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Wenn wir an unsere Kinderzeit denken, wird es wohl den meisten von uns scheinen, als wäre diese Zeit von besonderem Licht umstrahlt, als hätte die Sonne damals heller geschienen, als hätten die Blumen reicher geblüht und als wäre das Leben sorgenloser und weniger lastend gewesen als später. So geht es auch mir. Aber es ist nicht nur die Sorglosigkeit eines liebevoll behüteten Kinderlebens, was mir im Zurückschauen diese Jahre so licht erscheinen läßt, es war auch das Leben damals in den Ostseeprovinzen auf breiter Basis und sorglosem Behagen aufgebaut. Man hatte sein gutes Auskommen, arbeitete nicht zu viel und hatte immer noch Zeit für fröhliche Geselligkeit, für Pflege von Kunst und Literatur. Die weit im Lande verzweigten Familien hielten fest zusammen, Freundschaften wurden durch Generationen gepflegt, in den Ferien waren alle Gutshäuser und Pastorate für Gäste weit geöffnet. Das Leben hatte eine Leichtigkeit und Freudigkeit, die mehr oder weniger allen unseren Häusern ein besonderes Gepräge gab.
Die Zeit ist längst vorüber, die Städte sind verarmt, die schönen Güter und Pastorate, in denen im Sommer so viel fröhliches Leben herrschte, sind zum Teil zerstört oder ihren früheren Besitzern genommen. Die Familien, die so fest aneinanderhielten, sind durch die Welt verstreut; einzelne versuchen noch, sich auf einem kleineren Teil ihres früheren Besitzes ihr bescheidenes Leben wieder neu aufzubauen, aber es ist ein hartes Ringen um das tägliche Brot. Wenn wir auch nach Baltenart, die treu an der Scholle der Heimat hängt, es immer wieder versuchen, um jeden Fußbreit Heimaterde zu kämpfen, so ist es doch mit dem großzügigen Leben und dem sorglosen Behagen der früheren Jahre für immer vorbei.
So scheint es mir eine schöne Aufgabe, von den alten Zeiten, die so stark und hell in meinem Herzen leben, zu erzählen, von den Menschen zu sagen, die so, wie sie waren, sich nur in unserer Heimat entwickeln konnten, ein Leben zu schildern, das mitten in fremdländischer Umgebung sich seine deutsche Art wesensstark erhalten hatte. Es gab starke und ausgesprochene Persönlichkeiten damals im Baltenland, und die kleinen Städte hatten alle ihre Originale, denn das breite Leben gestattete dem Einzelnen viel Freiheit der Entwicklung. Es war eine große Kraft in den Menschen der damaligen Zeit, eine Kraft, die ihre Wurzeln in unserem Familienleben hatte, in der schlichten Frömmigkeit, die als Tradition in unseren Häusern lebendig war, und die uns nicht nur die guten, sondern auch die schweren Zeiten leben lehrte.
Mein Vater war Prediger in Narva, einer kleinen Stadt Estlands, dicht an der ingermannländischen Grenze. Es war eine wunderschöne, altertümliche Stadt, hoch an den Ufern der Narowa gelegen, von Festungswällen und Gräben umgeben. Es gab wundervolle alte Häuser mit spitzen Giebeln, altdeutschen Sprüchen über den Hausportalen, mit eisenbeschlagenen Türen und kunstvoll gearbeiteten Messingklopfern, von vornehmen alten Patrizierfamilien bewohnt. Schöne Möbel, kostbares Kristall, Silber und Porzellan gaben den Wohnungen ein ganz eigenes Gepräge. Es gab Häuser mit Zimmern, deren Wände ganz mit Delfter Kacheln getäfelt waren, Räume, die jedem Museum zum Schmuck gereicht hätten.
Unser Pastorat lag, spitzgieblig und altertümlich, in einer schmalen Straße, der lutherischen Kirche dicht gegenüber. Eine breite Steintreppe, mit mächtigen Steinkugeln geschmückt, führte ins Haus. Es waren verhältnismäßig kleine und enge Räume, die unsere Welt ausmachten, und wir mußten uns manchmal recht behelfen, aber meine Eltern hatten immer Raum für Gäste, für Müde, Kranke und Traurige, die oft auf Wochen bei uns aufgenommen wurden.
Behaglich war unser Haus, mit altertümlichen Möbeln eingerichtet, die zum Teil noch von unseren Urgroßeltern stammten. Die tiefen Fensternischen waren dicht mit Efeu umkleidet, hohe Zypressen, Ahorn und Oleum Fragranz und im Frühling blühender Goldlack und Hyazinthen standen an den Fenstern und füllten die breiten Blumenbretter, und alles, alles war voll Sonne.
Im Wohnzimmer, das zugleich Musik- und Speisezimmer war, stand ein breiter, mit grünem Wachstuch bezogener Eckdiwan, davor ein runder Speisetisch. An diesen Platz knüpfen sich frühe Kindheitserinnerungen. Am Sonnabend in der Dämmerstunde, wenn die Glocken den Sonntag einläuteten, saßen wir Kinder auf diesem Eckdiwan dicht um unsere Mutter gedrängt, und horchten auf die Klänge. Tief und feierlich schwangen die Glocken, die einen schönen, dunklen Klang hatten; schwiegen sie, dann sangen wir.
»Mutter, deine Stimme klingt wie Vaters Glocken,« sagten wir dann, denn sie schwang auch so tief und dunkel wie eine Glocke.
Vaters Glocke, Vaters Kirche, Vaters Orgel, sein Küster und sein Kirchendiener! Wir konnten es uns nicht denken, daß jemand anders der Herr all dieser Dinge wäre. Und Tränen der Empörung vergoß ich einmal, als der Sohn unseres Kirchendieners sagte, seinem Vater gehöre die Kirche, weil er die Schlüssel hätte, mein Vater könne nie hinein, wenn der seine nicht aufschlösse.
Aus dem sonnigen Wohnzimmer kam man in das sogen. »grüne Zimmer«, das meiner Mutter gehörte; es hatte seinen Namen wohl nach seinen grünbezogenen Möbeln. Über dem Sofa hing ein alter französischer Stich, die Kreuzigung darstellend. Wir fürchteten uns vor diesem Bilde, denn in der einen Ecke sah man die Auferstehung der Toten, die, in weiße Laken gehüllt, mit weißen Gesichtern sich aus den Gräbern erhoben. Um das Fenster, das in die Kirchengärten blickte, rankte sich Zimmerwein zu einer dichten Laube, in der meiner Mutter Schreibtisch stand. Kleine Engel an unsichtbaren Fäden hingen aus dem Grün herab, und blühende Blumen standen auf dem Fensterbrett. In einer Ecke befand sich meines Vaters alte Mahagonikommode, und am Sonntagmorgen sahen wir Kinder ihm aus der Ferne andächtig zu, wenn er aus der Schublade seine Bäffchen und sein goldenes Brustkreuz an goldener Kette nahm und vor dem Spiegel anlegte, wobei meine Mutter ihm half.
Neben Mutters Zimmer lag Vaters Studierzimmer, das uns stets mit ehrfurchtsvoller Scheu erfüllte, auch wenn er sich nicht darin aufhielt. Der große Schreibtisch, Bücherschränke, eine ausgestopfte Eule im Glaskasten über der Tür und ein magnetisches Hufeisen stehen mir in lebhafter Erinnerung, dazu ein leiser Duft nach Tabaksrauch, der immer dieses Zimmer erfüllte.
Die Wohn- und Kinderzimmerfenster blickten auf unsere Kirche. Es gehörte zu unseren Sonntagsfreuden in den Festkleidern am Fenster zu sitzen, wenn der Gottesdienst beendet war und Vaters Gemeindeglieder aus der Kirche kamen. Durch die geöffneten Türen drangen die feierlichen Klänge der Orgel. Die Luft war voller Glockenläuten, und viele aus der Gemeinde blieben stehen und grüßten zu uns herauf.
Wenn ich mein Elternhaus charakterisieren soll, wie es in mir lebt, würde ich sagen: es war voller Sonne, Blumen und Liebe. Unter den Strahlen dieser Liebe wuchsen wir Kinder auf und blühten und gediehen, wie die Blumen an den Fenstern in den Strahlen der Sonne. Jeder, der in unser Haus kam, spürte den Strom dieser Liebe und die Wärme, die das Haus erfüllte. Noch nach Jahren durfte ich sie empfinden, denn sie wirkten in der Gemeinde fort, als meines Vaters Augen schon längst geschlossen waren und meine Mutter mit uns die Stadt verlassen hatte.
Sehr verschieden waren meine Eltern, es war nicht nur ein großer Altersunterschied, der zwischen ihnen bestand, sie waren auch in ihrer Eigenart ausgesprochene Persönlichkeiten, die sich aber wunderbar ergänzten. Eine schöne, tiefe Liebe verband sie miteinander, und ihre Ehe hielten sie heilig wie ein kostbares Gut, für das sie Verantwortung trugen.
Mein Vater stand mitten im Leben, war abgeklärt, ruhig und pflichttreu, ein ganzer Mann. Obschon ich noch ein Kind war, als er starb, sehe ich ihn doch lebendig vor mir. Im Hause trug er meist einen langen, weichen Hausrock mit Perlmutterknöpfen. Er war schlank und hoch gewachsen, sein Gesicht war edel und gütig mit einem humoristischen Zug um die Augen, der oft wie leiser Spott wirkte; und diesen ruhigen, überlegenen Blicken entging nur selten etwas. Schon als Kind empfand ich es, wie schön und edel seine Hände waren. Übergewissenhaft und sehr verwundbar, trug er oft schwer am Leben. Als Kind hatte er's nicht leicht gehabt, aus großem Reichtum waren seine Eltern in bittere Armut geraten, so lernte er früh schon Not und Sorge kennen. Er gab schon als junger Schüler Privatstunden, machte kleine Papparbeiten, die er verkaufte, und an Lichtstümpfchen, die er sammelte, arbeitete er nachts seine Schulaufgaben, wodurch er sich ein Augenleiden zuzog, das ihn sein ganzes Leben nicht verließ. Das hatte ihm wohl eine gewisse Strenge in den Lebensanschauungen mitgegeben, dabei hatte er aber einen ausgesprochenen Sinn für Humor und verstand bezaubernd zu necken. In meiner Erinnerung lebt er als ein sehr strenger und ernster Mann, doch barg sein Herz eine Fülle von Liebe und unwandelbare Treue.
Ich glaube nicht, daß er ein großer Kanzelredner war, die Kraft seines Wirkens lag auf einem anderen Gebiet, er war ein treuer, liebevoller Seelsorger. Jede Seele seiner Gemeinde kannte er in ihrer Not, nie ließ er sie fallen, nie vergaß er sie. Die Kranken und Schwachen, die Armen und Verlassenen, die wußten von ihm.
Oft ging es knapp in unserem Hause zu, weil Vater wieder, wie schon oft, einer armen Frau eine größere Summe in ihren Arbeitskorb gesteckt hatte, oder er hatte irgend etwas fürs tägliche Leben Notwendige aus unserer Speisekammer einer Kranken geschickt.
»Das müssen wir an uns wieder ersparen,« sagte er dann zu unserer Mutter, »es ist gut, wenn die Kinder frühzeitig für andere entbehren lernen!«
»Hilf, wo du kannst,« war eins seiner letzten Worte zu meiner Mutter, und als sie ihre Augen schloß, hinterließ sie mir dieses Wort als Erbe meines Vaters.
Wir Kinder hatten eine große Scheu vor ihm, die in meiner kleinen Seele an Furcht grenzte. Trat mein Vater zufällig ins Zimmer, wenn ich allein war, so stockte mir der Atem.
Einmal stand er unerwartet vor mir, als ich meinen Puppenwinkel fegte, da erschrak ich so sehr, daß mein kleiner Besen meinen Händen entfiel. Er hob ihn freundlich auf und zeigte mir, daß ich ihn falsch gehandhabt hatte. Schauer der Ehrfurcht überrieselten mich, als ich nun unter seinen Blicken meine Arbeit wieder aufnehmen und zu seiner Zufriedenheit ausführte.
Dieses Erlebnis ist ein Eindruck, der fest in meiner Erinnerung haftet, gab er sich doch nur selten mit uns Kindern persönlich ab.
Wenn wir ihn in seiner Amtstracht sahen, erschien er uns noch viel ehrfurchtgebietender als im täglichen Leben, wir dachten dann immer, er sei ein Stückchen vom lieben Gott. Wir durften bei unseren Spielen nie laut schreien und toben. »Vater studiert,« das wirkte stets wie ein Dämpfer auf unseren Jugendübermut, denn er durfte nicht gestört werden. Ganz besonders galt das vom Sonnabend, wenn Vater an seiner Predigt arbeitete; dann mußte Stille im ganzen Hause herrschen. Ich liebte diesen Tag vor allem, die Stille, die über ihm lag, gab ein wunderbares Feiertagsgefühl in unsere Kinderherzen. Es war, wie ein festliches Erwarten, dazu gehörten auch die weißgescheuerten Dielen, der Duft nach frischem Weißbrot, der das ganze Haus durchzog, der Küster Nyländer, der sich die Liedertexte zum Sonntag holte, und dann das wunderbare Abendläuten in der Dämmerstunde und das Singen mit meiner Mutter.
Immer hatten meine Eltern irgend jemand im Hause, der gepflegt, gebessert, gespeist oder gekleidet werden mußte. Einmal war es eine arme Frau mit fünf Kindern, die über ein Jahr ganz bei uns lebte. Ihr Mann war ungerechterweise unter die Soldaten genommen worden. Mein Vater kämpfte mit nie nachlassender Energie für seine Befreiung und ruhte nicht eher, bis er ihn seiner Familie wiedergegeben hatte.
Ein anderes Mal war es ein junger, genialer Maler, ein reich begabter Mensch, der sich dem Trunk ergeben hatte, und den meine Eltern mit einer unerschöpflichen Geduld und Liebe für ein geordnetes Leben wiedergewannen.
Weniger gut gelang es ihnen mit einem alten Tischler, der Tag und Nacht trank, wenn die Leidenschaft über ihn kam. Meine Eltern nahmen ihn ganz in ihr Haus, aber zu retten war er doch nicht mehr. Einmal hatte mein Vater ihm abends seine Stiefel und Kleider fortgenommen, aber bei 25 Grad Kälte ging er trotzdem in Unterkleidern und Strümpfen heimlich in der Nacht in die Schenke, stürzte, und schlich, eine breite Blutspur hinter sich lassend, wieder heim.
Wenn es keine Pfleglinge im Hause gab, ging mein Vater in der Dämmerstunde oft auf die Post und erwartete dort die Postkutsche, die auf dem Wege nach Petersburg in Narva nächtigte. Wie manchen fremden Gast hat er noch spät abends meiner Mutter ins Haus gebracht. Er hatte ein feines Gefühl für die heimliche Angst und Not auch fremder Menschenseelen. Besonders die deutschen jungen Gouvernanten, die oft so ahnungslos in unbekannte Verhältnisse fuhren, lagen ihm am Herzen. Wie manche von ihnen hat auf seine Einladung hin ihre Reise unterbrochen und ein paar Tage im Pastorat ausgeruht. Mit warmen Empfehlungen an deutsche Pastoren versehen, ermutigt und gestärkt, setzten sie dann ihre Fahrt ins weite Russische Reich fort. Wie viele junge Menschenseelen haben dadurch in der Fremde einen Halt gefunden, sind vor viel Bösem bewahrt worden und haben es meinen Eltern ihr Leben lang gedankt.
Meine Mutter war die strahlende Sonne, das liebevolle, oft stürmisch schlagende Herz des Hauses. So stark ihre Persönlichkeit war – sie war reich begabt, mit hohem künstlerischem Schwung, weitblickend, und ihrer Zeit in vielem voraus – so ordnete sie sich doch in allem liebevoll ihrem Mann unter, schlicht und treu sich nach dem Wort der Bibel richtend: »Er soll dein Herr sein«. Sie war immer froh, es ging wie ein Strom von Lebenskraft von ihr aus, sie sang und dichtete, war gastfrei und großzügig, und Liebe zu allem, was in ihre Nähe kam, erfüllte ihr Wesen. Sie hatte etwas Strahlendes und Sieghaftes, dabei eine weltfremde Kindlichkeit und eine unzerstörbare Naivität, die dieser starken Persönlichkeit einen eigenartigen Reiz verliehen. Ich habe versucht, an anderer Stelle ein ausführliches Bild von ihr zu zeichnen. »Menschen, die ich erlebte.« Verlag Eugen Salzer, Heilbronn.
Außer zwei Söhnen aus erster Ehe waren wir drei Geschwister, ein Brüderchen und ein Schwesterchen starben früh. Unser Bruder Karl war der Älteste, anderthalb Jahre älter als ich, mein Schwesterchen, anderthalb Jahre jünger. Wir lebten im ganzen sehr einträchtig miteinander, zuerst sollen wir beiden Schwestern unseren Bruder beherrscht haben, bis er sich ermannte, uns durchprügelte und durch diesen Gewaltakt eine absolute Herrschaft über uns gewann. Meine Mutter verlangte auch stets von uns, daß wir ihm nachgaben, denn »kleine Mädchen dürfen nicht streiten und Recht behalten wollen«, sagte sie oft.
Karl war ein schönes, reichbegabtes Kind, voller Phantasie, sehr erregbar, mit starkem Beobachtungssinn und kritisch veranlagt. Er hatte immer Pläne, machte Erfindungen, dachte sich Überraschungen aus, die oft die schönsten Puppenspiele störten, die aber unbedingt ausgeführt werden mußten.
Seine Phantasie verleitete ihn manchmal zum Schwindeln. Als wir einmal von einem Spaziergang heimkehrten, schilderte er mit glühenden Farben eine Prozession von russischen Priestern, die er gesehen zu haben vorgab, bei der Priester betrunken gewesen seien. Er machte voller Eifer ihr Taumeln nach, und wie ihnen die Fahnen aus den Händen gesunken wären. Wir kleinen Schwestern waren völlig sprachlos, denn wir hatten nichts davon gesehen. Meine Mutter ging der Sache auf den Grund, und als es sich auswies, daß nichts von dem, was er erzählte, wahr war, wurde er sehr gestraft. Es war wohl der künftige Dichter, der sich in ihm regte.
Sein männliches Selbstgefühl war früh schon sehr entwickelt, von uns Schwestern hielt er ganz besonders wenig.
»Mädchen sind fast immer dumm,« sagte er, »und Schwestern ganz besonders.« Ich glaubte, er schämte sich unser oft.
Mein Schwesterchen hieß Elisabeth, und wir beide wurden Mona-Lisa genannt. Es war ein bezauberndes Kind mit dichtem, dunklem Haar und strahlend schönen Augen, ein kleines, ernsthaftes Geschöpfchen mit einem zärtlichen Herzen, tiefsinnig, nachdenklich, tapfer und gewissenhaft.
Als sie zwei Jahre alt war, fiel sie beim Spielen auf den Rücken, was eine Erschütterung des Rückenmarks zur Folge hatte. Eine schwere Todeskrankheit brach bei ihr aus; Tag und Nacht wachte meine Mutter an ihrem Krankenbette, in wilder Verzweiflung um ihr Leben ringend. Mein Vater mußte amtlich verreisen, und sie blieb mit dem sterbenden Kinde allein. In einer Nacht kam die Krisis. Als die Glocken den Sonntag einläuteten, schlug mein Schwesterchen nach langer Besinnungslosigkeit die Augen auf, sie flüsterte etwas, und als meine Mutter sich über sie beugte, verstand sie die Worte:
»Ich möchte gern Klimpen mit brauner Butter essen.«
Die Seligkeit meiner Mutter kannte keine Grenzen. Ihr Kind war ihr wiedergeschenkt, damals aber wußte sie es noch nicht, zu welchem Leben. Mein Schwesterchen konnte nicht mehr recht gehen, es entwickelte sich ein unheilbares Leiden, an dem sie ihr ganzes Leben lang schwer trug. Meine Mutter sagte später oft, sie hätte sich das Leben dieses Kindes von Gott erzwungen, das sei nicht recht gewesen. Ihr Leben war voller Entbehrungen, voller Leiden und Qual. Gewiß war es auch reich, denn sie war eine besondere Persönlichkeit, eine von den ganz Starken, Großen, die zu Führern berufen scheinen; und diese Natur mußte ihr Leben auf dem Krankenlager verbringen, ihr mächtiger Wille wurde langsam durch die Krankheit gebrochen, die Schwingen dieser Künstlerseele wurden geknickt, sie mußte vor allem das eine lernen: sich fügen und leiden. Es war ein Kampf um Leben und Tod, und sie lernte es; doch ein Leben ging darüber hin. Sie war fünfundvierzig Jahre alt, als ihr starkes Herz seinen letzten Schlag tat. Ihr stilles Krankenzimmer aber war ein Segen für viele. Mit ihren großen Gaben, ihrem reichen, liebestarken Herzen, mit ihrer leidenschaftlichen Hilfsbereitschaft, mit ihrer tiefen Klugheit wurde sie vielen eine Führerin. Keiner, der mit ihr in Berührung kam, konnte an ihr vorübergehen, ohne etwas von ihrem Reichtum für sein Leben zu erhalten. Das tragischste Lebensschicksal, das mir begegnet ist, war das ihre.
Wenn ich nicht schon an ein Weiterleben, an eine höhere Entwicklung der Seele nach dem Tode glaubte, dieses Menschenleben würde mich diesen Glauben lehren. Wer ahnte aber damals etwas von dem leidvollen Leben, das dieser kleinen Menschenseele beschieden war? Wir jauchzten und jubelten, daß sie gerettet war, und sie saß bald in ihrem weißen Bettchen, blickte fröhlich mit ihren schönen Augen in die Welt, und ich durfte mit ihr spielen. Sie lernte auch wieder gehen, stolperte aber, fiel leicht und schwankte oft plötzlich unsicher auf ihren Füßchen. Autoritäten wurden konsultiert, keiner aber erkannte damals den Sitz des Übels. Nach Jahren erst wurde es festgestellt, da aber war es zu spät. Sie hätte ganz gesund werden können.
Als Kind empfand sie ihr Leiden nicht so schwer, und wir sind viel miteinander umhergelaufen, sie immer an meiner Hand. Ich hatte es im Griff, sie emporzuziehen, wenn sie fiel, und mit einem Ruck sie wieder auf die Füße zu stellen; wir liefen dann sorglos weiter.
Wir liebten uns grenzenlos, mir war kein Opfer für sie zu groß, und ich mußte schon als Kind um ihretwillen auf vieles verzichten. Wie oft blieb ich zu Hause, mußte Einladungen absagen, damit sie nicht allein war, doch kann ich mich nicht erinnern, daß mir das jemals schwer geworden wäre.
Wenn wir in der biblischen Geschichte von Jesu Krankenheilungen hörte, dann dachte ich immer: »Wenn der Heiland doch nur auf eine halbe Stunde zur Erde kommen wollte, dann würde ich ihm mein Schwesterchen bringen, daß er es anrührte und heilte.« Hörten wir Märchen von guten Feen, denen man Wünsche sagen durfte, die sie sofort erfüllten, dann hätte ich nur einen Wunsch gewußt: daß mein Schwesterchen gesund würde.
Sie hatte in unserem Verhältnis immer das Übergewicht, ich ordnete mich ihr in allem unter bis zum blinden Gehorsam, denn ich bewunderte sie unendlich. Sie war offen und liebevoll, kam mit ausgestreckten Armen jedem Menschen entgegen und gab ohne Scheu kluge und tiefsinnige Antworten auf alle Fragen. An ihren Puppen hing sie mit leidenschaftlicher Liebe, ein tragisches Erlebnis mit einer geliebten Puppe schnitt tief in ihr kleines Herz. Dieses Kind stammte aus Riga, hatte ein liebliches Wachsgesichtchen und himmelblaue Augen, die sie öffnen und schließen konnte. Eines Tages, es war Frühling und die Sonne schien warm, hatte mein Schwesterchen ihr Puppenkind ans Fenster in die Sonne gesetzt; plötzlich erscholl ein jammervoller Schrei von der kleinen Mutter: »Meine Jenny hat ein verzerrtes Gesicht!«
Die Sonne hatte das Wachsgesichtchen geschmolzen, und statt des lieblichen Lächeln lag ein schiefes Grinsen darauf; und was das schrecklichste war: sie konnte die Augen nicht mehr öffnen, sie war wirklich tot. Der Jammer der armen Mutter war tief, mit gerungenen Händen hielt sie die kleine Leiche auf dem Schoß, bis man das Jammerbild verschwinden ließ. Vater brachte eine andere Puppe aus Petersburg mit, ein Scheusal mit grellen schwarzen Augen, die unbeweglich in ihrem Gesicht standen. Mit Haß und Abscheu wurde dieses Ersatzkind von uns empfangen; wie konnte Vater nur denken, daß dieses Geschöpf uns unsere Jenny ersetzen könnte! Und zum erstenmal empfand ich es in meinem kleinen, empörten Herzen, daß Männer Frauenschmerzen im tiefsten Grunde nicht verstehen können.
Ich bin die einzige von uns Geschwistern, die nicht in Narva geboren wurde; in Riga, im alten Großelternhaus erblickte ich das Licht der Welt. Die Cholera herrschte in der Stadt und ein Komet stand am Himmel, blutig rot und Schrecken verbreitend. Mein Vater war zur Kur in Reichenhall und sah mich erst, als ich ein kleiner Mensch war, der klar aus seinen Augen schaute.
Meine Mutter machte sich manche Sorge um meine Charakteranlagen, ich hatte meine Gewohnheiten, von denen ich mich nicht abbringen ließ: ich schrie in den Nächten und schlief am Tage, womit ich meine Umgebung zur Verzweiflung brachte. Als ich meine ersten Zähnchen bekam, biß ich meine Mutter beim Saugen in die Brust. Sie gab mir dafür einen kleinen Schlag, der mich so kränkte, daß ich den ganzen Tag keine Nahrung zu mir nahm, erst am Abend war ich so matt vor Hunger, daß ich weich wurde und meiner Mutter vergab.
»Es wird ein schreckliches Kind,« sagte sie sorgenvoll.
»Sie ist sehr stolz,« meinte meine Wärterin, »sie läßt sich nichts gefallen.«
Ich war äußerlich und innerlich sehr verschieden von meinen Geschwistern: blond und zart, scheu und abgeschlossen gegen Fremde, war ich leicht verschüchtert und still, aber nur, wenn ich mich in fremder Umgebung befand. War ich unter vertrauten Menschen, schwatzte und lachte ich und sang wie ein Vogel. Fühlte ich Mangel an Verständnis, zog ich mich scheu in mich selbst zurück; war ich zu Besuch, zerriß Heimweh mein Herz und Sehnsucht nach Hause, nach meiner Mutter. Wie oft bin ich, von Tränen überströmt, aus Kindergesellschaften heimgebracht worden. Ich wußte wohl, daß meine Mutter mich sehr dafür schelten würde, doch dünkte mich das süß gegen die Qualen der Sehnsucht. Ich war wie im Bann meiner Schüchternheit und Empfindsamkeit, die mich oft abstoßend und unliebenswürdig erscheinen ließen. Wie gern wäre ich zutraulich und liebevoll wie mein Schwesterchen gewesen, konnte es aber nicht.
»Du wirst einmal einen General heiraten,« sagte meine alte russische Wärterin, »denn du bist sehr stolz und vornehm. Lisachen ist einfach und liebevoll, die heiratet einen Pastor.«
Als Mutter zum Gutenacht an unsere Betten trat, fand sie mich in Tränen aufgelöst, unter Schluchzen brach es aus mir heraus:
»Ich möchte lieber eine Pastorin werden, als eine Generalin.«
Meine Mutter tröstete mich: der liebe Gott wüßte ganz genau, was für mich das Richtige wäre. Wenn ich liebevoll und gehorsam sei, dürfte ich vielleicht einmal einen Pastor heiraten.
Charakteristisch war es für mich, daß ich mich nie zu etwas überreden ließ, meine Geschwister ließen sich von meiner enthusiastischen Mutter mit fortreißen, ich nie!
»Sag, daß ich es tun muß, obschon es schrecklich ist, dann tue es gleich; aber sag' nur nicht, daß es schön ist, und daß ich es gern tun möchte.«
Ich fürchtete mich namenlos vor Gewittern, als Mutter mich damit tröstete, der liebe Gott könne mich ja beschützen, sagte ich:
»Daß er es kann, weiß ich ganz genau, wer sagt mir's aber, daß er es auch will?«
Als darüber gesprochen wurde, daß eine Lokomotive durch heißes Wasser und Kohlen in Bewegung gesetzt würde, sagte ich ungläubig:
»Warum läuft aber dann die Teemaschine nicht vom Tisch?«
Vater war einmal mit Bruder Karl auf Reisen. Als wir abends in unseren Betten lagen, schlug mein Schwesterchen vor, wir sollten für die Reisenden beten, dazu war ich sofort bereit.
»Nun beten wir für den Kutscher,« sagte Lisa dann, dem aber widersetzte ich mich.
»Der Kutscher ist kein Herr und gehört nicht zur Familie.«
Lisa bat für ihn: »Er hat den schlechtesten Platz auf dem Bock, da kann er einschlafen und herunterfallen.«
»Da muß er eben aufpassen,« sagte ich streng.
Mutter kam und sollte entscheiden, wer recht hätte; beschämt sah ich mein Unrecht ein.
Eines Abends fand meine Mutter mich bitterlich schluchzend im Bett. Auf ihre Frage, warum ich weine, sagte ich:
»Ich möchte einen kranken Rücken haben wie Lisa, damit mich die Menschen lieben wie sie.«
Mutter sagte, das käme nicht von ihrem kranken Rücken, sondern von ihrem liebevollen Herzen. Was man an Liebe fortgäbe, würde man immer wieder an Liebe ernten, ich solle Gott nur um ein liebevolles Herz bitten, dann würde mein Leben reich sein.
Ich blieb nach diesem Gespräch lange wach, sah nach den Sternen, die durch unser Schlafzimmerfenster funkelten und dachte darüber nach, ob Gott mir wohl ein liebevolles Herz schenken und wie mir dann zumute sein würde.
Es wurde viel in unserem Hause gesungen, beim Aufstehen, beim Schlafengehen und bei unseren Spielen sangen wir Kinder. Jeden Abend saß meine Mutter an ihrem Flügel, spielte und sang, und ihre wunderschöne, dunkle Stimme voller Seele klang in unsere Träume hinein. Manchmal krochen wir dann aus unseren Bettchen, setzten uns auf die Schwelle unseres Schlafzimmers und horchten. Wenn unsere russische Wärterin uns so fand, brachte sie uns scheltend zurück. Sie hielt nicht viel von meiner Mutter Gesang und behauptete, wir würden dadurch nur aufgeregt.
Meine beiden Stiefbrüder, Frommhold und Emmanuel, Söhne aus Vaters erster Ehe, waren viel älter als wir, sie kamen nur noch als Gäste ins Elternhaus. Frommhold war Pastor, Emmanuel Kaufmann. Manchmal fuhren wir in einer großen Kutsche ins Pastorat meines ältesten Bruders, wir waren stolz auf ihn und erzählten gern, daß wir eine Schwägerin hatten.
Emmanuel übte mehrere Jahre seiner zarten Gesundheit wegen seinen Beruf im Süden aus.
Als er sechzehn Jahre alt war, hatte er sein Abiturium gemacht. Mein Vater erlaubte ihm nicht, so jung die Universität zu beziehen, da trotzte er und drohte, dann überhaupt nicht studieren zu wollen. Aber meines Vaters Wille seinen Kindern gegenüber war unbeugsam, es waren zwei harte Köpfe, die aufeinanderstießen. So kam es, daß Emmanuel einen Weg ging, auf dem seine glänzenden Gaben, sein sprühender Witz, seine scharfe, schnelle Klugheit nicht so zur Geltung kamen, wie es auf einem anderen Wege hätte geschehen können.
Es war in einem Sommer, den wir am Strande verbrachten, als er den Süden verließ und wieder in die Heimat kam. Er lebte einige Wochen bei uns und stellte unser ganzes friedliches Leben vollständig auf den Kopf.
Er war groß und schlank, blond mit blauen, klug und scharf blickenden Augen, sprühend amüsant und voller Witz und glänzendem Humor. Er war sehr leichtsinnig, verlor aber nie den Boden unter den Füßen, denn er war dabei peinlich ehrenhaft. Für uns Kinder war er eine sagenumwobene Persönlichkeit, ein Prinz aus dem Märchenlande. Er hatte eine namenlos komische, trockene Art von seinen Abenteuern zu erzählen, und wir hörten ihm atemlos vor Bewunderung und Verehrung zu. Was er erzählte, war noch viel aufregender als die Geschichten von Gustav Nieritz, von denen man nicht recht wußte, ob sie auch wirklich passiert waren, aber was Emmanuel erzählte, war alles wirklich geschehen, und er war der Held dieser Erzählungen.
Er erzählte von einem Hotel am Genfer See, in dem er lange Zeit gelebt hatte; er erzählte vom blauen See, auf dem man mit weißen Böten und schneeweißen Segeln fahren konnte, während eine wunderbare Musik auf der Terrasse des Hotels spielte und die Abendsonne auf den Bergen lag. Das Schönste aber war eine junge Dame, mit der er in diesem weißen Boot spazierenfuhr. Einmal wollte er ihre Stellung zu ihm prüfen, zu dem Zweck holte er sie nicht, wie er versprochen hatte, zu einer Bootfahrt am Abend ab, sondern legte seine Mütze, seinen Überrock und seinen Stock ins Boot, das er von der Kette gelöst hatte, stieß es vom Lande ab und verschwand spurlos. Nach Tagen – man hatte unterdes das Boot mit den Sachen aufgefischt – kam er unerwartet heim. Das ganze Hotel war in namenloser Aufregung gewesen und hatte überall vergebliche Nachforschungen nach ihm angestellt.
»Was sagte die Dame, als du so plötzlich ankamst?« fragten wir aufgeregt.
»Nicht viel,« sagte er kaltblütig, »doch hatte ich meinen Zweck erreicht, sie decouvrierte sich.« Doch wollte er uns durchaus nicht sagen, was das bedeute.
Ein anderes Mal war er vollständig ohne Geld, da erließ er im Hotel eine große Annonce:
»Emmanuel Hunnius ist hier und beabsichtigt während seines Aufenthalts einige Violinstunden zu erteilen, auch zum Ensemblespiel ist er bereit.«
Der Preis für die Stunden war sehr hoch angesetzt; es meldeten sich sofort eine große Menge Schüler, sogar eine Prinzessin wollte jeden Tag eine Ensemblestunde haben. Leider war sie ein wenig verrückt: sie spielte, was sie wollte, und er geigte dazu, was ihm einfiel.
Doch endete die Sache traurig, sie verliebte sich grenzenlos in ihn, erschien in den Stunden in Hoftoilette mit einem Diamantdiadem auf dem Kopf. Ihre Gesellschaftsdame berichtete darüber an die fürstlichen Eltern, und sie wurde sehr schnell abgeholt.
Meine Mutter war oft etwas sorgenvoll über all diese Dinge, die er in unsere kleinen, sorgfältig behüteten Seelen versenkte, doch konnte ihm niemand Einhalt tun, wenn er im Schwung des Erzählens war.
Immer hatte er etwas mit uns vor: Karl gab er einmal heimlich so viel Kompott zu essen, daß der arme, kleine Kerl schwer erkrankte und tagelang das Bett hüten mußte. Mich neckte er von früh bis spät, er hatte mich derartig aufgeregt, daß ich sofort in Tränen ausbrach, wenn er mich nur ansah und: »Aber Mona!« sagte. Trotzdem vergötterte ich ihn, folgte ihm auf Schritt und Tritt und sah ihm alle seine Wünsche von den Augen ab.
Unsere russische Wärterin war in beständiger Aufregung, weil sie für ihre Lieblinge durch diesen großen Bruder überall Gefahr witterte. Es war aber sein größter Spaß, wenn er sie ängstigen und uns aus ihrer treuen Hut entführen konnte.
Ein Schwein, das dick und rosig in seinem Stalle lebte, befreite er jeden Tag aus seiner friedlichen Stille und jagte es mit Hü und Hott, mit fliegenden Haaren und flatternden Rockschößen durch Hof und Garten. Das Schwein veränderte ganz seinen Charakter, es wurde wütend durch diese Mißhandlung, es fiel uns Kinder an, warf Lisachen um und biß sie in den Arm. Da wurde ihm denn sein Tun gelegt, die Hetzjagden mußten aufhören, und das Schwein lebte wieder friedlich in seinem Stall wie ehedem. Emmanuel war sehr unzufrieden damit, er behauptete, das Schwein wäre auf dem besten Wege gewesen, Wildgeschmack zu bekommen.
Ich glaube nicht, daß mein Vater ein großes Verständnis für seinen zweiten Sohn hatte. Sein grenzenloser Übermut, der große Leichtsinn, der kecke Witz, der diesen Sohn charakterisierte, fand in unseres Vaters schlichter Natur wenig Verständnis, meine Mutter bildete die Brücke zwischen Vater und Sohn.
»Mein Leben begann erst Lebenswert zu gewinnen, als Mutter ins Haus kam,« sagte er mir einmal nach Jahren.
Sie stand sich mit ihren beiden Stiefsöhnen ausgezeichnet, und beide wünschten nach meines Vaters Tode, sie in ihr Haus zu nehmen. Es blieb ein schönes Verhältnis bis ans Ende.
Wenn ich von meinem Elternhause erzähle, darf ich zweier getreuer Seelen nicht vergessen, die hineingehören. Nadinka und unsere russische Wärterin, »Njanja« genannt.
Nadinka war unser guter Hausgeist, sie nähte unsere häßlichen Kleider und verfertigte unsere entstellenden Hüte, denn Geschmack besaß sie keinen. Auch unsere Mutter kannte nur Schönheit auf geistigem Gebiet.
Außerdem fürchtete man in meiner Jugendzeit nichts so sehr, als daß Kinder eitel werden könnten, und hübsch angezogene Kinder erschienen uns verdächtig und albern.
Nadinka half auch in der Küche, pflegte jeden, der krank war, mit Hingabe, unterrichtete uns in den Anfangsgründen so unmethodisch wie nur möglich, schwärmte mit meiner Mutter für Heine und Goethe, und unser Haus war ohne sie völlig undenkbar.
Aber unsere Njanja war doch für uns die Liebste und Wichtigste. Sie kam in unser Elternhaus, als Karl geboren wurde, und trug uns alle auf ihren treuen Armen, sie war der richtige Typus der berühmten russischen Njanja. Ihr Herz war voller Liebe und Hingabe für uns und unser Haus, ihre Seele voll Frömmigkeit und voll tiefer Ehrfurcht. Durch sie lernten wir das russische Volk kennen und lieben. »Meine Kinder« nannte sie uns und war stolzer auf uns als unsere eigene Mutter. In ihrer kindlichen Frömmigkeit wollte sie auch uns den Segen ihrer Kirche zukommen lassen: mit dem geweihten Jordanwasser zeichnete sie unsere kleinen Stirnen, und vom Abendmahlsbrot brachte sie uns immer ein Stückchen mit, das sie, sorgfältig in ein Tuch gewickelt, aus der Kirche trug. Sie lehrte uns durch ihre Ehrfurcht auch die Ehrfurcht vor allen Formen anderer Religionen, sie nahm uns auch in die russische Kirche mit, doch war uns diese mit ihren fremdartigen Gebräuchen unheimlich. Meine Eltern ließen sie in allem gewähren, denn sie wußten, wir waren in treuester Hut.
Der schönste Tag im Jahr war aber für sie doch der, an dem der russische Pop meinen Vater besuchte. In unseren besten Kleidern, mit spiegelblank gebürstetem Haar brachte sie uns zu ihrem Geistlichen und ließ sich und uns von ihm segnen.
Ihr Mann war in den Krieg nach Rußland gezogen und lange Jahre verschollen, sie hielt ihn für tot. Da, zu unser aller Entsetzen, erschien er eines Tages bei uns und forderte seine Frau zurück. Sie weigerte sich verzweiflungsvoll, uns zu verlassen und ihrem, ihr fremd gewordenen Mann zu folgen. Mit Grauen sahen wir Kinder den fremden Soldaten in der Küche sitzen, seinen Säbel hatte er neben sich an einen Nagel gehängt. Karl behauptete, Blutspuren daran gesehen zu haben, und wir beschworen Njanja weinend, nicht mit diesem blutdürstigen Soldaten fortzugehen. Sie beruhigte uns, es wäre kein Blut, sondern nur Fett am Säbel, damit er nicht roste, und verlassen würde sie uns nie, der Mann könne ruhig eine andere Frau heiraten. Ja, sie spuckte sogar vor ihm aus, was uns ungemein tröstete. Doch meine Eltern dachten anders als wir und sie, und sie mußte mit ihrem Mann gehen. Doch starb er bald, und mit Jubel von beiden Seiten kehrte Njanja wieder in unser Haus zurück. Sie ist uns treu geblieben, und wir haben den Zusammenhang mit ihr nicht verloren, als wir Narva verließen. Lange Jahre nachher habe ich sie einmal besucht, ihre Freude mich wiederzusehen war erschütternd! Sie lebte noch ganz in der Erinnerung an mein Elternhaus, trug die Schürzen und Kleider, die sie von meinen Eltern erhalten hatte, und brachte mir wie in alten Zeiten vom Abendmahlsbrot, das sie in ein Tüchlein gewickelt hatte. Sie küßte das Brot, wie ich es schon als Kind bei ihr gesehen, ehe sie es mir übergab. Als ich abreisen mußte, begleitete sie mich an die Bahn und drückte mir im letzten Augenblick ein Papier in die Hand, auf das sie alle Gebete hatte schreiben lassen, die der russische Pop für mich und meine Geschwister gesprochen. Ich hatte ihr Geld geschenkt, das sie alles hierfür verbrauchte.
»Du wirst einsehen,« sagte sie auf meinen Vorwurf, »daß es viel wichtiger ist, daß für Euch gebetet wird, als daß ich alte Person mir noch etwas kaufe.«
Als der Zug mich forttrug, lief sie laut weinend ein Stück nebenher. Doch das Geräusch der Räder verschlang ihre Abschiedsworte und ihr Weinen.
Unser Haus wäre nicht ganz geschildert, erzählte ich nicht von seinem kleinsten Bewohner, unserem braunen Hund, Trixa genannt. Er spielte eine große Rolle in unseren Kinderspielen, wurde getauft, getraut, eingesargt und beerdigt, was er sich alles fröhlich gefallen ließ. Er rettete unser Leben: auf einem Spaziergang stürzte sich ein toller Hund auf uns, Trixa warf sich ihm mutig entgegen, der Hund war groß und stark, aber Trixa hatte sich in seine Kehle verbissen und ließ ihn nicht los. So rollten sie zusammen einen Abhang hinunter und fielen in die Narowa: wir waren gerettet.
Ich habe das Empfinden, daß die große Liebe, die von meinen beiden Eltern ausstrahlte, die Aufopferungsfähigkeit, die sie kennzeichnete, das ganze Haus erfüllte und sich sogar bis auf unseren kleinen Hund erstreckte, der so tapfer für uns in den Tod ging.
Ein wunderbarer Glanz ist in meiner Erinnerung über den Festzeiten unseres Hauses, es lag so viel Feierlichkeit und frohe Erwartung schon in den Tagen, die ihnen vorangingen. Wir sahen meinen Vater oft in seiner Amtstracht, die Glocken läuteten viel, und Gesang tönte aus der deutschen sowie aus der russischen Kirche zu uns herüber. Dazu verstand meine Mutter jedem Fest sein besonderes Gepräge zu verleihen.
Ostern mit seinem blühenden Goldlack, den bunten Eiern in den hohen alten Kristallschalen, und Pfingsten mit seinen frischen Birken in allen Zimmern!
Dazu läuteten unsere schönen tiefen Glocken, mitten hinein bimmelten die lustigen, russischen Kirchenglocken, oft auch in der Nacht, daß wir davon erwachen mußten.
Das ganze Haus duftete nach frischem Brot und Kuchen, Treppen und Vorhäuser waren mit weißem Sand und je nach der Jahreszeit mit gehacktem Tannengrün oder frischem Kalmus bestreut, und von meiner Mutter ging es immer wie ein Strom starker Freude aus.
Ach, und Weihnachten! Schon die Adventszeit mit dem Adventsstern war voll seliger Ahnungen. Wir versammelten uns oft im Wohnzimmer um den Flügel meiner Mutter, von der Decke hing der bunte Stern herab, erfüllte den Raum mit seinem milden Licht, und wir sangen:
»Macht hoch die Tür, die Tor macht weit,
Es kommt der Herr der Herrlichkeit.«
Und dann kam der Weihnachtstag: mit geheimnisvollem Rauschen wurde der Weihnachtsbaum ins Wohnzimmer getragen. Wir wußten es nicht, rauschten die Zweige so oder waren es Engelsflügel? Dann erfüllte der Tannenduft das ganze Haus; wir lagen auf dem Fußboden, um nur einen Schimmer durch die Ritze der Tür zu erspähen. Ach, und wie herrlich war es, wenn dann die Stunde schlug, die Tür sich weit auftat und alles voll Glanz und Freude war!
Am ersten Feiertage abends gab es große Armenbescherung, da tauchten auch unsere alten Spielsachen wieder auf, und ich konnte den letzten schmerzlichen Abschiedsblick auf meine geliebten Puppen werfen. Die Haustür stand immer offen, nur zur Nacht wurde sie geschlossen.
Ein großes Ereignis in unserem Kinderleben war der Besuch eines richtigen Zwerges; er kam regelmäßig einmal im Jahr aus einem der benachbarten russischen Dörfer und bettelte. Er sah prächtig aus mit dichtem, langem Bart, in blauen »Kaftan«, mit hoher, spitzer Pelzmütze. Wir Kinder waren in namenloser Aufregung, nun würden wir doch endlich einmal etwas von Schneewittchen erfahren, und bebend vor Erregung fragten wir ihn, ob er wohl Schneewittchen gekannt habe. Er schüttelte seinen dicken Kopf, nein, die wäre nicht in seinem Dorf gewesen. Ob er denn nichts von ihr gehört hätte, bei den Zwergen habe sie doch gelebt, und wie sie im gläsernen Sarg lag, das müßte er doch gehört haben? Er riß vor Staunen seine Augen weit auf: nein, bei ihnen hätte keiner einen gläsernen Sarg gehabt, davon hätte er sonst sicher gehört. Aber vielleicht wäre es in einem anderen Dorf gewesen, in seinem bestimmt nicht.
Das war uns eine schmerzliche Enttäuschung, Karl aber tröstete uns: »Er darf es nur nicht sagen, wegen der bösen Königin.«
Nun wurde er uns noch wunderbarer, und wir sahen dem kleinen Mann mit heißem Interesse nach, wie er, nachdem er sich verabschiedet hatte, die Treppe nicht hinunter kam. Weil ihm das Kniegelenk fehlte, konnte er die Treppe nicht hinuntersteigen, er setzte sich auf die oberste Stufe, stützte sich auf seine Hände und ließ sich so hinabgleiten. Unten angekommen, stellte er sich schnell auf seine Beine, schwenkte seine Fellmütze und stelzte davon.
Die hinteren Fenster unseres Pastorates gingen auf unseren kleinen Garten, an den sich, nur durch einen Holzzaun getrennt, der große Garten der russischen Kirche schloß. Wir sagten, der Garten gehöre »Herrn Pop«, und diese Sagengestalt hat uns oft geängstigt. Wir hatten eine Latte am Zaun gelöst und krochen durch diese Öffnung mit Vorliebe in den großen Garten. Weil er geschützt und gegen Süden lag, wurde es dort immer etwas früher Frühling als in dem unseren. Dort war ein steiniger, von der Sonne warm beschienener Hügel, auf dem das erste junge Grün sproßte; später wurde er goldgelb von blühenden Butterblumen. Nach all diesen Herrlichkeiten trugen wir ein heißes Verlangen; wie oft schon war die Latte wieder befestigt worden, immer wieder machten wir sie los, um mit Schauern und Angst in »Pops« Garten zu gehen, Blumen zu pflücken oder kleine, essigsaure Äpfel zu sammeln.
»Herr Pop kommt, Herr Pop kommt,« rief Karl dann oft plötzlich, und in wilder Angst, Lisachen zwischen uns schleppend, rasten, kollerten, fielen wir durcheinander, preßten uns durchs Loch im Zaun, bis wir endlich aufatmend in Sicherheit in unserem Garten waren. Dann lachte uns Karl meist aus, er hatte uns nur erschrecken wollen.
Kaum jemals zeigte sich ein Mensch in dem Garten, wie verzaubert lag er da mitten in der Stadt: still, einsam und vergessen. Das erste Erwachen des Frühlings führt mich in meinen Träumen noch oft dorthin. Zur Zeit der Obstblüte, da war es wie ein Märchen, der ganze Garten war ein weiß und rosa schimmerndes Blütenmeer.
Eine alte Grabkammer, mit Moos bewachsen, lag auf der Grenze der Gärten, und durch ein kleines, vergittertes Fenster sahen wir oft mit Grauen hinab in der Hoffnung, Totenknochen zu erblicken.
Dicht an unser Haus stieß die russische Kirche. Zur Zeit der Schwedenherrschaft war sie lutherisch gewesen, und mein Vater entdeckte dort einmal in einer Nische ein vergessenes Lutherbild, das von den ahnungslosen Gläubigen als ein Heiligenbild angebetet wurde; ein ewiges Lämpchen brannte davor. Mein Vater klärte die Sache auf, und Luther wanderte in seine Sakristei.
Das Fenster des Allerheiligsten ging auf unseren Garten, und es war ein geheimnisvolles, schauerliches Gefühl, in diesen Raum zu blicken. Dazwischen krochen wir sogar aufs breite Fensterbrett, preßten unsere kleinen Gesichter an die Eisengitter, blickten auf den goldschimmernden Altar und atmeten den Weihrauchduft ein, der durch die Ritzen quoll.
Einmal hatten wir diesen Beobachterposten während eines Gottesdienstes eingenommen, der amtierende Priester sah uns, und mit der einen Hand das Räucherfaß schwingend, drohte er mit der geballten Faust der anderen zu uns herüber. Wir fielen vor Schrecken von der Fensterbank, und fühlten uns erst sicher, als wir bei Mutter waren. Tagelang wollte ich nicht in den Garten gehen aus Angst, »Herr Pop« könne wieder mit der Faust drohen.
Einmal aber geschah ein großes Unglück! Eins unserer Hühner war durchs Fenster ins Allerheiligste gedrungen, man fand es dort auf dem Altar friedlich schlafend. Das Allerheiligste mußte von neuem geweiht werden.
Ein verbauter Hof mit seltsamen Dächern und altmodischen Galerien, mit Stall, Wagenscheune und Schweinestall gehörte noch zu unserem Pastorat. Alles war altertümlich, winkelig und voller Geheimnisse für uns Kinder.
Welch ein wunderschönes Städtchen war doch Narva! Die Festungswälle, die alten Mauertürme, die tiefen Gräben mit ihrem hohen Gras und den gelben und weißen Blumen waren voll heimlicher Poesie.
Unser liebster Spaziergang mit unserer Wärterin war zur »dunklen Pforte«, einem Festungstor, das zu einem Garten auf der Stadtmauer führte. Mit leisen Schauern gingen wir durchs dunkle Tor, vor dem immer ein Soldat Wache stand. Was er dort bewachte, wußte niemand, er selbst wohl am wenigsten; die Wache war aus alter Zeit so stehen geblieben und vergessen worden. Wir atmeten immer befreit auf, wenn wir das Tor passiert hatten und der sonnige Garten sich vor uns auftat. Wir fürchteten, der Soldat könne einmal nach uns schießen, obschon »Njanja« uns versicherte, wenn er das täte, käme er nach Sibirien. Es war ein wunderbarer Ort, hoch oben auf der Bastei mit dem Blick auf die Narova und aufs gegenüberliegende Flußufer zur alten Russenfestung Iwangorod.
Ein sehr beliebtes Ziel für unsere Spaziergänge bildete auch das Armenhaus, dort war ein großer Garten und ein Hof mit einer Heuwage, auf der wir wippten. Auf den Bäumen saßen immer Dohlen, die schrien, und die alten Frauen nannten sie »Dahlchen«.
Hier hatten wir zwei Freundinnen, zwei alte Frauen, die wir heiß liebten und gerne besuchten: Madame Wiera und Madame Zeschke. Ich dachte immer, das beneidenswerteste Los auf Erden sei, im Armenhaus leben zu dürfen. Ich fragte einmal Madame Zeschke, zu der ich großes Zutrauen hatte:
»Ach, Madame Zeschke, glaubst du, daß ich, wenn ich so alt bin wie du, auch einmal ins Armenhaus kommen darf?«
Die gute Alte war empört.
»Was denkst du eigentlich, eine Pastorstochter im Armenhaus, das wäre eine schöne Geschichte!«
Namenlos interessante Sachen waren in den Zimmern der beiden Frauen: ein Ofen aus braunen Kacheln, der auf hohen Füßen stand, mit einem Ofenloch, das mit einer Messingtür verschlossen war; und wenn wir sie öffneten, sahen wir immer eine braune Kanne mit Kaffee darin stehen. Am Fenster war ein breiter Tritt mit zwei Stufen, auf denen man sitzen und zuhören konnte, wenn Madame Zeschke Zaubergeschichten erzählte. Dann war da ein Lederstuhl mit Lederriemen an Stelle der Armlehnen, den konnte man zusammenklappen und wie eine Drehorgel auf dem Rücken tragen; dazu sang man, worüber Frau Zeschke Tränen lachte. Dann war da eine Tür mit einem Gewicht, das in dicke Lappen gewickelt war, und als wir Frau Zeschke fast zu Tode gequält hatten und sie es loswickelte, um es uns zu zeigen, war zu unserer Enttäuschung nur ein Ziegelstein darin. Dann gab es große blaue Tassen, die auf einer Kommode standen, einen Nähkasten mit kleinen, bunten Sternen, auf die Zwirn gewickelt war, ein Nadelbuch, eine alte verrostete Schere, die so stumpf war, daß man mit ihr das Zeug nur kneifen, niemals schneiden konnte, eine Garnwinde auf einem Fuß, bunte Teller – kurz, Herrlichkeiten, an denen man sich gar nicht satt sehen konnte! Überall durften wir kramen, alles anfassen, alles besehen.
Wir liebten Frau Zeschke unendlich! Sie war rund wie eine Kugel, hatte ein feuerrotes, lustiges Gesicht und trug eine weiße Haube mit Rüschen. Sie konnte so herzlich lachen und uns durch komische Erzählungen zum Lachen bringen, daß Lisachen dabei einmal den Halt verlor, vom Tritt herunterfiel und ins Zimmer rollte.
Madame Wiera war still und ernst, schmal und spitz sah ihr Gesicht aus einer schwarzen Tüllhaube mit schwarzen Rüschen. Das Leben hatte sie hart angefaßt, ich habe sie nie lachen gesehen.
Diese beiden Alten umgab solch eine Atmosphäre von Behaglichkeit und Frieden, daß mir ist, als fühlte ich sie noch heute. Ich sehe dies Zimmer deutlich vor mir mit seiner schneeweiß gescheuerten Holzdiele, den Messingklinken an den Türen, seinen Blumenstöcken am Fenster in der Sonne und dem leisen Duft von Kaffee, der immer die Alten umgab.
Madame Zeschke saß meistens, wenn wir kamen, auf dem Fenstertritt am Nähtisch, nähte oder las mit einer Hornbrille auf der Nase in einer Bibel, die sie weit von sich gestreckt hielt. Auf der anderen Seite am Fenster saß Frau Wiera: sauber, ernst, still, meist strickend, während ihr die Brille emporgeschoben auf der Stirn ruhte.
Madame Wiera starb zuerst. Madame Zeschke verlor ihr frohes Lachen, und bald trug man sie auch hinaus auf den Kirchhof. Andere alte Frauen saßen auf dem Tritt, strickten, sahen aus dem Fenster und horchten auf das Schreien der »Dahlchen« im Garten. Wir aber trauerten um unsere alten Freundinnen und wollten nicht mehr ins Armenhaus gehen.
Wir waren richtige Spielkinder: bald spielten wir mit unserem schönen Baukasten, bald tauften, trauten, beerdigten wir einander, am liebsten aber spielten wir beiden Schwestern mit unseren Puppen.
Ich hatte eine Puppe, die ich grenzenlos liebte, wir nannten sie Idinka, mit ihr geschah etwas Schreckliches. Wir nahmen sie immer ins Bad mit, aber da ihr Leib aus Leder bestand und mit Sägespänen gefüllt war und wir sie nach dem Bade nie recht trockneten, verfaulte sie bei lebendigem Leibe. Sie bekam einen bösen Geruch.
»Ganz wie eine Leiche,« sagte Karl. Da fingen wir an, uns vor ihr zu fürchten und berieten, wie wir uns ihrer entledigen könnten, denn meine Liebe zu ihr war vollständig gestorben. Karl hatte eine Idee, die wir auch sofort ausführten: wir preßten sie zwischen den großen Eckdiwan und die Wand, da verkam sie. Wir aber kamen uns wie Kindesmörder vor und wagten lange nicht, nach der Ecke hinzusehen, wo sie starb.
Wir mußten oft von unseren Sachen für arme Kinder etwas hergeben. Von meinen Spielsachen trennte ich mich leichten Herzens, aber der Abschied von meinen Puppen war mir ein heißer Seelenschmerz.
»Wenn die armen Kinder sie auch nur gut behandeln,« sagte ich unter Tränen, »wenn sie sie nur auch recht lieben werden!«
Wie manches Mal habe ich mich in den Schlaf geweint vor Sehnsucht nach ihnen, besonders den Bein- und Armlosen und denen mit Löchern in den Köpfen galten meine heißesten Tränen. Aber die durfte Mutter nicht sehen, sie schalt dann und sagte:
»Nur einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.«
Ich war freudig bereit, Menschen, die ich liebte, alles zu opfern, aber Fremden schenkte ich nicht gern. Da gab es einen Brüderprediger, Herrn Kesper, den ich nur mit stillem Ingrimm kommen und bei uns wohnen sah. Das hatte seine Gründe: mein Vater gab seinen Gästen immer gern ein Gastgeschenk mit heim, und einmal hatte er beschlossen, wir sollten Herrn Kespers Kindern, die wir gar nicht kannten, etwas schicken, und da man immer nur das Beste fortschenken dürfe, sollten es unsere schönsten Spielsachen sein. Karl mußte einen Eisenbahnzug opfern, ich – o Jammer – einen Puppenwaschtisch mit durchsichtigem, rosenbemaltem Waschgeschirr und Lisachen eine kleine Kuhherde. Mit diesen Sachen durften wir nur am Sonntag spielen, und diese Herrlichkeiten sollten wir den fremden Kespers-Kindern schenken! Karl und Lisachen waren bald durch Mutters Überreden für die Sache gewonnen, sie begeisterten sich unfaßlicherweise für die fremden Kinder, und beide Geschwister gaben dann fröhlich ihre Sachen zum Einpacken hin. Nur ich saß mit einem düsteren Gesicht dabei und sah zu, wie meine Sachen, eine nach der anderen, verschwanden, mit einem Gefühl ohnmächtiger Wut gegen die bösen Kespers-Kinder, für die ich mich trotz Mutters begeisterten Zuredens nicht erwärmen konnte.
»Ich kenne sie ja gar nicht,« sagte ich ablehnend, »wie soll ich sie denn lieben und ihnen gern etwas schenken?«
Das erzürnte meine Mutter.
»Du hast ein kaltes Herz,« sagte sie.
Ach, sie ahnte ja nicht, daß der Sonntag einen Teil seines Glanzes verlor, weil meine Puppen sich nicht mehr im rosenbemalten Waschgeschirr waschen konnten.
Daß Karl einmal Pastor werden sollte, stand längst fest. Er predigte uns und unseren Puppen und hielt Trau- und Taufreden, die er in kleine Hefte schrieb. Sie waren sehr streng, er gebot den Brautpaaren, ihr Vermögen nicht zu verprassen und ihre Kinder nicht zu verwöhnen. Wir hörten so oft von unserem Vater, Kinder dürften nicht verwöhnt werden, daß wir dachten, das wäre etwas Entsetzliches.
Im Sommer waren wir immer am Strande in einem Badeort, der Schmetzky hieß. Dort besaßen meine Eltern ein Häuschen mit großem Gartenland, mit Stallungen und Wirtschaftsgebäuden. Langgestreckt und schmal, dicht von wildem Wein umrankt, lag unser Häuschen da unter hohem Strohdach, an beiden Dachgiebeln prangten Hirschgeweihe, und dicht hinter dem kleinen Park rauschte das Meer. Wir hatten große Freiheit, spielten oft stundenlang allein am Meer und verwuchsen mit dem Meer und mit dem Walde. Meine Mutter verstand es köstlich, sich an allem Schönen zu freuen, und weckte unser Verständnis für die Natur. Wir freuten uns an der Sonne, die in goldenen Lichtern auf dem Waldboden spielte, an den Farben des Meeres, wenn die Sonne unterging; und immer sang sie mit uns Lieder, die in all das Schöne hineinklangen.
Unser kleines, schmales Haus, das nur vier Zimmer und eine Bodenkammer hatte, bot immer Raum für Gäste; es wurde für sie irgendwo ein Lager bereitet, und sie waren glücklich, meine Eltern mit ihnen. Meine Mutter schaffte fröhlich und unermüdlich, daß alles sein Behagen fand, an sich dachte sie dabei nie, denn für Gäste gab ein Balte in alter Zeit alles hin. Ja, meine Mutter erzählte, daß sie manchmal ohne Matratze, Decke und Kopfkissen geschlafen hatte mit einem Heusack unter dem Kopf, weil alles an Gäste fortgegeben war. Ich kann mich nicht erinnern, bei diesem oft stürmischen Leben, bei den großen Anforderungen, die an sie gestellt wurden, bei der großen Arbeit, die sie zu leisten hatte, meine Mutter anders als strahlend und froh gesehen zu haben. Nie versank sie in Wirtschaftssorgen; ihr Geistesleben war so stark, daß es wie auf Flügeln über allem hinrauschte.
Es war ein herrliches Leben für alle Hausgenossen, Erwachsene und Kinder! Am Vormittag wurde gebadet, nachmittags schlief man im Heu oder am Strand in den Dünen, abends saß man am Meer, zündete dort auch wohl ein Feuer an und sang Quartette bis tief in die Nacht hinein.
Ständige Sommergäste waren Verwandte aus Petersburg, die Familie eines Onkels, General Lemm, der mit seiner Frau und seinen erwachsenen Kindern viele frohe Wochen bei uns verlebte. Wir hatten eine große Scheu vor ihm, erstens, weil er General war, was bei uns mit dem Begriff Krieg und Totschießen zusammenhing, dann aber auch, weil eine große Strenge über seinem Wesen lag, die uns einschüchterte. Er stellte auch Lebensregeln auf, die wir nicht gern hörten, z. B. wenn es am besten schmeckt, muß man aufhören zu essen.
Um so lieber war uns aber der Vetter Daniel, sein jüngster Sohn, ein lustiger Student, dessen Lachen und frohe Lieder mir noch heute im Herzen klingen. Er sang vom kleinen Mann, der eine große Frau genommen, dem es aber dabei sehr schlecht erging, denn sie schlug ihn mit einem Löffel auf den Kopf. Er sang vom lustigen Musikanten, der am Nil spazieren ging, bis er vom Krokodil gefressen wurde. Wir Kinder konnten gar nicht den Refrain erwarten, wo wir jubelnd mit einstimmen durften:
» O tempora, o mores, wer weiß, wie das geschah!«
Wenn mein Onkel da war, lag immer ein gewisser Druck auf allen, denn er lebte ein strenges Christentum und forderte eine gleiche Strenge von allen. Seine erwachsenen Kinder hatten bei aller Liebe einen großen Respekt vor ihm. War er fort, so war es wie ein leises Aufatmen, durchs ganze Haus erklang dann von früh bis spät fröhliches Lachen und Jubeln. Jedes häusliche Ereignis, jede kleine Plage und Unbequemlichkeit wurde eine Quelle des Spaßes, denn sie alle, vor allem aber meine Mutter, hatten viel Humor. So ist mir ein Erlebnis mit einem Huhn erinnerlich, welches einige Tage das ganze Haus von früh bis spät in Atem hielt. Zwei Hühner hatten gebrütet, eine der Hennen hatte eine große Schar Küken herausgebracht, die andere nur eins, und dieses eine Küken suchte Gesellschaft, wurde der eigenen Mutter untreu, verleugnete sie und ging zur reichen Kindermutter über. Die Verlassene nahm sich die Sache so zu Herzen, daß sie buchstäblich verrückt darüber wurde. Mit Flügelschlägen und Geschrei verfolgte sie die glückliche Konkurrentin und versuchte mit wilden Locktönen sich ihr Kind zurückzuerobern. Sie stieg auf die Bäume und schrie, wir Kinder behaupteten, sie versuche zu krähen, was ihr aber völlig mißlang. Von Hühnern und Hähnen verfolgt und gehackt, rannte sie zuletzt mit gesträubten Federn durch Hof und Garten, einsam und verachtet.
» Ona sumaschedscha« (sie ist verrückt), sagte unsere russische Wärterin.
Wir nannten die Arme von da an nur das »sumaschedsche Huhn«. Eines Morgens fand man es, zum Skelett abgemagert, hinter dem Zaun liegen, und eine großartige Beerdigung wurde veranstaltet, an der alle Erwachsenen teilnahmen. Meine Mutter schrieb einen Grabspruch:
»Hier ruht das
sumaschedsche Huhn
Nun aus von seinem wilden Tun.
Der liebe Gott hat nicht gewollt,
Daß es eine Mutter werden sollt.«
In einer Sommerzeit lasen die Erwachsenen »Ut mine Stromtid«, es wurde uns Kindern manchmal ganz unheimlich, wie sie dabei lachten, stundenlang, daß es weit hinaus in den Garten schallte.
Gibt es noch jetzt in der Welt solche Ferienzeiten, wie wir sie damals lebten? Gibt es jetzt noch solche Menschen, die so liebevoll, froh und großzügig, so sorglos feiernd miteinander leben wie damals bei uns in den Sommertagen?
Mein Vater konnte nur wenig an dem fröhlichen Leben teilnehmen, sein Beruf hielt ihn in der Stadt fest. Aber er kam doch jede Woche einmal herausgefahren mit seinem kleinen Wägelchen und unserem dicken, braunen Pferdchen, Waska genannt. Seine Ankunft war immer ein Festtag fürs ganze Haus. Wir gingen ihm durch den Wald entgegen mit Blumen in den Händen, und immer wartete eine Überraschung auf ihn. Er strömte eine unendliche Behaglichkeit in diesen kurzen Ferientagen aus, wir Kinder verloren ganz die Scheu vor ihm. Er war voller Frohsinn, pflanzte und grub in seinem Garten, ging mit uns spazieren und freute sich über seine Gäste.
Einen Glanzpunkt in unserem Sommerleben bildete mein Geburtstag; da kamen sie alle aus der Stadt, die Freunde, angefahren in langen Liniendroschken, die mit Birkenlaub geschmückt waren. Unter den Bäumen im Garten war die Mittagstafel gedeckt, Kinder und Erwachsene trugen Kränze im Haar, und abends saß man am Strande, sang, trank Bowle, ein großes Freudenfeuer wurde angezündet und ein Feuerwerk abgebrannt. Wir Kinder durften aufbleiben und sahen mit Schauern der Wonne die Raketen emporsteigen, niedersinken und im Meer verlöschen.
Das zweite große Ereignis im Sommer war der Besuch des ganzen Waisenhauses, einer Gründung unseres Vaters. Es waren meist über dreißig Personen, die meine Eltern einen ganzen Tag und eine Nacht beherbergten. Sie schliefen auf dem Heuboden, in der Wagenremise und in der Waschküche, einige sogar im Walde draußen. In großen Kesseln wurde das Essen im Freien gekocht; strahlend glücklich gingen meine Eltern von einem zum andern und freuten sich über das Verschwinden der riesengroßen Eßvorräte.
Wir waren im ganzen sehr artige Kinder, dumme Streiche lagen uns fern, um so erschütternder wirkte folgendes Ereignis: Als wir einmal am Strande spielten, überredete uns Bruder Karl, wir sollten versuchen, im Meer die zweite Sandbank zu erreichen. Wir waren noch nie so tief ins Wasser hineingegangen, denn die zweite Sandbank war uns beim Baden streng verboten. Karl aber erklärte uns etwas verworren die Gesetze von Ebbe und Flut, die die Ostsee gar nicht kennt. Am Nachmittag, sagte er, sei Ebbe, da sei alles erlaubt, was am Vormittag verboten sei. Wir machten uns auf den Weg, nahmen Lisachen in unsere Mitte und stapften mutig mit Kleidern und Stiefeln ins Meer. Das Wasser stieg immer höher, ich wurde ängstlich, doch Karl trieb uns unerbittlich weiter. Nun reichte das Wasser Lisachen bis an den Hals, da hörten wir vom Strande her Vaters entsetzte Stimme. Es war ein Glück, daß er kam, die Sache hätte sonst schlimm für uns enden können; so kehrten wir denn eilig um und standen bald triefend am Ufer. Es war ein trauriger Zug, als Vater mit uns heimkam. Wir weinten mit lauten Stimmen, das Wasser floß uns aus Kleidern und Stiefeln, wir froren, und Vater schalt unausgesetzt.
»Was habt ihr euch nur gedacht?« fragte Mutter immer wieder voller Aufregung.
»Gar nichts,« war unsere unter heißen Tränen gegebene Antwort.
In diesen Sommer fiel auch die erste bewußte Lüge meines Lebens. Vater wurde aus der Stadt erwartet, wir hatten fünf Erdbeeren gefunden, die auf einen geschmückten Teller gelegt wurden; sie sollten ihn erfreuen. Eine von ihnen, klein und halb zerdrückt, hatte ich genommen und in meinen Mund gesteckt. Karl entdeckte sofort die fehlende Beere und forschte danach, wer sie genommen hätte. Ich schwieg. Auf Mutters direkte Frage, antwortete ich klar und fest: »Ich nahm sie nicht.«
Ich weiß es noch, als wäre es heute geschehen, wie gedrückt ich in den Garten zum Spielen ging, und wie ich mich zu überreden suchte, daß ich die Beere gar nicht genommen hätte. Ich betete, Gott möchte meine Sünde ungeschehen machen, da er allmächtig sei, könne er es ja; aber unerbittlich, klar und unumstößlich stand die Wahrheit vor mir: Du hast gestohlen und gelogen!
Mutter, der meine Geschlagenheit auffiel, rief mich. Ich mußte meinen Mund öffnen, die Beere lag noch darin, ich hatte nicht gewagt, sie zu verschlucken. Da nahm Mutter mich an der Hand, führte mich ins Schlafzimmer und sagte:
»Die Lüge ist etwas Niedriges, weil sie feige ist, und für niedrige Vergehen muß man auch niedrige Strafen haben, jetzt mußt du die Rute bekommen.«
Meine Verzweiflung darüber rettete mich nicht, ich erhielt meine Rutenhiebe. Ich bin noch heute der festen Überzeugung, daß es nicht richtig war, ein Kind von so ausgesprochenem Ehrgefühl und Stolz zu schlagen. Als ich viele Jahre später mit meiner Mutter darüber sprach, gab sie mir nicht recht.
»Du warst seitdem ein tadellos artiges Kind,« sagte sie, »und mein wahrhaftigstes.«
Es sind mehr als sechzig Jahre seit dieser Exekution vergangen, aber ich weiß noch heute, wie verstört meine kleine Seele damals war. Meine Mutter küßte mich, sagte, nun sei alles gut, sie habe mir verziehen, und ich dürfe wieder fröhlich sein! Mich erfüllte vor allem ein Gefühl des Staunens, ich verstand meine Mutter gar nicht, ich sollte fröhlich sein, nachdem ich das erlebt? Der Schmerz war nichts, meiner Mutter Tränen waren nichts, denn über allem stand die Schmach, die ich erlitten, und in diesem Gefühl der Schmach versank alles andere. Mutter ging fort, und ich stand am Fenster und blickte hinaus; wie schwer kann ein Kind doch leiden, wie ratlos traurig kann es sein! Alles steht mir noch vor Augen, alles fühle ich noch heute! Eine kleine Weide stand vor dem Fenster, die der Wind hin und her zerrte, und in der Ferne donnerte das Meer. Alles war traurig, und eine Ratlosigkeit sondergleichen erfüllte mein Herz.
Ein Malerbursch, mein großer Freund, der auf dem Hof arbeitete, kam vorsichtig ans Fenster.
»Du bist gehauen worden,« sagte er teilnehmend, »mach dir nichts draus! Wenn du wüßtest, wie oft mein Vater mich verhaut, so etwas muß man nicht übel nehmen.«
Wie lange diese Gefühle in mir lebendig waren, weiß ich nicht, aber eins weiß ich, daß bei jeder Versuchung zur Unart, wie mit Flammenschrift geschrieben, diese Stunde vor meiner Seele stand; und der Gedanke, dies alles noch einmal erleben zu müssen, genügte, mich artig zu machen. Ich muß leider gestehen, daß nicht die Erkenntnis meines Unrechts mich auf dem Pfade der Tugend erhielt, sondern nur die Furcht, die Schmach noch einmal zu erleben.
Eines Tages hatten wir den Plan gefaßt, in einer verborgenen Ecke unseres Gartens einen Platz einzurichten, wo wir beten könnten. Karl, sonst der geistige Leiter solcher Veranstaltungen, war verreist, da nahm ich die Sache in die Hand. Es waren einige Kinder aus der Nachbarschaft dabei, die sich ebenso glühend für unseren Plan begeisterten wie wir. Nun säuberten und fegten wir die Stelle, die wir uns ausgesucht hatten, machten Moossitze, schleppten weißen Sand herbei, mit dem wir den ganzen Platz bestreuten. Was wir an bunten Steinen, Muscheln und Glasstücken finden konnten, verwandten wir zum Schmuck dieser heiligen Stätte. Endlich war es so weit, daß die Einweihung stattfinden konnte, und der erste feierliche Gottesdienst sollte gehalten werden.
Die jüngste Schwester unserer Kameraden, die kleine Natascha, sollte ausgeschlossen werden, weil sie zu klein und darum unwürdig war. Sie flehte mit gerungenen Händchen, man solle sie nicht verwerfen, sie wolle alles genau so machen wie wir, da wurde es ihr gestattet zu bleiben.
Feierlich, mit einer kleinen Glocke läutend, zogen wir hin, setzten uns auf die grünen Moossitze und beteten still für uns. Aber was nun? wir wurden verlegen.
»Jetzt müssen wir doch singen,« sagte ich, die peinliche Stille unterbrechend.
Wir sangen einen Choral. Wie soll es nun aber weiter gehen?, dachte ich angstvoll. Plötzlich hatte ich die größte Lust zu lachen, erschrak aber selbst vor diesem blasphemischen Gelüste.
»Natascha, du bist die Kleinste, du mußt beten!« sagte ich streng. Mit zitterndem Stimmchen sprach sie gehorsam ihr kleines Abendgebet.
Wenn man nur wüßte, was man jetzt tut, dachte ich bedrückt. Da rettete mein Schwesterchen die Situation, denn sie ging immer tapfer ins Zeug und schreckte vor keiner Aufgabe zurück. Sie beugte ihr dunkles Köpfchen und betete laut. Ich kann mich leider des Inhalts dieses Gebets nicht entsinnen. Als sie schwieg, waren wir wie erlöst, sangen laut »Segne und behüte«, läuteten wieder mit der kleinen Glocke und gingen erleichtert auseinander. Wir sagten wohl, daß es wunderschön gewesen sei, aber trotzdem hatte keiner den Wunsch, wieder einmal eine Gebetsversammlung vorzuschlagen.
Ein Ereignis, das einen tiefen Eindruck bei uns allen hinterließ, war der Besuch meines Onkels Hermann Hesse aus Weißenstein mit seiner ganzen Familie. Sie kamen in einem großen, grünen Planwagen direkt durchs Land gefahren, die Reise hatte mehrere Tage gedauert. Mit einem ganz besonderen Jubel wurden diese Verwandten von meinen Eltern begrüßt. Wie sie alle in dem Planwagen Platz hatten, ist mir noch jetzt ein völliges Rätsel, aber sie kamen wirklich alle aus der kleinen Tür heraus: Onkel Hermann, Tante Adele, Cousine Jenny und die drei Vettern: Hermann, Gustav und Georg. Ein Strom von großer Freude, Sonne und Leben kam mit ihnen in unser Haus. Wo sie in unserem kleinen Häuschen alle unterkamen, wo sie lebten, wo sie schliefen, ist mir vollständig unerklärlich. Die Vettern und Bruder Karl jedenfalls schliefen auf einer »Brasse«, so wurde bei uns ein Strohlager genannt, das auf dem Fußboden irgend eines Raumes bereitet war. Wie ein Traumbild sind die ersten Eindrücke dieser später so heißgeliebten Verwandten in mir nur halb wach. Erinnerlich ist mir nur, als hätte ich Onkel Hermann mit einem Strahlenkranz ums Haupt gesehen. Er atmete geradezu Freude und Liebe aus, und um ihn war Freiheit.
Zuerst fürchtete ich mich vor den Vettern, denn es waren wilde, verwegene Knaben, ganz besonders der Jüngste, Georg. Er war ein prächtiger Bursch mit goldenen Locken, voller Lustigkeit und toller Streiche. Gleich am ersten Tage erklärte er mir:
»Ich reiß dich in Stücke, wenn du nicht tust, wie ich will!«
Da er sehr stark war, glaubte ich, er würde seine Drohung buchstäblich ausführen.
Meine Mutter hatte einen ausgesprochenen Sinn für Freundschaft, und mein Vater hatte seine Freude daran. Es war ein großer Kreis besonderer Frauen, die meine Mutter umgaben, darunter ganz hervorragende Persönlichkeiten. Die Liebste war uns Lina Kramer, denn sie war die einzige von den Freundinnen meiner Mutter, die für uns Kinder Sinn hatte und sich in bezaubernder Weise mit uns beschäftigte. Es war ein Gemisch von Trauer und Heiterkeit, von scharfer, wacher Kritik und verträumtem Künstlertum in ihr. Wie oft wachte sie an unseren Krankenbetten, und in manch einer Fiebernacht waren ihre dunklen Augen und ihr gütiges Lächeln unser Trost.
Die Bedeutendste unter meiner Mutter Freundinnen war aber doch wohl eine estländische Aristokratin, die einen Polen geheiratet hatte, Elisabeth von Gutzkowsky. Jeden Frühling kam sie aus Petersburg auf ihrer Ferienreise nach Estland in einer großen Kutsche mit ihren Kindern bei uns angefahren, von meiner Mutter mit unbeschreiblicher Freude, und von meinem Vater mit großer Ehrfurcht empfangen. Sie war eine vornehme Erscheinung, und wenn ich das Eichendorffsche Gedicht »Der Gärtner« von der »vielschönen, hohen Fraue« lese, sehe ich ihr Bild vor mir. Groß und schlank mit stolzer Haltung, herrlichem, gelocktem Blondhaar und einem eigentümlich herben Zug um den Mund, so lebt sie in meiner Erinnerung. Dieser herbe Ausdruck, der sie nicht einmal beim Lachen verließ, beschäftigte mich schon als Kind und flößte mir eine große Scheu ein.
Sie hatte wenig Sinn für uns Kinder, denn beim Zusammensein mit meiner Mutter hatten diese beiden seltenen Frauen so viel miteinander zu teilen, daß sie kaum für etwas anderes Raum hatten.
Sie war sehr geistvoll, beherrschte sieben Sprachen, dichtete und redete so schön, daß wir Kinder an ihren Lippen hingen, auch wenn wir sie nicht verstanden.
Die unbeschreibliche Güte, die starke Liebeskraft und Treue dieser Frau sind mir erst in späterem Alter aufgegangen, wo sie nach dem Tode meiner Mutter mir ihr ganzes Vertrauen und mütterliches Verstehen schenkte. Das bedeutete für mich durch Jahre meines Lebens einen großen Reichtum.
Schon als Kind empfand ich manche Aussprüche von ihr, halb verstanden, als etwas ganz Besonderes. Ein Wort, das für meine Ohren gewiß nicht bestimmt war, ist mir tief im Gedächtnis haften geblieben.
»Du gibst dich in Gesellschaften zu viel und zu stark aus,« sagte sie einmal zu meiner Mutter, »du wirfst mit Goldstücken um dich, weißt du nicht, daß die Gesellschaft lieber die kleine Münze hat? Das Gold läßt sie liegen, aber die Kupferstücke hebt sie auf.«
Wie alt ich war, als ich zur Schule kam, weiß ich nicht; meinen ersten Unterricht empfing ich in der Armenschule, die meine Mutter in unserem Hause eingerichtet hatte. Das einzige große Zimmer wurde dafür geopfert, und alle Schüler mußten durch unsere Küche wandern. Solche Unbequemlichkeiten aber bedeuteten in den Augen meiner Eltern nichts, wenn es galt zu helfen.
Die Lehrerin, die nach alter Art mit dem Stab »Wehe« regierte, hieß Mamsell Weise. Mein Schwesterchen hatte so lange gefleht und gebeten, bis sie die Erlaubnis erhielt, mich in die Schule zu begleiten. Ganz stolz stiegen wir die Treppe zum Schulzimmer empor, das uns fremd und feierlich erschien. Unterm Arm hatten wir unsere kleinen Tafeln mit zwei langen Schnüren daran, an der einen Schnur hing der Schwamm, an der anderen der Griffel. Wir erwarteten. Herrliches zu erleben, statt dessen geschah aber etwas ganz anderes: die immer freundliche Mamsell Weise erhob ihre Stimme so hart und scharf, wie wir sie noch nie von ihr vernommen. Sie sagte mit dieser grellen Stimme zornige Worte, die mich erstaunten, weil niemand etwas Böses getan hatte, und schloß damit, daß alle artig und fleißig sein müßten. Dann schrieb sie Zahlen auf die Tafel, zu denen sie eine Erklärung gab, die ich jedenfalls in keiner Weise begriff. So böse und schrill klang dabei ihre Stimme, daß ich zuerst voller Furcht war, dann aber mich völlig verhärtete und fest beschloß, nicht zu lernen, wenn sie so wäre. Jede Erklärung schloß Mamsell Weise mit den Worten:
»Nun, ihr Strohköpfe, habt ihr endlich begriffen?«
Wir stürzten, als die Schule zu Ende war, in höchster Aufregung zu Mutter.
»Mamsell Weise ist in der Schule so wütend, wie du es dir gar nicht denken kannst,« riefen wir aufgeregt.
Mutter sprach mildernde Worte, und da in unserer Jugendzeit Lehrer nie Unrecht hatten, meinten wir beruhigt, es müsse so sein. Mir ist's aber, als wären diesem ersten Schultage nicht viele gefolgt, und ich lernte zu Hause bei Nadinka, bis ich in die Schule kam.
O unvergeßliches, entsetzliches erstes Mal, als ich, an meiner Mutter Hand mich klammernd, in die Klasse kam! Viele kleine Mädchen saßen schon auf den langen schwarzen Bänken an den langen schwarzen Tischen. Ich mußte meiner Mutter Hand loslassen, und mir wurde ein Platz angewiesen. Ich hatte das Gefühl, als ob ich in einem Meer von Einsamkeit und Verlassenheit versank, denn meine Mutter nickte mir ermutigend zu und ging aus der Tür. In meiner Aufregung setzte ich mich verkehrt auf meinen Platz, was ein allgemeines Gelächter hervorrief, und dieses Lachen brannte wie eine Schmach auf meiner Seele. Wie dieser furchtbare Tag endete, weiß ich nicht mehr.
Ich war ein sehr schlechtes Schulkind, weil ich absolut nicht begriff, was man von mir wollte, und ich lernte meine Aufgaben nie, weil ich nicht zu lernen verstand.
Mein Vater war damals gerade schwer erkrankt, und Mutter konnte sich gar nicht um uns Kinder kümmern. Sie hatte auch nie eine Schule besucht, nie diszipliniert gelernt, bei der genialen Art ihrer Begabung war ihr alles zugeflogen; so ahnte sie gar nicht, was für eine unüberwindliche Schwierigkeit für ein Kind, wie ich es war, das Lernen in einer großen Schule sein mußte.
Ich wurde gescholten und ermahnt, da mich aber keiner das Lernen lehrte, wurde es nicht besser mit mir. Ich wollte ja gern ein fleißiges Kind sein und meinen Eltern Freude bereiten, aber wie dazu gelangen?
Namentlich das Französische war mir ein dunkles Geheimnis, in dessen Tiefen zu dringen ich von vorn herein aufgab, weil es mir hoffnungslos erschien. Unsere Lehrerin war eine Freundin meines Elternhauses, wir liebten sie sehr. Aber seltsam! Kaum kam ich zu ihr in die Klasse, vollzog sich dieselbe Verwandlung mit ihr wie mit Mamsell Weise. Sie war streng, sprach mit einer fremden Stimme und rückte mir plötzlich ganz fern; sie schalt viel in der Stunde, so daß sich bald ein Abgrund zwischen mir und ihr öffnete, den ich als furchterregend empfand. Ich lernte nie, wußte nicht, was ich sollte, und galt bald für unbegabt und verstockt.
Eines Tages brach nun das Gericht über mich herein, ich hatte beim Abfragen der Vokabeln: la Pferd, das Pferd und la Kirsch, die Kirsche gesagt. Das war zuviel! ich wurde vor der ganzen Klasse beschämt und mußte nachsitzen, und zwar wurde ich an ein Fenster in der ersten Klasse gesetzt, wo meine besten Freundinnen, hochverehrte Backfische, saßen. Die Klassenstunde begann, und ich sollte dabei lernen, wie das Pferd und die Kirsche nun wirklich im Französischen hießen.
Ich saß mit einem Gefühl der unauslöschlichsten Schmach da, ich dachte an Vater und Mutter und welche Schande ich für sie sein müßte. Meine Freundinnen nickten mir wohl hinter dem Rücken der Lehrerin ermunternd zu, aber ich beachtete es nicht und sah nur auf meine Lehrerin mit Furcht und grenzenlosem Abscheu. Da unterbrach sie plötzlich die Stunde mit der Frage, ob ich meine Vokabeln fertig gelernt hätte. In meiner tiefen Erniedrigung konnte ich keinen Laut hervorbringen, sie machte eine spöttische Bemerkung, die Klasse lachte, und ich brach in Tränen aus. Die Backfische lachten grausam weiter, da artete mein Weinen in wildes Geschrei aus, das sich in keiner Weise stillen ließ, so daß ich, o Jammer! aus dem Zimmer geführt werden mußte! Nie vergaß ich diese Stunde, noch jetzt fühle ich ihr Leid, ganz so wie die Rutenhiebe, die meine Mutter mir einst gab. Diese beiden Stunden gehören zum Bittersten, was ich in meiner Kinderzeit erlebt, auf lange Zeit verstörten sie meine kleine Seele.
Um meiner Faulheit und Verstocktheit ein Ende zu machen, wurde ich zur Besserung meiner Schulvorsteherin anvertraut, bei der ich täglich unter Aufsicht lernen mußte. Gesegnet sei diese liebevolle Seele, die den Schlüssel zu meinem Herzen fand! Sie schalt nie, sie glaubte an mich und mein ehrliches Wollen und lehrte mich lernen. Dafür öffnete ich ihr vertrauend mein Herz, und mit einem Mal begriff ich, was ich sollte. Ein glühender Eifer erfüllte mich, die Schule wurde meine Welt und die Lernzeit meine liebste Zeit am Tage. Aus dem faulen, widerspenstigen Kinde war ein tadelloses, braves Schulkind geworden. Unsere Lehrer machten es uns nicht immer leicht, als wir Kinder waren.
Die Krankheit meines Vaters hatte bald eine sehr ernste Wendung genommen, und auf unserem sonnigen Hause lagen dunkle Schatten. Es war ein schweres Herz- und Lungenleiden, an dem er hinsiechte. Unser alter Doktor hat es oft ausgesprochen, daß mein Vater hätte genesen können, wenn er nicht mit ganzer Seele nur an seinen Heimgang gedacht hätte.
»Meine Seele hat Gottes Ruf vernommen,« hatte mein Vater ihm gesagt, »ich muß ihm folgen.«
Wohl kam der Schmerz oft über ihn, von seinem späten Lebensglück scheiden zu müssen, allmählich aber schwieg auch das, und nur der eine Gedanke lebte in ihm: Jesus ruft, ich komme. Still und tapfer litt er unendliche Qualen, aber ohne Klage ging er den bitteren Todesweg. »Er litt wie ein Christ,« sagten alle, die an diesem Sterbebett standen.
Vor seinem Tode rief er mich an sein Bett, er sagte mir, daß er sterben müßte, und daß unsere Mutter nach seinem Tode sehr arm sein würde. Wenn ich erwachsen sei, müßte ich für sie arbeiten und verdienen, vor allem aber dürfte ich nie vergessen, daß mein Schwesterchen ganz meiner Sorge anvertraut wäre, sie würde nie gesund sein, würde nie arbeiten können, und ich dürfte sie nie verlassen. Ich müsse immer zuerst an sie denken, dann erst an mich, so würde Gottes Segen auf meinem Leben ruhen. Ich war damals erst neun Jahre alt, zart und schüchtern, aber gewissenhaft und nachdenklich, vielleicht noch zu klein für solch eine schwere, ernste Verantwortung. Ich sehe mich im Krankenzimmer stehen, das Herz erfüllt von Jammer und Grauen, ich höre noch Vaters gequälte Stimme, die so mühsam zu mir sprach. »Versprich es mir,« sagte er, und ich versprach es. Doch war ich nicht weich dabei, starr und wie gelähmt stand ich an die Wand gedrückt, das Grauen des Todes hatte mein armes, kleines Herz gelähmt, aber ich war fest entschlossen, mein Leben für mein Schwesterchen zu opfern.
Nach diesem Tage wurde es immer schlimmer mit unserem Vater, ich überlegte still für mich, wann ich wohl anfangen müßte zu verdienen. Eines Abends vertraute ich diese Sache Lisa an, und wir erwogen sie gemeinsam; wir beschlossen, ich sollte kleine Kinderhauben nähen, die eine Freundin von uns, ein vierzehnjähriges Russenmädchen, verkaufen müßte. Als Mutter abends kam, um uns Gute Nacht zu sagen, sagten wir, sie solle nicht traurig sein, wenn Vater stürbe und wir ganz arm sein würden, ich würde genug Geld verdienen, wir wüßten auch schon, auf welche Weise. Mutter brach in Tränen aus, küßte uns und ging aus der Tür.
Am anderen Tage, ganz früh, kam sie zu uns ins Zimmer, ihr Gesicht war weiß und ganz still. Sie weinte nicht, als sie sagte:
»Kinder, Vater ist heute nacht gestorben.«
Sie saß an unseren Betten und erzählte uns, wie gut er es jetzt habe, er könne frei atmen und Gott mit allen Engeln preisen.
Als wir später zu ihm geführt wurden, lag er schon im Sarge in seiner Amtstracht: still und feierlich, ehrfurchtgebietend wie nie im Leben.
Nun kamen aufregende Tage für uns, die ganze Gemeinde kam, um ihren Pastor noch einmal zu sehen. Zweier Gemeindeglieder erinnere ich mich, die in ihrem Schmerz meine Kinderseele bis in ihre Tiefen erbeben ließen: der eine war ein blinder Mann, der mitten in unserem Saal niederkniete und beide Hände weit ausstreckte, wobei Tränen aus seinen erloschenen Augen strömten. Mutter nahm ihn sanft bei der Hand und sagte:
»Hier liegt er nicht, ich werde Sie zu ihm führen.« Sie ließ seine Hand nicht los, bis sie sie auf Vaters kalte Hände legte. Dort stand er gebeugt, weinend, immer nur das eine murmelnd:
»Wer wird nun für mich sorgen? Wer wird sich nun meiner erbarmen?«
Der zweite war ein Trinker, ein Maler, Herr Jerding, um den mein Vater sich unendlich gemüht hatte. Er war ein genialer Mensch, voller Verstand und Witz, durch den Trunk aber vollständig verkommen. Als Vater einmal ganz verzweifelt war, sagte er:
»Jerding, wie soll ich einst vor Gottes Thron erscheinen, was soll ich Gott antworten, wenn er Ihre Seele von mir fordert? Sie sind doch mein Gemeindeglied.«
Da antwortete der Mann tröstend:
»Sorgen Sie sich nicht darum, lieber Herr Pastor, sagen Sie es nur ganz dreist dem lieben Herrgott: ich habe alles getan, was ich konnte, aber Jerding, das Luder, hat nicht gewollt.«
Dieser Mann stand an Vaters Sarg: blaß, verstört, mit bebenden Lippen. Er erhob seine Hand feierlich und sagte laut:
»Ich verspreche es Ihnen, Herr Pastor, ich werde nie mehr einen Tropfen Schnaps trinken.«
Er hielt sein Wort, doch war sein Körper schon zu zerstört, er ging elend zugrunde.
Ein Jahr nach Vaters Tod blieben wir noch in unserem Pastorat, es kam ein junger Pastor an seine Stelle, der ganz bei uns lebte. Wir Kinder liebten ihn nicht, wir sahen ihn wie einen Eindringling an, denn es war zu traurig, daß ein Fremder in meines Vaters Studierzimmer saß und daß ihm nun alles gehörte: die Kirche, der Küster, der Kirchendiener und die Kanzel. Wie ein Traum so eindrucks- und wesenlos ist dies Jahr an meiner Erinnerung vorübergezogen. Nur das Leben in der Schule mit den Lehrerinnen, die ich liebte, und mit meinen Mitschülerinnen steht noch in hellem Lichte vor mir. Ich war ein richtiges Schulkind geworden und hätte am liebsten den ganzen Tag in der Schule verbracht.
Ein aufregendes Ereignis mit einer meiner Schulfreundinnen fiel in diese Zeit. Diese Freundin war eine Russin, die mich heiß liebte, doch erwiderte ich nur mit einer gewissen Zurückhaltung ihre Gefühle. Sie schwor mir oft, daß ich ihre liebste Freundin sei, ich wurde ihrer Versicherungen überdrüssig und verlangte Taten zu sehen. Ich wollte einen Beweis ihrer Freundschaft haben, und sie erklärte sich zu allem bereit. Da forderte ich, sie solle ein Tintenfaß, mit Tinte gefüllt, austrinken, und sie war auch sofort dazu entschlossen. In einer Zwischenstunde sollte dies Opfer auf dem Altar der Freundschaft gebracht werden. Die ganze Klasse nahm teil. Die Mitschülerinnen bildeten einen Kreis um uns, kaltblütig reichte ich ihr das bis an den Rand gefüllte Tintenfaß, sie setzte es an und trank es leer. Die Folgen waren furchtbar! Sie stürzte auf den Fußboden, spuckte Ströme von Tinte, besudelte ihr Kleid und die Diele, schrie und tobte; ich war versteinert vor Schreck.
Am anderen Tage kam die Mutter in die Schule, ein dickes Russenweib, und verlangte etwas ähnliches wie meine Hinrichtung. Ich wurde nicht gestraft, meine Schulvorsteherin fragte mich nur vor der ganzen Klasse, ob ich meiner Mitschülerin im Ernst zugemutet hätte, die Tinte zu trinken, oder ob ich nur gescherzt hätte. Ich erhob mich von meinem Platz und sagte mit zitternder Stimme:
»Nein, ich wollte im Ernst, sie sollte sie trinken.«,
»Warum denn nur?« fragte sie erstaunt.
»Ich wollte sie auf die Probe stellen,« war meine Antwort. »Sie sprach immer davon, daß sie mich so sehr liebte, nun wollte ich sehen, ob sie auch ein Opfer bringen könnte.«
»So etwas tut man nicht,« war das einzige, was meine kluge Erzieherin sagte, »denke nur, wie traurig für dich, wenn sie nun durch deine Schuld krank würde.«
Das Jahr, das wir noch im Pastorat verbringen durften, ging bald vorüber, und es kam die Trennung von allem, was bisher zu unserem Leben gehörte. Es gab damals keine Eisenbahnen in unserer Heimat, in Fuhren wurden unsere Sachen verpackt und viele hundert Werst durchs Land geschickt. Riga, die alte Heimatstadt meiner Mutter, sollte nun auch unsere Heimat werden. Im Hause unseres Großvaters hatte meine Mutter eine kleine Wohnung gemietet. Was wir an Sachen aus Narva nicht mitnehmen konnten, kam zur Auktion, ich erinnere mich noch deutlich der schreienden Stimme des Auktionators und des harten Aufschlagens des Hammers. Ich hatte eine kleine Puppenwiege in den Garten gerettet, die auch unter den Hammer kommen sollte. Fest hielt ich sie in den Armen, aber Nadinka, die mich so fand, nahm sie mir wieder fort, die könne man nicht verpacken. Es wurden mit uns nicht viel Umstände gemacht, wir mußten uns früh überwinden lernen und uns der Notwendigkeit fügen.
Und dann kam der Tag des Abschiedes. Wir wurden in unsere alte Reisekutsche gepackt, Nadinka und Njanja sollten uns noch ein Stücklein Weges begleiten, bis vor die Stadt hinaus. Ich hatte bestimmt geglaubt, daß alle Glocken zu unserer Abreise läuten würden wie zu Vaters Beerdigung, aber es blieb alles still.
So fuhren wir ab, noch einen Abschiedsblick warfen wir auf unser Pastorat, das im strahlenden Sonnenlicht dalag. Vor dem Waisenhaus hielten wir noch einmal und stiegen aus unserer Kutsche. Alle Anstaltskinder in ihren Festkleidern erwarteten uns, viele Freunde und eine Schar Armer waren gekommen, um uns noch einmal zu sehen. Der alte Waisenvater hielt eine Andacht; alles weinte. Dann wurden wir hinausgeleitet, nahmen jammernd von Njanja und Nadinka Abschied, die Waisenknaben sangen ein Lied, wir wurden wieder in unseren Reisewagen gehoben, und der Kutscher hieb auf die Pferde ein.
»Nun Kinder, seht Euch noch einmal nach unserem Kirchturm um,« sagte Mutter.
Wir taten es – dann ging es der neuen Heimat entgegen. Ein neues, ganz anderes Leben lag nun vor uns.