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Mary

Es ist ein dunkler Wintermorgen. Ich habe den Kaffee gemacht und warte auf unsere Pensionäre, die zur Schule abgefertigt werden sollen. Eine große Schar kleinerer und größerer Buben sind bei uns in Pension und führen ein fröhliches Leben, von der starken, gütigen Hand meiner Mutter geführt. Einer der Jungen erscheint in der Tür.

»Ich weiß nicht, was mit Rudi heute ist, er will nicht aufstehen, er sei müde.«

Man macht nicht viel Umstände bei uns mit den Knaben, es ist ein strammes Regiment.

»Er ist müde?« sagte ich erstaunt, »das ist doch kein Grund, die Schule zu versäumen, aber vielleicht ist er krank, ich komm gleich nach ihm sehen.«

Als ich den kleinen Kerl in seinem Bette erblicke, erschrecke ich: das ganze Gesicht ist feuerrot gefleckt, Hals und Arme ebenfalls; ich rufe meine Mutter.

»Es wird wohl der Scharlach sein, es darf keiner zur Schule gehen, ehe der Doktor da war,« entscheidet sie.

Als der Arzt kommt, konstatiert er es.

»Alle Pensionäre müssen aus dem Hause,« befiehlt er, »der Kranke muß ganz isoliert werden.«

Meine Mutter zieht mit ihm in ein entferntes Zimmer, und seine Schwester Mary soll vom Lande kommen, um bei der Pflege zu helfen. Wir kannten sie noch nicht, doch hatten unsere Familien durch vier Generationen treue Freundschaft miteinander gehalten und sahen sich wie Verwandte an. Solcher »Wahlverwandtschaften« gab es so manche in unseren baltischen Familien.

Nach wenigen Tagen meldete ein Brief uns Marys Ankunft, ich holte sie von der Bahn ab und empfing sie wie eine Schwester. Es war ein entzückendes Menschenkind, das mir entgegentrat, achtzehnjährig, groß und schlank. Als sie bei uns am Teetisch saß, fühlte ich erst den ganzen. Zauber dieser jungen Menschenblüte; ein wenig scheu und doch zutraulich, errötend und lächelnd saß sie da. Sie war blond und rosig, das Schönste aber waren ihre Augen; es lag eine große Melancholie in ihnen, und dann konnten sie plötzlich aufstrahlen, daß ihr Gesicht wie sonnendurchleuchtet war. Sie war sehr still, dann aber konnte es plötzlich mit stürmender Lebendigkeit aus ihr hervorbrechen, sprudelnd, hinreißend, aber wie erschrocken über ihre Kühnheit, konnte sie ebenso plötzlich wieder verstummen, scheu und ängstlich sah sie dann aus ihren großen Augen zu uns hin, schüchtern und einsilbig unsere Fragen beantwortend.

Durch die einander gegenüberliegenden Fenster unseres Zimmers und des Krankenzimmers konnten meine Schwester und ich über einen Lichthof hin mit den Pflegenden verkehren. So machten wir denn gleich mit Mary ab, uns zu bestimmten Stunden des Tages zu sprechen. Wir lieferten sie meiner Mutter aus, und sie zog ganz in den abgetrennten Teil der Wohnung, um. ihre Pflicht am kranken Bruder zu übernehmen.

Es war ein seltsamer Verkehr, der nun anfing. Immer um die bestimmte Stunde am Morgen stand sie, hell wie ein Frühlingstag, am gegenüberliegenden Fenster und wartete, bis wir Zeit für sie hatten. Jeder Tag brachte uns einander näher, wir versorgten sie mit Büchern, die, mit kühnem Wurf über den Lichthof geschleudert, in ihr Fenster flogen. Abends, wenn der Kranke zur Ruhe gebracht war, saßen wir an den geöffneten Fenstern hüben und drüben, sprachen über die Lektüre und erzählten uns von unserem Leben; daß wir unsere Gespräche schreiend führen mußten, hinderte uns gar nicht. Mit dem ganzen Leichtsinn der Jugend machten wir schließlich ab, uns auf der Straße zu treffen und miteinander spazieren zu gehen.

So flogen die Wochen. Als der kleine Patient genas und von der Schwester aufs Land gebracht werden sollte, erkrankte sie schwer an Diphtheritis. Ich weiß nicht, warum die Ansteckungsgefahr dieser Krankheit bei uns gar nicht beachtet wurde, ich übernahm die Pflege, meine Schwester und ich wichen kaum aus ihrem Zimmer. Meine Mutter brachte den kleinen Patienten hinaus aufs Land zu seinen Eltern, die Pensionäre durften noch nicht zurückkommen, wir lebten ganz allein in schönster, innigster Freundschaft miteinander. Diese Zeit schloß ein festes Band um uns, ein Band, das nur der Tod nach Jahren lösen konnte.

Sie war ein eigenartiger Mensch, unser jüngstes Schwesterchen, wie wir sie nannten; voll großer Reichtümer war diese junge Seele und voll unvermittelter Widersprüche. Sie war entschieden eine Künstlernatur, ohne die Fähigkeit, sich künstlerisch auszusprechen. Ihre Seele war so beweglich, so fähig, sich in alles, was ihr entgegentrat und ihre Begeisterung weckte, hineinzustürzen, scheinbar urteilslos; aber dicht daneben stand eine scharfe Kritik, ein unerbittliches Urteil, die bei diesem jungen phantastischen Menschenkinde einen oft mit Staunen erfüllte. Sie war fröhlich mit einer kindlichen Art von Fröhlichkeit, strahlend und impulsiv, nebenbei von tiefer Schwermut. Wie reich sie sich auch entwickelte, diese Grundeigenschaften behielt sie bis zuletzt, nur die Schwermut verschwand allmählich aus ihrer Natur.

Als sie genesen war, schieden wir mit Tränen voneinander. Ich mußte ein heiliges Versprechen geben, sie sobald wie möglich auf ihrem Pastorat zu besuchen.


Es war im Frühling darauf, als Mary unerwartet bei uns eintrat; der Brief, der sie anmelden sollte, war nicht angekommen. Ich war im Begriff, in eine größere Gesellschaft zu gehen, wo ich singen sollte. Sie stand ratlos und erschrocken vor mir, dann verzog sich ihr liebliches Gesicht, sie wollte anfangen zu weinen wie ein kleines Kind.

»Ich habe mich so auf dich gefreut,« sagte sie, »und nun gehst du fort! Kannst du mich nicht vielleicht mitnehmen?«

»Das ist ein Ausweg,« sagte ich ganz glücklich und dachte heimlich und stolz, was alle für Augen machen würden, wenn ich mit diesem holdseligen Gast ankäme.

Bald machten wir uns auf den Weg, meine Begleiterin wurde mit warmer Herzlichkeit empfangen. Wir traten ins Gesellschaftszimmer, wo schon ein großer Kreis versammelt war. Mir fiel sofort ein Gast auf, den ich bisher in diesem Hause nicht gesehen hatte, und den ich nur flüchtig kannte. Ich hatte viel von ihm gehört: es war ein junger Pastor vom Lande, von dem die unheimliche Sage ging, daß er zweimal im Jahre sein schönes Pastorat verließe, wo er mit seiner Mutter und seinen Schwestern lebte, um sich in der Stadt unter den Töchtern des Landes umzuschauen. Doch hatte er bisher noch keine gefunden, die er mit seiner Hand zu beglücken gewillt war, denn er war sehr wählerisch, wie er von sich selbst sagte.

Er kam auf mich zu und fragte, ob er sich vorstellen lassen müsse. Es klang so siegessicher, daß ich sofort sagte, es wäre klug, wenn er es täte, denn ich könne mich durchaus nicht seiner erinnern. Er hatte einen ausgesprochenen Sinn für Humor, der Schalk sprang ihm aus den Augen, er verbeugte sich tief vor mir und nannte seinen Namen mit einer gewissen Umständlichkeit und den Namen seines Pastorates gleich dazu.

»Erinnern Sie sich jetzt meiner?« fragte er.

»Ganz dunkel,« sagte ich lachend.

Da trat Mary zu uns heran, sie hatte sich im fremden Kreise verlassen gefühlt, suchte meine Nähe auf und griff, wie Schutz suchend, kindlich nach meiner Hand; ich machte die beiden miteinander bekannt. Seine Augen waren licht und blau und lagen tief unter dunklen Brauen verschattet, bei Marys Anblick öffneten sie sich weit und hell, voll Staunen und fast erschrocken. Eine lichte Röte stieg ihm in die Stirn bis unter die dunklen Haarmassen, und der sonst so redegewandte Mund war stumm. Sie sah so jung und lieblich aus, wie sie, ein wenig erstaunt über seine stumme Begrüßung, die strahlenden Kinderaugen voll zu ihm aufschlug.

Dieser Augenblick entschied über das Leben zweier Menschen, die für einander geschaffen waren.

Als wir mit Mary am Abend heimgingen, war ihre erste Frage, die sie im Schutz der Dunkelheit tat:

»Wie gefällt dir der Pastor?«

Ich wußte, welch einen starken Einfluß ich auf sie hatte, und fühlte, was in ihrer Seele vorging.

»Gar zu schwer will ich es ihm nicht machen, aber ein wenig zappeln soll er doch,« dachte ich. »Er gefällt mir gut,« sagte ich scheinbar unbefangen, »er ist nur ein wenig übermütig, er denkt, daß er seine Hand nur auszustrecken braucht, um jedes Mädchen zu gewinnen; es tut ihm gut, wenn man ihn etwas kurz hält.«

Sie schwieg, und das Thema Pastor wurde nicht mehr zwischen uns erörtert.

»Sie hat es mir nicht leicht gemacht,« sagte er später, als die beiden glücklich verheiratet waren und wir die besten Freunde wurden, »und daran warst du schuld, aber es war gut so, ich war ja ein abscheulich eitler Kerl.«

 

Im Sommer verlobten sie sich, und im Spätherbst war die Hochzeit; ich war nicht dabei, denn schon im September war ich zur Ausbildung meiner Stimme nach Deutschland gegangen.

Als ich sie das erstemal besuchte, waren bereits zwei Kindlein da. Sie empfing mich auf der Treppe ihres Pastorats; wie ein Bild stand sie in der weinumrankten Veranda im weißen Kleide, mädchenhaft schlank und strahlend. Da brauchte man nicht zu fragen, Glück und Liebe lachten aus ihren Augen.

Sie ließ mir kaum Zeit, meine Reisekleider abzulegen.

»Du mußt die Kinder sehen,« sagte sie und führte mich in ihrer alten stürmischen Art ins Kinderzimmer. Und nun sah ich die beiden Menschenknöspchen, das ältere, ein Mädchen, mit hellen Augen und dunklem Haar, und ein Bübchen, rosig und blondgelockt, mit den Augen der Mutter.

Mary entwickelte sich langsam, sie war noch immer ein Kind, und die Zügel des Haushalts hielt sie nur lose in ihren Kinderhänden; sie war zart und kränklich geworden und wurde von ihrem Mann namenlos verwöhnt. Ich machte mir Sorge um ihre Entwicklung, sie brauchte noch etwas, was ihr Mann ihr nicht gab, liebevolle Kritik. Die Atmosphäre von Vergötterung, in der sie lebte, hatte manches in ihr großgezogen, was mir nicht gefiel. Sie war mir viel zu lieb, als daß ich hätte schweigen können.

Eines Tages – sie war launisch gegen ihren Mann gewesen, der traurig fortgegangen war – brach es bei mir los. Ach, wie erschrocken die blauen Kinderaugen blicken konnten!

»Glaubst du, daß ich meinen Mann unglücklich mache?« sagte sie so sehr bekümmert, daß ich lachen mußte, eine so tiefgehende Wirkung meiner Moralpredigt hatte ich nicht beabsichtigt.

»Nun, beantworte dir selbst diese Frage,« sagte ich.

Er war, ohne daß wir es gemerkt hatten, zurückgekehrt, stand an der Tür und sah nach ihr hin. Eine Welt voll Liebe lag in seinem Blick. Sie stand auf und ging auf ihn zu, nicht stürmisch, nicht jubelnd, ganz still und langsam ging sie, so daß er ihr voll Staunen entgegensah, dann nahm sie seine Hand, bückte sich tief und küßte sie ehrfürchtig. Wie erschien sie mir so hoheitsvoll in diesem Augenblick!

»Du bist so herrlich altmodisch in deinen Ansichten über die Ehe, und ich will eine altmodische Frau sein,« sagte sie mir später.


Es war ein wundervoller Frühling ins Land gezogen voll Blütenduft und Nachtigallensingen, als mir ein Brief meldete, daß ein kleines Töchterchen im Pastorate angelangt sei. Es war das vierte Kind. Mit noch schwacher, zitternder Hand hatte Mary mir geschrieben: »Willst Du die Taufmutter meines kleinen Mädchens sein? Es soll ganz Dein eigenes Kind sein; als es geboren wurde, sang eine Nachtigall unter meinem Fenster, und mein Zimmer war voll blühender Anemonen.«

Ich konnte nicht zur Taufe kommen, und die Kleine war sechs Wochen alt, als ich sie zum erstenmal sah. Die Mutter nahm mich an der Hand und führte mich zum schlafenden Kindchen, mit tiefer Bewegung beugte ich mich über sein Bettchen: es schlief fest, es war blond und rosig mit einem ausgesprochen kleinen Gesicht.

Die Mutter legte es mir in die Arme.

»Dieses Kind schenke ich dir,« sagte sie leise und feierlich, »ich habe vier Kinder und du hast keins, darum soll es ganz dein eigenes sein.«

Durch ein Leben, das uns oft äußerlich auseinanderführte, durch Stürme und durch Sonnenschein ist dies Kindchen mein eigenes gewesen, denn diese Stunde, wo ich es zum erstenmal auf meine Arme nahm, hat ein unzerreißbares Band zwischen uns gewoben.

Die Kleine bekam in der Taufe den Namen Anni-Monika, und die Mutter nannte sie Anemone nach den Frühlingsblumen, die sie begrüßten, als sie ihre Augen zum Leben aufschlug.

Es war ein Leben in Marys Hause voll Sonne und Liebe, immer noch lagen die Zügel des Haushalts lose in ihren Händen, es umgab sie etwas von den Lilien auf dem Felde, die nicht säen und nicht ernten. Sie hatte treue Dienstboten, die aus Liebe zu ihr alles taten: wenn Mary über einem schönen Buch oder einem interessanten Gespräch alles vergaß, stand das Essen doch immer rechtzeitig und gut gekocht auf dem Tisch, und jeder fühlte sich bei ihr wohl und heimisch, denn jeder Gast wurde von ihr ganz natürlich in das Leben des Hauses eingereiht. Empfand man auch bald die Lücken in der Führung des Hauswesens, die mit einer großen Freimütigkeit von Mary erkannt und bekannt wurden, so störte das doch nie die Behaglichkeit, und jede Hilfe wurde mit dankbarer Selbstverständlichkeit entgegengenommen, man spürte so stark, daß die geistige Seite des Lebens ihr die wichtigste war, neben der das Praktische nur eine untergeordnete Rolle spielte.

Gäste kamen und gingen, blieben oft viele Wochen, wurden gepflegt und mit Liebe umsorgt. Es war immer etwas wie Feiertag, was Mary umgab, und dieses Gefühl des Feiertags nahmen die Gäste mit dankerfülltem Herzen mit fort in ihr eigenes Heim, wenn sie dieses Sonnenhaus verließen.

Sie war eine rechte Kindermutter, wenn sie auch mit starker Kritik bei aller grenzenlosen Liebe über den Fehlern ihrer Kinder wachte.

Immer schöner wurde ihre Ehe. Sie und ihr Mann waren recht für einander geschaffen im tiefsten Sinn des Wortes, denn sie ergänzten sich in ihrer Eigenart. Sie vertiefte ihn, dessen Natur die Gefahr in sich barg, sich zu verausgaben und zu veräußerlichen, während er sie vereinfachte und immer wieder zur Wirklichkeit führte, wenn sie, wie es oft geschah, den Boden vollständig unter den Füßen verlor und schimmernde Luftschlösser baute.

Sie lebten in einem wunderschönen alten Pastorat, in dem sein Vater schon Prediger gewesen war. Der mächtige Saal und die behaglichen Zimmer waren altmodisch eingerichtet mit Möbeln aus vergangener Zeit. Der Hof mit seinem großen Rasenplatz in der Mitte war voll von Cyrenen-, Rosen- und Jasminbüschen und alten, schattigen Bäumen, unter denen im Sommer meistens die Mahlzeiten eingenommen wurden.

An der Rückseite des Hauses kam man von einer großen, weinumsponnenen Veranda in den Garten, der hoch gelegen, tief verschattet, voller Obstbäume und Beerensträucher war; drei mächtige Lindenlauben schlossen ihn ab. Mein Lieblingsplatz war eine riesengroße Ulme, von dort aus sah man hinab ins Tal der Salis, die man in ihren vielen Windungen überschauen konnte.

Dicht neben dem Pastorat war die Kirche, und am Sonntag hörte man im Hause nicht nur die Orgel und den Gemeindegesang, sondern auch die Stimme des predigenden Pastors. Während des lettischen Gottesdienstes saßen wir gern in der Laube, sangen die Choräle mit und horchten auf die Predigt.


Wir wollen einen Ausflug in den Wald machen, wo ein berühmtes Echo mir vorgeführt werden soll. Mary ist Feuer und Flamme für den Gedanken, obgleich ihr Mann ein wenig den Kopf schüttelt, denn es hat die ganze Nacht geregnet, und der Himmel ist voll dunkler Wolken.

Es werden die großartigsten Vorbereitungen gemacht; Eßkörbe werden gepackt, und alle Kinder, die sich schon einigermaßen auf den Füßen halten können, werden mitgenommen. Die lange livländische Liniendroschke steht vor der Tür, es ist gar nicht zu beschreiben, was alles an Menschen und Vorräten da hineingepackt werden kann.

Nun sitzen wir im Wagen, die Kinder in große Tücher gehüllt, die Vorratskörbe wohl zugedeckt und gegen den Regen geschützt. Der Pastor hatte noch einige mißlungene Versuche gemacht, die Fahrt zu hintertreiben.

»Wir werden bis auf die Haut durchnäßt werden,« sagt er in seiner ruhigen, freundlichen Art. Aber Mary hat irgendwo zwischen den Bäumen ein Stückchen blauen Himmel gesehen, darauf baut sie ihre ganze Hoffnung.

Wir fahren ab, noch sind wir nicht aus der Allee heraus, die vom Pastorat zum Walde führt, so bricht der Regen los, aber Mary rechnet noch immer mit der Sonne.

»Sie wird kommen,« sagt sie, »ihr werdet sehen, man muß nur an sie glauben!«

Und wir fahren weiter, der Wald ist erreicht, es gießt bereits in Strömen, aber an ein Umkehren ist nicht zu denken.

»Die Tannen werden den Regen abhalten,« sagt Mary zuversichtlich, »und nachher kommt doch die Sonne.«

Wir sind an unserem Bestimmungsort angelangt und halten vor einer kleinen Ausflugshütte mit offenem Herd, die am hochgelegenen Ufer der Salis etwas Schutz gegen den Regen bietet.

Wir sind alle durchnäßt, aber die fröhliche Laune unserer lieben Hausfrau läßt keine Regenstimmung aufkommen. Wir drängen uns in der kleinen Hütte zusammen, ein Feuerchen wird entzündet, Kaffee wird gekocht. Dazwischen geht immer einer oder der andere hinaus, schaut nach dem Himmel und wartet auf die Sonne. Sie will nicht scheinen, wir aber können unmöglich unsere Vorräte im winzigen Häuschen auspacken.

»Wir müssen unseren Kaffee im Walde trinken,« meint Mary.

Wir tragen dann unsere Sachen durch den Regen unter die Tannen, eine Wagendecke wird auf den nassen Boden gebreitet, auf der wir alle Platz nehmen. Die mächtigen Waldbäume bieten ein wenig Schutz, und wenn es auch in die Tasse tröpfelt, beachtet man es nicht weiter. Alles ist trotz Regen und Nässe fröhlich, am glücklichsten aber ist Mary. Welch eine Sonnenkraft liegt doch in diesem zarten Menschenkinde, die sich uns allen mitteilt! Und als wir bis auf die Knochen durchnäßt wieder zu Hause ankamen, waren wir alle so fröhlich, als wäre es einer der gelungensten Ausflüge gewesen, den wir gemacht hatten.

Die Kinder werden sofort zu Bett gebracht, und wir müssen uns vollständig umkleiden.

»Heute abend müssen wir tanzen,« sagte Mary, »sonst werden wir krank.«

Kaum ist das Abendessen vorüber, so wird der Saal ausgeräumt, jemand setzt sich ans Klavier, und es wird getanzt, bis uns der Atem ausgeht. Der Anführer war immer der Pastor, er war ein berühmter Masurkatänzer.

Als ich am Abend in meinem Bett liege, kommt Mary, wie immer, um mir »gute Nacht« zu sagen. Heute ist sie ein wenig verlegen, ich sehe es sofort, als sie in der Tür steht; dann wechselt die Farbe in ihrem zarten Gesicht.

»Komm nur näher,« rufe ich ihr lachend zu, »ich weiß schon, was du mir sagen willst.«

Sie sitzt auf meinem Bettrand.

»Fandest du es falsch, daß ich die Partie mit Gewalt durchsetzte?« fragte sie ein wenig kleinlaut.

»Nun, du hattest das Recht auf deiner Seite,« ist meine Antwort, »so froh sind wir lange nicht gewesen. Dir ist eine große Macht über Menschen gegeben,« fügte ich ernster hinzu.

Sie nimmt meine Hände in ihre beiden schlanken Hände, die so viel Leben haben, und legt ihre Wange darauf.

»Hilf mir, daß ich diese Macht nicht mißbrauche,« sagt sie kindlich.


Anni-Monikas dritter Geburtstag soll gefeiert werden. Der Tag fällt gerade in die Osterzeit, und ich kann mich freimachen und den Geburtstag meines Tauftöchterchens mit ihr erleben.

Es ist eine ganze Tagesreise, bis ich von Riga im Pastorat ankomme. Ein halber Tag Eisenbahnfahrt und ein halber mit Wagen und Pferden liegt hinter mir, als ich in die große Allee zum Pastorat einbiege. Ich bin lange nicht im Frühling auf dem Lande gewesen. Ganz berauscht von all der Schönheit, die ich auf meiner Fahrt durchs Land genossen, komme ich an.

Und wie der verkörperte Frühling steht Mary an der Gartenpforte unter den knospenden und blühenden Bäumen.

»Du mußt sofort ins Kinderzimmer kommen, dein Tauftöchterchen erwartet dich leidenschaftlich,« sagte sie gleich bei der Begrüßung. »Die anderen Kinder schlafen, aber sie liegt noch mit großen Augen in ihrem Bettchen wach. Sie sagte mir, sie könne nicht einschlafen, ohne dich gesehen zu haben, denn sie glaubt, du wärest die schönste Frau der Welt!«

O weh, was hatte da mein phantastisches jüngstes »Schwesterchen« angerichtet! Ich stand am Bett des Kindes und blickte in ein aufgeregtes, kleines Gesicht, das mich aus großen Augen leidenschaftlich anschaute. Ich strich ihr sachte das blonde Haar aus der feuchten Kinderstirn.

»Jetzt mußt du schlafen,« sagte ich ruhig, denn ich fühlte, wie das kleine Herzchen wild schlug.

Sie legte sich gehorsam auf die Seite und schloß die Augen, und ich ging leise aus dem Zimmer.

»Sie hat alle diese Tage nur von dir gesprochen,« sagte die kindliche Mutter stolz, die alle ihre Wiedersehensfreude, alle ihre begeisterte Liebe zu mir in das kleine Herz versenkt und es zum Zerspringen erregt hatte. Ich mußte doch ein wenig meinen Kopf dazu schütteln. –

Der Geburtstagsmorgen brach an, es war Ostern, ein Frühlingstag voller Glanz und Herrlichkeit. Der Abhang im Garten, der zum Fluß hinabführte, war blau von Veilchen, die Bäume waren voller Knospen, Vogelsingen und Sonnenschein füllten unsere Herzen mit Jubel und Freude. Über all die Frühlingspracht zog das Ostergeläute der Glocken, und von nah und fern kamen die Leute zur Kirche geströmt.

An meiner Hand betrat Anni-Monika das geschmückte Festzimmer. Jedes Kind hatte ein Kränzchen von Frühlingsblüten im Haar, auf dem blonden Scheitel der Mutter lag ein Kranz von weißen Anemonen. Das Geburtstagskind war vollständig erstarrt vor Glück, als es vor seinem Gabentischchen stand, in dessen Mitte der große gelbe Kringel prangte, der zu keinem baltischen Geburtstag fehlen durfte. Es war ein ganz »richtiger« Kringel mit Rosinen und Mandeln, und in ihm steckten drei kleine, brennende Lichte, die drei Jahre des Geburtstagskindes darstellend.

Nun umstanden die Kinder das Klavier, die Mutter spielte ein Osterlied, und der Vater, schon im Ornat, zur Kirche bereit, las das Osterevangelium.

Als der Gottesdienst beendet war, gab es eine Überraschung für mich. Verheißungsvoll lächelnd sammelten sich die Kinder wieder um das Klavier, an dem die Mutter saß. Das Vorspiel zur »Dichterliebe« begann, und die Kinder sangen im Chor die vier ersten Lieder und schlossen mit:

»Wenn ich in deine Augen seh,
So schwindet all mein Leid und Weh.«

Ich hatte in diesem Winter die »Dichterliebe« in einem Konzert gesungen, und die Mutter hatte mit den Kindern ganz in meinem Programm gelebt. Die Kinder waren sehr musikalisch, sangen hell und rein; die Wirkung war überwältigend, als von diesen ahnungslosen Kinderlippen Schumanns zarte Liebeslieder erklangen.

Dann gab es ein Solo vom Geburtstagskinde: »Anni-Lauri« von Hochberg. Strahlend und aufgeregt, der Wichtigkeit ihrer Aufgabe vollständig bewußt, stand das kleine Ding da mit einem Kranz von blaßblauen Leberblümchen über der weißen Stirn und sang mit einem hellen Kinderstimmchen:

»Wie schön ist Anni-Lauri,
Des Morgens früh im Tau.«

Nach dem Essen zog alles in den Frühlingswald, wo die Leberblümchen und Küchenschellen blühten. Am hochgelegenen Ufer des Flusses wanderten wir hin, die Kinder trugen Blumensträuße in den Händen, es duftete nach Erde, nach blühenden Weiden und Tannen. Die lichte Dämmerung des Frühlingsabends lag auf Wiesen und Feldern, als wir heimkehrten. Die Kinder fuhren auf einer schmalen Liniendroschke voraus, sie sangen dreistimmig:

»Weißt du, wieviel Sternlein stehen
An dem blauen Himmelszelt?«

Wie süß und rein die Stimmen durch die weiche Frühlingsluft zu uns hinüberklangen, deutlich unterschied man die Worte:

»Gott der Herr hat sie gezählet.
Daß ihm auch nicht eines fehlet
An der ganzen großen Zahl.«

Ich ging mit Mary und ihrem Mann auf dem schmalen Wege zwischen den hohen Waldbäumen, unter denen es schon ganz dämmrig war.

»Wie reich und voller Liebe ist euer Leben,« sagte ich leise.

Sie schwiegen beide, dann sagte Mary:

»Und du gehörst ganz zu uns!«


Jedesmal, wenn ich wieder mit den Freunden zusammen war, fühlte ich das Wachsen dieser beiden Menschenseelen. Ein großer Schmerz lag auf ihnen: ihr ältester Sohn litt an einem unheilbaren Leiden. Der Jammer um dieses schöne, reichbegabte Kind zerbrach dem weichen Vater fast das Herz, da war Mary die Starke, die ihren Mann leiden lehrte. Wer von den beiden in der Ehe der Gebende war, wer der Nehmende, man wußte es nicht, sie wuchsen ineinander. Auch mit der Gemeinde verwuchsen sie immer mehr und tiefer; in allem kamen die Bauern voller Zutrauen und fragten ihren Pastor um Rat, und wo sein Rat nicht ausreichte, da half oft das gütige Lächeln der Pastorin und die feinen, liebevollen Hände, die so zart und so stark waren.

Da kam ein Sommer ins Land, der ganz besonders reich an Blüten und Schönheit war. Ich hatte mein Stübchen im Pastorat, das immer für mich bereit war.

»Versprich uns,« sagte Mary immer wieder, »daß du jeden Sommer zu uns kommst, damit du ganz mit unserem Hause verwächst.«

Sie kränkelte viel, mußte oft wochenlang ganz liegen, aber sie klagte nie.

»Ich bin so unendlich glücklich,« sagte sie immer wieder. »Wenn ich noch gesund wäre und arbeiten könnte, wäre es wohl zu viel.«

Eines Abends, ihr Liegestuhl stand draußen auf meinem Lieblingsplatz unter der großen Ulme, saß ich bei ihr, und wir blickten zusammen ins stille Tal hinab, wo der Fluß in vielen Windungen in der Sonne aufleuchtete. Da sprach sie von ihrer Ehe und ließ mich tief hineinschauen, auch in schwere Kämpfe, die hinter ihnen lagen.

»Nun sind wir beide auf einer sonnigen Höhe angelangt,« sagte sie, »auf einer Höhe, wo wir beide das Gefühl haben, es kann nicht schöner werden. Wer weiß, was Gott jetzt mit uns vorhat?«

Da trat der Mann zu uns, er hatte ihre letzten Worte gehört, setzte sich still zu seiner Frau und faßte ihre schlanke Hand, die so fest zu halten verstand, was sie einmal in Liebe ergriffen.

»Vielleicht muß ich sterben,« sagte er leise, »so glücklich ich bin, will ich doch gern gehen, wenn Gott mich ruft.«

Aus dem Übermütigen, wie ich ihn einst kennen gelernt hatte, war ein ernster Mann geworden mit einem Herzen überreich an Liebe, feinstem Verstehen und tiefer Frömmigkeit.

»Gott wird euch noch lange brauchen,« sagte ich zuversichtlich.

Im Winter erkrankte Mary schwer, Wochen, Monate rang sie mit dem Tode. Der Mann pflegte sie Tag und Nacht, er kämpfte um ihr Leben; der Frühling kam und brach die Macht der Krankheit.

»Sie wird leben!« sagte der Arzt; »aber jetzt kommt alles darauf an, daß ihr jede Erregung ferngehalten wird, ihr Herz muß wieder erstarken. Aber Sie, Herr Pastor,« fuhr er fort und sah lächelnd auf den Mann, dem die helle Freude aus den Augen brach, »Sie müssen jetzt fort und sich erholen, sonst haben wir zwei Patienten im Hause. Sie können ruhig fortfahren, die Gefahr für Ihre Frau ist vorüber.«

Er entschloß sich und reiste für einige Wochen in die Forstei eines Verwandten. Am ersten Morgen machte er einen Spaziergang in den Wald, fröhlich plaudernd ging er neben seinem Gefährten. Plötzlich verstummte er, griff in die Luft und sank mit einem Seufzer zusammen. Als sein Schwager sich über ihn beugte, war er tot, sein Herz hatte zu sehr um die kranke Frau gebangt und gelitten, seine Kraft war zu Ende. –

Wer sagt es der Kranken?

Keiner wagte es.

»Sie muß daran sterben,« sagte der Arzt, er wachte an der Tür des Krankenzimmers.

Ihr greiser Vater sollte ihr die Nachricht bringen, aber die Reise aus seinem weit entlegenen Pastorat war lang und das Warten so angstvoll. Die Leiche des Pastors hatte schon im Sarge ihre letzte Reise angetreten, noch immer ahnte seine Frau nichts. Als er die Grenze seines Gebiets erreichte, läuteten die Glocken seiner Kirche.

»Warum läuten die Glocken?« fragte die Kranke erstaunt, »ist jemand gestorben?«

Die Angst der Umgebung wurde immer größer, und der alte Pastor, ihr Vater, kam immer noch nicht. Endlich fuhr der Wagen in den Hof und hielt vor der Pastoratstreppe, nach wenigen Augenblicken standen die Eltern am Krankenbett der Tochter. Sie brauchten nichts zu sagen, sie wußte alles.

»Mein Mann ist tot,« sagte sie still, und nach kurzer Zeit: »Jetzt muß ich leben für die Kinder!«

Und wie von einer unerklärlichen höheren Kraft erfüllt, erhob sie sich, sie, die monatelang gelegen, ließ sich ankleiden und fuhr der Leiche ihres Mannes entgegen. Die Landstraße war dicht bevölkert, die ganze Gemeinde war auf dem Wege, um ihren toten Pastor zu grüßen. Inmitten ihrer Kinderschar, es waren ihrer sechs, empfing Mary auf offener Landstraße den Sarg ihres Mannes, und langsam fuhren sie durch sein Gebiet an seinen Wiesen und Äckern vorbei, bis der Leichenwagen vor der Kirche hielt. Seine Gemeindeglieder trugen ihn hinein und stellten seinen Sarg vor den Altar, an dem er so viele Jahre Sonntag für Sonntag gestanden.


Alles, was stark, ernst und groß war, erwachte in Marys Seele und alles Phantastische und Unreife fiel von ihr ab. Als ich sie wieder besuchte, lebte sie nicht mehr in ihrem Pastorat; ganz nahe davon hatte sie sich ein kleines Häuschen erworben, das sie mit ihren fünf Kindern bewohnte – der kranke Knabe war heimgegangen.

Sie war innerlich noch reicher durch den Schmerz um den Tod ihres Mannes geworden, reicher an Liebe, an Verstehen. Sie stand fest auf der Erde, und ihre ganze Seele ruhte in Gott. Sie war gesunder geworden und konnte viel mehr leisten als in früheren Jahren, dabei war sie voll ruhiger Heiterkeit und voller Fähigkeit, sich an allem zu freuen.

Wir machten einen wunderschönen Spaziergang in unseren Wald und sprachen über ihn, den sie über alles geliebt.

»Ich bin so reich in meiner Ehe gewesen,« sagte sie, »so überwältigend reich, und dieser Reichtum hält für mein ganzes Leben vor. Dieses Empfinden macht mich demütig und gehorsam, ich will nur Gottes Willen in meinem Leben tun.«

Ich hatte eben bittere Erfahrungen gemacht, die ich noch nicht überwunden hatte, und das ganze schmerzliche Erleben lag in meinen Worten, als ich traurig sagte:

»Ja, so sagt man, aber wenn Gott vor einem steht und Gehorsam fordert, biegt man ihm doch aus und geht seinen eigenen Weg, es sind meist doch nur Worte.«

Sie blieb stehen, faßte meine Hand mit ihren beiden Händen, und ein Strahlen lag auf ihrem Gesicht, wie ich es noch nie gesehen.

»Bei mir sind's keine Worte,« sagte sie, »alles, alles könnte ich tun, was Gott von mir fordert, und wenn Er mir meine Kinder nähme, ich gäbe sie Ihm. Ach, ich wollte, ich könnte es dir mit der Tat beweisen.«

Wir gingen weiter, schweigend. Ich fühlte die Härte, die sich durch schweres Erleben in mir angehäuft hatte, sich lösen, ich konnte weinen. Sie verstand zur rechten Zeit zu schweigen, sie sagte kein Wort und ging neben mir her, aber auf ihrem Gesicht war das Leuchten geblieben, und ich fühlte ihre Liebe wie eine starke Hilfe.

Von dieser Stunde an hatte sich unser Verhältnis verschoben: ich, die bisher die Führende war, fühlte plötzlich ihre Überlegenheit und größere Reife. Es waren nur wenige Tage, die ich in ihrem Häuschen mit ihr und ihren Kindern verlebte, aber es waren Tage voll Liebe, voll Verstehen und Miteinandergehen. Sie hatte sich in die kleinen Verhältnisse, die winzigen Räume, das bescheidene Leben gefunden, als wenn es immer so gewesen wäre. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt die Veränderung ihrer äußeren Verhältnisse empfand, so stark und reich lebte sie innerlich.

Als ich sie verließ, dachte ich wieder: »Ihr Leben steht auf einer solchen Höhe, ist so in höchstes Licht getaucht, was hat Gott mit ihr weiter vor?«

Bald darauf verlobte sich ihre älteste Tochter mit dem Nachfolger des Vaters und zog in dem Hause als Herrin ein, in dem die Mutter so viele glückliche Jahre gelebt hatte.

Die Kinder mußten in die Schule, und Mary kam mit ihnen nach Riga; dort wollte sie einen Arzt konsultieren, der nahm sie sofort in seine Klinik. Wie ein furchtbarer, unerwarteter Schlag traf uns die Nachricht, daß sie unheilbar krank sei und sterben müsse.

Sie wollte mich sehen; um Fassung ringend stand ich an ihrem Bett, aber ich wurde ganz ruhig, als ich in ihr friedliches Gesicht sah. Sie nahm meine Hand, legte sie an ihre Wange und lächelte, und ich dachte an unseren Waldspaziergang, und daß es nun Wahrheit geworden, was sie damals sagte, daß sie alles tun könne aus Gehorsam zu Gott.

Wenn ich ihr und ihres Mannes Leben überschaue, so ist oft ein Wundern in mir, daß Gott diese beiden Menschen abrief, als sie eben ihre schönste Entwicklung erreicht hatten und ein unendlicher Segen für ihre Nebenmenschen geworden waren. Aber ich glaube fest, daß jeder vor allem für seine eigene Entwicklung hier auf der Erde ist; sind wir so weit gekommen, daß Gott uns für ein höheres Leben brauchen kann, müssen wir gehen.

Sie blieb noch eine Weile in der Stadt und ordnete alle ihre Verhältnisse von ihrem Krankenlager aus mit einer Klarheit, ich möchte fast sagen Nüchternheit, wie sie mir neu an diesem phantastisch veranlagten Menschen war.

Das Leben auf Erden und das zukünftige Leben hatten keine trennenden Grenzen mehr, sie sprach über beide, als wären sie eins. Ich habe nie einen Laut der Klage von ihr gehört, daß sie ihre Kinder verlassen müsse, auch keinen Laut der Angst vor den Körperqualen, die ihrer warteten. Zu meinem Staunen sprach sie auch nie von einem Wiedersehen mit ihrem Mann; alles versank, wurde klein und unwichtig vor dem einen großen Gedanken: »Ich werde Gott schauen und ohne Sünde sein!«

Als der Frühling kam, wurde sie zu ihrer Tochter in ihr altes, geliebtes Pastorat gebracht, wo sie sterben wollte. Im Sommer wurde ihr erstes Großkindchen geboren, und mit unbeschreiblicher Dankbarkeit nahm sie es in ihre Arme.

Ende des Sommers fuhr ich hin, um zum letztenmal mit ihr zusammen zu sein. Es war der alte, wohlbekannte Weg, den ich so manchesmal mit ihr gefahren war. Ein Herbstton lag in der Luft, auf den Wiesen blühten noch bunte Blumen, aber das Korn auf den Feldern war geschnitten, der summende Ton der Dreschmaschine klang durch die Stille, und Schwalben und Störche versammelten sich zur Abreise in den Süden. Die Sonne lag golden und hell mit herbstlichem Leuchten über der Welt, über allem war eine große, feierliche Stille.

Es war Abend, als ich in die Allee, die schon voll dunkler Schatten lag, einbog und durch die kleine Pforte in den Pastoratshof fuhr. Der junge Pastor empfing mich auf der Treppe und führte mich in mein Zimmer, wo er mich bald allein ließ. Es war eine lautlose Stille, die in den großen, mir so wohlbekannten Räumen herrschte, ich sah niemanden, denn auch die junge Mutter mußte noch sehr geschont werden nach der Geburt ihres kleinen Sohnes.

Am anderen Vormittag durfte ich Mary begrüßen, eine furchtbare Verheerung hatte die Krankheit in dem immer noch lieblichen Gesicht hervorgebracht. Fast die erste Frage in ihrer alten, stürmischen Art war:

»Sahst du mein Großkind? Ist es nicht ein unbeschreibliches Glück, daß ich es noch sehen durfte? Wie gut ist Gott!«

Ich mußte sie verlassen, denn die Schmerzen kamen und nahmen ihr die Kraft. Alles war mir so fremd: das Haus, der Garten ohne sie. Ziellos irrte ich umher und dachte immer wieder feige:

»Warum kam ich her? Ich muß zu sehr leiden!«

Jeden Nachmittag bekam sie Morphium, das wie ein Wunder wirkte, dann konnte sie aufstehen, kam sogar in den Garten mir entgegen. Die Wirkung hielt mehrere Stunden an, und diese Stunden hatte sie für den Verkehr mit mir bestimmt. Wir saßen unter der großen Ulme, sahen ins Tal und sprachen von ewigen Dingen. Wunderbar war's, immer wieder zu erleben, wie die Grenzen zwischen dem irdischen und ewigen Leben für sie ganz verschwunden waren. Wir lasen viel miteinander: Kingsley, Robertson. Sie hatte etwas Abgeklärtes, fast Weises bekommen, wie von der Zinne einer hohen Warte herab schaute sie auf das Leben. Trotzdem hatte sie tiefstes Verstehen, mehr noch als sonst, für irdische Kämpfe und Leiden. Aber sie sah sie im Licht der Ewigkeit, und es wurde ihr klein das Kleine, und das Große wurde noch größer und herrlicher.

Eines Tages wollte sie mit uns auf den Kirchhof.

»Ich muß ganz genau zeigen, wo mein Grab gegraben werden soll, die Stelle kann nur ich bezeichnen,« sagte sie.

Sie fuhr bis zur Kirchhofspforte, dann ging sie, ach wie mühsam, bis zum Begräbnisplatz. Es war ein goldener Herbsttag. Als sie vor dem Platz stand, schaute sie lange und ernst auf den Weg, den sie eben zurückgelegt hatte.

»Das nächste Mal mache ich diesen Weg im Sarge,« sagte sie still.

Dann aber war sie voller Eifer dabei, den Platz für ihren Hügel genau abzugrenzen, und steckte kleine Hölzchen in die Erde.

»Breiter wird mein Sarg doch nicht sein, was denkst du?« sagte sie eifrig, zu mir gewendet.

Als ich nicht antwortete, blickte sie noch einmal zu mir herüber, und als sie sah, daß ich weinte, kam ein großes Staunen in ihr Gesicht, und ein Schatten wie von einer kleinen Unzufriedenheit flog über ihre Züge. Dann gingen wir heim, ich führte sie.

»Habe Geduld,« sagte ich, als ich wieder sprechen konnte.

Ach, sie hatte so viel Geduld, weil sie so viel Liebe besaß!

Ich schmückte ihr jeden Tag das Zimmer mit den schönsten Herbstblumensträußen. Was für eine Freude hatte sie daran, denn der Sinn für Schönheit blieb ihr bis zuletzt. Welch eine friedliche Stille umgab sie in ihrem Zimmer, wo ich mich jeden Nachmittag um die bestimmte Stunde einfand.

Es lagen damals schwere Lasten auf mir; nie habe ich einen Menschen so tief in mein Leben hineinschauen lassen, wie sie, alles, auch was ich ihr nicht sagen konnte, wußte sie. Und unter ihrer klugen, liebevollen Hand und unter ihren klaren Blicken, die wie aus Ewigkeitstiefen kamen, ordneten sich die dunklen Wirrnisse meines Lebens, und ich konnte meinen Weg wieder sicher und ruhig gehen.

Dann war der September da, und ich mußte fort.

»Wir machen keinen Abschied,« sagte sie lächelnd, »es ist ja gar nicht lange, bis wir uns wiedersehen.«

Ich saß an ihrem Bett zum letztenmal, ich hatte noch das Zimmer mit dem Schönsten, was ich an Herbstblumen fand, geschmückt.

»Nun ist es Zeit,« sagte sie.

Ich erhob mich, beugte mich über sie und küßte sie zum letzten Mal. Sie wollte lächeln, aber es kam doch ein wenig schmerzlich heraus, wie Kinder weinen. Da ging ich hinaus.

Wenige Wochen nachher hatten ihre Leiden ein Ende. Sie hatte den Spruch für ihr Grab gewählt:

»Ich werde bei dem Herrn sein allezeit.«



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