Jahr hin, und dennoch konnte sie sich nicht von diesem Manne losreißen. In verschiedenen Briefen an ihre Geschwister klagt sie ihre trostlose Verzweiflung, die noch durch äußere Not verstärkt wurde, indem ihr Erbteil, das ihr nach dem im Jahre 1800 erfolgten Tode ihres Vaters zufiel, sich als weit geringer herausstellte, als sie erwartet hatte. Um sich einen Erwerb zu schaffen, zog sie 1804 nach Braunschweig, wo sie durch Handarbeiten sich ein auskömmliches Dasein zu verschaffen suchte. Dort traf sie ein schwerer Schlag, als sie die Nachricht von der Verheiratung Hansteins erhielt, durch die sie aufs tiefste erschüttert wurde. »Ach, ich fühle es zu tief und zu stark«, schrieb sie damals an ihre Schwester, »daß ich ein halbes Menschenalter mit seinen Ansprüchen und Freuden geopfert habe, um es nun zu betrauern, daß ein edler Mann (Du weißt, er war es!) sich selbst überlebt hat! Das ist mein Schmerz; nicht daß ich ihn verloren habe – obgleich ich jetzt glaube, daß ich tief im Herzen die Hoffnung, mir selbst unbewußt, genährt habe, er werde einst als mein Freund mit erhöhter Achtung zurückkehren.«
Nun hielt es sie nicht länger in Braunschweig, und sie zog nach Kassel, der Hauptstadt des ausschweifenden, leichtlebigen Königs »Lustik«, wie das Volk Jerôme nannte, zurück. Hier schuf sie sich durch Vermieten und Anfertigen von »Blumen und Ballgarnituren« einen Unterhalt, der mit den Zinsen ihres Vermögens, das sie in Braunschweigischen Staatspapieren angelegt hatte, ihr ein auskömmliches Leben gestattete. Von der klugen, geistvollen Frau angezogen, fanden sich bald zahlreiche interessante Persönlichkeiten in ihrem bescheidenen Heim ein. Da verlor sie unerwartet ihr Vermögen, als Napoleon die Staatsschuld Braunschweigs nicht anerkannte, und eine neue seelische Erschütterung, die ihr eine unglückliche Neigung zu einem Manne brachte, der sie hätte glücklich machen können, den sie aber »an ihr welkendes Leben« nicht fesseln wollte, da sie ihm »außer einem verständigen, veredelten Herzen nichts bieten konnte: keine Jugend, keine Schönheit, kein Vermögen, ja auch leider keine Gesundheit« – warf die schwer geprüfte Frau aufs Krankenlager, und aufs neue trug sie sich mit dem Gedanken, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Die Jahre 1811 bis 1813 gehörten zu den schwersten ihres Lebens. Schließlich verschlug sie ihr Geschick nach Holzminden, wo sie schon einmal nach dem Eheskandal in Kassel geweilt hatte, und hier erinnerte sie sich in ihrer Not ihres Jugendfreundes aus Pyrmont, der ihr vielleicht helfen könnte, und am 18. Oktober 1814 schrieb sie an Wilhelm von Humboldt, der damals als preußischer Abgesandter auf dem Wiener Kongresse weilte. Wir wissen, daß dies der Anfang jenes Briefwechsels war, den Humboldt bis zu seinem Tode – zuletzt mit rührender Entsagung – geführt hat, und der Charlotte Diede einen ruhigen Lebensabend geschaffen hat.
Die 26 Jahre, in denen Humboldts Jugendfreundin so ungezählte Leiden auszukosten hatte, hatten aus dem jungen Studenten der Rechte den großen Staatsmann »von perikleischer Hoheit des Sinnes« und Gelehrten werden lassen, dessen Freundschaft die Größten unserer Nation suchten, und der durch seine Taten und Schriften Gewaltiges für die deutsche Kultur geschaffen hat.
Unmittelbar nach jenem Erlebnis in Pyrmont hatte er, der schon vorher in Berlin zu dem Tugendbund mit Henriette Herz und Karl de la Roche gehörte, seine spätere Gattin Karoline von Dacheröden kennen gelernt, die mit Schillers späterer Schwägerin, der nachmaligen Karoline von Wolzogen, ebenfalls in diesem romantischen Freundschaftsbunde aufgenommen war. Schon am 1. September 1788, also wenige Wochen nach dem Zusammentreffen mit Charlotte Hildebrand in Pyrmont, schrieb er einen überschwenglichen Brief an Li, wie Karoline von Dacheröden im Freundeskreise hieß, die im Jahre darauf seine Braut wurde und mit der er seit 1791 achtunddreißig Jahre eine überaus glückliche Ehe geführt hat, bis ihm der Tod die treue Lebensgefährtin entriß. Wie nur wenigen Sterblichen war es ihm vergönnt, sich sein Leben zu formen, wie es ihm behagte, und ungetrübt durch äußere Widerwärtigkeiten konnte er auf seiner Bahn fortschreiten, die ihn auf die Höhen der Menschheit führte. Auf weiten Reisen nach Frankreich, Spanien, Italien und England hatte er Welt und Menschen kennen gelernt, und nach jahrelanger Muße, in der er sich auf seinen Besitzungen ganz seinen Forschungen widmen konnte, hatte er in der Zeit schwerster vaterländischer Not sein überragendes Wissen und seine Kraft in den Dienst des Vaterlandes gestellt, hatte die Berliner Universität mitbegründet und weilte damals, als Charlotte Diede sich in ihrer Not an ihn wandte, auf dem Wiener Kongreß.
Noch sechs Jahre war er im Dienste des Staates tätig, dann zog er sich ins Privatleben zurück, um »nicht vom Aktentische ins Grab taumeln« zu müssen. Die fünfzehn Jahre, die ihm sein arbeitsreiches Leben noch beschied, widmete er ganz seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Sprachforscher und Philosoph, und je älter er wurde, desto mehr fesselte ihn sein Schloß in Tegel, in dem ihn der Geist des Altertums aus den herrlichen Bildwerken, die er meist selbst gesammelt hatte, umgab, und als den Weisen von Tegel lernen wir ihn auch aus den »Briefen an eine Freundin« kennen. Und aus seinem tiefen Wissen und seiner geläuterten Weltanschauung konnte er nun der Freundin ein Weiser auf ihrem Pfade werden und ihrem unsteten Sinn von seinem göttlichen Frieden mitteilen.
Ihr aber wurden die Briefe Humboldts »ein verjüngender Quell«, und schon 1818 schrieb sie an ihre Schwester: »Ich genieße überall, wo ich lebe, das Glück, geliebt zu sein, und habe die Erfahrung gemacht, daß äußeres Glück oder Unglück, Reichtum oder Armut es nicht ist, was uns geliebt oder geehrt macht, sondern wir selbst es sind.« Und als ihr nun der »himmlische Freund« entrissen wurde, sah sie sich neuen Sorgen gegenüber, und einige ihrer Freundinnen ließen ihr anonym eine Unterstützung zukommen. Schließlich entschloß sich die Greisin zu einem Bittgesuch an Friedrich Wilhelm IV., der sie darauf mit 300 Talern in Gold unterstützte, so dass sie nunmehr ihren Lebensabend ruhig beschließen konnte.
Die Briefe Humboldts aber sind ihr ein Trost in ihrer Einsamkeit, und so schreibt sie an ihre Freundin, die ihr bei der Herausgabe behilflich sein soll: »Mit ihnen lebe ich jetzt und fort und fort. Aus diesem unerschöpflichen Schatz nehme ich auch jetzt Trost und Fassung, wie ich eine lange Reihe von Jahren alles herausnahm, was ich bedurfte an Rat und Trost, an Erhebung und Ermutigung, an Besserung und Belehrung, an Erleuchtung und Erkenntnis. Sie waren mein einziger Reichtum, sie beseelten meine Einsamkeit und entschädigten mich für so viele Entbehrungen. Jetzt lerne ich etwas, wie ich den großen Schmerz würdig aufnehme und trage, und mit dem Andenken an das, was er mir war, fortlebe.« – Im Jahre 1846 ist auch sie dann zur ewigen Ruhe eingegangen. Uns Deutschen aber bleiben diese Briefe ein köstliches Vermächtnis eines unserer größten Geistesheroen, eines Mannes, der die Ideale, die er als Seher erschaute, auch in seinem Leben dargestellt hat.
Rostock, im Dezember 1920.
Alfred Huhnhäuser.