Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eberhard Hornich, ein vornehmer Kaufmann zu B**, hatte drey Töchter: die älteste hieß Caroline; die zweyte, Henriette; die dritte Luise.
Zu diesen kam ein wackerer junger Mann, mit Namen Dorenburg. Er hatte Frankreich durchreist, sich lange Zeit in Italien und England aufgehalten, und wollte jetzt zurück nach London, wo ein ansehnliches Etablissement ihn erwartete. Bey seiner Durchreise durch B** besuchte er das Hornichsche Haus, an welches er Empfehlungsschreiben hatte – sah Caroline, weilte, wurde gefesselt. Er warb um das Mädchen, und das Mädchen nahm ihn gern. Mit Freuden willigte der Vater in die Heyrath mit einem Manne, der von so großem Handelsgeiste, von so beträchtlichem Vermögen, und dabey aus einem schon vom Urgroßvater her berühmten Hause war. Hornich war Wittwer, hatte keine Söhne, und erhielt von Dorenburg, daß er zu B** blieb, und Theil an seiner Handlung nahm.
Dorenburg war ein heiterer Mann von gesetztem Wesen, und unbestechbarem Charakter, herzlich und geistreich. Die feineren Vergnügen liebte er mit Einfalt, hatte einen reinen festen Geschmack, und hängte sich nie an etwas, was ihm nicht durch wohlgeprüftes eigenes Gefühl empfohlen wurde, und ihm wahren Genuß verschaffte.
Sein vertrautester Freund in B** wurde Biderthal, ein junger Rechtsgelehrter, und, wie er, dort ein Fremdling. Die Ähnlichkeit ihrer Neigungen und Grundsätze, der Eifer, den sie gegenseitig in sich erweckten, die Hülfe, die sie einander leisteten, führte sie zu jener Gütergemeinschaft höherer Art, welche den Neid unmöglich, und das Leben so süß macht. Zwey Jahre hindurch war ihr Verständniß mit jedem Tage vollkommener, ihre Verbindung enger geworden.
Um diese Zeit kam Luise, eben siebzehn Jahre alt, aus einer Erziehungsanstalt zurück nach Hause, und zog Biderthalen unwiderstehlich an. Er wollte seine Neigung, ehe sie Leidenschaft würde, überwinden – verbergen – mit Gewalt unterdrücken: – – Es war Liebe!
Daß Hornich das Mädchen ihm geben würde, daran war nicht zu denken. Der Alte hatte geschworen, keine seiner Töchter sollte einen Gelehrten heyrathen. Hiezu kam noch, daß Biderthals Vermögensumstände mittelmäßig waren.
Dorenburg, dem das Geheimniß seines Freundes nicht lange verborgen blieb, genoß keine frohe Stunde mehr. Da er bey seinem Schwiegervater, dessen Geschäfte unter seiner Anführung sich mehr als verdoppelt hatten, in großem Ansehn stand, so war er Anfangs nicht ganz ohne Hoffnung gewesen, dieser würde, ihm zu Gefallen, Einmal in seinem Leben nachgiebig seyn, und etwas, das nach Großmuth aussähe, an sich kommen lassen. Aber der alte Hornich ließ sich nicht bethören. Er war darauf geübt, der Großmuth und allen nachtheiligen Tugenden dieser Art mit einer bewundernswürdigen Gegenwart des Geistes auszuweichen. Nicht einmal von Billigkeit mochte er gerne hören; er traute ihrem schlüpfrigen Wesen nicht. Nahm man sein Gefühl in Anspruch, so schüttelte er lächelnd den Kopf, als einer der sich nicht zum Besten haben ließe. Sein Stolz war kalte Ueberlegung, mit dem Bewußtseyn, daß so leicht ihm niemand einen Vortheil abgewinnen würde. Sich überall in Vortheil zu setzen, und den erlangten Vortheil zu behaupten, war ihm höchster Grundsatz. Den Erwerb angehend, hielt er sich streng und ehrbar in den Schranken einer nur erlaubten, Gesetz- und Polizeymäßigen Gewinnsucht. Das Nichts der Ehre und alles Brodlose Wesen verachtete er aus dem innersten Grunde seiner Seele. Hingegen liebte er beynah uneigennützig – so sehr gefielen sie ihm! – alle Tugenden der Kargheit: er betete sie an. Nach und nach verlor er sich so weit in dieser Andacht, daß man ihn für geitzig halten konnte, welches er im eigentlichsten Verstande doch nicht war. Ihn beherrschte keine bestimmte Leidenschaft; seine Meynung allein beherrschte ihn: Eberhard-Hornichsche Vernunft. Irgend einen Grund wider seine Meynung gelten zu lassen, hielt er unter seiner Würde, und er genoß ein eigenes Wohlgefallen an sich, wenn er seinen Willen als etwas, das allem gewachsen sey, beweisen konnte.
So war Eberhard Hornich.
Dorenburg hatte diesmal die Geduld verlassen. Er erklärte seinem Schwiegervater: mit dem künftigen Jahre liefe ihr Societäts-Contract zu Ende, er wäre gesonnen alsdann auszuscheiden. Hornich gab die besten Worte, that die einnehmendsten Vorschläge: der Tochtermann war nicht zu bewegen. Endlich wurden sie einig: Biderthal sollte sich der Handlung widmen, und dann das Mädchen nehmen. Voll Entzücken that Biderthal auf eine ansehnliche Bedienung, worauf er die nahe Anwartschaft hatte, Verzicht, und ergriff das Gewerbe seines Freundes. Luise fühlte das im Innersten der Seele. Kein Brautpaar ist jemals glücklicher gewesen.
Nach einem halben Jahre wurde die Heyrath vollzogen, und zugleich der Handlungscontract zwischen Hornich und Dorenburg, in den Biderthal jetzt einbegriffen wurde, erneuert. Frohlockend boten die zwey Freunde sich nun als unzertrennliche Gefährten die Hand, und schmückten sich mit dem schön errungenen Brudernamen.
Was sie ehmals, süßem Geschwätz sich überlassend, von frohem Lebensgenusse unter einander gedichtet hatten, suchten sie jetzt ins Werk zu richten, und die allmähliche Ausführung ihrer Plane beschäftigte sie auf die angenehmste Weise. Ihre Wohnungen wurden die zierlichsten, bequemsten, geschmackvollesten der Stadt und weit umher. In der inneren Einrichtung derselben herrschte eine absichtliche Verschiedenheit. Eben diese absichtliche Verschiedenheit fand sich und war noch viel auffallender auf ihren Landgütern. Jeder dieser Orte hatte andre Reize, war zu andern Ergötzlichkeiten und Erholungen geschickt. Wechselseitig, was man hier vermißte, das fand sich dort beym Freunde – das hatte der Bruder.
Eine Hauptstütze dieser schönen Verfassung war die noch unverheyrathete mittlere Tochter, Henriette. Von ihrer Kindheit an waren die drey Schwestern in jener vollen uneingeschränkten Vertraulichkeit miteinander geblieben, welche nur mit Unschuld bestehen kann, und die Reinheit des Charakters am sichersten bewahrt.
Caroline und Luise hatten, neben ihren übrigen Vorzügen, auch eine schöne Bildung. Henriette war nicht, was man schön nennt, vielmehr hatte sie etwas, was von ihr entfernte; besonders im Gesicht jene Wachsamkeit und Klarheit, der wir so übel wollen und so gern einen bösen Namen machen; aber eben diese Züge sagten dem, der sie zu entziffern wußte, daß hier tiefes Gefühl und eigene Kraft des Geistes wohne. Der Vater hing an ihr wie bezaubert, und er scheute das Mädchen. Wahrer Achtung sind Leute seiner Art nicht fähig. In Dorenburgs und Biderthals Hause wurde sie angebetet. Die jungen Weiber setzten in ihr gleichsam noch ihr jungfräuliches Leben fort; sie stellte ihnen ein so süßes Bild der Vergangenheit dar, erinnerte sie an alles so lebhaft, wußte so angenehm es ihnen zu erneuern, so unvermerkt sie bey allem zu erhalten, daß sie es kaum inne wurden, es sey ihnen etwas schon vergangen. Nie war die Schwester ihnen so theuer, so unentbehrlich gewesen. Henriette auf ihrer Seite kostete in ihren Schwestern die Wonne der Gattinn, der Mutter, der Vorsteherinn eines glücklichen Hauswesens, und hatte reichlichen Ersatz. Denn wer auf Erden genießt mehr und besser als ein munteres Weib, das mit zärtlicher Sorgfalt an ihrem Manne, mit heisser Liebe an ihren Kindern hängt? – Geist und Herz in ihr bleiben in immerwährendem Triebe; ihre süßen Leidenschaften erneuern sich mit jedem Augenblick, und werden in jedem Augenblicke befriedigt. So ward auch Henriettens Seele durch Mitgefühl in beständiger Bebung erhalten; und Mitgefühl schwingt sich in hundert Fällen höher als eigenes. Mann, Weib und Kinder, jedes in beyden Häusern, wollte Henriettens Freude seyn; sie sollte jede Lust, nie eine Beschwerde theilen. Aber Henriette wußte sich schon hinzuzudrängen, wo es Beystand galt, und ihr Beystand war voll geheimer Kräfte. Ihre Gegenwart machte jede Arbeit zum Fest; und waren es Widerwärtigkeiten, so verschlang die Liebe und Dankbarkeit, die sie einflößte, die Hälfte des Kummers.
In ihres Vaters Hause bekam sie allmählich freyere Hand. Da Henriette verschiedene Heyrathsvorschläge abgewiesen und dabey geäussert hatte, sie wollte bey ihrem Vater aushalten, so glaubte er für eine so treue Verpflegerinn nie zu viel thun zu können. Es giebt wenige Menschen, in denen nicht durch Langmuth und Huld einiger Geschmack an liebenswürdigen Neigungen erregt, und nachher diese Neigungen allmählig verstärkt und vermehrt werden können. Der alte Hornich erfuhr eine solche Verwandlung, ohne daß er weiter etwas davon merkte, als daß seine Henriette so gut mit ihm umzugehen wüßte, daß er nun erst des Lebens froh würde. Meine Bekannten, sagte er zuweilen, wünschen ihre Jugend zurück; mir ist mein Alter lieber. Wie sauer habe ichs nicht ehmals gehabt, und wie gut habe ich es jetzt? – Sein ganzes Hauswesen hatte sich nach und nach verändert. Vormals glaubte er auf jede unschuldige Lustbarkeit, wenn er sie auch zugab, doch schmälen zu müssen; – nun wollte er, daß seine Wohnung an Annehmlichkeiten die Wohnungen seiner Schwiegersöhne überträfe. In nichts durfte seine Henriette zurück bleiben. Auch gelang es ihm, daß die Familie nirgend aufgeräumter war, als in seinem Hause: aber vergnügter als vorhin war man überall durch vermehrte Eintracht und Offenheit. Der Ueberfluß, der sich in Hornichs Hause zeigte, lockte Bedürftige hinzu, und das liebe Mädchen hatte den Triumph, das graue Haupt ihres Vaters noch mit Segen und Ehre zu bekränzen.
Henriette hatte eine Freundinn, die ebenfalls noch Mädchen war, und von der sie leidenschaftlich geliebt wurde. Diese Freundinn war früh ihrer Eltern beraubt worden, die ihr ein ansehnliches Vermögen hinterlassen und Hornich darüber zum Vormund gesetzt hatten. Noch größerer Reichthum fiel ihr nach dem Tode zweyer Tanten anheim, bey welchen sie gegenwärtig sich aufhielt. An alle diesen Reichthum dachte sie nie, eben so wenig als an ihre Schönheit, und war ärgerlich auf die jungen Herren, weil sie mehr um sie, als um Henriette geschäftig waren. Das liebe Mädchen hieß Allwina Clarenau.
Biderthal, ein naher Anverwandter der Clarenauischen, hatte in ihrem Hause, das einem Pallaste glich, einige Zimmer bewohnt. Nach seiner Heyrath blieben diese seinem jüngern Bruder, Woldemar, aufbewahrt, welchem die Anwartschaft, die der ältere zurück gegeben hatte, war bewilligt worden. Dieser hatte seit vier Jahren, unter demselben Fürsten, eine andere Stelle zu G** bekleidet, und mußte dort bleiben, bis die Bedienung zu B** erlediget wurde. Beynah drey Jahre verstrichen darüber. Nun ereignete sich der Fall; Woldemar sollte kommen.
Biderthal, der diesen Zeitpunkt mit Ungeduld erwartet hatte, war vor Freude außer sich. Die zärtlichste Liebe und Vertraulichkeit herrschte zwischen diesen Brüdern; aber bey Biderthal kam noch eine Mischung von Sorge eigener Art hinzu, die sich auf Woldemars Charakter bezog, und etwas Leidenschaftliches in seine Freundschaft brachte. Durch eine sonderbare Vereinigung von Ungestüm und Stille, von Trotz und Nachgiebigkeit hatte sich der jüngere Bruder schon in seiner Kindheit ausgezeichnet. Heftig ergriff sein Herz alles, wovon es berührt wurde, und sog es in sich mit langen Zügen. Sobald sich Gedanken in ihm bilden konnten, wurde jede Empfindung in ihm Gedanke, und jeder Gedanke wieder Empfindung. Was ihn anzog, dem folgte seine ganze Seele; darin verlor er jedesmal sich selbst – träumte, dichtete sich eine Sympathie, die ein Mittel der Unvergänglichkeit und der Verklärung wäre für alles Herzerhebende und Schöne – fand in sich selbst ihr Bild – ahndete und genoß; genoß und ahndete – vermehrte seine Sehnsucht; wurde suchender und forschender mit jedem Tage; wurde mit jedem Tage: Was er suchte? Was er finden wollte? inniger gewahr. So kam er seinem Gegenstande immer näher: so entfernte, in gleichem Maaße, sein Gegenstand sich immer mehr von ihm. Das Geheimniß dieses Widerspruchs, wie es nach und nach seinem zarten Gefühl, seinem forschenden Geiste sich entdeckte, stimmte ihn zu einer Schwermuth, die jede schöne Seele ihm wird nachempfinden können, wenn auch die stärkere edel sich darüber zu erheben weiß.
Wegen dieser Schwermuth, die er hatte entstehen und zunehmen sehen, war Biderthal um seinen Bruder so bekümmert. Er hatte ihn nicht überall auf jedem Hin- und Rückwege begleiten können: manches war ihm räthselhaft geblieben. Aber jede Sorge, jedes Leiden um ihn, hatte ihm den Bruder noch lieber gemacht: Woldemar war so unschuldig und so gut! Wenn er nur immer um ihn seyn könnte! hatte er beständig gedacht, gewünscht – mehr noch um Woldemars als um sein selbst willen. Jetzt in B**, nach seiner Vermählung mit Luise, wo er ihn mit Menschen, seiner werth, umgeben; mitten in die liebenswürdigste Familie ihn versetzen; durch süße Bande auf das engste ihn vielleicht damit verbinden konnte: – Fülle der Hofnung, unaussprechliche Seligkeit war ihm diese Aussicht.
Nun dieses alles wirklich werden sollte, konnte er nichts denken, nichts reden, als Woldemar und seine nahe Erscheinung. » Sie wissen, daß nun ehestens mein Bruder kommen wird?« Jeder, den er so begrüßen konnte, war ihm willkommen; jeder, den er schon so begrüßt hatte, und bey dem er es nicht geradezu wiederholen durfte, machte ihn verlegen. Seine Frau, seine Schwägerinnen und Dorenburg schienen ihm jetzt mehr als jemals die beste Gesellschaft: sie theilten so aufrichtig seine Freude, sie waren für sich selbst und mit ihm so voll Sehnsucht, sie neigten mit so herzlicher Aufmerksamkeit sich zu ihm; hörten so gern noch einmal, was er schon oft, aber noch nie mit dem Interesse, mit dem Leben von Umständen erzählt hatte – die ganze Geschichte, wie Woldemar und er mit einander aufgewachsen waren, wie fest sie schon als Kinder an einander gehangen hatten, wie treu sie sich geblieben, was sie alles für einander gethan, was alles für einander gelitten. ... Wahrhaftig! brach Biderthal einmal in seiner Entzückung aus: es ist doch keine rechte Freundschaft, als nur unter zwey solchen Brüdern! – Dorenburg, der gerade gegen ihm über saß, blickte lächelnd nieder. Das fühlte Biderthal; er flog auf und hing seinem Freunde am Halse. Dorenburg drückte ihn an die Brust, ergriff dann seine beyden Hände. ... Lieber! sagte er, und lachte ihm offener ins Angesicht – Lieber! indem er ihn treuherzig schüttelte – gehe und erzähle weiter.
Endlich kam die Nachricht, Woldemar sey wirklich abgereist. Sein Brief war aus R**, wo er, eines wichtigen Geschäfts wegen, einige Tage verweilen mußte. Biderthal verschwieg den Seinigen die Ankunft dieses Briefes, und bat nur seine Frau, weil das Wetter so ausserordentlich schön wäre, und er gern seine Ungeduld über Woldemars Säumen etwas zerstreuen möchte, ein kleines Fest auf seinem Landsitze für den folgenden Tag anzuordnen. Es sollte aber niemand eingeladen werden, als Dorenburg mit seiner Frau, und Henriette. – »Wir wollen, sagte er, den Antritt des Frühlings ganz in geheim unter uns feyern; denn da im Calender heute und morgen noch Februar ist, so würden uns die Leute auslachen.«
Früh am Morgen des folgenden Tages wanderten die fünf Glücklichen mit einander aus. Die Sonne kam so warm und doch so sanft hernieder, daß man dem innerlichen Jauchzen darüber nicht wehren konnte. Man mußte aufschauen und einmal über das andre ausrufen: O, wie lieblich! wie herrlich! wie schön!
Ab von dem Thor, wo ihr Weg sie hinaus führte, schwingt eine fruchtbare Ebene sich allmählig hinunter und wieder aufwärts, weit umher bis zu den Bergen. Sie sahen da die frisch gepflügte Erde vom höchsten Braun bis zum falbesten Gelb mannichfaltig schattirt, und Felder wie Smaragd, die sie durchstreiften; ein Gemisch von Farben und Licht, so süß, so zauberisch, daß ihnen die ganze Seele im entzückten Auge schwamm. Nur wie im Traum wurden sie das lustige Zwitschern der Vögel gewahr – und daß schon der Buchfinke schlug, und das Wirbeln der Lerche den blauen Himmel hinan.
Biderthal fühlte alle Augenblicke an seinen Brief in der Tasche, aber er zog ihn erst hervor, nachdem sie auf seinem Landsitze angelangt, ausgeruht und erfrischt waren. Alle sprangen auf, da Biderthal mit dem Briefe herausrückte, und fielen über den Tückischen her. Luise wollte ihm seine Verschwiegenheit nicht verzeihen, bis sie ihm etwas ärgeres dagegen gethan hätte. Es entstand ein lauter Jubel. Diesen ließ Biderthal ausklingen. Hierauf führte er seine Freunde in das Zimmer, welches Woldemarn bestimmt war, und las ihnen vor.
R** den ... Febr. –
»Die Hälfte des Weges ist zurückgelegt! – Es war mir lieb, daß die Post nach B** erst heute abging, denn ich hätte schwerlich vermocht eher an Dich zu schreiben. Ich weiß nicht wie mir geschieht, wie mir ist. Als ich von G* abreiste, war ich wie ausser mir. Ich saß in meinem Wagen und hörte das Rasseln über das Pflaster hin, und wußte kaum was es war.
»Wir erreichten die Landstraße – Knall auf Knall des Schwagers Peitsche, und die Pferde in vollem Trabe ... Ich schlug die Augen auf, sah Hecke, Baum und Land an mir vorbey schwinden – an mir vorbey zurück. Ich streckte maschienenmäßig den Kopf hinaus, dem allen nach. Die Sonne war am Aufgehen. – G* war schon fern, aber noch deutlich genug zu unterscheiden; auch erreichte noch das Geläute von seinen Thürmen mein Ohr, und zuweilen kams mit einem Windstoße schnell in hellerem Klange – und wieder weg, wie der Laut eines tiefen Seufzers. Dazwischen wirbelten oben die Lerchen, die Ketten am Pferdegeschirr klirrten; und das Treiben des Postknechts hallte durch den Wald ...
»Unversehens mit einer Drehung ging es die Anhöhe schnell hinunter. Alles, was da war, mir auf einmal entrückt!
»Ich stürzte zurück in den Wagen, preßte mein Gesicht aus allen Kräften zwischen die Lehnküssen, und meinte das Herz würde mir die Brust entzwey schlagen ... Weg! so immer weg – einst weg von allem! – so scholls dumpf in meinem Innern. Endlich brachen die Thränen los – und Du, Lieber! – Du standest vor meiner Seele. Ich fühlte das: Hin zu ihm, zu meinem Biderthal! – Aber ich weinte noch lange – weine noch heute ...
»Bedenke, Lieber! ich war nun volle sechs Jahre zu G* gewesen; hatte unter guten Menschen viel Gutes dort genossen; manches Gute auch gethan; das meiste nur angefangen; meine Geschäfte, meine Verhältnisse gefielen mir; ich hatte mich gewöhnt, mich angehänget – vor Deiner Heyrath schon zum immer bleiben angehänget. Ich glaubte damals, es würde so seyn, wünschte es. Nun reiste ich weg, und sah das alles vor mir untergehen.
»Ach so bin ich. Etwas vergehen zu sehen, wär' es noch so gering; zu fühlen, es ist damit zu Ende – es ist aus: bis zur Ohnmacht kann es mich erschüttern.
»Nun gehe ich nach B**, da werde ich bleiben! – Siehe, davor schaudert mir wieder! – Ich bin kaum dreyßig Jahre alt, und mag nur so weniges noch vom Leben. Was ich nun erhalte, ist die Erfüllung meiner Wünsche! – Ich werde glücklich seyn, endlich zufrieden; – aber das muß ich nun auch seyn, muß, oder ... Lieber! – Bester, Einziger, verzeih! Du wirst mich ja nicht mißverstehen. Wie könntest Du? Ist es doch Fülle der Wonne was mich ängstiget! –
»Es war gut, daß ich mich hier einige Tage aufzuhalten hatte; weniger, um mich von meinem Abschiede von G* zu erholen, als auf Dein Wiedersehen mich vorzubereiten. Da ich die hiesige Gegend erreichte, diese Stadt erblickte, wo wir in verschiedenen Zeitpunkten so manche Tage mit einander zugebracht hatten: – es ist nicht auszusprechen wie mir wurde! Beym Eintritt in die Krone kam mir der eine Kellner, der gute Johann, der von früh an auf mich gelauert hatte, mit Deinem Briefe entgegen. Er war noch der alte, und so alles im Hause noch beym Alten. Die Leute hatten eine große Herrlichkeit mich wiederzusehen. Das Geräusch ihrer Freude stillte auf eine angenehme Weise meine Fantasie. Es dauerte an eine Stunde, bis ich in mein Zimmer kam und allein blieb. Da erbrach ich Deinen Brief. Aber mein Herz gerieth gleich bei den ersten Zeilen in eine so starke Bewegung, daß ich ihn wieder zusammen legen und einstecken mußte. Ich ging hinaus unter die Eichen. Es war Wetter wie im May. Vor sieben Jahren hatten wir eben so schöne Februar-Tage, und Du warst mit mir hier. Weißt Du, wie wir über die Höhe gingen, an der Seite, weit her, den Fluß schlängeln sahen, so schön blau zwischen den sonnigen Ufern! Wir schlugen einen Weg ein, den wir nicht kannten, der uns an einen waldigen Hügel leitete. Erinnere Dich, wie wir hinan stiegen; bey jeder sich öfnenden Aussicht weilten, aber ungeduldig; dann mit verdoppelten Schritten eilten die herrliche Gegend immer weiter vor uns auszudehnen; athemlos endlich hinauf kamen, da standen – auf der mühsam erstrebten nackten Felsen-Glätte. Damals dachte ich weiter nichts dabey; jetzt, bey der Wiedererinnerung, fiel es mir auf. Wir blieben eine Weile, genossen das eroberte, merkten, voll Entzücken, nicht auf die öde Stelle, die uns den Genuß verlieh, doch räumten wir bald den Platz. Schnell hinab gings den steilen Pfad, und wir suchten über Aecker und Wiesen den Weg zum Thale unserer lieben Eichen. Wir fanden ihn. Es war am Kreuz bey Hildern. Da setzten wir uns hin und ruhten aus. Ich wüßte nicht daß ich einen Frühling erlebt, einen Frühling empfunden hätte, wie jenen damals. Von seinem lieblichen Hauch schien die Erde sichtbar sich zu öffnen, schien zu beben vor Wonne im Hervorbringen des ersten Grüns, im Entfalten der Keime. Hecken und Bäume – noch ohne Blatt; aber wie herrlich überglänzt vom Durchschein ihrer Fülle; alle Zweige mit hochgeschwellten Knospen bedeckt. – Da wünschte ich mir nur so lange zu leben, bis die Knospen aufbrächen, bis der Segen sich löste – nur bis zum nahen May. Ich sagte Dir das, und es drang in Dich. Uns wurde so wohl.
»Diese Unbefangenheit, diese heiligen Gefühle suchte ich jetzt wieder – und fand sie im Eichenthal. Ich lagerte mich in die Tiefe, und las nun Deinen Brief.
»Wie mir wurde unter dem Lesen – wenn ich Dir das sagen könnte, so wäre es des Sagens nicht werth.
»Jetzt, in diesem Augenblick las ich ihn wieder. – Eine Stelle ist mir tief in die Seele gedrungen, wo Du schreibst: ›Ich fühlte mich bisher in meinem schönen Familienkreise so glücklich, und glaubte bey dem immerwährenden Verlangen Dich hier zu sehen hauptsächlich nur den Wunsch zu haben, daß es Dir eben so gut werden möchte als mir. Welche Täuschung! Jetzt empfinde ich klar, daß es vielmehr nur die Aussicht war, Dich hier an mich zu ketten, warum ich meine Lage so beneidenswürdig fand. Ich habe deß kein Hehl, habe es Dorenburgen und meinen andern Lieben gestanden, und sie tadeln mich nicht. Nach allem was ich ihnen von Dir erzählte, nach Deinen Briefen.‹ ... Aber was fange ich an, daß ich dieß hier abschreibe? – O Du Bester, o Ihr Theuren, Trefflichen alle – um Gottes willen! hofft doch nicht so viel von mir! Ach, ich bin der Mensch nicht, auf den man ein Glück bauen kann! Hast Du das vergessen, Biderthal – alles vergessen: den Gram, den Kummer, die bitteren Sorgen, die ich so häufig Dir verursachte? Wie ich mehrmals Deinen zarten, treuen, edlen Busen verließ, um mein Herz an Felsen zu zermalmen – seine Wärme Dir entzog, um damit über Basilisken zu brüten? – Ich liebte Dich immer von Grund der Seele, das ist wahr, und wenn Du mich brauchtest war ich nicht fern, war Dir immer daheim; besann mich auch nie, wenn von Aufopferung die Rede war; fragte nie, was es gölte, nichts oder alles. Aber was ist das – was ist alle mein Thun für Dich, gegen das, was Du für mich gelitten; gegen Dein Schonen, Dein Dulden? – Du hast doch nicht Einmal über mich gemurrt, nie einen Augenblick Dich von mir abgewendet, – hieltest standhaft Deinen Blick auf mein besseres Selbst geheftet, dachtest nie von fern nur daß ich die Bruder-Treue verletzen, den Bund unserer Freundschaft brechen könnte – Einziger! – – Ja, so muß es seyn wenn Liebe zu Freundschaft empor kommen soll. Lieben – bis zur Leidenschaft, kann man jemand in der ersten Stunde, da man ihn kennen lernt; aber eines Freund werden – das ist bey weitem eine andere Sache. Da muß Mensch mit Mensch in dringenden Angelegenheiten erst oft und lange verwickelt werden, der Eine am Andern vielfältig sich erproben, Denkungsart und Handlungsweise zu einem unauflöslichen Gewebe sich in einander schlingen, und jene Anhänglichkeit an den ganzen Menschen entstehen, die nach nichts mehr fragt, und von sich nicht weiß – weder woher noch wohin.
»Du wirst mich verändert finden, lieber Biderthal. Zwar habe ich Dir von allem, was sich mit mir zutrug, jedesmal treue Rechenschaft gegeben: aber was ist es mit dem Schreiben? Viele und große Erfahrungen habe ich während der sechs Jahre unserer Trennung gemacht. Da ich Dir überhaupt etwas kälter vorkommen werde, so will ich Dir von meinen veränderten Gesinnungen nur dies im voraus sagen, daß ich vom Menschen im allgemeinen, von seiner Natur – theils einen viel höheren, theils einen viel geringeren Begriff habe, als ehmals. Es kann nichts so Schönes, so Großes gedichtet werden, das nicht im Menschen läge, das man auch nicht hie und da Himmelrein aus ihm hervorgehen sähe; nur ist er in allem seinem Thun – Ach! so wandelbar, so hin und her, so unzuverläßig – ein durch und durch zweydeutiges, armes, nichtiges Wesen. Er vermag überall zu viel und zu wenig: darum nichts Ganzes, nichts durchaus Bleibendes. ... Seitdem ich dieses anschauend erkenne, bin ich viel gelassener, viel stiller; ich hoffe weniger, und suche mehr zu geniessen. – Da wäre ja wohl Gewinn! ...
»Genug und schon zu viel! Erst konnte ich nicht anfangen zu schreiben; nun kann ich nicht aufhören.
»Lebe wohl! Sey gutes Muthes! freue Dich, liebe mich! Von hier komme ich vor Freytag nicht weg. Den 8ten März bin ich bey Dir; also in vierzehn Tagen. – Wie ich mich nach Deinem Anblick sehne, nach Deiner Rede, nach Deinem Kuß! – Und doch zittre ich vor dem Augenblicke da mein Auge Dich erreichen wird. O wäre ich gleich in Deinen Armen, sähe und hörte schon nicht mehr! – Lebe wohl, Lieber! ich schwebe in Deiner Gegenwart, – Lebe wohl!«
Woldemar.
Diese Vorlesung hatte auf alle Zuhörer einen sichtbaren Eindruck gemacht, aber auf keinen so ausgezeichnet, wie auf Henriette.
O, sagte sie, da Biderthal geendigt hatte – O, daß ihm wohl würde unter uns, dem guten Woldemar – dem armen Betroffenen, in sich Gescheuchten! Daß ihm hier das Räthsel seiner Schwermuth schön sich löste – seine Wehmuth von ihm genommen würde! Ich meine, ich sehe ihn, wie er mit gesenktem Auge und wiegendem Tritte immer stiller, leiser, sinnender ins Leben hinein wankt!
Biderthal sprang auf, faßte Henrietten mit Lebhaftigkeit in seine Arme – Schwester! rief er aus – Henriette! – Schwester!... Er stotterte, wurde roth.
Henriette verstand ihn.
Das nicht, Biderthal! sagte sie, und drückte liebevoll ihm die Hand – das nicht! ... Allwina, raunte sie ihm vertraulich ins Ohr – meine Allwina soll die Braut seyn.
Biderthal blickte ihr zärtlich ins Auge, lächelte, schüttelte den Kopf: – Nein, nein, Henriette – Du! Du!
Woldemar traf am bestimmten Tage ein.
Es geschah was in dergleichen Fällen zu geschehen pflegt: jeder hatte den Mann sich anders vorgestellt als er war. Caroline, Luise, Dorenburg vertauschten mit Gewinn das Bild ihrer Einbildungskraft gegen die Wirklichkeit. Henriette fühlte anders. Etwas an Woldemar war ihr fremd, störte, entfernte sie.
Es war die Zierde, die feine Sitte an dem Manne, was auf Henriette diese Wirkung machte.
Und diese Wirkung war nicht blos vorübergehend. Ueberlegung, einsames Nachdenken vermehrten den Eindruck.
Woher, fragte sie, dies Aeusserliche eines abgeglätteten Weltmannes, alle diese zur größten Fertigkeit gediehenen Künste des Scheins, die man nicht ohne anhaltenden Fleiß, mühsame Aufmerksamkeit, vielen Zeitverlust, lange Anstrengung und Uebung erwirbt; zumal wenn man nicht von Kindheit an dazu gewöhnt, darinn erzogen wurde – woher dies alles an dem Hasser des Nichtigen, an dem Hochgesinnten? Wie konnte er in kleinen Dingen so groß werden? – Ist sein Herz getheilt? – Welche Theilung wäre dies? Es schauderte Henrietten bey diesem Gedanken.
Sie fand bald Gelegenheit, oder vielmehr, sie wurde bald genöthigt Biderthalen, der schlechterdings ein umständliches Urtheil über seinen Bruder von ihr haben wollte, ihre Zweifel zu entdecken. Er schalt Henrietten und warf ihr Spitzfindigkeit vor. Schon als Kind, versicherte er, hätte sich Woldemar durch äusserliches Geschick und einen natürlichen Trieb das Gefällige überall nachzuahmen ausgezeichnet, jeder hätte über den Knaben sich wundern müssen, und so wäre er durch das sichtbare Wohlgefallen, das man an ihm gehabt hätte, angetrieben worden, sich immer mehr hervor zu thun; wäre heimlich auch wohl etwas eitel geworden. – Woldemar, fügte Biderthal hinzu, ist im höchsten Grade reitzbar; was ihm gefällt bewegt ihn auch, setzt ihn in Handlung. An dergleichen reitzbaren Menschen habe ich immer bemerkt, daß sie auch selbst gern gefallen mochten. Sie verachten den Schleichhandel gemeiner Eigenliebe, und verfallen in eine ungemeine, die sehr züchtig seyn will, aber gewöhnlich von Nachgiebigkeiten zu Nachgiebigkeiten führt, bis das Verlangen überall zu glänzen und hervor zu glänzen alle Zucht vertilgt hat. So weit ist es nie mit Woldemar gekommen, und ich darf sagen, daß er nicht einmal auf dem Wege dahin gewesen ist. Was ihn antrieb, sich in den Künsten des Scheins zu üben, alle die Mühseligkeiten und Prüfungen auszustehen, die man sich gefallen lassen muß, wenn man im Umgange mit der großen Welt vollkommen werden will, das war der Verdruß des Mannes von Verstande, auf solche Dinge einen so ausserordentlichen Werth gelegt zu sehen. Sind diese Künste so erhaben, so göttlich, dachte er, daß sie in dem, der sie besitzt, von einer hohem Würde zeugen – daß man aus einem besseren Stoffe gemacht, von einem edleren Blute durchströmt seyn muß, um sie erwerben zu können – ist alles andere nur knechtisches Gewerbe? – Wohlan! es gilt einen Versuch, der uns das Wahre der Sache an uns selbst erfahren lasse. So begann der Wettstreit, in dem Woldemar kein Gut erringen, sondern nur siegen wollte. Nicht gekränkte Eitelkeit: empörte Vernunft, beleidigtes Menschengefühl, gerechter Stolz setzten ihn in Bewegung. Edel aufgebracht war der Mann. Er drang überall durch, erreichte seine Zwecke; aber sein Triumph war ohne Freude. Jeder neue Erfolg hatte sein von Natur schon etwas heftiges Gemüth nur mehr erbittert: es lohnte der Mühe nicht! Mit dem vollen Gewinn eines tiefen unvergänglichen Ekels an allem Flitterwesen, zog er sich in die einfachste stillste Lebensart zurück, und verschwur auf immer ein Spiel, das ihm nie Lust gewährt hatte, und ihm keinen Vortheil hinfort bringen konnte.
Diese Erläuterungen über Woldemars glänzende Aussenseite wurden von Henrietten mit dem lebhaftesten Interesse angehört. Sie dankte Biderthalen lächelnd für das grüne Glas wider die Blendung, welches sie nur um ein weniges zu dunkel fand. Sie meinte, wenn Woldemar nicht eitel wäre, so schiene er doch etwas von Eroberungssucht und zwar von einer ziemlich allgemeinen und unbestimmten an sich zu haben, etwas über die Nothdurft stolz zu seyn, und geneigt über Weigerung und gegen Widerstand sich zu erbittern. Daß er des Herumtreibens in der großen Welt nach gehabtem Erfolg, überdrüßig geworden wäre, könnte sie nicht bewundern: eigentlicher Genuß wäre da für ihn nicht gewesen. Aber befriedigte Eitelkeit, meinte sie, wäre weit entfernt, überwundene, oder gar vertilgte Eitelkeit zu seyn. Dieser oder jener besondere Gegenstand einer Begierde könnte allen Reitz für uns verlohren haben, ohne daß unsere Reitzbarkeit, unsere Schwachheit selbst, die wir nur alsdann nicht fühlten, abgenommen hätte. Freylich wären die Menschen sehr aufgelegt, sich das Gegentheil einzubilden – und wer stände dafür, daß eben dieses nicht auch der Fall mit Woldemar wäre.
Biderthal war bereit sich für seinen Bruder zu verbürgen, und redete ihm mit schönem Feuer, auch mit Glück, das Wort. Aber Woldemars bester Anwald bey Henrietten war er selbst im täglichen Leben, wo der Mann im Ganzen zum Vorschein kam. Er war so unverstellt, so offenherzig, so gutmüthig – war so willig, nicht allein die Fehler, die er hatte, zu gestehen, sondern auch andre, die er nicht hatte, sich aufbürden zu lassen – so verdachtvoll gegen sich selbst – daß man unmöglich im Ernst ihm mißtrauen, mit ihm hadern konnte. Doch hatte ihn das einigermaßen verdrossen, ihn gekränkt, ihm weh gethan, was ihm von Henriettens Beschuldigung, daß er heimlich eitel und anmaßend sey, zu Ohren gekommen war. Er konnte es lange nicht vergessen.
In seinen öffentlichen Verhältnissen zeichnete sich Woldemar mit vieler Würde aus. Seine Geschicklichkeit, sein Fleiß, seine Rechtschaffenheit, der Nachdruck womit er zu reden und zu handeln wußte, seine gute Art sich in schwierigen Fällen zu benehmen, verschafften ihm bald ein überwiegendes unbestrittenes Ansehen. Das Einnehmende seines Wesens vermehrte den Eindruck und machte ihn allgemeiner; man bewarb sich mit Eifersucht um seine nähere Bekanntschaft, um seinen Umgang. Aber von dieser Seite waren alle Versuche, alle Künste an ihm vergeblich, und dies stimmte bald die gute Meynung, die man sich von ihm gemacht hatte, sehr herab. Man fand nun, daß er im Grunde von einer verdrießlichen Gemüthsart, abgeschmackt hochmüthig, ungenießbar, ohne wahre Lebensart – ein Grillenfänger sey.
Des alten Hornichs Gesinnungen gegen Woldemar nahmen einen etwas andern Weg. Er hatte an dem Wohlgefallen, welches Biderthals Bruder anfangs zu B** erregt hatte, keinen Theil genommen. Gleich seiner Tochter, nur auf eine andre Weise, stieß auch er sich an des Mannes Außenseite. Da wäre zu viel Tand, meynte er, um etwas recht gründliches zu erwarten. Ein tüchtiger Geschäftsmann, ein wahrer Gelehrter, hätte nie so ausgesehen; könnte so nicht sprechen, gehen und stehen. Nothdürftig möchte er seinem Amte vorzustehen und durch kleine Geschicklichkeiten sich zu helfen wissen: das traue er ihm zu, danach sähe er ihm aus.
Unmöglich aber konnte Hornich diese Meynung lange behalten; der Augenschein, die That zeugten zu klar dawider: er mußte sie fahren lassen. Nun fieng er an Woldemar zu loben, gerade da die andern nicht mehr loben wollten.
Noch ein Umstand machte ihn Woldemarn günstiger.
Hornich liebte sehr das Tokkadille, und hatte einige Freunde, die sich gewöhnlich Abends, um es mit ihm zu spielen, einfanden. Der Treueste unter diesen Freunden war der Probst Alkam, ein weitläuftiger Anverwandter von Hornich: dieser blieb höchst selten aus, und leistete seinem Vetter hernach auch beym Nachtessen Gesellschaft.
Woldemar spielte auch Tokkadille; es war, außer Billiard und Schach, das einzige Spiel, worauf er sich im Fall der Noth noch einließ. Er mochte auch wohl den Umgang mit alten Leuten, und konnte bey ihnen mit zum alten Manne werden. Einseitige und recht wunderliche Menschen sah er auch zuweilen gern. Ueberhaupt zog er Zusammenkünfte, wie die bey Hornich, den zierlichen und steifen am Kartentische vor.
Diese Entdeckung an Woldemar war für Hornich ein Großes, und er faßte darauf, leider! eine nur zu gute Meynung jetzt von ihm. Dieser, dem Klugheit im Leben so sehr fehlte, daß er sie beynah verachtete, und vielmehr sich auf den Leichtsinn und die Schwachheit etwas dünkte, womit er sich gewöhnlich hingab und unbekümmert blieb, bis er sich so weit verwickelt hatte, daß er, um wieder los zu kommen, zerreißen mußte: gab auch hier, unbesonnen, dem getäuschten Alten zu viel nach. Er kam öfter in die Tokkadille-Gesellschaft; blieb zuweilen mit Alkam zum Nachtessen, und ließ sich überhäufen mit gutem Rath, den er aber in keinem Stück befolgte. So kam es bald an den Tag, daß keine Besserung von ihm zu hoffen sey, und zwar aus Gründen und vermöge einer Denkungsart, die man so schlimm sich nicht gedacht hatte. Nun fühlte Woldemar, daß wenn nicht offenbare Feindschaft entstehen sollte, er sich zurückziehen müße. Dies erbitterte Hornich vollends wider ihn. Er betrachtete ihn von nun an als einen Menschen, wider den man nicht zu sehr auf seiner Hut seyn könne; lauerte überall ihm auf; durchforschte ihn soweit er konnte, und ruhte nicht, bis er es für sich im Reinen hatte, daß Woldemar überhaupt keiner Vernunft als der seinigen, das hieße: nur seinen Neigungen und Grillen folgte. Er fragte: worauf man bey einem Menschen fußen solle, der, wie dieser, über Sitte, Gesetz und öffentliche Meynung, nach Gutdünken, sich hinwegsetze, und immer nur sein eignes Urtheil wolle gelten lassen? Was könne er sich nicht weiß machen? Wozu nicht, ohne es zu merken, durch sich selbst verleitet werden? Sein gutes Herz, das er ihm nicht abstreite, sey wenigstens sehr reitzbar und beweglich, und was es denn am Ende mit dem guten Herzen sey? Auch aus dem guten Herzen, sagte er, kommen böse Gedanken, und es lehre Niemanden, was zum eigenen und des Mitmenschen wahren Besten diene; dieses lehre Erfahrung und Vernunft allein: in Woldemar aber spiele die Einbildungskraft, die keine Regel habe, den Meister. Wo Vernunft den Meister spiele, da werde der schlichte gesunde Menschenverstand, den Alle haben, da werde die öffentliche Meynung, Beyspiel, Sitte und Gebrauch in Ehren gehalten. Wenn man hieran sich nicht halte, so könne ja kein Mensch wissen, was er am Anderen, ja was er nur an sich selbst – habe, und haben solle.
Die Vorwürfe des alten Mannes, die Woldemarn vor und nach zu Ohren kamen, hätten ihn auf sich selbst aufmerksamer machen, Sorgen in ihm erregen, und ihm dadurch nützlich werden können, wenn nicht das, was sie wahres und gegründetes enthalten mochten, durch boshafte Uebertreibung, und das in so reichem Maaße beygemischte Irrige und Falsche, allen Schein der Wahrheit verloren hätte, für ihn selbst, wie für alle, die ihm Gutes wünschten.
Uebrigens wurden über Woldemars eingezogene Lebensart bald auch seine vertrautesten und nächsten Freunde mißvergnügt. Dorenburg und Biderthal, die mancherley Umgang in B** hatten, einen Theil davon auch wohl haben mochten, und des Lästigen sich nicht entschlagen konnten, dabey von vielen Reisenden besucht wurden, fanden, daß Woldemar doch allzu ungefällig, zu untheilnehmend wäre. Sich in dem Grade abzusondern, nicht ein wenig sich aufopfern zu wollen, wäre, glaubten sie, mehr als unfreundlich, wäre beleidigend; es ließe auf Geringschätzung, auf Verachtung schließen. Man dürfte um die Gunst, um das Wohlwollen seiner Nebenmenschen nicht so unbekümmert seyn.
Dergleichen Vorstellungen blieben nicht ohne alle Wirkung auf Woldemar. Er war von Natur nachgiebig; aber er hätte bis zur Sinnesänderung, bis zur Aufopferung seiner Lieblingsneigungen gefällig seyn müssen, wenn er seine Freunde hätte ganz befriedigen, ihrem Murren ein Ende machen wollen.
Von den hieraus entstandenen Spaltungen, die zwar in Absicht des guten Vernehmens zwischen Woldemar und seinen Freunden unschädlich blieben, aber doch merkwürdige Entwickelungen, und eine Reihe von Auftritten nach sich zogen, die einen wesentlichen Theil unserer Geschichte ausmachen, soll dem Leser nach und nach, ausführliche Rechenschaft gegeben werden.
Wir fangen hier vorbereitend mit dem natürlichen Anlasse dieser Spaltungen, und der allgemeinen Bemerkung an: daß es keinen Ort und Stand, keine Familie auf Erden gebe, worin nicht eigenthümliche Sitten, Gebräuche, Angewöhnungen, die einzelnen Glieder der Gesellschaft minder oder mehr einschränken, und eine Art von Gewaltthätigkeit an ihnen ausüben. Vielen Menschen fließt allein aus dieser Quelle, was sie ihre Grundsätze und Gesinnungen nennen, und es ist zu bewundern, welche Tugend sie von dieser Seite oft beweisen. Die Pflichten, die Bande, die ihnen daher kommen, sind ihnen heiliger als heilig: sie ahnden hier, gedankenlos und demüthig, ich weiß nicht was für ein mächtiges Interesse, dem sie jedes andere, auch ihr liebstes, aufzuopfern im Stande sind.
Dorenburg und Biderthal gehörten, wie wir wissen, nicht zu diesem blinden Haufen. Aber Sitte und Gebrauch standen bey ihnen in sehr großem Ansehen. Jede Form, der nur etwas Gutes noch anklebte, war ihnen ehrwürdig, sie wollten auch nicht den Schatten einer Tugend beleidigen. Diese bidermännische Denkungsart verleitete sie, nicht nur jedem übertriebenen Gesetze des Wohlstandes, sondern auch manchem eitlen Gesetze der Mode sich zu unterwerfen, und überhaupt sich zu sehr von Meynungen beherrschen zu lassen. Nichts desto weniger waren sie zu B** als Sonderlinge verschrieen. Da sie bey allem ihrem Nachbequemen dennoch ihren eigenen Sinn behielten, eigene selbstgewählte Freuden hatten, die sie große Sorge trugen nicht dahinten zu lassen; so konnte dies nicht fehlen.
Woldemar fand, daß sie des Zwanges sich noch viel zu viel anthaten; enthielt sich aber anfänglich, ihnen Vorstellungen darüber zu thun, weil es seine Art nicht war, jemanden in den Weg zu treten. Da sie aber von ihm verlangten, daß er sich den ihrigen sollte gefallen lassen, und öfter dringend wurden, so kam es nach und nach zu Erklärungen, wo er ihnen dann, bald bey diesem, bald bei jenem Anlasse das Eitle in ihrem Thun, das Unnütze in ihrer Mühe nachdrücklich vor Augen legte.
»Bey allen den Besuchen, die ihr gebt und annehmet, fragte Woldemar, bey allen den Zusammenkünften die ihr haltet, bey euren kostbaren Schmäusen: wird da wohl irgend ein geselliges Band fester angezogen, nur ein Funken ächter Zuneigung je hervorgeschlagen? Ist wohl jemals von da eine Freundschaft ausgegangen?
»Und wißt ihr irgend ein namhaftes Gutes, von welcher Art es sey, daß ihr durch eure Gewissenhaftigkeit in Befolgung der Regeln des Wohlstandes und der Geheisse der Mode bewirkt hättet?
»Es ist elende Spiegelfechterey damit! Ihr verschleudert eure Zeit, und setzt euch allerhand Verirrungen der Sinne, des Geistes und des Herzens, – einer zunehmenden Verblendung aus.
»Sehet euch um und glaubt euren Augen: je weiter und mannichfaltiger sich die Verbindungen unter Menschen ausbreiten, desto loser und flacher werden sie; und je loser und flacher, desto beunruhigender. Wer in einen weitläufigen ununterbrochenen Umgang tritt, der muß sich um die Gegenstände aller der Menschen, die ihn umgeben, unaufhörlich bekümmern, in ihre Leidenschaften sich einlassen, und ähnlichen Leidenschaften seine eigene Seele öffnen: denn was fienge er sonst unter diesen Menschen an? da wäre ihm eine einsame Langeweile wenigstens bequemlicher. Was das aber für Gegenstände sind, um welche das unselige Getümmel sich wälzt und wirrt, ist bekannt genug. Und die muß er nun doch schlechterdings als wichtig ansehen, als wichtig empfinden lernen. Stille des Geistes, Ruhe des Gemüths können damit nicht bestehen. Wie diese abnehmen, so verschwinden alle herzlichen Gefühle, verschwindet alle gründliche Theilnehmung. Die Seele ermattet unter endlosen kleinen Bestrebungen, unter endlosen kleinen Widerwärtigkeiten; wird so lange gezerrt und getrillt, bis alles mit ihr herumläuft und sie von sich selbst nichts mehr weiß.
»Mit euch, das erkenne ich, kann es dahin nicht kommen; dafür ist lange gesorgt. Unterdessen: wie viel Glückseligkeit, wie viel Daseyn opfert ihr nicht auf?
»Mir kommt das vor, als verkleideten lebendige Personen sich in Puppen, um unter Marionetten eine Rolle, ein Chor oder ein Popolo auszufüllen, weil das Puppenspiel sonst Gefahr liefe, nicht so gut von Statten zu gehen.
»Da ihr an dem losen eiteln Wesen jener Leute kein Gefallen habt, mit euren Neigungen und Begriffen da nicht eingehen könnt, und nun doch einmal beständig mit ihnen zu schaffen habt: so seyd ihr in so fern schlimmer daran als sie selbst. Ihr zerstückt durch das alberne Mitmachen eure ganze Existenz, macht sie voll Zwist und Mißhelligkeiten. Und ist es nicht wahr: daß ihr das Volk, von dem ihr euch tyrannisiren laßt, nicht allein verachtet, sondern daß ihr auch, wegen der Störungen die es euch allenthalben verursacht, dagegen aufgebracht, erbittert und nicht selten voll wahren Hasses seyd? – Und glaubt ihr, das merken diese Leute nicht, ihr könnet ihnen das verbergen? – Obgleich in dem ganzen Haufen keiner dem andern recht gut seyn kann, so fühlen sie doch gegen einander einen gewissen Zug, der sie einigt, der sie zu einer Gemeine macht, und – der euch absondert. Sie haben wider euch, was ihr wider sie habt; sie können euch nicht leiden, wie ihr sie nicht leiden könnt: das geht richtig gegen einander auf. – Ihr aber beharrt nicht destoweniger, wollt nicht ablassen von der Freundschaft, wollt das gute Vernehmen nicht zerstören, und – seyd überall die Betrogenen.
»Gewiß, ihr Guten! es klingt nicht lächerlicher als es ist. Und wenn es nur lächerlich wäre! Aber man kommt bey diesen wie bey allen Arten von Nachäffungen auf so mancherley Weise zu Schaden, und sollte daher nie als im äussersten Nothfall sich zu etwas verstehen, wobey es einem nicht ums Herz wäre. Ein großer, vielleicht der größte Theil des Uebels in der Welt würde mit einem Male daraus weggeschafft, wenn ein jeder nur das und nichts anders begehren, verfolgen und ins Werk richten wollte, als was ihm wirklich Freude macht. Aber wenige haben so viel Sinn, recht zu wissen, was sie wollen, und noch wenigere den Muth sich daran zu halten. Dumpfheit des Gefühls, Verworrenheit des Herzens ist die allgemeine Krankheit. Was einmal mit einer angenehmen oder unangenehmen Vorstellung in wiederholte Beziehung gekommen ist, darnach rennen die meisten, oder fliehen es von nun an, ohne weiter zu sehen: und da diese Verknüpfungen größtentheils bloß zufällig gewesen, oder, unwillkührlicher Weise, nur zu dem Ende veranlasset worden sind, um gewisse, oft höchst ungereimte naturwidrige Meynungen im Gehirne fest zu setzen, daß sie Bestimmungsgründe zu Handlungen würden, wozu sie denn auch gedeyen: so kann man von diesen Leuten mit allem Fug sagen, daß sie thun was sie nicht wollen; zumal wenn das seit verschiedenen Generationen schon so fortgegangen und alle erste Absicht, jeder anfängliche Trieb längst verschwunden und vertilgt ist. – Solche Menschen sind in ihrer Gattung, was unter den Früchten der Tannapfel ist: lauter Schale ohne Fleisch und Saft, Hülse bis ins Herz. Und wer sich daran macht und sie genießt, der wird es an seinem eigenen Leibe erfahren, an der Verwandlung seiner festen, flüßigen und geistigen Theile.«
Woldemar zeigte seinen Freunden, wo ihr Fleisch wirklich schon in Schale übergegangen war, und wie das Uebel, obgleich unmerklich, immer weiter um sich greifen müßte. – Der Mensch, behauptete er, wäre so gemacht, daß er sich mehr im Andern als in sich selbst fühlte. Er könnte sich der Gesinnungen und Neigungen derer, mit denen er umgienge, nicht erwehren, und gäbe unwillkührlich ihren Urtheilen und Meynungen nach. Im Grunde wäre dies eine Folge der besten und liebenswürdigsten Eigenschaften seiner Natur, aber darum nicht minder gefährlich. Denn mit eben jenen Eigenschaften, mit Sympathie, Gefälligkeit und Ehrliebe hiengen Nachäffung, Menschenfurcht und Eitelkeit zusammen; es wären ihre natürlichen Kinder, die sich oft gegen ihre Mütter auflehnten und ihre Mörder würden.
»Wo ist der Mensch, rief er aus, der sich vor der Ansteckung des Beyspiels bewahren kann? Wo ist Einer, der sich nicht von Menschenfurcht in die Enge treiben läßt? Männer, welche tausendmal ihr Leben gewagt haben, werden tausendmal zurückbeben, wenn sie mit ihren Grundsätzen einem Nichtswürdigen, der an keine Tugend glaubt und dessen spöttelnde Befremdung sie voraussehen, unter die Augen treten sollen. Heilige sind zu Sündern geworden in solchen Fällen.
»Was das ist im Auge des Menschen, dies Gewaltige, welches schreckender ist als die Hölle, lockender als der Himmel? – Ich kann es nicht erklären; aber es ist!
Noch einmal sagte Woldemar: – »Der Mensch fühlt sich mehr im Andern als in sich selbst. Unsere körperliche Gestalt können wir nicht gewahr werden, als in einem andern Körper, der sie vor uns abspiegelt; unsere Seele kann sich nicht empfinden, als mittelst eines andern Geistes, der ihren Eindruck auf sie zurückwirft. Dies ist der lebendige Odem in die Nase des Erdenkloßes. Darum ertragen wir lieber jedes Elend, als eine gänzliche Einsamkeit; darum würden wir aus den herrlichsten Zaubergärten entfliehen, wo wir alles hätten, nur keinen Gefährten; – entgegen jedem Mangel, jedem Schrecknisse, um Menschen anzutreffen.
»Und hieraus folgt nun gerades Weges: daß uns das Daseyn unerträglich fallen müsse, wenn wir denen Menschen unerträglich sind, die wir um uns haben. Ihre Achtlosigkeit ist Vernichtung, ihre Verachtung Hölle.
»So offenbar richtig und so allgemein anerkannt ist dieses, daß wir einmüthig es für das größte Unglück schätzen, wenn jemand um Ehre oder guten Namen kommt; – daß wir von einem Menschen, der über die Achtung seiner Mitbürger sich hinaus zu setzen im Stande ist, auch das ärgste vermuthen; wir sagen von ihm: er mache sich aus nichts etwas, und fühlen, daß wir ihn damit in den Koth treten.
»Auch im niedrigsten Pöbel lebt diese Empfindung und beherrscht ihn; auch er dehnt sie, instinktmäßig, sogar über die Person des einzelnen Menschen hinaus, weiß in dem was auch nicht mehr er selbst, sondern was nur zu ihm gehörig ist, ihn zu ehren und zu beschimpfen. Wenn ein Holunke den andern auf das empfindlichste kränken will, so schreyt er ihm nach: dein Vater, dein Bruder hängt am Galgen; deine Mutter, deine Schwester sitzt im Zuchthause; du hast kein Hemd auf dem Leibe, deine Kinder gehen betteln.
»Also, diesem unüberwindlichen Naturtriebe zufolge, können wir nicht umhin, so bald wir mit jemand in Verbindung treten, auf seine Meynung von uns zu achten, irgend eine Seite an ihm aufzusuchen, an der wir uns mit ihm messen und uns von ihm schätzen lassen können. – Nun ist aber leicht abzunehmen, wohin das im Umgange mit der Gattung Menschen führen muß, wovon wir eben redeten.
»Aber gesetzt auch, es wären nicht gerade diese Menschen, sondern andere, die, jeder in seiner Art, unter die vorzüglichen gehörten: dennoch, meine Freunde, littet ihr durch Zerstreuung eurer Kräfte, durch Entflammung eurer Fantasie zu eiteln Bestrebungen, und durch Mißleitung eurer Triebe einen unersetzlichen, täglich zunehmenden Verlust.
»Immer und in alle Wege entfernt eine so vielfältige Bespiegelung in andern uns vom besseren Selbst. Die Menge der täuschenden Schatten, die wir umher werfen, berückt uns, daß wir sie für mehr achten als unsre einzelne wesenhafte Gestalt, und damit schreiten wir aus dem Gebiet der Wirklichkeit in den endlosen Raum der Einbildung; werden dem Winde ähnlich, dessen Sausen man wohl hört, aber nicht weiß, von wannen er kommt, noch wohin er fährt. Der edelste Trieb in der menschlichen Natur, der Trieb der Ehre, die Begierde vortrefflich zu seyn an sich und in Vergleichung mit andern, ist alsdenn verfälscht und verirrt; denn diese Begierde, in ihrer Lauterkeit, quillt aus dem edlen Bestreben, die Kraft unsers Daseyns zu vergrößern, eigenmächtiger, in und durch uns selbst besser und glücklicher zu werden. Hingegen der Eitle vergißt seiner selbst zu achten, er will lieber viel scheinen als etwas wirklich seyn. Um sein geliehenes Daseyn zu erhalten muß er voll Unruhe sich kümmern und schleppen, unter tausend Mühseligkeiten schmachten, und kann nie eine bleibende Stätte haben.
»Zuverläßig ist allemal das Beste für uns und für unsere Freunde, Anverwandten, Mitbürger, Genossen, ja für das gesammte Universum: – daß ein jeder thue sein eigenes Werk, gehe seinen eigenen Weg, besorge sein eigenes liebstes Glück.
»Wäre es nicht Narrheit von einer Sopranstimme, mit einer Trompete sich in ein Duo einzulassen: oder von einer Trompete, zu der Aria Se mai senti oder einer ähnlichen, die erste Violine oder die zweyte Flaute machen zu wollen? Beyde würden sich verderben und mit ihrer Kunst zu Schanden werden. – Dennoch machen wir es so, treiben überall was wir weder können, noch was am Ende unser Zweck ist; gerathen darüber in tausenderley Verwirrungen, verfallen in Unglauben an uns selbst und andere, und richten eine so ohnmächtige und jammervolle Wirthschaft an, daß es zum Erbarmen ist.«
Woldemar war unerschöpflich über diese Gegenstände, und wußte sie bey jeder Gelegenheit in ein neues Licht zu stellen. Seine Reden machten desto mehr Eindruck, da sie die wahren Neigungen seiner Zuhörer heimlich auf ihrer Seite hatten. Dennoch wollte es mit ihrer Bekehrung nicht von statten gehen, und sie bestätigten die Bemerkung des geplagten großen Sülly: daß es das Schicksal der Vernunft zu seyn scheine, weder dann gehört zu werden, wenn sie den Leidenschaften widerspreche, noch auch dann, wenn sie mit ihnen einerley anrathe – Anschläge zu Reformationen wurden öfter gemacht, auch wurde hie und da ein Versuch angestellt: aber Angewöhnung und Zaghaftigkeit behielten die Oberhand. Man fand: was Woldemar verbrächte, ließe sich wohl gut sagen und auch anhören; aber es wäre nicht so leicht gethan. Hätte man sich einmal auf einen gewissen Fuß gesetzt, so fänden sich tausend Schwierigkeiten, wenn man wieder davon abgehen wollte; man zöge sich die Feindschaft und den Spott der Leute auf den Hals, und müßte am Ende noch dazu sich selbst auslachen.
Woldemar hatte, fürs erste, nicht mehr erwartet. Auch gestand er seinen Freunden zu, die ihm unter andern entgegen setzten, daß in seinen Vorstellungen vieles übertrieben wäre, sie beschuldigten ihn nicht ohne Grund; es wäre eine Unbilligkeit von ihm, sie mehr in sich, als sich in sie hinein zu denken; er wüßte, daß ihn seine reizbare Gemüthsart peinlich, in gewissem Verstande (wenn man es so nennen wollte) schwächlich, oder zu moralischen Krankheiten geneigter machte; daher er denn Ungemach und Gefahren erblickte, wo andre dergleichen nicht wahrnähmen, und auch in dem Maaße nicht zu befürchten hätten.
Henriette, wegen ihres vertrauten Umganges mit Allwina, sah Woldemarn öfter, und lebte mehr mit ihm, als die übrigen der Familie. Woldemar fand ein großes Vergnügen in Allwinens und ihrer Tanten Gesellschaft. Beyde Tanten waren Personen von Verstand und sehr vorzüglichen Eigenschaften; die jüngere besonders, eine Wittwe zwischen dreißig und vierzig Jahren, zeichnete durch eine Lebhaftigkeit, eine Schnelligkeit des Geistes sich aus, welche zu Woldemars Laune ausnehmend paßte. Da fand ihn denn Henriette oft bey ihnen sitzen, und ihr Kommen pflegte ihn nicht zum Weggehen zu bewegen. Manchmal weilte er ganze Nachmittage und bis in die Nacht, schwatzte, las vor, machte Musik mit den beyden Mädchen, zeichnete mit ihnen, ließ sich so hingehen in immer wärmerer Neigung zu allerhand Mittheilungen, und ihm war sehr wohl dabey; den Mädchen nicht minder. Wenn es ihm aber einfiel, sie unversehens zu verlassen, so entstand darüber keine Verwunderung, kein Aufsehen. Dies begegnete ihm wohl mitten im feurigsten Anschlage, oder wenn sie gerade im vollen Genuß der Ausführung waren. – »Da läuft er nun fort!« – dies war das ärgste, was je die lieben Geschöpfe sagten; und sie sahen dabey so von Grund der Seele gut und freundlich aus, daß Woldemar es sich schwer aus dem Sinne schlagen konnte, und manchmal, wenn er kaum auf seinem Zimmer war, wieder herunter zu ihnen mußte. Aber dann litt Henriette schlechterdings nicht, daß er angenommen wurde. – »Er sollte nicht so wankelmüthig seyn, sagte sie zu ihm, das ziemte keinem Manne; sie – oder Allwina, oder die Tanten hätten jetzt etwas vorgenommen, was sie um nichts fahren ließen, und wobey seine Gegenwart störte;« – und damit die Thüre auf, und fort mit Woldemar! Zuweilen that er hartnäckig: das half nicht; er mußte abziehen. Merkte sie aber, daß er wirklich seinen Sinn geändert hatte, und daß es ihm nun frey darum zu thun war, wieder zugelassen zu werden, so wußte sie den Streit so zu lenken, daß er zuletzt die Oberhand behielt. Er mußte gestehen, daß er ein Kindskopf wäre; dann bekam er seinen Willen.
Allwina hatte nie vorher das Leben so schön gefunden. Es war ihr neu und von ungemeinem Behagen, mit einem Manne umzugehen, der sie lebhaft interessirte, ohne sie in irgend eine Art von Verlegenheit zu setzen. – Ja, sagte sie, wenn aber auch Woldemar so albern mit einem thäte, wie die andern Herren, so merkte man gleich, daß er einen nur zum Besten hätte, und man könnte ihn nicht ausstehen. Auf Ansprüche an ihn dachte sie so wenig, daß er vielmehr durch den Vorzug, den er gleich von Anfang Henrietten gegeben hatte, bey ihr hauptsächlich in Ansehen gekommen war. – »Du mußt den lieben Menschen heyrathen, sagte sie zu ihrer Freundinn. Ich schenke ihm mein halbes Vermögen, so bald ich Meister davon bin, und wohne bey euch; das übrige bekommen eure Kinder, denn ich heyrathe gewiß nie.« – Henriette lächelte. – Du liebes gutes Wesen, sagte sie, und küßte den Engel: bekümmere Dich nicht: laß mich nur machen; ich habe etwas anderes vor; aber beysammen wollen wir bleiben.
Wenige Menschen wissen, was das für eine Stille und Stetigkeit in die Seele bringt, wenn man vor allen andern die eigentlichen Gefühle des Herzens zu schärfen und sie emporzubringen weiß; wie sehr das allein schon heitert, wenn kräftigere Regungen den Meutereyen der Eitelkeit ein Ende machen, und man nur erst anfängt, in sich einen Mittelpunkt zu finden, bey welchem Stand zu halten ist. Henriette wußte dieses schon: daher war ihr Geist so hell, so fassend, ihr Gemüth so mild, ihr Sinn so still und heiter. Woldemar, der nach und nach sie erforschte, fühlte mit Entzücken, was ihm das Schicksal in ihr darbot. Beyder Einverständniß wurde von Tage zu Tage leiser und inniger. Das schüchterne bescheidene Mädchen, welches zu seinem eigensten Daseyn bisher nicht hatte gelangen können, erwarb es nun im fortgesetzten vertraulichen Umgange mit einem erfahrnen, in sich schon bestimmten Freunde, der ihren besten Ideen und Empfindungen – den einsamen, verschlossenen – Freyheit, Bestätigung, unüberwindliche Gewißheit verschafte.
Wessen Seele, mit zarter Liebe befruchtet, in sich das stille Weben gefühlt hat, das mit dem Aufkeimen des himmlischen Saamens beginnt, und zunimmt mit seinem Gedeihen zu Freundschaft: der wird von der Wonne, welche Henriette und Woldemar in diesem Zeitpunkt erfuhren, keine Beschreibung erwarten.
Einnehmend schön war es, Henriette über Woldemar zu hören; wie sie alles Treffliche an ihm ins Auge zu stellen, und seine Fehler und mancherley Unarten damit zu reimen wußte. Dieser war sie überall geständig, und neckte ihn selbst bey jeder Gelegenheit damit. Sie mochte dieses mit dem schärfsten Witze thun, es verdroß Woldemar nie, vielmehr hatte er eine wahre herzliche Freude darüber. Nur zuweilen, wenn sie ihn an einer Seite traf, die er selbst noch nie recht wahrgenommen hatte, wurde er ernsthaft, und brach dann auf die herbeste Weise und manchmal mit ungemeiner Hitze wider sich selbst aus; aber ihre Laune wußte dieses Feuer noch geschwinder zu löschen, als sie es angefacht hatte. Auch in jedem andern Falle, wenn Woldemars Feuer in Schwärmerey ausarten wollte, war sie gleich da, um ihn beym Aermel zu zupfen. Sie konnte seinen Ideen und Empfindungen in ihrem höchsten Schwunge folgen; und er war nicht weniger aufgelegt, ihre feinsten Bemerkungen und scharfsinnigsten Raisonnements in ihrem ganzen Umfange zu erwägen, und sie für das, was sie waren, bey sich gelten zu lassen. Daher die herzlichste Gattung von Uebereinstimmung unter ihnen, jenes Gleichgewicht – jenes Zusammenfließen im Glauben – oder im Zweifel – jenes – wo man die Gegenwart des Freundes so lebhaft fühlt, und mit einer Rührung ihn umschlingt, die nichts andres so erwecken kann.
Freund und Freundinn kamen selten zusammen, ohne bey irgend einem Ereignisse sich noch besser zu erkennen, irgend eine Erwartung, die sie von einander hatten, erfüllt, und Empfindung die Stelle, welche durch Ahndung schon bereitet war, einnehmen zu sehen. Daß dergleichen Vorfälle oft an sich höchst unbedeutend waren, benahm ihrem Eindrucke nichts.
So waren sie einst mit ihren Geschwistern auf ein nahgelegenes Jagdhaus gefahren, wo ein künstliches Reiten von Engländern zu sehen war. Das schöne Wetter hatte eine Menge Leute hinaus gelockt. Die meisten von denen, welche in Wagen gekommen waren, wollten, da die Sonne zum Untergange sich neigte, den Rückweg nun in der Kühlung lieber zu Fuß machen. Woldemar, der seine Freundinn führte, sah, als sie zwischen die Thore kamen, einige Schritte vor ihnen ein kleines Mädchen mit einem Korbe auf dem Kopfe, das einem Phaeton ausweichen wollte, und darüber ihre Bürde fallen ließ. Er und Henriette hemmten zugleich den Schritt. Unterdessen das arme Ding ihre Sachen wieder in den Korb packte, kam ein Knabe mit einem schweren Bündel Holz beladen, der vermuthlich des Mädchens Bruder war. Sie bat ihn um Hülfe. Der Knabe warf auf die Mauer des Glacis zürnend sein Bündel ab und griff den Korb an. Da er aber noch kleiner als das Mädchen war, und beide zu wenig Stärke hatten, so schwankte ihnen der Korb auf die Seite, und alles was drinn war lag von neuem auf dem Boden. Von den Vorübergehenden lachten die Geringen über den Spaß, und die Vornehmen lächelten oder schielten gravitätisch hin und wieder weg. Woldemar ließ Henriettens Arm. – »Machen Sie Sich so lange zu Dorenburg,« sagte er, und sprang hinzu. Aber Henriette sprang mit. Sie packten gemeinschaftlich das Herumliegende wieder in den Korb, und wollten ihn eben dem Mädchen aufsetzen, als zwey Soldaten von der Wache herbey gelaufen waren, die es ihnen freundlich wehrten. – »Das freut mich, sagte Henriette beym Weggehen und indem sie noch einmal umguckte, daß die Soldaten uns gesehen haben; wenn nun einmal wieder ein armer Tropf da in Noth kommt, so lassen sie ihn schwerlich so lange zappeln.« – Und erzählen auch ihren Cameraden wohl noch die Geschichte, fügte Woldemar hinzu. Indessen ... Aber haben Sie bemerkt, was da gleich für ein Haufen Menschen um uns stand? – »Ich gab nicht Achtung, erwiederte Henriette; die glaubten wohl, es gäbe da ein großes sehenswürdiges Unglück zum Besten!« Nicht anders, antwortete Woldemar. Wenn ich denke, fuhr er fort, es ist doch wunderbar, wie die Leute im Angewöhnten sich so verlieren können, daß sie zu nichts Natürlichem mehr den Weg finden, und ihnen immer am verkehrtesten dünkt, was es am wenigsten ist. Da war doch keiner der sich nicht vor Schande gefürchtet hätte, wenn er durch eine Handreichung dem Gequäle der armen Kinder ein Ende gemacht hätte; und nun, da wir es drauf wagten, nun werden sie es uns zur Eitelkeit deuten. – »Zur Eitelkeit?« stutzte Henriette. – Ja, sagte Woldemar, sie werden es für Liebe des Sonderbaren halten, was weiß ich? – allemal für Fratze. »Eben fällt mir ein, unterbrach ihn Henriette, daß Sie zu mir sagten: Machen Sie Sich so lange zu Dorenburg! Wie, wenn ich es gethan hätte?« Es wäre mir nie eingefallen Sie deswegen zu tadeln, antwortete Woldemar. Sie sind ein Frauenzimmer, Sie haben einen Putz an, der Sie ins Auge stellt; ich hatte ihrer Hülfe nicht nöthig, also konnten Sie umhin, Sich dem Begaffen auszusetzen. »Und also tadeln Sie mich, daß ich mitging? – Sie haben Recht! Hätte ich mich erst besonnen ... Aber ich hing so an Ihrem Arm, sah nur auf das Mädchen und den Buben, und auf das, was Woldemar that: und wie der gieng, gieng's eben hinten drein mit mir, ich weiß nicht wie; – und was soll es denn auch!« – Henriette! sagte Woldemar, und wendete sich auf Henriettens rechte Seite, und drückte ihren Arm fest an sein Herz; – Engel! und er bebte davon, da er, vor sich hinsehend, es leiser noch einmal aussprach. » Woldemar! sagte Henriette; Woldemar! was ist Ihnen, was bewegt Sie so sonderbar?« Und doch war sie selbst bis zu Thränen gerührt. – Was mich bewegt, erwiederte Woldemar. Beste! – es ist nicht von heute, nicht von jetzt; es ist, Gottlob! schon von lange: aber bey jedem neuen Vorfalle durchdringt es mich gewaltiger, und alles wieder, und alles auf einmal! – Liebe! – das: daß du da bist – wirklich da – daß ich dich endlich habe – ein Wesen, dessen Herz, wie das meinige, sich von jedem Moment der Schöpfung ganz erfüllen läßt – das sich nicht scheut allein zu thun, was unter tausenden keins möchte und auch keins dürfte – das eine That, die in tausend Fällen nicht schicklich, nicht schön und gut wäre, in dem Einzigen, wo sie schön und gut ist, schnell dafür erkennt und da muthig sie ausübt; das immer seinen eigensten Willen thut, und doch, mit hellem Blick gen Himmel, sagen darf: » Vater, deinen Willen!« – O Du Eine! Du Meine!
Zwey Jahre waren verstrichen, und Woldemar war mit jedem Tage froher und heiterer geworden. Er fühlte sich wie neugebohren. Alle Menschen waren ihm lieber, und er war es allen Menschen und sich selbst. Es konnte nicht ausbleiben, nachdem er einmal in ein menschliches Wesen ein unumschränktes Zutrauen gesetzt hatte, daß die ganze Gattung bey ihm gewinnen mußte. Wie viel mehr seine nähern Bekannten und Freunde. Jedermann pries die mit ihm vorgegangene Veränderung; daß er so merklich offener, mittheilender, duldsamer, gleichmüthiger und geselliger geworden wäre; daß man jetzt so viel mehr als sonst von ihm hätte. Es war ihm eben durch und durch wohl; und der Zufriedene, wie leicht wird dem nicht jedes Opfer? – Er hat so viel zu missen!
Henriette versäumte keine Gelegenheit, ihren Vater auf die mit Woldemar vorgegangene Veränderung aufmerksam zu machen, und sich selbst mit der Hoffnung wohl zu thun, ihn nach und nach mit ihrem Freunde wieder zu versöhnen. Hornich war so leicht nicht umzustimmen; aber die Gewohnheit, sich von Henrietten einreden zu lassen, und ihr alles mögliche nachzugeben, kam zu Hülfe. Sie brachte ihn wirklich dahin, daß er anfing, mit ihr zu glauben, Woldemar gefiele ihm besser: »Es gäbe sich doch mit dem Manne; er ließe sich bedeuten; schickte sich almählich: und warum sollte man ihn denn nicht gerne sehen?« – In der That war ihm Woldemar jedesmal willkommen, wenn er Gäste oder sonst Gesellschaft hatte; weil niemand die Unterhaltung so zu beleben, und dem Vergnügen aufzuhelfen wußte. Er ließ ihm deswegen vieles hingehen, und hätte sich noch mehr – zuletzt wohl ganz an ihn gewöhnt, wenn nur Woldemar die Lieblingsmeynungen des Alten etwas mehr hätte schonen, und seine eigenen Grundsätze minder eifrig wider jede Anfechtung behaupten wollen. Zu schweigen, ganz an sich zu halten, kostete ihn nichts; er disputierte ungern. Kam es aber dazu, daß er sich einlassen mußte, so verdarb er jedesmal in einer Viertelstunde mehr, als er in Monaten wieder gut machen konnte. Bey einem Anlasse, der hier ausführlich erzählt werden soll, weil er noch aus andern Ursachen für die Folge dieser Geschichte wichtig ist, verging er sich in seinem Eifer dergestalt wider Hornich, daß ihn dieser seitdem nie wieder mit gutem Auge ansehen konnte.
Dorenburg hatte während seines Aufenthalts in England mit einem den Wissenschaften ganz ergebenen vortrefflichen jungen Manne, Carl Sidney, viel Umgang gehabt. Sie hatten sich zu Edinburgh getroffen, wo damals Sidney sich fast allein mit Philosophie beschäftigte. Nun ging er auf Reisen, und erschien unerwartet an einem Abend bey seinem Freunde Dorenburg.
In der Fülle seiner Freude ging dieser früh am folgenden Morgen zu Woldemar. – Sie speisen heute Mittag bey mir, sagte er zu ihm; ich habe ein Gerücht, wie ich Ihnen noch keins vorsetzen konnte: Sie sollen einen Zögling Ihres Lieblingsphilosophen, einen Jünger Fergusons, kennen lernen. – Einen Jünger? erwiederte Woldemar. Genug wenn es nur ein Schüler, nicht bloß ein Zuhörer des großen Mannes ist. Die bloßen Zuhörer großer Männer sind mir höchst zuwider. – Es ist Carl Sidney, antwortete Dorenburg, von dem ich Ihnen mehrmals erzählte. – Dieser? rief Woldemar aus: Köstlich! Köstlich! Ja wohl bin ich dabey!
Biderthal und Luise hatten sich schon eingestellt, da Woldemar ankam, und Hornich stieg eben mit Henrietten aus dem Wagen. Dorenburg war auf einen Augenblick mit Sidney in sein Cabinet gegangen, um ihm etwas zu zeigen. Sie traten herein. Woldemars und Sidneys Blicke begegneten sich; verstanden sich; die Bekanntschaft war gemacht, das Bündniß geschlossen; ihre ersten Worte waren schon vertraulich.
Woldemar erzählte, daß Fergusons erstes Werk, sein Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Epoche in seinem Leben gemacht hätte: es hätte ihn zum Wiederlesen der Alten neu begeistert; ihn auf eine Höhe der Betrachtung gestellt, und überhaupt ihn so erweckt, daß er diesen Zeitpunkt noch immer wie den Uebergang in ein besseres Daseyn betrachtete.
Es war ganz nach Woldemars Herzen, was Sidney auf diese Aeußerungen erwiederte. Ihre Unterredung wurde ein Strom, der sich uferlos ergoß, hier einwühlte und dort, wiederkam, wirbelte, dann reißend weiter ging.
Sidney erwähnte seines andern Lehrers, Thomas Reid, und stellte ihn, ohne ihn mit Ferguson, der unter eine andre Categorie gehöre, vergleichen zu wollen, so hoch, daß es Woldemar befremdete. – Ich bin gewiß, sagte Sidney, sie erinnern sich einst mit Beyfall meines Urtheils, wenn das lange und tief erwogene letzte Wort dieses trefflichen Denkers über menschlichen Verstand und Willen, ein Meisterwerk, das er vielleicht noch einige Jahre, um es der Vollkommenheit näher zu bringen, zurückhält, an sie gelangen wird.
Von Reid kamen sie unmittelbar auf den Zustand der Philosophie überhaupt in England. Woldemar warf den Engländern vor, sie stünden in dieser Absicht weit hinter den Deutschen, und dürften sich nicht einmal mit den Franzosen messen.
Das möchte seyn, erwiederte Sidney, mit etwas stolzer Miene; doch fehlte es den Engländern, bey diesem Mangel, nicht an Sinn, und nicht an Tiefsinn. – Es ist wahr, fuhr er fort; der gesunde Menschenverstand ist bey uns etwas sehr zuversichtlich. Manche Behauptungen, die bey unsern Nachbarn großes Aufsehn erregen, werden auf den ersten Anblick bey uns verworfen: sie finden keinen Eingang; kaum wird davon geredet. Diese Gleichgültigkeit zu rechtfertigen, überlassen wir unsern Philosophen von Profession, unsern Fergusons, unsern Reids. Zum Beyspiel, das berühmte Buch des Helvetius; die Philosophie, die es enthält, bemeisterte sich in Frankreich aller Köpfe: sie besteht noch, und ist in diesem Lande die classische geworden. Auch in Deutschland soll sie viel Glück gemacht haben. Bey uns fand sie wenig Liebhaber; wohl aber den nachdrücklichsten Gegner an Ferguson, der sie doch nur im Vorbeygehen angriff, und wie ein Mann, der auf den Gradsinn seiner Leser rechnen darf. Aufmerksamer waren wir auf Rousseau. Seine großen Geistesgaben, seine gefühlvolle Beredsamkeit zogen uns an; aber das Spiel, das er zu oft damit trieb, seine unlautere Originalität, entzogen ihm unsere Achtung. Jetzt haben wir in Person den vielgelesenen berühmten Linguet bey uns. Er lebt verachtet. Wir wissen, daß er seine Paradoxen mit viel Witz und Beredsamkeit vorzutragen, ihnen einen guten Anstrich auch von Verstand zu geben weiß; aber desto lieber bestellten wir ihm einen Platz in Bedlam: diese Gattung widersteht uns; wir lachen darüber und hassen sie. So ist es wahr, daß wir weniger zur Speculation, zum nur hin und her grübeln, als andre Nationen, geneigt sind. Anstatt die Haare zu spalten und noch einmal zu spalten, binden wir sie lieber zusammen, damit sie unverworren besser wachsen, und anständiger das Haupt bedecken.
Woldemar lächelte, und behielt es sich vor, ein andermal zu antworten. Nur diese einzige Anmerkung müsse er sich auf der Stelle erlauben: daß jenes Meisterwerk Fergusons, worin die Sophistereyen, so wohl des Helvetius als Rousseau, so kräftig niedergeschlagen, und die erhabensten Grundsätze aufgestellt wären, doch bey weitem nicht den Beyfall in England gefunden, und dem Manne selbst den Ruhm und die Achtung verschafft hätte, womit andere Werke und Meister wären belohnt worden, nach deren Zwecken zu urtheilen, man sich des Argwohns nicht erwehren könnte, daß die edeln Britten sich mit dem Herzen doch mehr nach Helvetius als nach Fergusons Seite neigten, und es wenigstens vor der Hand als dringender ansähen, sich um Reichthümer, Macht und äußerliche Vortheile, als um jene Geisteserhabenheit zu bekümmern, welche die geringeren Sorgen abweise und unterdrücke.
Wie eben Woldemar gelächelt hatte, so lächelte nun Sidney.
Damit sie dennoch sehen, fuhr Woldemar fort, wie gern ich gerecht bin, so will ich dem philosophischen Geschmack Ihrer Nation darin den Preis vor allen andern zuerkennen, daß sich nie bey ihr die Meynung hat in Ansehn setzen können: Tugend habe an sich keinen Werth, sondern verdiene nur, als Mittel zu einer von ihr selbst verschiedenen Glückseligkeit, Achtung und Cultur. Selbst der Skeptiker Hume ist über diesen Punkt entscheidend, und behauptet mit Nachdruck die Unabhängigkeit des sittlichen Gefühls. Hiezu wird nun freylich weniger speculatives Talent, als nur kräftiger gesunder Sinn erfordert. Merkwürdig ist eine ganz entgegengesetzte Erscheinung bey Ihren Nachbaren, den Franzosen. So bald ihre Philosophie eigentliche bloße Philosophie wurde, und aufhörte zugleich den Volksglauben unterstützen zu wollen, wurde sie materialistisch, und verwarf immer mehr alles, was sich aus mechanischen Gesetzen nicht erklären, dem Verstande, wie sie sagten, nicht deutlich machen ließe. Wir Deutschen ...
Biderthal störte diese Unterredung, indem er Sidney aufrief, einen eben zwischen Caroline und Henriette entstandenen Streit über Englische Tracht zu schlichten. Seine Absicht war, das Gespräch auf irgend einen andern, seinem Schwiegervater weniger verhaßten Gegenstand, als jene, wie es dieser nannte, windige und grillenfängerische Tugendlehre zu leiten, die aus nichts käme, und zu nichts führte. Diese poetische Heilsordnung, pflegte er zu sagen, wäre Woldemars ganze Religion, und die wahre Ursache, warum er mit einem unerträglichen geistlichen Hochmuth über alles, was andern Menschen gut dünkte und gefiele, so eigen die Nase rümpfte.
Biderthals Absicht wurde nicht erreicht. Von der Mode kam man auf die Lebensart zu sprechen, von der Lebensart auf die Sitten, von den Sitten auf ihre Ursprünge und Veränderungen. Es entstand eine Reihe interessanter Fragen: über den Einfluß der Sitten auf die Meynungen, der Meynungen auf die Sitten; über beyder Verhältniß zu Tugend und Glückseligkeit. Man suchte zu entscheiden, worinn der ärgste Verfall der Sitten bestände. Man stritt über die Möglichkeit, einem ganz verdorbenen Volke wieder aufzuhelfen; über die Wahl und Zulässigkeit dazu dienlicher Mittel; über die Unvermeidlichkeit gewaltsamer Erschütterungen; über Heldengeist und Heldentugend.
Noch zwey Gäste waren unterdessen hereingetreten, Freunde der Familie, und von Woldemar sehr wohl gelitten. Sidney zog sich darauf mit Woldemar etwas zurück. Der Engländer hatte eine Stelle des Aristoteles angeführt, wo gesagt ist: »die Heldentugend sey etwas größeres und erhabeneres, als die gewöhnliche moralische Tugend; so wie die Wildheit etwas schlimmeres, als das Laster. Die moralische Tugend unterscheide den Menschen von den Thieren; aber auch von den Göttern: die Heldentugend mache ihn den Göttern ähnlich.« – Diese Gegensätze, meynte Sidney, gäben viel zu denken.
Beystimmend fügte Woldemar hinzu: Kein Philosoph hätte so tief wie Aristoteles eingesehen, daß sich menschliche Vortrefflichkeit oder Tugend nur aus ihrem Triebe herleiten, überhaupt auf keine andre Weise erkennen ließe, als wie wir unser Daseyn erkennen. Wo kein Trieb zur Tugend wäre, oder wo er unentwickelt bliebe, da fänden keine sittliche Handlungen statt, weder gute noch böse; da wäre lauter Thierheit. Dieß wäre der Zustand, den Aristoteles eine unnatürliche Wildheit und schlimmer als Laster nenne. Das Gegentheil dieser Brutalität bestände in einem höheren Verlangen, welches alle thierische Begierden sich unterwärfe, und in seiner Vollkommenheit den Menschen zu der Freiheit der Götter emporhöbe.
Sie erinnern mich, erwiederte Sidney, an eine sehr auffallende Vergleichung Fergusons zwischen Natur- und Sitten-Lehre. Er bemerkt: daß wie kein Volk je so dumm gewesen sey, nicht die ersten einfachen Gesetze der Bewegung, der Schwere und Elasticität, zu finden; keins so kunstlos, um nicht von diesen Gesetzen eine mannichfaltige Anwendung zum täglichen Gebrauch zu machen: so habe sich auch keines gefunden, welches nicht den Unterschied zwischen Rechtthun und Nichtrechtthun wahrgenommen, und diese Wahrnehmung in den entscheidendsten Ausdrücken von Achtung und Verachtung, von Lob und Tadel, zur Anwendung gebracht habe. Aus jenen ersten Beobachtungen sey eine wissenschaftliche Naturlehre; aus diesen eine wissenschaftliche Moral erwachsen. Jene bestimme die Gesetze der Bewegung mathematisch; diese die Gesetze der Achtung philosophisch. Beyde aber seyen darin wesentlich unterschieden, daß, was nach physisch-mathematischen Gesetzen ausgemacht erfolgen müsse, allemal auch wirklich erfolge; hingegen das, was nach philosophisch-sittlichen Gesetzen nothwendig erfolgen solle, nicht allemal erfolge: denn jene bezögen sich auf ein für allemal bestimmte Kräfte; diese auf eine Kraft, deren Wesen Selbstbestimmung wäre, und, in sittlicher Betrachtung, lauter Dinge der Wahl zum Gegenstande hätte.
Vortrefflich! antwortete Woldemar. Die Wissenschaft des Guten ist, wie die Wissenschaft des Schönen, der Bedingung des Geschmacks unterworfen, ohne den sie gar nicht angefangen, und über den sie nicht hinausgeführt werden kann. Der Geschmack am Guten wird, wie der Geschmack am Schönen, durch vortreffliche Muster ausgebildet; und die hohen Originale sind immer Werke des Genies. Durch das Genie giebt die Natur der Kunst die Regel; so wohl der Kunst des Guten, als des Schönen. Beyde sind freye Künste, und schmiegen sich nicht unter Zunftgesetze; lassen sich durchaus nicht zum Handwerke erniedrigen und in den Dienst des Gewerbes bringen. Darum finde ich den Aristoteles im höchsten Grade erhaben, wenn er sagt: »Gute, gerechte und große Handlungen sind diejenigen, welche so beschaffen sind, wie der gute, gerechte und große Mensch sie hervorbringt. Was gut ist, muß es durch des Dinges eigene Kraft seyn. Eine nützliche Handlung macht den, der sie verrichtet, nicht gut; sondern im Gegentheil, eine nützliche Handlung wird durch die Güte dessen, der sie ausübt, zu einer guten: das aber ist Tugend, was den Menschen, der es hat, und alles, was er thut, gut macht.« – Sie ist der eigenthümliche besondre Instinkt des Menschen, und wirkt, wie jeder Instinkt, vor der Erfahrung, und, will man es so nennen, blind. Das Thier strebt nach Speise, eh es weiß, daß sie sättiget, und daß die Stillung des Hungers mit einer Lust, dem Zeichen des erreichten Zwecks, verknüpft ist; der Mensch fühlt sich zu Handlungen des Wohlwollens, der Gerechtigkeit und Großmuth angetrieben, ohne irgend eine andere Absicht, als die Befriedigung dieses Triebes. Und so entschieden ist dieser Trieb Grundtrieb der menschlichen Natur, daß der Mensch nicht allein in der Befriedigung desselben seinen höchsten Genuß, sondern auch so entschieden die Bestimmung seines Daseyns fühlt, daß er denjenigen nicht werth hält ein Mensch zu heißen, der sein Leben mehr liebt, als diese Lust. Sogar in den edleren Thieren erscheint etwas diesem analoges. Freudig verläßt der Hund den Tisch seines Herrn ungesättigt, um ihm auf die Jagd zu folgen; das Pferd bäumt sich beym Schall der Trompete, reißt sich los von der Krippe, und wiehert der Schlacht entgegen. Was nur lebt, und Arbeit und Gefahren liebgewinnen kann, verachtet müßigen Genuß.
Mit schnellen Schritten gingen beyde Männer den Saal auf und nieder, und vergaßen immer mehr, daß sie ihn nicht allein einnahmen. Hornich saß zwischen Caroline und Luise, lauschte, und runzelte oft die Stirne. Dorenburg war verlegen, und wünschte mit Biderthal sehnlich, daß man zu Tische gehen möchte. Aber es konnte noch nicht aufgetragen werden; auch fehlte noch ein Gast, der Probst Alkam, den wir als Hornichs treuen Gefährten schon kennen.
Sidney antwortete Woldemarn: es wäre sonderbar, wie alle Menschen darin übereinstimmten, daß Glückseligkeit um ihrer selbst willen geliebt und gesucht werde; die wenigsten aber sich vorstellen könnten, daß es sich mit der Tugend eben so verhalte. Dennoch wollte niemand dafür angesehen seyn, daß er nur aus Furcht und Klugheit kein Betrüger, Dieb und Mörder sey; daß er ungern des Lasters sich enthalte. Niemand dafür, daß er überall von keinem Guten, von keiner freywilligen Tugend wisse; sondern nur von Lohn und Strafe. Jeder fühle unwiderstehlich, daß er an und für sich selbst etwas werth seyn müsse, wenn die Erde sich nicht weigern solle, ihn zu tragen; und daß etwas diesen Werth bestimme, was nur mit sich selbst verglichen werden könne, und, so unverglichen, dennoch als das Höchste, über alles Wünschenswürdige, erkannt seyn wolle. – Wie gesagt, dieses Gefühl sey unwiderstehlich; aber es habe an dem philosophirenden Verstande darum einen Widersacher, weil dieser höchst ungern eine Ueberzeugung, die er nicht verschaffe, gelten lasse. Dieß sey bey allem Unvergleichbaren, bey allem unmittelbar Gewissen, welches sich, ohne Beweise, allein durch sein Daseyn wahr mache, der Fall. Der philosophirende Verstand sey auf diese Autorität, dieses durch Unabhängigkeit über ihn erhabene Wissen und Entscheiden so eifersüchtig, daß er an keinem Orte es unangefochten lasse, es bis in unser innerstes Bewußtseyn verfolge, wo er uns das Gefühl unserer Identität und Personalität verdächtig zu machen suche. Wie sollte er denn willig einen nicht durch ihn gewordenen Geist der Tugend anerkennen; willig es ihm gelten lassen, daß er sey, ohne andres als sein eignes Zeugniß? – Sich standhaft an diesen reinen Geist zu halten, seinem einfachen unsichtbaren Wesen nie zu mißtrauen, erfordere ungemeine Kraft. Sie hätte Männern hie und da versagt, die sonst an Tugend groß gewesen wären. Timoleon, der Göttlichliebende, nachdem er seinen Bruder Timophanes, der ein blutdürstiger, unerbittlicher Tyrann geworden, mit unsäglichem Schmerz, den der erhabenste Muth überwand, dem Vaterlande aufgeopfert, wäre bald in die tiefste Schwermuth versunken, und hätte durch Entziehung der Speise sich selbst das Leben nehmen wollen, weil ihn die Lästerungen vieler seiner Mitbürger, und der Zorn seiner Mutter in seinem Gewissen irre gemacht und mit sich selbst entzweyt hätten. Man sehe hieraus, bemerke ganz vortrefflich Plutarch, wie zu großen und schönen Handlungen eine über alles Lob und allen Tadel erhabene innere Zuversicht und Festigkeit gehöre. Ohne diese Fassung könne nachherige Reue die besten Handlungen verunreinigen, und ihre Quelle im Gemüthe selbst verderben.
Alkam war hereingetreten, gerade da das Beyspiel von Timoleon angeführt wurde. Hornich winkte seinem Freunde, auf das was geredet würde zu merken. Eine Frage von Luise veranlaßte eine ausführliche Erzählung der Handlung Timoleons und seiner langen Schwermuth. Biderthal gab hierauf zu bedenken: ob Plutarchs unbedingter Tadel dieser Schwermuth oder Reue nicht selbst Tadel verdiene. Epaminondas würde sich ihn nicht erlaubt haben. Dieser hätte sich standhaft geweigert, an der Verschwörung seiner verbannten Mitbürger wider Thebens Tyrannen Theil zu nehmen, weil er es für unerlaubt gehalten hätte, ohne vorhergegangenen Richterspruch, eigenmächtig ihr Blut zu vergießen. Eben dieser Epaminondas, gewiß nicht minder Seelengroß und Göttlichliebend als Timoleon, hätte ein andermal für besser gehalten, sein Vaterland durch einen unwissenden Befehlshaber in die größte Gefahr gerathen zu lassen, als, außer dem Wege der Gesetze, der Bosheit derer, die, im Wege der Gesetze, diesen elenden Menschen an die Spitze des Kriegsheers gebracht hatten, worin Epaminondas selbst nur als gemeiner Bürger diente, den geringsten Widerstand zu thun. Diese Denkungsart gefiele ihm, sie fände überall sicheren gewiesenen Weg: Sein Mann wäre dieser Epaminondas.
Auch der meinige! erwiederte lebhaft Woldemar. Die Geschichte hat der Tugend kein größeres Muster, als Epaminondas, aufgestellt. Der von ihm selbst angegebene Grund, warum er nicht mit dem Degen in der Faust Thebens Tyrannen nächtlich überfallen wollte, war dieser: »das Blutvergießen, sagte er, wird sich nicht in den ihm vorgeschriebenen Schranken halten. Einem Pherecydes, einem Pelopidas traue ich es zu, daß sie nur diejenigen vertilgen werden, welche Urheber der Tyranney und verworfene Menschen sind; aber ein Eumolpidas und ein Samiadas, heftig erzürnte und gewaltsame Leute, werden die Dunkelheit der Nacht mißbrauchen, und nicht eher die Waffen niederlegen, und das Schwerdt in die Scheide stecken, bis sie die ganze Stadt mit Mord erfüllt, und viele der Vornehmsten und Besten aus dem Wege geräumt haben.« Der große Mann sann auf andere Mittel zu demselben Zweck, die zuverlässiger und edler wären. – Was den angeführten andern Zug betrifft, so war damals die Gefahr nicht so groß für das Vaterland selbst, als nur für das Heer, mit welchem sie Epaminondas theilte, und das er am Ende noch zu retten hoffen durfte, wie es ihm denn auch gelang. Anders entschloß er sich bey Leuktra, wo er, wider die Gesetze und den ausdrücklichen Befehl seiner Stadt, die Oberbefehlshaberstelle mit Pelopidas behielt, und nach den Gesetzen sich der Todesstrafe schuldig machte; die ihm auch vielleicht zu Theil geworden wäre, wenn nicht der erhabene Mann, vor seinen Richtern stehend, diese, indem er ihnen Recht gab, gezwungen hätte, über sich selbst zu lachen. Wahrlich er ist mein Mann, dieser Epaminondas; überall und über alles!
Nun trat endlich Hornich auf.
Sie haben Biderthalen trefflich und ganz nach meinem Wunsche geantwortet, sagte er zu Woldemar: wir sehen jetzt deutlich, an zwey auffallenden Beyspielen, einem gepriesenen und einem getadelten, wie, nach ihrer Tugendlehre, Zeit und Umstände die Moral verändern, und der vortreffliche Mann keine unveränderliche Grundsätze haben darf. Er schreibt sich seine Pflichten nach eigenem Gutfinden selbst vor; heute diese, morgen eine entgegengesetzte: wenn er sich nur immer selbst gefällt, so hat er gethan was er soll.
Allerdings, antwortete Woldemar, verändert der vortreffliche Mann – nicht eben seine Grundsätze, sondern wohl nur sein Verhalten nach diesen Grundsätzen, wie es Zeit und Umstände von ihm fordern; allerdings schreibt er seine Pflichten, nach eigenem Gutfinden, sich selbst vor, und muß oft, indem er immer nur dasselbe will, im äußerlichen von sich selbst verschieden scheinen; allerdings hat er alles gethan, was er soll, wenn er nur beständig, einig mit sich selbst, sich selbst gefallen kann. Handlungen, die nicht aus dem Gefühl der Pflicht unmittelbar und freywillig hervorgehen, die nicht auf dies Gefühl allein sich gründen, sind keine wahrhaft pflichtmäßige, keine wahrhaft gute und tugendhafte Handlungen. Alle Menschen kennen dieses Gefühl unter dem Namen des Gewissens, welches die einzige Quelle der Moral, der Ursprung aller Rechte, und der so unendlich verschiedenen gesetzlichen und sittlichen Formen und Einrichtungen ist, die bey der Menge das Gewissen vertreten sollen und nicht können. Selbst im Aeußerlichen vertreten sie es nur auf eine höchst kümmerliche unvollkommene Weise, und bedürfen einer beständigen Nachhülfe, wenn sie nicht, da sie nur ein nothwendiges Uebel, ja nur auf das Böse berechnet sind, schnell die Natur des Bösen an sich nehmen sollen. Wie könnte ihnen also das Gewissen unterworfen seyn, wie von ihnen seine Richtung nehmen, wie nicht sich über sie erheben dürfen? Dienliche Angewöhnungen durch Futter und Peitsche sind für das Thier; Freyheit, eigenes Urtheil, Selbstbestimmung ist der Charakter des Menschen; und es ist ihm besser, sogar dem Tieger und Löwen in der Wildniß, als dem Mast- und Last-Vieh im Stalle zu gleichen.
Alkam wollte eben das Wort nehmen, um Woldemar zu antworten, als Caroline herzutrat, um Sidneys Arm zu begehren, und mit der Gesellschaft in den anstoßenden Saal zur Tafel zu gehen. Sie war darauf bedacht, Woldemar so weit wie möglich von Sidney zu entfernen, damit, wie sie zuletzt ausdrücklich sich erklärte, beyde nicht die übrige Gesellschaft, auch bey Tische, und, zu Tische, ihre nächste Pflicht und den Zweck ihres Daseyns, zum größten Aergerniß der Wirthinn, vergäßen.
Eine gute Vorsicht! die aber, wie es vor Tische Biderthalen begegnet war, nur ein größeres Uebel nach sich zog. Die ganze Mahlzeit wurde philosophisch. Nicht durch Woldemars und Sidneys Schuld. Dieser hielt an sich; und jener, wie es zu geschehen pflegt, wenn man im Streit zu lebhaft geworden ist, hatte keine Lust ihn zu erneuern. Anders war Hornich gestimmt. Voll innerlichen Grimms über Woldemar, der noch keinmal mit dieser Kühnheit den ihm so theuren Buchstaben in Gesetzen, Sitten und Gebräuchen angegriffen, und das, was ihm das Heiligste, ja was allein ihm heilig war, so schnöde unter die Füße getreten hatte, suchte er durch beißende Sticheleyen, womit er sich hauptsächlich an den ihm gegenübersitzenden Probst wendete, sich Luft zu machen, und seinen Widersacher in Harnisch zu bringen. Sein Freund bot ihm zu dieser Absicht gern die Hand. Er hoffte, wenn er Woldemarn die Galle nur einmal erregt hätte, sie auch bald zum Ueberlaufen zu bringen. Dann wollte er von einer Uebertreibung ihn zur andern führen, durch verfängliche Fragen ihn verwirren, und von seiner Verlegenheit Gebrauch machen, um über ihn zu triumphiren. Wirklich ein sehr kluger Entwurf, wenn man eine Eingebung so nennen darf, welche frostige Seelen jedesmal im Kampfe mit begeisterten Freunden der Wahrheit empfangen.
Lange bemühten Alkam und Hornich sich vergebens; aber sie ließen nicht ab, und erreichten endlich ihren Zweck, Woldemarn zu erzürnen, durch jene unverschämte von Homer der Fliege zugeschriebene Tapferkeit.
Die Frage von der Tugend, ihrem Herkommen, und was sie gewähre und verlange, war erneuert, und durch tückische Erörterungen, noch mehr durch vorgebliche Erläuterungen aus Beyspielen und Lehren des Alterthums, ganz verschoben und entstellt worden. Der Probst zeigte viel Gelehrsamkeit, und sagte zuletzt: man laufe noch immer Gefahr einen widrigen Eindruck zu machen, wenn man sich zu der von vielen gründlichen Männern streng erwiesenen Wahrheit: daß die so hoch gepriesenen Tugenden der Alten nur glänzende Laster gewesen – geradezu bekenne: und doch führe eine bessere Philosophie, die zum Glück in unsern Tagen die Oberhand gewinne, zu derselben Ueberzeugung. Man fange an allgemein einzusehen, daß es eine schlechte Vorbereitung sey zu einem thätigen Leben nach den Bedürfnissen unserer Zeit, wenn man die jungen Köpfe mit übertriebenen, verworrenen und phantastischen Ideen vom Guten und Schönen, die sie aus den Alten schöpften, sich anfüllen lasse; anstatt ihnen gleich Anfangs von Tugend und Religion nur lauter deutliche Begriffe beyzubringen, die entblößt und unabhängig von Gefühl und Phantasie, überall Stich hielten, überall dieselbe Kraft bewiesen, und die unzuverlässige Beyhülfe des Herzens, als des Menschen unwürdig, der sich durch Vernunft allein bestimmen solle und bewegen könne, verachten lehrte. – Es folgte ein beredtes Lob der täglich zunehmenden Weisheit des Jahrhunderts; der unendlichen Vorzüge der Neueren vor der Alten; nicht allein in Absicht der Erkenntnisse, sondern auch der Anwendung alles Wahren und Guten zu einem zweckmäßigen Gebrauch. Wiederholte Aufforderungen an Woldemar, so oder anders zu zeugen, einzustimmen oder zu widersprechen, und dazu die begleitenden Accente und Partikeln des alten Hornich, brachten zuletzt ihn aus der Fassung.
Man hatte eben zum zweyten male aufgetragen. Unter den Gerichten zeichnete sich ein prächtiger Calecutscher Hahn besonders aus, und zog auffallend Alkams Blicke auf sich, der darum doch nicht in seiner Rede stockte, sondern nur ein Lächeln einmischte, welches, mit einem Blicke nach Caroline, dieser seine Bewunderung und seinen Beyfall überbrachte.
Herr Probst, sagte nun Woldemar: Ich weiß keinen Vogel, der weniger flöge, und mit seinen Flügeln mehr Geräusch machte auf der Erde, mehr prunkte mit allen seinen Federn, als dieser Vogel, den Sie eben bewundern. Es ist ein gravitätisches Thier, voll Selbstgefühl; und es weiß sich ein Ansehn zu geben, auch mit seiner Stimme. Dennoch mag ich diesen Vogel nicht. Mir ist die Nachtigall lieber – freylich nicht zum pflücken und braten; lieber die Schwalbe, lieber sogar der schädliche Spatz. Wenn ich unverständlich bin, so ist hier auf Ihre Aufforderungen und Fragen eine andre Antwort ohne Gleichniß.
Ich habe die Meynung, daß der Mensch nicht durch die Geschicklichkeit, sich mannigfaltigen Genuß zu verschaffen, sondern durch die Fertigkeit im Entsagen, durch Tapferkeit, Selbstständigkeit und Großmuth, achtungswürdig wird. Mir also ist der ein verächtlicher Mensch, und das ein verächtliches Volk und Jahrhundert, daß nur um Gutes zu empfangen, Gutes thun will, das nur Genuß sucht, und an keine Tugend – das allein an Wucher glaubt. Ich sehe vor mir ein scheusliches todtes Meer, und keinen Geist, der es bewegen, erwärmen, neu beleben könnte: darum wünsche ich eine Fluch, irgend Eine, sey es von Barbaren, die den häßlichen Pfuhl wegschwemme, stürmend seine Stelle ausfege, und uns nur rohes frisches Erdreich einmal wiedergebe.
Hornich vergaß vor Schrecken über den Schluß dieser Rede, daß ihn der Eifer, worin Woldemar gerathen war, erfreuen sollte. Die Haare stiegen ihm zu Berge. – Alkam genoß! Er glaubte seinen Fang zu halten, wollte ihn umspinnen.
Er fragte Woldemar: Zu welchen Früchten er das neue Erdreich, wenn er es nun hätte, urbar machen wollte; wünschte genauer zu erfahren: was sein Gegner für die wahre, erste und letzte, Absicht der bürgerlichen Gesellschaft; oder, kürzer und bester: was er überhaupt für die Bestimmung des Menschen und seinen größten Ruhm auf dieser Erde hielt?
Hierüber, antwortete Woldemar, der sich wieder gefaßt hatte, bin ich mit Euer Hochwürden gewiß vollkommen einerley Meynung. Ich glaube mit Ihnen und jedem ächten Theologen, daß der Zweck des Menschen, Gottes Ehre ist. Zur Ehre Gottes und nach seinem Bilde ist der Mensch erschaffen; zur Ehre Gottes und nach seinem Bilde soll er leben: das ist seine Bestimmung, sein höchster Ruhm; das soll überall sein Erstes und sein Letztes seyn.
Wohl, erwiederte mit andächtiger Gebärde der Probst; sehr wohl! wir sollten alles, was wir thun, zu Gottes Ehre thun; das heißt, überall seiner Güte eingedenk seyn, und sie nachahmen; denn durch lauter Wohlthun beweist sich Gott als den Regierer der Welt.
Dieser Meynung bin ich nicht, sagte Woldemar; ich sehe Wehthun und Wohlthun hier auf eine Weise wechseln und walten, die mich nicht weniger, als ehemals den Prediger Salomo, verlegen macht. Aber in meinem Gewissen werde ich einen Regierer der Welt nach höheren Gesetzen, einen heiligen verborgenen Gott; und zu diesem hohen Unsichtbaren und zu seinem Gesetz, im Innersten meines Wesens eine Liebe gewahr, die sich selbst genügt, alles andere Interesse unter sich bringt, und eine Zuversicht zu ihrem Gegenstande mit sich führt, die über alle Zweifel sich erhebt.
Sir! rief Sidney, Sie werden feyerlich; Sie reden wie ein Bischof: vollkommen wie der ehrwürdige Bischof von Durham, Joseph Butler! Ihre Hochwürden hier, haben wahrscheinlich das Buch des großen Mannes gelesen; wenigstens erinnere ich mich in der Vorrede zu einer der englischen Ausgaben gesunden zu haben, daß eine gute deutsche Uebersetzung davon schon im Jahre sechsundfunfzig vorhanden war.
Alkam erwiederte trocken, daß er das Buch nicht kenne.
Es verdient, daß Sie es kennen lernen, sagte lebhaft Sidney! – Auch Woldemar müsse es lesen; denn Butler sey ein Vorläufer Fergusons, und noch viel mehr als das, in allem dem gewesen, was Woldemarn diesen so werth machte.
Butler, fuhr er fort, war der erste unter den neuern Moralisten, der das Vermögen des Menschen, eigne und fremde Handlungen, innerlich und in sich selbst betrachtet, ohne Rücksicht auf ihre äußerlichen Wirkungen, auf ihre wohlthätigen oder verderblichen Folgen, zu billigen oder zu mißbilligen, wieder ganz ins Licht gestellt, und den Beweis erneuert hat, daß in diesem Vermögen der wahre Charakter der Menschheit besteht. Er erinnerte: wie selbst Hobbes bemerkt hätte, daß es dem Menschen, und ihm allein, eigen sey, zwischen Unrecht und bloßer Beschädigung zu unterscheiden, und jenes ganz anders wie dieses zu empfinden; ganz anders eine verschuldete Strafe, als eine unverdiente Kränkung. Doch wären noch viele geneigt, aus dem bloßen Wohlgefallen oder Widerwillen, welche die Vorstellung dessen in uns erregt, was zur eigenen oder fremden Glückseligkeit dient, eigenes oder fremdes Elend bewirkt, die moralische Billigung oder Mißbilligung herzuleiten. Sie erwögen nicht, wollten nicht erwägen, wie moralische Billigung und Mißbilligung sich nie auf vorhandenen und nicht vorhandenen Genuß, sondern immer und einzig nur auf menschliches Betragen; nie auf diesen oder jenen Zustand, sondern allemal nur auf das thätige Verhalten in jedem Zustande sich bezögen.
Schärfer den Probst ins Auge fassend, und ganz zu ihm hingewendet, setzte Sidney hinzu:
Euer Hochwürden werden eine große Zufriedenheit empfinden, wenn Sie zumal den Gebrauch sehen, den der Bischof von diesen Wahrheiten macht, um den Geist des Menschen zu würdigen Begriffen von Gott und seiner Regierung zu erheben. Er bereitet sich den Weg dazu, indem er den Versuch gewisser Männer beleuchtet: die Pflichten, nicht aus einer unmittelbaren Vorschrift des Gewissens, sondern nur mittelbar, aus unserem Verlangen nach Glückseligkeit herzuleiten – »Wenn »uns,« sagt er, »nur unsere Glückseligkeit obliegt, »und der Mensch sich selbst und Gott dadurch allein »gefällt, daß er für sein Wohlergehen recht »zu sorgen, und sich mit seinem Mitmenschen über »diese gemeine Angelegenheit gehörig zu verstehen »weiß; so giebt es keine eigentliche Moral mehr; »weder eine philosophische, noch theologische. Jeder »Mensch darf alsdann, um sich selbst ein größeres Gut zu verschaffen, dem Mitmenschen ein »geringeres Uebel, mit dem besten Gewissen, zufügen. »Treulosigkeit, Raub und Betrug, Völlerey »und Unzucht werden nur darum Laster seyn »und heißen, weil sie uns selbst oder andern schaden. »Um den Zustand der Menschen zu verbessern, »dem Wohl ein bedeutendes Uebergewicht »über das Weh zu verschaffen, werden Verrätherey, »Meyneid, Meuchelmord, das schrecklichste »Blutvergießen, alle Gräuel – nicht allein erlaubt, »sondern Pflicht und Tugend seyn. Dahin »führt offenbar die Meynung, daß das Wohl »des einzelnen Menschen, und das Beste der Gesellschaft, »einziges Princip der Sittlichkeit; so »wie uneingeschränkte Güte – der Charakter, das »eigentliche Wesen Gottes, und die Wurzel »seiner Gerechtigkeit, Wahrheit und Weisheit sey. »Die angezeigten Folgen dieser Lehre müssen jedes »Menschen Herz empören. Weg! ruft das Gewissen »laut; weg, weg mit eurer Weisheit! – »Und dieses Rufen ist Stimme der Gottheit; es »ist Offenbarung ihres Charakters in der menschlichen »Seele. – In der ganzen uns sichtbaren »Schöpfung ist es auffallend genug, daß ihr Zweck »in Ansehung des Menschen nicht bloßes Wohlseyn; »sondern die Erhebung seines Geistes zu » göttlichen Gedanken ist. Dahin weiset »alles; daher wird allem eine höhere Deutung. »– Gottes Absichten in ihrem unendlichen Umfange, »der Plan und die Gesetze seiner großen »Regierung, sind uns, wie sein Wesen, tief verborgen. »Aber er läßt uns, was wir brauchen, »davon ahnden. Wo wir Hinschauen, erblicken »wir einen bildenden Geist, der sich das Gestaltlose »unterwirft, Leben erwecket, und es mit der »Kraft sich zu erhalten ausstattet. So unterwirft »auch absichtvolle Vernunft sich überall, was ohne »Absicht wirkt, und bringt ihre höhere Natur ans »Licht. Niedrige Neigungen und Triebe verbergen »sich vor den edlen, und können nie, wie »viel Gewalt sie auch an sich reissen, die Tugend »um ihr Ansehen, um ihr Gewicht, um ihren, im »Ganzen überwiegenden Einfluß bringen. Nichts »kann die Stimme der Natur in unserem Innern, »die eigene Stimme unseres Herzens unterdrücken, »die es für wünschenswürdiger erklärt, gut und » edel, als glücklich zu seyn. So hat Gott »unser Herz bereitet, und in ihm seine Wege uns »gezeigt. Es kann von ihm kein Wohlthun kommen, »das nicht Ergiessung wäre seiner eigenen »Seligkeit. Der Unheilige der mit seinem Genuß »ihn preisen, diesen Genuß zu Gottes Ehre machen »will, der lästert Gott. Die Morgengabe »der Tugend, dem der diese Tochter Gottes ohne »Mitgift wählte; diese Gabe allein, und keine »andre Wohlthat kommt unmittelbar aus der » nie gleichgültigen Hand des Hocherhabenen, »des Heiligen.«
Während Sidneys Rede waren Alkams Augen immer finsterer, Woldemars Augen immer glänzender geworden: sein Angesicht strahlte. Sehnsuchtsvoll fragte er nach dem Titel des Buchs.
» Analogie zwischen der natürlichen und der geoffenbarten Religion,« antwortete Sidney. The Analogy of Religion natural and revealed, to the constitntion and course of nature, by Joseph Butler. Im Jahre 1785 ist zu London die siebente Auflage erschienen. Der Titel der deutschen Uebersetzung, von Spalding, ist: D. Joseph Butlers Bestätigung der natürlichen und geoffenbarten Religion, aus ihrer Gleichförmigkeit mit der Einrichtung und dem ordentlichen Lauf der Natur. Leipzig 1756. Wir Deutschen haben an dieser Einen Auflage mehr als genug gehabt.
Jetzt verwandelte sich Alkams Miene. Er zog den Mund zum Lächeln, und mit einem bedeutenden Kopfnicken: Ja, Ja! sagte er; diese Analogie ist ohne Zweifel so beschaffen, daß man der geoffenbarten Religion entbehren kann.
Herr Probst! fuhr Woldemar auf: Die unentbehrlichste ist ohne Zweifel diejenige, ohne welche von der andern keine Rede seyn könnte. Welche äußerliche Wunder, und welche Predigt wird einen Yahoo dahin bringen – dieses Völkchen kennen Sie doch wohl! – daß er lerne, Gott über alles, und seinen Nächsten als sich selbst lieben; dahin, daß er zu dem Begriff eines heiligen allerhöchsten Wesens, und seiner Forderungen an ihn gelange? Wen sein eigenes Herz über Gutes und Böses nicht unmittelbar belehrt, den kann weder göttlicher noch menschlicher Unterricht bessern, Musik giebt keine Ohren, und Mahlerey keine Augen; sondern im Gegentheil: mit dem Ohre wird Musik, mit dem Auge Mahlerey erzeugt; beydes liegt in ihnen, so wie der Ton in jenem Bilde Memnons lag, womit es alle Morgen den ersten Strahl der Sonne begrüßte.
Alkam erwiederte nicht gleich; und Caroline benutzte den Augenblick, rückte mit dem Stuhl, und die Gesellschaft stand auf, und begab sich in den anstoßenden Saal.
Hornich hatte Zeit gehabt sich zu erholen. Er weidete sich an Woldemars Aerger, und wollte darum nicht, daß die Unterredung abgebrochen seyn sollte. Also wendete er sich zu ihm, und sagte: – Keine Raisonnements und keine Gleichnisse können unwahr machen, was die tägliche Erfahrung jedermann als ausgemacht vor Augen stellt. Sich selbst und andern etwas weiß zu machen, mag eine ganz angenehme Sache seyn, und seine Vortheile haben; ich aber bin dafür, daß man die Augen aufthue, und sich nichts weiß machen lasse. So soll mir niemand weiß machen, daß nicht das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens von Jugend auf böse sey. Wir haben kein Gewissen, so lange uns, durch Gebote und Verbote, keins gemacht wird. Wo man die Menschen nicht anders lehrt, da fressen sie einander auf. Der beste Zeitvertreib der Kinder ist, Fliegen zu fangen, um ihnen Flügel und Beine auszurupfen; sie haben keine Lust, wenn sie nicht zerbrechen, zerstören, plagen, Unheil anrichten können. Erwachsene drängen sich zu den Gerichtplätzen, und das gräßlichste Schauspiel zieht allemal die größte Menge an. Die bessere Gesellschaft, schöne Geister und Philosophen an der Spitze, versammlen sich vor der Bühne, um sich, im Lustspiele durch Spott zu kitzeln, und im Trauerspiel das Gefühl ihres Wohlseyns, durch die Vorstellung fremder Leiden zu erhöhen; in beyden Fällen, um sich auf sich selbst etwas zu gute zu thun. Von Natur sucht der Mensch überall und in allen Dingen nur sich selbst. Durch welche Mittel er den Meister spiele, ist ihm gleichgültig; wenn er ihn nur spielt! Raub, Verrätherey, Betrug und Mord, alles ist ihm lieb, und macht ihm wohl, wenn er nur Gewalt damit erhält: Unabhängigkeit von allen Pflichten ist sein höchster Wunsch.
Mit einer Gelassenheit, die Hornich in Verwirrung setzte, erwiederte Woldemar: Sie sahen vorgestern mit Ihren Kindern König Lear aufführen. Gewiß gingen Sie nicht hin, um bloße Schadenfreude zu empfinden: um sich nur an dem Gedanken zu weiden, daß Sie nicht Lear, nicht Gloster, und nicht Kent wären. Sie wollen mich in Versuchung führen, mein lieber Herr Hornich. Ich soll es mir sauer werden lassen, Ihre Einwürfe zu zergliedern; oder, gutmüthig, die genug bekannten Antworten darauf hersagen, damit ich, beschämt, am Ende höre und es recht empfinde, wie Sie mich nur zum Besten haben, und zum Besten geben wollten. Für diesmal entgehe ich Ihrer Züchtigung.
In Wahrheit, sagte Hornich, das hätte ich doch nicht gedacht, daß Sie glaubten, man könne: daß Welt und Mensch im Argen liegen, nur im Scherz behaupten!
Mit diesen Worten wollte er abbrechen und sich weg begeben. Woldemar ließ ihn nicht. Der tückische Vorwurf des Alten war ihm tief ins Herz gedrungen.
Wir haben nicht ausgeredet, sagte Woldemar zu ihm. Ich verstehe Sie nun, und will Ernst mit Ernst erwiedern.
Daß Welt und Mensch im Argen liegen, weiß ich; aber ich weiß auch, daß der Mensch nicht der Arge selbst ist. Das müßte er seyn, wenn Sie Recht haben sollten; müßte wenigstens Satans Bild angenommen haben, und ihn allein von ganzem Herzen ehren und anbeten können. Lieber keinen Gott, als mit ihm einen Teufel, der ihm so den Vortheil abgewonnen hätte; der ihm Meister geworden wäre!
Biderthal, den der Eifer seines Bruders erschreckte, trat dazwischen, und wollte mildern. Das verschlimmerte die Sache. – Lästre du nicht auch, sagte Woldemar zu ihm, und heiße mich Gott und Menschen hassen! Reiche mir lieber einen Strick! Bin ich ein Yahoo; dann nur gleich den Strick um den Hals des Scheusals, und hier an dieser Thürangel soll es schweben.
Mit diesen Worten wendete er sich weg von Hornich; ergriff Sidneys Hand, und sagte mit bebender Stimme: Ich habe Milch gesogen aus der Brust einer Mutter: Ich hatte nichts als Geschrey; hatte weder Schönheit, noch irgend eine Gabe; konnte für alle ihre Sorge und Mühe ihr nichts wieder geben, nicht einmal Dank, nicht einmal Liebe. Mein ganzes Vermögen war allein in ihrem Herzen; ich war hülfsbedürftig und erregte Mitleiden; erregte in ihr eine Lust zu helfen, die der stärkste ihrer Triebe wurde.
Entzündet sie sich etwa nur im Mutterherzen, diese Lust zu helfen? Ist sie allen andern Herzen fremd? Fremd dem Menschen, der in allen seinen Sprachen, jedes Erbarmen Menschlichkeit genannt hat, und es wie sein Daseyn fühlt, daß Gerechtigkeit und Großmuth die eigenthümlichen Kräfte seiner Natur, Tugend sein höchstes Gut, die Quelle und die Speise seines Lebens ist? ...
Hornich mischte sich nicht weiter ins Gespräch, und entfernte sich aus der Gesellschaft, so bald es mit Anständigkeit geschehen konnte. Hut und Stock in der Hand trat er zu Biderthal, und sagte freundlich zu ihm: Sie sind mir ein sehr lieber Schwiegersohn, und ich freue mich immer, daß meine Luise die Ihrige geworden ist. Aber nehmen Sie es mir nicht übel: das haben Sie nicht gut gemacht, daß Sie Ihren Herrn Bruder zu uns brachten. Bey Henriette muß ich davon schweigen, und es in mich fressen; aber Ihnen, ob Sie gleich sein Bruder sind, sage ichs einmal vom Herzen weg, und es ist gut, daß Sie es wissen: Wenn ich noch zwanzig Töchter hätte, so wollte ich sie lieber alle zwanzig auf den Kirchhof begleiten, als nur eine davon zur Trauung mit diesem vortrefflichen Manne an den Altar. Damit ging er schnell zur Thüre hinaus.
Alkam folgte ihm an der Ferse.
Biderthal war auf seinen Bruder ernstlich böse, und machte ihm, nachdem auch die anderen Gäste sich entfernt hatten, Vorwürfe über seine Unbesonnenheit und Hitze. Er behauptete, Hornich hätte weniger gefehlt als Woldemar, der zuerst übertrieben, und sich nicht allein die seltsamsten Aeußerungen erlaubt, sondern sie auch auf die anstößigste und härtest Weise vorgetragen, recht mit Fleiß überall seine verkehrte Seite ausgewendet hätte.
Ich hoffe, antwortete Woldemar, was Du gezeigt hast, ist weder deine rechte, noch deine verkehrte Seite. Hast du nur geheuchelt, um das, was ich verdarb, wieder gut zu machen; so bist du zwar nicht um allen Dank, aber doch um deinen eigentlichen Zweck betrogen.
Bilderthal wollte nicht zugeben, daß er geheuchelt hätte: Aus wahrer Ueberzeugung habe er widersprochen, und er wolle es beweisen. Gut! sagte Woldemar; so bringe deine Klage gegen mich ins Reine, und trage sie uns deutlich vor.
Biderthal hub an, und beschuldigte, unter Henriettens Beystand, seinen Bruder: er sey mit sich selbst in Widerspruch gerathen, indem er jenem kühnen Heldengeiste, der sich über Gesetze und gemeine Moral erhöbe, um eine neue Ordnung der Dinge hervorzubringen, zuerst das Wort geredet; hernach aber, mit Sidney dem Bischof von Durham darin beygestimmt hätte, daß unter keiner Bedingung irgend ein Mensch sich heraus nehmen dürfe, die Gesetze der Gerechtigkeit und Wahrheit zu übertreten, und Böses zu thun, damit Gutes daraus entstehe; denn Gott habe uns von seiner Regierung nur diese Gesetze geoffenbart, und uns im Gewissen die Versicherung gegeben, daß wir einstimmig mit ihm handeln, und seinen ganzen Auftrag erfüllen, wenn wir, ohne unsern Dünkel einzumischen, nur strenge diesen Gesetzen gemäß leben: Sie verletzen heiße in die göttliche Regierung eingreifen und ihre Irrthümer verbessern wollen, welches die größte Verwegenheit sey.
Woldemar bat, seiner Behauptungen sich nur recht genau und im Zusammenhange zu erinnern. Er habe gesagt: das Verderbniß eines Zeitalters könne so groß seyn, daß eine gänzliche Verwandlung nothwendig werde, die denn auch allemal, etwas früher oder später, mit heftigen Erschütterungen, und auf eine mehr oder minder gewaltsame Weise, erfolge. Was unter solchen Umständen, wo die Laster gleichsam miteinander in einen bürgerlichen Krieg geriethen, sich Heldenmuth erlauben dürfe, könne nur auf der Stelle, unmittelbar durch Geist und Gewissen, entschieden werden. Große und weise Männer hätten zu allen Zeiten behauptet, daß es Fälle gäbe, wo die heiligen Bildnisse der Gerechtigkeit und Milde auf einen Augenblick verhüllt werden müßten. Die Moral selbst unterwürfe sich alsdann einer vorübergehenden Hemmung ihrer Gesetze, damit ihre Principien erhalten würden. Ganz derselben Ausdrücke bedient sich Edmund Burke in folgender Stelle seiner Reflections on the revolution in France p. 199. Had your nobility and gentry, who formed the great body of your landed men, and the whole of your military officers, resembled those of Germany, at the period when the Hanse-towns were necessitated to confederate against the nobles in defence of their property – had they been like the Orsini and Vitelli in Italy, who used to sally from their fortified dens to rob the trader and traveller – had they been such as the Mamalukes in Egypt, or the Nayrs on the coast of Malabar, I do admit, that too critical an enquiry might not be adviseable into the means of freeing the world from such a nuisance. The statues of Equity and Mercy might be veiled for a moment. The tenderest minds, confounded with the dreadful exigence in which morality submits to the suspension of its own rules in favour of its own principles, might turn aside whilst fraud and violence were accomplishing the destruction of a pretended nobility which disgraced whilst it persecuted human nature. The persons most abhorrent from blood, and treason, and arbitrary confiscation, might remain silent spectators of this civil war between the vices. – S. die Deutsche Uebersetzung v. F. Genz. S. 215.
Für solche Ausnahmen, solche Licenzen hoher Poesie, hätte die Grammatik der Tugend keine bestimmte Regel, und erwähnte ihrer darum nicht. Keine Grammatik, am wenigsten eine philosophisch allgemeine, könnte alles, was zu einer lebendigen Sprache gehöre, in sich fassen, und, wie zu jeder Zeit sich jede Mundart bilden müsse, lehren. Es würde unsinnig seyn, darum zu läugnen, daß es unveränderliche Gesetze der Verknüpfung menschlicher Begriffe und ihrer Bezeichnung gebe; unsinnig, darum zu behaupten, es dürfe jeder nur reden, wie es ihm gefiele.
Woldemar wendete sich hierauf an Henriette ins besondere, um sie mit den Worten eines Schriftstellers, der bei ihr im größten Ansehn stand, zu strafen.
Ich hätte nicht erwartet, sagte er zu ihr, daß Sie Parthey wider mich in einem Streite nehmen würden, wo Ihr Hemsterhuis mich mehr als deckt. Seine Behauptungen sind ohne alle Vergleichung kühner, als die meinigen. Erinnern Sie sich der Stelle, wo er sagt: ›die Vollkommenheit des moralischen Gefühls sey in allen Menschen verschieden; darum gebe es keine zwey Menschen auf der Welt, deren Pflichten im eigentlichen Verstande nicht verschieden wären. Verschieden, nicht in Absicht der zufälligen mechanischen Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft, sondern der natürlichen und ewigen. Es gäbe Menschen von so zartem sittlichen Gefühl, Menschen, deren Gewissen so entfernte Verhältnisse wahrnähme, daß sie, so zu sagen, unfähig wären, Glieder der gegenwärtigen Gesellschaft zu seyn ... Brutus, da er den Cäsar umgebracht, hätte ein Verbrechen wider das Volk, vielleicht wider die Gesellschaft begangen; aber in Brutus Seele wäre diese Handlung ohne Zweifel den ewigen Gesetzen des Guten gemäß gewesen ... Die größte Weißheit, wozu ein Mensch gelangen könnte, bestände darin, daß er alle seine Handlungen und Gedanken mit seinem moralischen Gefühl in Uebereinstimmung brächte, ohne sich um menschliche Einrichtungen und fremde Meynungen zu bekümmern.‹
Henriette antwortete: Es thäte ihr weh; aber sie müßte diesmal Hemsterhuis im Stiche lassen. Ihr graute vor den Folgen solcher Lehren. Was sie wahres enthielten, könnte so leicht mißverstanden, so schrecklich mißbraucht werden!
Was gar nicht mißverstanden werden kann, antwortete Woldemar, hat wenig Sinn; und was nicht mißbraucht werden kann, wenig Kraft zum Gebrauch. Ich theile die Menschen, die einigermaßen nach Grundsätzen handeln, in zwey Classen: Die Einen übertreiben die Furcht; die Andern Muth und Hoffnung. Jene, die Bedächtigen, lassen nichts auf sich, aber auch wenig an sich kommen; sind überall verzagt; scheuen die Wahrheit, weil sie mißverstanden werden kann; scheuen große Eigenschaften, hohe Tugend, wegen möglicher Verirrung im Gebrauch. Immer haben sie das Uebel nur im Auge. – Diese, die Kühnen, ich möchte sie die Unbesonnenen in Platos Sinne heißen, nehmen es weniger genau; sind nicht so ekel und so bange, vertrauen dem Wort in ihrem Herzen mehr, als irgend einem äußerlichen Wort; bauen mehr auf Tugenden, als auf die Tugend – die gewöhnlich etwas lange auf sich warten läßt. Wohl einmal übermüthig oder trotzig, fragen sie mit Young: » Ist denn die Vernunft allein getauft, und sind die Leidenschaften Heiden?« – Da ich mich zu einer dieser beyden Zünfte, meiner Eintheilung zu folge, halten muß; so wähle ich die letzte.
Biderthal nahm jetzt das Wort, und fragte seinen Bruder: ob er nicht bey allem dem Bedenken tragen würde, diese Predigt von den Dächern zu halten? Ob er nicht gestehen müßte, daß die Verbreitung solcher Lehren, gesetzt auch, was unmöglich wäre, daß man sie nicht mißverstände, von den verderblichsten Folgen seyn würde?
Keinesweges! antwortete Woldemar. Den Gebrauch des Gewissens abzuschaffen ist allein verderblich; und dahin geht, minder oder mehr, in längeren oder kürzeren Umwegen, alles auf Sittlichkeit sich beziehende Positive, das sich auf eigenes Urtheil und Gewissen nicht verlassen will und darf, und sich am Ende doch allein darauf verlassen muß. Der Buchstabe der Vernunft, der Religion, der bürgerlichen- und Staats-Gesetze, sind einer wie der andre; vermögen alle gleich wenig. Kein Mensch hat je einem Gesetz, blos als Gesetz, gehorcht; sondern immer nur der Gewalt, von der es ausging, und die es begleitete; immer nur dem Nachdruck, den ihm Trieb, Neigung und Gewohnheit gaben. Was gut ist, sagt dem Menschen unmittelbar und allein sein Herz; kann allein sein Herz, sein Trieb unmittelbar ihm sagen: es zu lieben ist sein Leben. Das Dienliche zum Guten, lehrt ihn der überlegende Verstand erkennen und gebrauchen. Gewohnheit macht erworbene Weisheit ihm zu eigen, erhält sie ihm, giebt ihm Beständigkeit. »Bestimme Dich für das Beste, sagt Pythagoras, und Uebung wird es dir bald zum Angenehmsten machen.«
Aber, wie ich schon vorhin zu Alkam sagte: Passive Angewöhnungen erziehen den Menschen blos zum nützlichen Hausthier. Active, wenn er sich freywillig entschließt, tugendhafte Fertigkeiten zu erwerben, sind die eigentlichen Mittel der Entwickelung seiner höheren Natur.
Der Mensch kann sich also nie zu sehr wider solche Gewohnheiten des Denkens, Empfindens und Handelns sträuben und verwahren, die sich seinem Geiste, nur um ihn zu unterdrücken, anhängen wollen: denn die Macht der Gewohnheit ist unermeßlich; ist eine zweyte stärkere Natur.
Im Gegentheil kann er nie zu eifrig sich bemühen, auf dem Pfade freyer Wahl und eigenes Entschlusses ein Ziel der Freyheit und der Freude zu erreichen, wovon alle Heerstraßen blos automatischer Richtigkeit des Denkens und Verhaltens immer weiter den bequemen Wanderer entfernen. Hier ist der Fall, mit Homers Achill auszurufen: »Lieber ein Bettler unter den Lebendigen, als ein König unter den Schatten!«
Biderthal wollte antworten.
Ich bitte, rief Woldemar: Noch ein Wort!
In Platos Gorgias erzählt am Schlusse Socrates: es wären ehmals die Menschen an ihrem Todestage, noch lebendig, von lebendigen Richtern gerichtet worden. Da wären viele ungerechte Sprüche geschehen. Zeus hätte gefunden, es rührten diese ungerechten Sprüche davon her, daß die vor Gericht gezogenen und die Richter selbst, als Lebendige, noch bekleidet und von so vielen Dingen umgeben wären, vornehmlich auch von Zeugen, günstigen und ungünstigen, die sich einmischten und das Urtheil zu verändern suchten. Darum hätte er verordnet, daß die Menschen künftig erst nach dem Tode, und von allem was im Leben sie umgab entblößt, gerichtet werden sollten; und zwar von abgeschiedenen und eben so entblößten Richtern. Die Gestalt allein der Seele wäre nun erschienen; die Seele allein des Richters hätte sie geprüft: seitdem wäre nie wieder ein ungerechter Spruch geschehen.
Ich schlage vor, setzte Woldemar hinzu, diese Weisheit nachzuahmen, und den Spruch, der heute noch geschehen sollte, auf morgen zu verschieben: wir alle werden ruhiger und unpartheyischer seyn; geschickter, nur die Sache, die wir vor uns haben, zu betrachten und zu prüfen. Hierauf bat er die Gesellschaft auf den folgenden Abend zu sich. Alle versprachen mit großer Freude zu kommen.
Jetzt erzählte Woldemar noch seinen Freunden, wie er einmal bis zur Schwermuth tiefsinnig über die Frage geworden: Was der menschliche Geist, bey dem Streben nach Tugend, eigentlich anstrebe? Was er, indem er wahrhaft und allein auf diesen Gegenstand gerichtet sey, wahrhaft und allein im Auge habe?
Zu verschiedenen Zeiten wurden so verschiedene, oft entgegengesetzte Dinge, für die wahren und einzigen Gegenstände dieses Triebes angenommen; und wie die Meynungen der Menschen hierüber von einander abwichen, eben so wichen auch ihre Meynungen über Glückseligkeit von einander ab.
Lauter Schatten! – Fließende, verwirrende Gestalten! ... Bilder? – Wo das Urbild?
War das Urbild unerforschlich: wie konnte je die Einsicht des Guten zuverläßig werden? Wie konnte der Wille des Guten nur sich selbst erkennen, sich selbst verstehen, bey sich bleiben, und ein unveränderlicher Wille werden?
Oder war vielleicht dieser Wille nur die unmittelbare Folge des an allgemeine Begriffe und Bilder geknüpften persönlichen Bewußtseyns; nur der allen Naturen wesentliche Trieb der Selbsterhaltung in rein vernünftiger Gestalt? – Dann hatte er keinen Gegenstand, als seine eigene Thätigkeit; und aller Tugenden Urbild und Quelle war die bloße rein- und leere Form des Daseyns im Gedanken: Persönlichkeit ohne Person und Personen-Unterschied.
Also lag der ganze Zauber nur in einer Täuschung durch Begriff und Wort; und so wie diese Täuschung aufgehoben wurde, kam das trostlose Geheimniß eines bloßen Zusammenspinnens von Daseyn und Daseyn, einzig und allein um da zu seyn, zum Vorschein.
Mir graute, sagte Woldemar, vor der Finsterniß und Leere, die in mir und um mich entstand. Aengstlich streckte ich beyde Arme aus, ob ich nicht Etwas noch ergreifen könnte, das mir ein Gefühl von Wirklichkeit und Wesen wiedergäbe. Und mir geschah, wie in Büffons schöner Dichtung dem Ersten Menschen, da er, vom Schlummer überwältigt, gefürchtet hatte, nur ein zufälliges vorübergehendes Bewußtseyn, kein eigenes Leben zu besitzen – dann, beym Erwachen, doppelt sich wiederfand – staunend ausrief: Ich! – Entzückter ausrief: Mehr als ich! – Besser als ich! ... Dahin ströme all mein Leben!
Eine Heldenschaar im Feyerkleide der Unsterblichkeit – Agis und Kleomenes – und in ewiger Schönheit die erhabenen Begleiter und Begleiterinnen ihres Lebens und ihres edleren Todes – Sie erschienen mir: Und wie verwandelt erwachte ich aus meinem schweren Traum. Mir war, als erführe ich dies alles jetzt zum erstenmal; als hätte nicht Erinnerung meine Hand zu diesem Theile des Plutarch geleitet. Ich hatte nie dabey empfunden, was ich jetzt im auffallendsten Contrast empfand: daher wurde mir alles so neu. Ich fühlte, daß die Betäubung, aus der ich erwacht war, wenn sie mich auch wieder überfallen sollte, niemals wieder als ein Todesschlummer mich erschrecken würde: » Ich hatte zu innig jetzt empfunden, daß ich war, um noch einmal zu fürchten, daß ich aufhören könnte zu seyn.« – – – J'existois trop pour craindre de cesser d'être. Buffon. Hist. Nat. T. III. p. 370. Ed. in 4. de Paris.
In der Freude seines Herzens, und zum Andenken an diesen merkwürdigen Zeitpunkt seines Lebens, hatte Woldemar aus Plutarchs Agis und Kleomenes einen gedrängten Auszug gemacht; Er wollte ihn suchen und morgen seinen Freunden vorlesen.
Dieß geschah, und es folgte eine Unterredung, wovon wir, nur in kurzen Sätzen, einige der Hauptresultate hier noch mittheilen wollen, damit das ausführlicher erzählte Gespräch des vorigen Tages (nach einem Ausdruck des Sokrates in dem vorhin schon angeführten Gorgias) »einen Kopf erhalte, der ihm die Richtung gebe.«
Hier diese Resultate.
Es gibt Sätze, die keines Beweises bedürfen, und keinen Beweis vertragen, weil alles, was zum Beweise angeführt werden könnte, schwächer als die schon vorhandene Ueberzeugung seyn, und diese nur verwirren würde. Einen solchen Satz sprechen wir aus, wenn wir sagen: Ich bin! Diese Ueberzeugung ist ein unmittelbares Wissen, und alles andre Wissen wird an ihm geprüft, mit ihm gemessen, nach ihm geschätzt.
Von derselben Art ist die Ueberzeugung, daß dem Angenehmen das Schickliche: Tugend der Glückseligkeit vorgezogen werden müsse. Es ist, offenbar! kein drittes vorhanden, mit welchem beydes gemessen, an welchem beydes verglichen, und, durch Mehr oder Weniger, über den Vorzug des Einen vor dem Andren entschieden werden könnte. Unser Gewissen entscheidet hier unmittelbar, so wie beym Daseyn unser Wissen; das heißt: Wir finden in unserem Willen selbst, daß er das Anständige vor dem Angenehmen will; daß dies seine Natur: folglich, das Gesetz unseres Wesens ist.
Was nun in beyden Fällen auf einerley Art, das ist, ohne vorgehaltene Gründe, durch ein inneres allerhöchstes Ansehn allein in uns entscheidet, ist nicht der überlegende Verstand, sondern ein geheimes Etwas, worin sich Herz, Verstand und Sinn vereinigen.
Wir sagen nicht von der Vernunft im Menschen, daß sie ihren Menschen gebrauche; sondern vom Menschen, er gebrauche seine Vernunft. Sie ist die ursprüngliche Kunst, das unmittelbare Werkzeug des in Sinnlichkeit gehüllten Geistes; ist vereinende, unabläßig Einheit anstrebende Besinnung. So entstehen ihr Bilder des Gemeinsamen und Allgemeinen, reine Bilder; so schafft, ordnet, herrscht und gebietet sie durch die wunderbare Kraft des Worts, das von ihr ausgeht, wie sie selbst vom Geiste. Unermüdet der Sache das Wort, dem Wort die Sache zu finden, zu fügen; bringt sie, lösend und bindend, Wissenschaft und Kunst hervor; gründet theoretische und praktische Systeme.
Aber das schlechterdings und an sich Wahre kommt auf diesem Wege nicht zum Menschen: Unerzeugt zu seyn ist dieses Wahren Natur. Seine Einsicht bedarf keiner Gesetze des Buchstabens; seine Kraft keines Buchstabens der Gesetze.
Also jedesmal wenn die Vernunft solche Wahrheiten als Vordersätze zu ihren Schlüssen nimmt, so nimmt sie nicht was sie hervorgebracht. Alles absolut Erste und Letzte liegt außer ihrem Gebiet. Ihre ganze eigenthümliche Geschäftigkeit ist eine bloß vermittelnde Geschäftigkeit für Sinn, Verstand und Herz, deren gemeinschaftliche Oekonomie sie zu verwalten hat.
Diese Vernunft kann daher unmöglich die Quelle selbst jener Weisheit seyn, nach der wir, als dem höchsten Gut, verlangen. Auch den Durst nach dieser Weisheit kann nicht sie zuerst erregen; nur empfindlicher kann sie ihn machen: also ihn vermehren. Daß wir göttlicher Natur sind, sagt uns etwas in der Seele tief verborgenes Ursprüngliches; verkündigt uns ein Trieb unerzeugter Natur in uns, der Vergängliches in Unvergängliches zu verwandeln, Zeitlichem die Natur des Ewigen mitzutheilen, Abhängigem Unabhängigkeit zu geben strebt: ein Trieb, der viel eher sich Vernunft ersinnen, als durch Vernunft ersonnen werden könnte.
Woldemar ärgerte hintennach sich sehr über den Auftritt mit Hornich und Alkam bey Dorenburg; er fühlte, daß er gegen Henriettens Vater mehr Achtsamkeit und Schonung hätte beweisen, und sich nicht sollen mit Sidney gleich so hingehen lassen. Eine ähnliche Reue hatte er schon oft empfunden; dieß vermehrte seinen Verdruß, und er beschloß das kräftigste Mittel gegen neue Rückfälle anzuwenden: nehmlich, allen Gelegenheiten dazu sorgfältig auszuweichen.
Auch Hornich bereute! – Des Wohlstandes wegen, nicht bloß aus Scheu vor Henriette, hatte er sich nie mit dem Bruder seines Tochtermannes ganz entzweyen wollen. Geschah es, daß er seinem Groll gegen Woldemar sich so weit überließ, daß eine ruchtbare Trennung folgen konnte; so lenkte er ein, und suchte wieder gut zu machen. Dieses war auch jetzt der Fall. Zu Hause fiel es ihm aufs Herz, was er beym Weggehen Biderthalen gesagt hatte; es beunruhigte und verdroß ihn; er ärgerte sich über seine Hitze. Am folgenden Tage sprach er mit Biderthal darüber; und da ihm dieser versicherte: er hätte von seinen Aeußerungen beym Weggehen niemand ein Wort gesagt, sondern nur überhaupt seinem Bruder Vorwürfe über sein Aufbrausen und seine Uebertreibungen gemacht; so war der Alte sehr vergnügt, und bat, die Sache ganz zu vergessen; Er wolle dagegen zu vergessen suchen, wie beleidigend Woldemar gewesen, seine Denkungsart, sehe er wohl, müsse man ihm lassen, und sich das wohl einprägen; er werde gewiß nie mehr ein Wort darüber gegen ihn verlieren.
Da Biderthal seinem Bruder hinterbrachte: Hornich sey geneigt, was bey Dorenburg vorgegangen, zu vergessen, und Beleidigung gegen Beleidigung aufgehen zu lassen; so ließ sich dieser die Bedingung gern gefallen; gestand seine Reue, und die Vorwürfe, die er sich gemacht, und entdeckte seinen gefaßten Entschluß: von nun an ihre wunderlich gemischten Zusammenkünfte und große Tischgesellschaften, so viel als möglich, wieder zu vermeiden. Er hätte eine geraume Zeit ihm und Dorenburgen nachgegeben, und fast ganz nach ihrer Weise gelebt. Sie sollten nun auch einmal versuchen, mehr nach seiner Weise: nehmlich, im Grunde nach ihrem eigenen Sinne und für sich selbst, zu leben. Befänden sie sich übel dabey; so könnten sie ja, wie er es jetzt vorhabe, wieder umlenken.
Was Woldemar nicht mehr erwartete, begab sich.
Indem er gelassen zusah, und nur seinen Weg ging, gleich entfernt jemand zu stören, wie von jemand sich stören zu lassen: wirkte sein stummes Beyspiel, sein heiteres Schweigen mehr, als früher alle seine Reden. Es war unmöglich, daß seine Freunde dieser Reden sich nicht bey hundert Vorfällen erinnerten; und diese Erinnerungen wurden, bald durch seine Abwesenheit, bald durch seine Gegenwart eindringender. Allmählig offenbarten sich äußerliche Wirkungen. Nur der Anfang konnte schwer seyn: war einmal dieser ernstlich gemacht, so mußte ihnen, was sie von jeher bey ihrer Lebensart gedrückt hatte, jetzt mit jedem Tage widerlicher werden; mußte sie jede Thorheit, die sie noch eingingen, mit Ekel und Verwirrung doppelt züchtigen. Etwas von ihrem Verdruß unterließen sie dann nicht auf Woldemar zu werfen, weil sie sich einbildeten, er lache heimlich darüber, sie unter dem Joche keichen zu sehen. Aber so wie die Ungeduld es länger zu tragen ihren Muth zum Abwerfen stärkte; so verschwand auch dieser Aerger: sie fühlten sich mehr als je zu ihrem Freunde hingezogen.
Henriette hatte nicht wenig beygetragen, diese Wirkungen zu beschleunigen; mehr der Sache selbst und ihrer Geschwister wegen, als aus Anhänglichkeit an Woldemar, welcher dem allen mit einer sonderbaren – soll ich sagen Gleichgültigkeit? zusah. Ich weiß kein Wort, den Anschein und selbst die Sache besser auszudrücken; dennoch war es etwas andres.
Woldemar wurde jetzt fast täglich um allerley Rath angegangen. Anfangs nur durch Aufträge an Henriette, hernach auch gerade zu und immer freymüthiger, bis dahin, daß man zuletzt sich nicht mehr scheute jede Schwachheit, wodurch man sich gedrückt und aufgehalten fühlte, ihn ungeheuchelt sehen zu lassen, Woldemars ganzes Herz wurde hiedurch gewonnen, denn Einfalt und Offenheit galten ihm über alles. An ihnen, pflegte er zu sagen, hätte man den wahren Stein der Weisen; sie setzten jede andre Tugend voraus oder verschafften sie doch bald; auch läge in ihnen das Geheimniß der größten Glückseligkeit, die sich von Menschen erringen ließe. – Einfalt! Mehr und immer mehr Einfalt und Wahrheit! war demnach sein unaufhörlicher Zuruf.
Es hatte sich in die häusliche Verfassung der Hornichschen eine Gattung von Prahlerey eingeschlichen, die aber nicht aus Hochmuth, sondern nur zufälliger Weise, ich möchte sagen aus Unachtsamkeit und Versehen, entstanden war. Als vornehme Handelsleute in einer der berühmtesten Städte von Deutschland, bekamen sie eine Menge Menschen aus allen Gegenden von Europa, von verschiedenen Ständen und Klassen zu sehen, die Empfehlungsschreiben an sie hatten. Die besten darunter und die sich auf Menschen verstanden, suchten ihre nähere Bekanntschaft und erhielten sie ohne Mühe. So wurden ihre Kenntnisse immer neu belebt und vermehrt; ihr Witz, ihr Geschmack, ihre Sitten verfeinert; ihre Lebensart aber auch unvermerkt etwas geschraubt und in die Höhe gewunden. Das ging so sacht, die Verführung war so fein, der Veranlassungen waren so viele – – Dieser oder jener Fremde hatte ihnen etwa eine neue Erfindung der Kunst oder des Luxus angepriesen, – war wieder nach Hause gekommen, und besorgte ihnen nun ein auserlesenes Muster. Das Stück mußte angebracht, aufgestellt werden. Wo das? Es sollte passen. Man bedachte sich, überlegte, bis der Disharmonie durch kostbare Zubußen abgeholfen war. So hatte man vor kurzem in Dorenburgs Hause, zwey prächtigen Lichterträgern zu Gefallen, einige Zimmer verändert: denn sein Saal mußte anders eingerichtet werden, wenn er Lichterträger nöthig haben sollte; und wenn er so eingerichtet wurde, so mußte er, um anderer Gründe willen, auch erweitert werden; hätte von Rechtswegen auch erhöht werden sollen. Aber noch war die Veranlassung nicht dringend genug, um das Dach abzuwerfen und höher aufzubauen.
Diese Begebenheit gehörte unter Woldemars Lieblingsanekdoten, die er öfter zum Text einer scherzhaften Predigt, zuweilen aber auch einer sehr ernsthaften machte.
Er nahm ihren Fortgang im Wohlleben Stückweise vor, ihre mancherley Anschläge für die Zukunft, von den neulich angelangten Lichterträgern an bis zu den Chinesischen Luftschlösserchen und Brücken, den Englischen Reitpferden, und den Postzügen von Harttrabern, die sie nur erst im Geiste sahen; dann fragte er sie auf ihr Gewissen: ob sie durch alles, was sie von dergleichen Dingen bereits erlangt hätten, um ein Haar glücklicher – ob ihrer heitern, frohen, ungetrübten Stunden seitdem mehr geworden wären; ob sie der Zufriedenheit sich jetzt näher als vorher fühlten? ... »Ist das aber nicht,« fuhr er fort, »wozu soll es denn? – Wenn ihr leere, eitle Leute wäret, ich wollte selbst euch rathen, daß ihr es euch sauer darum werden ließet: denn es ist leichter, daß eitle, leere Leute gewissermaßen Befriedigung erhalten, als daß sie ihren Sinn ändern. Bedenkt, was ihr lange wißt, und prägt es euch tief ein: – daß der Mensch nur ein bestimmtes sehr eingeschränktes Vermögen zu genießen hat; daß wenn er Mittel des Genusses in zu großer Menge sucht, er nur Mühe und Ungemach erbeutet. Ein Gefäß, dem man mehr zugießt als es halten kann, muß, um dem Ueberflusse Raum zu geben, von seiner ersten Fülle in gleichem Maaße von sich lassen. So der Mensch, der sich alles zu verschlingen sehnt: Um Neues zu gewinnen muß er Altes daran geben. Auch soll der noch kommen, der sich rühme, auf diesem Wege sein Glück gemacht zu haben! Im Gegentheil fühlen alle, die ihn wandeln, sich je länger je elender; könnens aber nicht begreifen; ihr Taumel verhindert sie zu sehen, daß jene Freuden, die dahinten blieben, die besseren waren. Wieder und noch einmal rennen sie nur desto schneller voran, streben wieder und noch einmal nach mehr; meinen immer, es liege nur daran, daß ihnen dies und jenes noch fehle; und werden so täglich unfähiger zu erkennen, daß sie immer mehr und Besseres zurück lassen, von allem wahren Genusse sich täglich weiter entfernen, daß sie erkünstelte, elende, von Gott und der Natur verlassene Undinge werden ...«
Ein andermal drang Woldemar mit einer sehr ernsthaften Miene in seine Freunde, sie sollten sich Köche, Haushofmeister, Kellermeister, – vor allen Dingen, mehr Bediente anschaffen, und zwar keine solche Allerhalter, wie die Bursche, die sie hätten, welche beständig Kopf und Hände so voll nehmen müßten, daß es einen dauerte; sondern Laquaien im eigentlichen Verstande. – »In Wahrheit,« sagte Woldemar, »es gebricht euch noch an allen Ecken. Zum Beyspiel: eure Tafel bey festlichen Gelegenheiten hat herrliche Parthien, sublime Details; aber im Ganzen sieht man Art und Einheit mangeln. Neulich, da Lord W. und Graf V. bey euch speisten, wurde, als Gemüse, ein gefüllter Krautkopf aufgetragen, welches an sich schon sehr lächerlich war; aber es stand zugleich eine bombe à la Sardanapale auf der Tafel, wodurch das Ding zur frechsten Parodie wurde, die man sich denken kann. Ich schöpfte Luft, da man diesen Auftrag abhob; alein wie wurde mir, da ich nun gar – einen Gänsebraten erscheinen sah! Das wißt ihr bis auf diese Stunde nicht, was das für ein ungebührliches Aumuthen an einen ehrlichen Menschen ist, daß er einen Magen für Gänsebraten habe. Und dergleichen Schnitzer fallen tausende vor. – Hernach beym Auftragen – da sieht man eure Lümmel zittern und beben, ob sie jede Schüssel an die rechte Stelle bringen; sich einander mit den Ellenbogen anstoßen, in die Ohren flüstern, die Wirthinn ihnen mit den Augen winken; und am Ende die Sache doch nicht gelingen, bis ihr, voll Verwirrung, euch entschließt, durch eigenes Zurechtweisen dem Unheil abzuhelfen. – Ferner können die Teller nie hurtig genug gewechselt; Wein, Wasser, Brod, und das sonst Erforderliche nach Verlangen dargereicht werden. Zuweilen wird mit größter Zuversicht etwas begehrt, als müßte es bey der Hand seyn, und es ist nicht einmal im Hause; oder eilends soll wohin geschickt werden, und niemand darf aus der Stelle. – Mir bricht über diese Verlegenheiten allemal der Angstschweiß aus; ich sehe was ihr leidet, und begreife es. Natürlicher Weise, je mehr an der einen Seite Ueberfluß und Pracht am Tage liegt, desto auffallender wird an der andern Seite Spärlichkeit und Mangel. Ihr müßt in dergleichen Augenblicken euch so klein, so nichtswürdig fühlen! denn ihr habt nach etwas Geringschätzigem mühsam gestrebt, und es über eure Kräfte gefunden. Die vornehmen Herren und Damen, die ihr bewirthet, sind nun in der That so viel mehr als ihr, wirklich über euch erhaben: sie müssen auf euch, als Geringere herabsehen, die sie durch ihre Gegenwart beehren und demüthigen.«
»Daß ihr euch so wegwerfen mögt! so im niedrigsten Wettstreit Beschimpfung erndten, da ihr in jedem edleren Ruhm zu erwerben gewohnt seyd.«
Dorenburg mit seiner Frau fingen zuerst an, eine aufrichtige Sinnesänderung durch die That zu beweisen. Biderthal und Luise folgten mit verdoppelten Schritten, und setzten durch ihren schnellen Fortgang Woldemarn in Erstaunen.
Je mehr sie sich losrissen, desto größer wurde ihr Eifer. Nie hatten sie so tief empfunden, daß ein unzerstreutes, gefaßtes, friedliches Leben das einzige sey, was den Menschen recht eigentlich seine Lust am Menschen haben lasse; daß im Gedränge der Gesellschaften, wo der Mensch den Menschen nur als Hinderniß oder kahles Werkzeug betrachtet, das Herz todt bleiben müsse für Angelegenheiten des Herzens. Ueberhaupt fanden sie ihre Erwartungen bey der Probe eines eingezogenen Lebens so weit übertroffen, daß sie jetzt noch mehr versäumt, noch mehr verloren zu haben meinten, als wirklich geschehen war.
Wohl jeder gute Mensch hat sich einmal in einem ähnlichen Falle befunden, und ihm wird ungefähr eben so zu Muthe gewesen seyn. Wir selbst, als wir aus jenem Rausche – aus irgend Einem! gesund erwachten, wie segneten wir nicht die stille Morgendämmerung, das sanft anbrechende Licht? An Geräusch und Schwarm konnten wir nur mit Ekel denken. Die Einsamkeit sogen wir an uns, wie die Wiese erfrischenden Thau. – Ich weiß nicht, ob Ein Zustand an Süßigkeit einer solchen Erholung der Seele zu vergleichen ist. Gelagert in die Mitte ihres Daseyns, ganz Besinnung, bey sich, bey allen ihren Kräften, fühlt sie sich mächtig und frey, alles was sie ist, und fühlt es ohne Stolz. – Jede Tugend scheint ihr so natürlich und leicht, jede Gabe des Lasters so verächtlich! Sie hat ihre Lust an der Welt im Geiste des Schöpfers. – Hier, um diese Höhe wölbet und schließt sich der Gesichtskreis des Wahren. Jedes Ding steht in seiner eigenen Gestalt vor dem Menschen da – vor ihm da wie es ist: gut oder böse, Wesen oder Dunst, werth oder unwerth seiner Seufzer oder Thränen. – Fälschlich soll ihn von nun an nichts mehr weder reizen noch schrecken; er sieht eine Straße des Friedens sich vor ihm hinziehen; der will er nachwandeln – sieht die höchste irdische Glückseligkeit, sieht das Ziel der Weisheit – ihm so nah!
Aber dieses Ziel, wer hat es je erreicht? Alles kann der Mensch eher, als Maaß halten, als in der Mitte bleiben.
Doppelt schwer war es bey dieser Gelegenheit für die Hornichschen, da sie dem Beyspiel eines Mannes folgten, der, wenn er auch für seine Person mit Weisheit handelte, andern leicht ein Irrlicht wurde. Woldemar sah hievon häufige Wirkungen, ohne sich die Ursache klar zu machen; fühlte sich ewig getäuscht! – Und dies vermehrte in ihm jene Schwermuth, die an Menschenhaß zu grenzen schien, ohne darin übergehn zu können. Anstatt in Bitterkeit, lösten seine schmerzlichen Gefühle gewöhnlich sich in Wehmuth, in allgemeines Mitleiden auf. Er jammerte am meisten, seufzte am tiefsten darüber, daß Gutes und Schönes die Menschen überall so reizte, ohne sich ihnen wahrhaft mitzutheilen; daß was sie davon annähmen, sie gewöhnlich nur zu Mißgeburten machte, zu Wechselbälgen, – und an ihnen das angelarvte Gute und Schöne zu Gegenständen der Verachtung und des Ekels. – Wie das zuging, begriff er genug; war darum auch so geneigt, jedem seinen Gang zu lassen, und nur Einfalt, Wahrheit – Selbstheit zu empfehlen. – »Es ist wie mit den Blumen,« sagte Woldemar, »die beym Fortpflanzen ihre Art verlieren. Man senkt die herrlichste Brut in die Erde, und anstatt einer gloria rubrorum kommt ein falbes unkenntliches Ding zum Vorschein, ein Ding ohne Namen, dadurch bezeichnet, daß Schönheit in ihm entstellt ist.
Bey der Verwandlung, die in dem Innern seiner Familie gegenwärtig vorging, etwas ähnliches zu besorgen, war ihm nicht in den Sinn gekommen; er dachte nur an Rückfall, etwa an Ausschweifung auf Nebenwege; nicht an Uebertreibung.
Genau und Schritt vor Schritt die Wirkungen, die er hervorbrachte, zu beobachten, sie zu wägen und zu schätzen, war nicht in seiner Art; und in seiner gegenwärtigen Stimmung, bey so ganz geöffneter Seele, weniger als jemals von ihm zu erwarten: es konnte ihn nicht befremden, seine Freunde endlich zu seinen Gesinnungen übergehen zu sehen. Sie selbst fanden eben so wenig außerordentliches dabey, und wunderten sich nur und begriffen nicht, wie sie je hatten anders denken, empfinden und wählen können.
Indem sie ihr Erstaunen hierüber sich einander mittheilten, wurde ihr Enthusiasmus immer feuriger. Sie gingen weiter. Das System ihres Vorbildes that ihnen nicht mehr Genüge; es deuchte ihnen, Woldemar bliebe auf halbem Wege stehen. Sie wollten ans Ende, wollten eine höchste, allerhöchste Simplicität jetzt überall sich anschaffen; eine durchaus reine ungezwungene – blos natürliche Natur. Kurz, sie liefen jetzt hinter sich ohngefähr auf eben die Art, wie sie ehmals waren vor sich gelaufen.
Woldemar achtete lange nicht darauf; er wurde es kaum gewahr. Hie und da ein wenig Uebertreibung hatte er mit Fleiß übersehen, weil er wohl wußte, daß nichts in der Welt sogleich ganz und rein werden kann. Henriette, die viel früher gemerkt hatte, wo es hinaus wollte, begnügte sich, seine Aufmerksamkeit nur durch zufällige Anmerkungen zu reizen. Mit ihren Schwestern und Schwägern aber wurde sie desto deutlicher. Es käme ihr vor, sagte sie, als führten sie den guten Woldemar und sich selbst nur hinter das Licht. Ihr nicht mehr glänzen wollen, machte sie eitler als vorher, da sie es geradezu gewesen wären. Schlimmer als ehmals mit der gesuchtesten Pracht, prunkten sie jetzt mit einer gewissen angenommenen Simplicität; prahlten mit freiwilliger Beschränkung; trügen Verborgenheit zur Schau, und böten Innigkeit durch die Gassen. Ihr Naturbetrieb wäre die ärgste aller Zierereyen; wäre eine gezwungene Ungezwungenheit; ein ausgesucht verkehrtes Wesen. Diese Thorheit könnte sich übrigens auf keine Weise erhalten, sie hätte geschwinder ausgeschwärmt als irgend eine andre; aber, leider! bereitete sie den Uebergang zu einem Zustande voll Gefahren.
Es wurden diese Vorwürfe – welche nur nicht ganz so trocken, wie sie hier auf dem Blatte stehen, vorgetragen wurden – ohne alle Entrüstung angehört, und in Gelassenheit mit wenigen Worten abgewiesen.
Henriette beschloß hierauf, still eine weitere Entwickelung abzuwarten. Die andern meinten nun, sie käme allmählig ihnen näher, und voll Freude darüber gaben sie ihr häufig nach, ließen öfter ihre Meinung gelten, und bequemten sich nach ihr. Mit Henriette half auch Hornich, durch sein bloßes Daseyn, die Sachen einigermaßen im Gleise zu erhalten. Aber diese Hülfe war nicht von Bedeutung, weil dem Alten jede Einschränkung, welchen Grund oder Vorwand sie auch haben mochte, als Fleiß und Gewinn vermehrend im Herzen wohlgefiel, und sich ihm aus alter Gewohnheit empfahl. Hiezu kam, daß er um diese Zeit sehr kränklich wurde, wenig Gesellschaft mehr in seinem Hause sah, und selten ausging. So mußte Woldemar doch bald ins Mittel treten, welches auf die Weise, die jetzt erzählt werden soll, noch eben zu rechter Zeit geschah.
Wir haben von Dorenburgs und Biderthals Landgütern gehört. Auf dem Dorenburgischen hatte das Gebäude mitten einen großen Saal, der in den Garten vorsprang, und den Haupteingang dazu machte; sechs Abstufungen längs den vorspringenden Seiten, eine Terrasse mit Pomeranzbäumen besetzt, die sich zu beyden Seiten an den Flügeln hinzog: so gings hinab. Unten verbreitete sich ein großes Parterr mit einem Springbrunnen, und Sitzen und Gängen von Bindwerk, welches die feinsten Gewächse durchflochten, – Flor an Flor auf den Beeten, über welche die Laubgewölbe sich hinab neigten – aus großen Körben von Latten ein Wald von hochwuchernden Blumen, – lieblich beschirmte Amphitheater von Aurikeln und Nelken, – prächtige Stauden, – Urnen und Bildsäulen – und von allerhand fremdem Gehölz die niedlichsten Arten. Es war ein entzückender Platz, sinnreich angelegt, um das Auge zu öfnen, und ihm von dem hohen Buschwerk und den Alleen des Gartens den rechten Abstand zu geben. – Nun sollte dieses herrliche Stück ausgerottet werden. – Woldemar, da er an einem schönen Herbsttage mit seinen Freunden draußen war, erfuhr es zufällig vom Gärtner, und lief hastig zu Dorenburg, um ihn darüber zur Rede zu stellen. Dieser gestand herzhaft die Wahrheit. Aber Woldemar sollte nun kommen; es wäre die höchste Zeit zu dem abgeredeten Spatziergange in den Wald; Caroline hätte schon Erfrischungen hinbringen lassen: dort wollte er seine Gründe vortragen.
Die Gesellschaft machte sich auf. Es war nur eine halbe Stunde Wegs. Man wandelte einen großen fruchtbaren Hügel hinan; dann gings unmerklich hinab; – und nun ein sanftes weites Thal, von den mannichfaltigen Eingängen in den Wald auf das herrlichste gebildet! – Wie ein Vorhof lag an der einen Seite ein grüner Platz mit zerstreuten himmelhohen Eichen, der bald so, bald anders die schauenden Blicke verschlang; für jede Eiche ein kleiner Hügel oder ein kleines Thal, und die Hügel und Thäler allmählich in einander laufend und auf und ab; dazwischen dicht und hoch hinauf gekrönte Buchen, – hier einzeln, dort in Haufen und engen Reihen; – Eschen, Pappeln und Weiden; – und um und um ein Zauber von tausendfältigem Licht und tausendfältigem Dunkel. Schwebend in diesem Zauber kleine Heerden von Kühen und Lämmern, und eine Schaar dahlender Knaben und Mädchen. Nahe bey in dickem Gebüsch, zwischen erhabenen Ulmenwänden, die lustigen Häuserchen, wohinein dies alles gehörte, mit ihren Gärten und Aeckern. – – Woldemar hatte oft ganze Tage hier zugebracht. Besonders war eine Stelle von schauervoller Majestät, dicht an einem der Eingänge des Waldes, sein bekannter Lieblingsplatz. – Sie kamen an diese Stelle, und Dorenburg hub an: Lieber Woldemar! ich bitte, laß dir doch jetzt einmal mein schönes Parterr einfallen, mit dem feinen Bindwerk und den Körben von Latten, und den mancherley Blumen und Bäumchen; und sage mir – sage mir hier einmal: es sey schön! Ich bin gewiß, der Gedanke muß dir widrig und ekelhaft seyn!
Woldemar stutzte, antwortete aber den Augenblick, und gab Dorenburgen Recht. Nur fügte er hinzu: Dorenburgs Ulmen-Alleen, seine schönsten Linden, Platanen, Tulpenbäume; sein gesammtes Baum- Busch- und Gartenwerk, wäre ihm in diesem Augenblick nicht weniger zuwider, als das Parterr: »Ist dir nun beständig so, fuhr er fort, wie mir in diesem Augenblick; so muß ich dir rathen, daß du ganz und gar deinen Garten abschaffest. – Lieber Bruder Dorenburg, das läßt sich nicht in Mauern ziehen oder mit Zäunen einschließen, was uns hier so mächtig ergreift. Die fünf Eichen dort allein, mit ihrem erhabenen Gewölbe, würden deinen halben Garten zu nichte schatten. Und überhaupt, auf einem solchen Platze, was wär' es? Dergleichen Scene will die offene weite Welt zum Gerüst. Ich kenne nichts armseligeres, als die nachgemachte, in tausend Fesseln sich windende freye Natur. Gewiß weiß der gar nicht was er will, wer so etwas auf die Welt setzt. Wo Nachahmung ist, da muß sich Kunst zeigen, schaffende Menschenhand: da muß wenigstens von Einer Seite gethan seyn, was kunstlose Natur nicht vermag; denn was kunstlose Natur ganz und allein vermag, daran wird alle Nachahmung zu Schanden. Also verlange ich von einem Garten, daß er ein ausgemachter Garten, Garten in einem hohen Grade sey; er soll mir an Zierde und Anmuth ersetzen, was er an Fülle und Majestät nicht haben kann, und gewiß dann am wenigsten hätte, wenn er in abgeschmackter Zwergsgestalt den Riesen nachmachen wollte. Die freyen Naturalisten, wenn ich zu befehlen hätte, sollten es mir einmal in vollem Ernste seyn, und ihr System in seinem ganzen Umfange erfahren. Erst wollte ich sie nur mit Kleinigkeiten plagen; sie bekämen z. B. keine Pfirsich zu kosten, keine Aprikose, nicht einmal Kirschen, Pflaumen und Birnen; aber Wurzeln, Holzäpfel und wilde Kastanien so viel ihnen beliebte. Ich würde ihnen vorstellen, wie so ganz ausser aller Natur in unserem Himmelsstrich ein Pfirsichbaum sey. Wie weit hergeholt! Wie erkünstelt! Stamm und Aeste zersägt und zerschnitten; alle Glieder verrenkt, in hundert Banden, wie ein armer Sünder, wie ein Schächer am Kreuz! Andre Fruchtbäume nicht viel weniger, wenn schon nicht an Mauer und Latten gezogen; denn was muß nicht dennoch alles an ihnen gethan werden, wenn sie gute Früchte und in Menge bringen sollen?
Henriette, die an Woldemars Eifer genugsam merkte, daß er mehr als das Parterr im Sinne hatte, wollte ihm Gelegenheit verschaffen, sein Herz noch besser auszuschütten, und machte ihm daher den Einwurf: – Aber – er hätte ja vormals Biderthalen und Dorenburgen den Aufwand, den sie in ihren Gärten gemacht, verwiesen, und sie fast über jede Anlage zu derselben Verschönerung zum Besten gehabt. Nun redete er so ganz anders und widerspräche sich.
Woldemar antwortete: Damals wäre von Puppensachen die Rede gewesen für vornehme Kinder, von Aufwand zum Staat, nicht von Aufwand zu eigener Lust, nicht von Gartenbau.
Mit Erlaubniß! fiel Caroline ein, Sie haben sehr allgemein allen Aufwand zu sogenannter Vermehrung des Lebensgenusses getadelt; Sie haben unaufhörlich zu beweisen gesucht, daß es mit dergleichen Vermehrungen leeres Blendwerk sey, bey deren Erhaschung nichts gewonnen, wohl aber beträchtlich verlohren zu werden pflege.
Ganz recht, erwiderte Woldemar. Wenn Sie keinen Garten hätten, und mich fragten, ob Sie viel an Glückseligkeit gewinnen würden, wenn Sie einen anschafften; so antwortete ich Ihnen wahrscheinlich: »Ich weiß nicht!« Haben Sie aber einen Garten, und Sie fragen mich, wie er am besten sey, schön oder häßlich; oder gar: ob Sie ihn schön lassen, oder häßlich machen sollen; so werde ich mich, ohne alles Bedenken, für das Schöne erklären.«
Nein, sagte Dorenburg, wer so albern fragen könnte, dem solltest du rathen: häßlich! – Ich weiß nicht, wie du mit dir selbst zurecht kommst. Gewiß war es ehmals deine ernstliche Meinung, daß je näher der Natur, je einfältiger, je beschränkter Menschen lebten, desto glücklicher wären sie. – Mit welchem Entzücken priesest du nicht die Sitten der Patriarchen, der Homerischen Helden? Hingegen mit welcher Verachtung, mit welchem Grimm ...
Sacht, sacht! rief Woldemar. Es kommt gar sehr auf die Beziehung an, worin etwas gesagt wird, auf den bestimmten eigentlichen Sinn, den es dadurch erhält. Nie war ich so unbesonnen, schlechterdings im allgemeinen festzusetzen, diese oder jene äußerliche Verfassung mache nothwendig glücklich oder unglücklich; ich getraue mir dies nicht einmal von innerlichen Verfassungen und von Charakteren auszumachen – O, der Mensch ist ein unermeßlicher Abgrund – ein unendliches Labyrinth! – Nur habe ich immer euch gerathen, zu lassen was euch im Grunde plagte, und allein zu thun was euch wirklich Freude machte; nur mit euch selber einig zu werden, für eigene Rechnung zu leben; kurz, Menschen zu seyn, und keine Schimären. – Aber ihr waret zu lange gewohnt in fremder Rücksicht zu handeln, euer Wesen in der Einbildung zu haben, zu repräsentiren. Meine Absicht war gut, aber der Erfolg ist mißrathen ... – Ihr wollt nun zu einer ganz einfachen Lebensart durchaus herabsteigen, und seht nicht, daß ihr noch weit mehr aus eurer Sphäre hinaus schweift, als da ihr euch zu hoch hinauf zu winden bemüht waret. Lieben Freunde, man muß sich dem Stande und dem Jahrhunderte, in dem man sich befindet, gemäß verhalten. Wenn ihr gegenwärtig die Lebensart der Patriarchen annehmen wolltet, so würdet ihr eine Comödie spielen, ein Schattenspiel an der Wand machen; und das war ja vor allen Dingen was wir nicht wollten; genießen wollten wir, was ist und was wir haben können; nie was nicht ist und uns nicht werden kann; unserer und der gegenwärtigen Zeit wollten wir uns mächtig machen, ohne nach Vergangenem und Zukünftigem vergeblich zu schnappen. – »Verwendet euren Reichthum,« sagte ich euch hundertmal, »nach bestem Gefallen, habt schöne Zimmer, zierliche und gemächliche Kleider, Kunstwerke, Glanz und Pracht, – nur hütet euch vor Prahlerey und Hoffart, weil ihr euch dadurch von eurem Zweck entfernen und euch unzählige Kränkungen bereiten würdet; spielt nicht den Ueberfluß; macht nicht daher, was nicht da ist; sucht nicht zu scheinen was ihr nicht seyd; habt vor allen Dingen für euch selbst was ihr habt, und laßt andre blos mit euch genießen! – Eigene Sinne, eigenen Verstand, eigenen Willen – Wahrheit, Harmonie – nur das!«
Sophist über alle Sophisten! fuhr Biderthal auf. – O ja, dergleichen Ermahnungen zur Ueppigkeit haben wir mehrmals von dir erhalten: Und das war also im eigentlichsten Verstande zu nehmen? – »Im allereigentlichsten!« – Nein, sagte Caroline, das ist unerträglich! Sprich doch, Luise: Was hat er uns nicht für Predigten gehalten? – Man hätte nur mögen geschwinde allen Ueberfluß zum Fenster hinaus werfen.
Ja wohl! hub Luise an: Ich weiß noch wie mir das einleuchtete, als er die Frage an uns that: ob wir durch alles, was wir uns angeschafft, an Glückseligkeit, oder auch nur an Bequemlichkeit gewonnen hätten; ob wir der Zufriedenheit uns jetzt näher fühlten? Es fiel mir ganz erstaunlich auf, dies und was er weiter sagte. Ich schämte mich fast, daß ich Tische und Stühle im Hause hatte.
Wirklich! setzte Henriette hinzu, kann Woldemar unmöglich läugnen, daß er vor kurzem noch ein ganz unerbittlicher Widersacher aller Ueppigkeit gewesen ist. Er trieb es nicht allein so weit, wie eben meine Schwester erinnerte, daß er auch die eigentlichsten Bequemlichkeiten des Lebens anfocht, sondern sein Haß erstreckte sich bis auf jedes Mittel, jede Veranlassung dazu, bis auf Reichthum und Handel. Hundertmal hat er den Spruch angeführt: Es ist leichter, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Himmelreich komme. Das Kameel war ihm oft nicht einmal groß genug, und er gab uns einen Elephanten einzufädeln.
Ja! rief Biderthal – lachend mit den Uebrigen – Ja! und aus dem Seneka der Lieblingsspruch: Reichthümer höben die Mühseligkeiten des Lebens nicht auf, sondern veränderten sie nur. Er nahm die Geschichte alter und neuer Zeiten zu Hülfe. ...
Und erzählte vom Teufel, – fuhr Woldemar, seinen Bruder unterbrechend, fort – vom Teufel, wie er einmal vor einer Kirche, aus welcher eine Menge Leute mit ihrem schönsten Putz herausgiengen, stand, und einen andern Zuschauer neben ihm fragte: Wer, nach seiner Meinung, wohl der hoffärtigste von allen diesen Leuten wäre? – Der gute Freund ließ sich die Zumuthung gefallen, rieth und rieth sein Meistes und Bestes – immer fehl! Endlich kam ein Bauerkerl mit einem elenden abgetragenen Rock und – einem paar blanken gelben ledernen Beinkleidern; der war es. – Der gute Freund, ein gottesfürchtiger Mann, lief dem Bauerkerl nach, und erzählte ihm seinen Vorfall mit dem Teufel, den er zuletzt erkannt hatte; sprach hierauf dem armen Sünder so kräftig zu, daß er auf der Stelle seine ledernen Hosen auszog, und sie in den nächsten Graben warf. Als der Bekehrte nun, mit dem bloßen zerrissenen Hemde bedeckt, seine Straße zog, und die Leute große Augen über ihn machten, wurde er ein wenig verlegen. Er erholte sich aber bald; die gegen ihn gekehrten großen Augen fingen an ihm zu behagen, und er verlangte seine gelben Hosen gar nicht wieder. – Nicht weit davon stand der Teufel; lachte in sein Fäustchen, und bohrte dem frommen Manne, welcher gieng und Gott dankte, einen Esel.
Werthe Herren und Damen, ich finde dies noch immer eine sehr lehrreiche Geschichte!
Setzen wir den Fall, ein solcher Bauerkerl, dessen Herz von einer ledernen Hose bestrickt wird, ist arm und dient um geringen Lohn. Die lederne Hose liegt ihm Tag und Nacht in Gedanken; er kann das Verlangen nach ihr nicht los werden, sinnt und sinnt auf Mittel, bis ihm endlich der böse Feind den Rath in die Ohren flüstert, seinen Herrn zu bemausen. Er unterliegt der Versuchung. Monate, vielleicht Jahre gehen darüber hin, daß er allerhand Ränke schmieden, immerwährend mit List, Betrug und Lügen umgehen, Gott und Menschen sein Herz verschließen muß. Endlich ist das Geld beysammen, die Hosen sind gekauft und sitzen ihm am Leibe. Wie froh! Es verlohnte sich doch alles, was er dafür gethan hatte. – Wem er von seinen Bekannten in den Weg kommt, der staunt ihn an, und hat sein Wunder an der Pracht. Das erhöht ihm den Geist, befriedigt ihn aber nicht. Um die Wirkungen seiner Herrlichkeit in einer größern Sphäre zu versuchen, eilt er nach der Kirche ins Wirthshaus. Er spielt, er tanzt, – er verführt. – Zu Hause fällt ihm ein, was er an andern Bauerkerlen bemerkt hat, das so schön zu ihren ledernen Hosen stand, und ihm noch alles abgeht; an diesem ein Wamms von feinem Zitz; an jenem ein seidenes Halstuch – und dergleichen. Seine liebe Hose wird ihm ein Ekel; seine Cameraden werden ihm verhaßt; feindselige Empfindungen und tobende Begierden kehren sein Herz um und um – der arme Junge ist unwiederbringlich verloren.
» Seht, ihr Leute, das kommt von ledernen Beinkleidern; es ist eine gefährliche, abscheuliche Sache darum!« – Welcher nicht ganz unsinnige Mensch wird so urtheilen? Freylich war es so bey diesem Kerl. Aber so mancher andre Bursche seines Standes, dem etwa von Geburt ein paar lederne Hosen angestammt sind, oder der zu harren weiß, bis er das Erforderliche zu ihrem Ankauf rechtmäßig erworben hat; wird der nicht ohne alle Gefahr und Sünde sich damit bekleiden? An sich hatten die ledernen Hosen keine Schuld, das Uebel steckte allein in dem Kerl selbst, der ihren Besitz so hoch, jedes andre dagegen so gering achten konnte: dessen ganze Seele mit einem solchen nichtswürdigen Gedanken zu füllen war.
Und so ist es mit allem Luxus, von welchem, seiner durchaus relativen Natur wegen, nie ein fester Begriff statt finden kann. In der ärmsten Bauerhütte, in dem Winkel eines Bettlers, kann mehr Ueppigkeit im Schwange seyn, mehr Unmäßigkeit, mehr Verschwendung und böse Lust, als oft in dem reichsten Pallast voll Glanz und Schimmer. Mein seidener Rock, den ich gewiß mit Unschuld trage, würde an dem Leibe jenes andern von Thorheit oder gar von Laster zeugen. Person und Umstände machen hier die Sache aus.
Was den Luxus und mich insbesondre angeht, so stehen wir auf einem sehr gleichgültigen Fuße zusammen. Ich mag keine Pracht, weil ich, anderer Neigungen wegen, sie nicht abwarten kann; weil sie müßig bey mir seyn und lange Weile haben würde. Ungefähr eben so geht es mir mit dem, was man, im eigentlichen Verstande, Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens nennt: ich bin zu zerstreut, zu beschäftigt, um viel darauf zu merken, – vielleicht im Genuß der Dinge, woran ich hange, zu sehr verloren, überhaupt in meinen Neigungen zu heftig. – Von der andern Seite steht mir bey allem dergleichen eine gewisse Trägheit im Wege, oder kommt mir doch bald dazwischen. – – Es fällt mir so manches ein in diesem Augenblick, fuhr er fort, wie es mir gegangen ist und wie es mir noch geht. – Zum Beyspiel, mit meinen Reitpferden. – Was ich für eine Herrlichkeit hatte, da der lang gehegte Wunsch nun endlich erfüllt war – und wie geschwinde die Herrlichkeit ein Ende hatte! Anfangs ritt ich, bey halb erträglichem Wetter, richtig alle Tage aus, und wäre mit Freuden zweymal ausgeritten; – hernach gingen Wochen hin, ohne daß ich Lust bekam aufzusitzen. Der Gedanke, daß die Pferde aus dem Stalle müßten, fiel mir gemeiniglich wie ein Stein aufs Herz. Ich fing an mich vor meinem Reitknecht zu scheuen und ihm aus dem Wege zu gehen. Kam er denn endlich doch, um mich zu erinnern, und setzte mir zu, und wieß meine Entschuldigungen ab, und beunruhigte mein Gewissen: dann wurde ich ungeduldig, verdrießlich. – Und es kam dahin, daß ich keinen Fuß mehr in den Stall setzte. Das nahm mein Bursche auf, als läge mir nichts an meinen Pferden; er verlor den Respekt und wurde nachläßig. Wollte ich nun unversehens einmal ausreiten, so war der Kerl nicht bey der Hand; oder das Geschirr war nicht in Ordnung; und ich bekam allerhand zu sehen und zu hören, das mich ärgerte. Vieh und Mensch verdarben durch meine schlechte Regierung. Ich schwur hundertmal das Ding zu endigen. Aber dann erschienen, leider! wieder Augenblicke, wo es mir so gelegen kam die Pferde zu haben, daß mir däuchte, ich möchte sie um alles in der Welt nicht missen. So schleppte ich mich über ein ganzes Jahr. Meine sämmtlichen Freunde, Anverwandte und Bekannten gingen zur Partey meiner Pferde und meines Stallknechts über, und lagen mir beständig damit in den Ohren. – »Warum reiten Sie so selten?« – »Wozu haben Sie nur die Pferdes? Es ist zum Lachen!« – »Wenigstens Ihrer Gesundheit zu Liebe reiten Sie doch!« – »Ich hole dich morgen ab!« – »Da bin ich; wo sind die Stiefel? hurtig, angezogen und aufgesessen!« – und dergleichen. Zum Glück waren die Pferde bald hin; ich sollte neue nebst einem andern Stallknecht anschaffen. Da erwog ich reiflicher; berechnete gegen einander; verglich: – und fand die Gründe für die Abschaffung meines Stalls, wie hundert gegen Eins. Mir war unaussprechlich wohl, da ich diese Last abgeworfen hatte. – Und, o! könnte ich mir nur eben so noch manches andre vom Halse schaffen! Zu allererst meinen Bedienten. Ich habe so wenig für einen Bedienten zu thun, und da muß ich nun die entsetzliche Langeweile denken, die der Kerl hat, wenn er da sitzt, blos um auf meine Befehle zu lauern, – oder, ich muß leiden, daß er herum läuft. Lasse ich ihn herum laufen, so fehlt er mir gerade wenn ich ihn am nöthigsten brauche, wird liederlich, belügt und betrügt mich, und ich bin gezwungen ihn wegzujagen. Das ist nun immer ein unerträglicher Zeitraum für mich, von dem Augenblick an, wo ich sehe, es ist nicht anders, ich muß den Kerl abschaffen, bis dahin, daß er weg ist. Jedesmal, wenn ich einen neuen annehme, erzähle ich ihm die Geschichte seiner Vorgänger, sage ihm, wie ich bin und wie es mir die Leute zu machen pflegen, und wir philosophiren mit einander ein langes und breites darüber. Fängt der Kerl an nicht mehr zu taugen, so ermahne ich ihn brüderlich, bitte, warne; welches denn immer so viel hilft, daß den Schlingeln die Thränen in die Augen kommen, daß sie mich erstaunlich lieb haben, daß sie auf den Tod sich für mich herum schlügen; aber denn doch nicht lassen können was mich schiert. – Und, ach! das ist so natürlich! – Nun bin ich aber fest entschlossen, wenn mir der Bursche, den ich jetzt habe, auch verdirbt, keinen wieder anzunehmen.
Aus ähnlichen Ursachen mag ich keinen eigenen Garten haben, wie süß es mir in hundert Absichten wäre. – Und so durchgängig!
Alles dieses aber gereicht mit nichten zu meinem Lobe. Es gibt viele wackere, geschäftige, vorzüglich nützliche Menschen, die einen gewissen ihrem Stande gemäßen Aufwand ohne Mühe besorgen, denen das Erholung ist, und die dabey auf eine so vernünftige und edle Weise verfahren, daß ich gegen sie mit meinen einsamen Liebhabereyen und mit meiner Peinlichkeit nicht auftreten darf. Diese Peinlichkeit, welche mich genügsam zu seyn nöthiget, hängt zwar mit einigen guten, zugleich aber mit hundert schlimmen Eigenschaften zusammen, und läßt mir, wie sehr ich mich verwahre, dennoch das Leben sauer genug werden. Aber, ich bin nun einmal so; und da ich mich nicht verwandeln kann, so däucht es mir am besten, mich nach meiner Gemüthsart zu bequemen, diejenige Lage in der Welt zu suchen, welche, nach dieser Gemüthsart, die vortheilhafteste für mich selbst, und für meine Mitmenschen die unschädlichste ist. – Von niemanden begehre ich, daß er mehr thue; ich vermesse mich nicht, besser als der andre selbst zu wissen, was ihm sein Herz gebietet und worauf es ihm am meisten ankommt. Nur wünsche ich, daß er weise sey in seinem Theil, ein kluger Haushalter, und zu seinen Zwecken die tauglichsten Mittel ergreife.
Wenn ich gegen den Luxus vor euch gepredigt und die Vortheile des Reichthums herunter gesetzt habe; so war ich auf irgend eine Weise dazu von euch aufgefordert worden, und es geschah in freundschaftlicher Ergießung des Herzens. Da mußte ich denn, nach meiner Empfindung, behaupten: daß die Bequemlichkeiten des Lebens in der That wenig Bequemlichkeit verschaffen; daß über der Arbeit, Mühe und Sorge, Vergnügen und Ansehen zu erwerben; über der Arbeit, Mühe und Sorge, eine Menge von Lust- und Pracht-Maschienen zu lenken, sie im Gange und wechselseitigem Spiele zu erhalten, und ein großes Vermögen auf diese Weise zu genießen, leicht alle herzliche Freude, und, mit ihr, zuletzt aller Adel der Seele verloren gehe.
Damit aber habe ich nie zu sagen gedacht, daß man sich wirklich vorhandener, lange angewöhnter Bequemlichkeiten mühsam entschlagen, und den Reichthum, dadurch daß man ihn nur verwalte und nicht gebrauche, sich zur Last machen solle. Weder die Patriarchen noch die Homerischen Helden haben den Reichthum und was mit ihm verwandt ist von sich gewiesen; sie weideten sich in ihrem Ueberflusse, aßen und tranken so gut sie es nur haben konnten, und hielten nicht wenig auf Schmuck und köstliche Dinge. Noch unendlich mehr aber hielten sie auf persönliche Eigenschaften, Tugend, Ehre, Religion, auf Geschlecht, Eltern und Geburtsland, auf Kinder, Gatten und Freund: und so hatte alles gute Wege; wird es eben so überall haben, wo nur jedes Ding in seinem Werthe bleibt und in gehörigem Umlauf. Nicht was in den Menschen hinein geht verunreinigt den Menschen, sondern was aus ihm herausgeht. An sich ist das Aeußerliche gleichgültig; und mir däucht die Einfalt des Herzens und der Sitten zeige sich eben darin, wenn man das Aeußerliche läßt wie es sich machen will, ohne weder auf die eine noch auf die andre Weise etwas darin zu suchen oder zu setzen. Unter Zweyen, wovon der Eine etwas darin sucht, daß er einen leinenen Kittel anlegt, und der Andre, daß er mit Sechsen daher rollt; ist jener (alles übrige gleich!) unstreitig der verkehrteste, eitelste, leerste – tief in die Seele hinab unthätigste.
Während dieser Unterredung, wovon nur das Wesentlichste hat mitgetheilt werden können, waren die Erfrischungen eingenommen, und der Wald ziemlich durchkreuzt worden. Die etwas ermüdeten Wanderer lagerten sich an einem Platz, der, von niederm Gebüsche leer, ihnen rundum eine weite Aussicht in den Wald verstattete. Wie ein schöner Himmel zog und wölkte sich das Grün um sie her. Dorenburg hatte das Wort genommen, und philosophirte mit ungemeinem Scharfsinn wider Woldemar über den wesentlichen Zusammenhang zwischen Aeußerlichem und Innerlichem. Er zeigte, wie fast alle Veränderungen, sowohl zum Guten als zum Schlimmen, von Aeußerlichem ihren Anfang nehmen; daß man, um eine schädliche Neigung zu vertilgen, nicht eine gute daneben pflanzen, sondern an jene selbst Hand anlegen müsse, wo denn allemal das erste sey, ihren Ausbrüchen Einhalt zu thun. Er erinnerte an die Zucht der Alten, die sich so sehr mit dem Aeußerlichen beschäftiget hätten; deren erstes Augenmerk gewesen wäre, niedrigen Leidenschaften zu begegnen; durch strenge Angewöhnungen Tugenden – nicht zu erwecken, sondern ihnen nur den Weg aufzuräumen; nur die Seele frey, los und heiter zu machen. Diese Zöglinge wären die edelsten Menschen geworden – ohne Wunder; denn das unbethörte Herz ergebe dem Schönen und Guten sich von selbst, und der lautere abgehärtete Sinn lasse es unbeweglich seyn in dieser edeln Liebe: Ueppigkeit aber bethöre und zertheile das Herz, mache es unfähig zu allem Guten.
Gerade daran liegt es, sagte Biderthal. Nicht darum sind wir schlecht, weil wir nicht gut sind; sondern wir sind nicht gut, darum, weil wir schlecht sind. Die niedern Gegenstände sind uns so nah vor das Gesicht gerückt, daß wir darum die höheren, auch mit den besten Augen, nicht sehen können; wir sind voll Zweifel in Absicht ihrer; läugnen wohl gar, daß sie je anders als im hitzigen Fieber gesehen wurden, und glauben deswegen uns trefflich berathen, indem wir eine sehr künstliche Zubereitung wissen – von Herzhaftigkeit aus Furcht, von Tugend aus Unmäßigkeit und Habsucht – von allgemeiner Menschenliebe aus kahlem persönlichen Interesse, ja aus barer platter Sinnes- und Fleisches-Lust; – indem wir, – ohne Vaterlands- und Freiheits-Gefühl, ohne alles herzliche Interesse, ohne Muth und ohne Liebe – Verachtung von Tod und Wunden – mit Stockprügeln hervorzubringen – Gefangene zu unserer Wache und Beschirmung anzustellen wissen; – und glücklich und zufrieden zu seyn, ohne Tugend, ohne Unsterblichkeit und ohne Gott. – Also sind unsre Augen aufgethan; das tausendjährige Reich ist uns nahe-, und wir verkündigen es mit einer Begeisterung, die auch neuer Art ist, mit der abenteuerlichen Begeisterung des Materialismus, mit dem Enthusiasmus der Gleichgültigkeit.
Woher dieser Verfall? Dieser lächerliche, ich darf sagen –
gräßliche Unsinn? Allein von allherrschender Ueppigkeit! Von der Meinung, die im Gefolge dieser Ueppigkeit sich nach und nach gebildet hat, ›daß die Glückseligkeit eines Menschen im Besitz des möglich größten Antheils an Reichthümern, Beförderungen und Ehrenstellen bestehe. – Was könnten wir nicht im Gegentheil vom menschlichen Herzen, unter Umständen die diesem Begriff von der Glückseligkeit in den Weg träten; oder unter dem Einfluß einer entgegen gesetzten Meinung erwarten, die eben so fest und allgemein wäre; unter dem Einflusse der Meinung, daß die menschliche Glückseligkeit nicht im sinnlichen Wohlleben, sondern in den freyen Aeußerungen eines wohlthätigen Herzens bestünde; nicht in Reichthum oder nichtigen Vortheilen, sondern selbst in der Verachtung dieser Dinge, in der Herzhaftigkeit und dem
»freyen Muthe, die aus dieser Verachtung entspringen«
Diese Stelle befindet sich in
Ferguson's Essay on the history of civil Society; the 2d. edition. London, 1768. p. 53. –
So wie das Ansehn der Reichthümer zunimmt, sagt Plato im VIIIten Buche der Republik, so muß das Ansehn der Tugend sich vermindern. Gold und Tugend sind die zwey Gewichte in einer Wage; das eine kann nicht steigen, wenn nicht das andre sinkt.. – ‹ Es ist mehrmals angemerkt und, besonders von
Rousseau, ins helleste Licht gestellt worden, daß diejenigen Bande der Gesellschaft, die aus Wohlwollen und gegenseitiger Hochachtung bestehen, unter uns nachgelassen; diejenigen Bande hingegen, welche Wollust und Eitelkeit zusammen weben, und welche durch persönliches Interesse angezogen werden, sich desto fester gemacht haben: wie denn, in jedem Falle, die Anstrengung der einen dieser Bande, die Nachlassung der andern unausbleiblich nach sich zieht.
Mir fällt hier, aus eben diesem Rousseau, eine Stelle ein, die einigermaßen auf dasjenige paßt, was Woldemar vorhin sagte; man müsse sich dem Stande und dem Jahrhundert, worin man sich befinde, gemäß verhalten und nicht Komödie spielen. Einer von Rousseau's Gegnern hatte gesagt: Große Staaten zu den kleinen Tugenden der Republiken zurückzurufen, hieße einen ausgewachsenen starken Mann zwingen wollen, in der Wiege zu stammeln. Dieß sey Cato's Narrheit gewesen. Mit angeerbter übler Laune und angeerbten Vorurtheilen, habe er sein ganzes Leben hindurch geschwatzt, habe gestritten und sey gestorben, ohne etwas nützliches für sein Vaterland gethan zu haben. – Hierauf antwortete Rousseau: – »Ich weiß nicht, ob Cato nichts für sein Vaterland gethan hat, aber ich weiß, daß er für das menschliche Geschlecht sehr viel gethan hat, indem er ihm das Schauspiel und das Muster der reinsten Tugend gab: diejenigen, welche aufrichtig die wahre Ehre lieben, hat er gelehrt, wie man den Lastern seines Jahrhunderts widerstehen könne; sie gelehrt, den greulichen Lehrspruch der Leute nach der Mode zu verabscheuen: man müsse thun wie die andern; ein Lehrspruch der einen weit führen könnte, wenn man unglücklicher Weise in eine Gesellschaft von Cartuschen geriethe. Unsere Nachkommen werden dereinst erfahren, daß in diesem Jahrhundert der Weisen und Philosophen, der tugendhafteste unter den Menschen lächerlich gemacht und für einen Narren gehalten worden ist, weil er seine große Seele nicht mit den Lastern seiner Zeitgenossen besudeln, weil er kein Bösewicht seyn wollte mit Cäsar und den andern Verheerern seiner Zeit.«
Ich bin kein Cato, sondern Bürger und Kaufmann zu B**, und gedenke niemanden zum Beyspiel zu leben. Dorenburg eben so wenig. Wir wissen auch daß wir die Tugenden voriger Zeiten nicht einmal in uns selbst erneuern können; daß sogar unser Sehnen nach ihnen nicht viel mehr ist als des Blindgebohrnen Sehnen nach Licht. Jenes Schöne und Große, das wir umfassen, an dem wir uns halten möchten: es ist zu weit von uns weg! wir können nur in trüber Ahndung uns ihm nähern, nur schweben um den wankenden Schimmer. – Die Erhebung unserer Seele ist nur ein Traum, den das erste zufällige Geräusch verjagt! – Ach, die Empfindungen, die Gedanken, die nicht aus That hervor gegangen sind und gleich wieder hinzielen auf That, nicht im alltäglichen Leben unaufhörlich wiederkommen, wie Hunger und Speise, Müdigkeit und Ruhe, Arbeit und Genuß – mit diesen Gedanken, mit diesen Empfindungen ist der Seele wenig geholfen. – Und so kann wohl niemand dem Verderbnisse seines Zeitalters gänzlich entrinnen, wie sehr er dies Verderbniß auch erkennen und verabscheuen mag; denn allein in seinem Zeitalter leibt und lebt er nun einmal. – Wie viel hiemit gesagt ist, muß jeder fühlen, der über Menschheit nachgedacht, Menschheit in seinem eigenen Busen erforscht hat. Unsere herrlichsten Erkenntnisse dienen am Ende uns nur zur müßigen Betrachtung; unsere erhabensten Gefühle nur zur einsamen unfruchtbaren Ergötzlichkeit! in unsern Handlungen aber werden wir von andringendem Bedürfniß und von andringender Leidenschaft geführt. Und das ist der Natur der Dinge gemäß. Begierde kann nur durch Begierde vertilgt, Leidenschaft nur durch Leidenschaft überwunden werden: der Charakter sitzt nicht im Verstande, sondern im Herzen. – Will man nun dennoch der allgemeinen Verderbtheit einigermaßen ausweichen, und etwas andres seyn als was der alltägliche Weltlauf gegenwärtig aus den Leuten macht; so muß man aus dem Strom heraus und sich in andre Umstände versetzen. Ich baue mehr auf den Charakter eines gemeinen Handwerkers, dem sein Beruf seine Lebensart bestimmt, der fleißig, mäßig und ordentlich seyn muß, um das liebe Brod zu haben, als auf den Charakter des Moralisten von Profession, der in beständiger Erwägung des Guten und Schönen willkührlich einher geht, und die ganze Summa tugendhafter Ideen und Gefühle sich und andern aufzujücken weiß auf der obern Haut. – Wahrhaftig! jede gute Eigenschaft, die mir nicht aus dem Herzen werden kann, will ich denn noch eher aus dem Magen erwarten und herbeyschaffen, als allein aus dem Kopf. – – Ich suche also weiter nichts mit den Veränderungen in meiner Lebensart, als eine Lage, die mich seyn lasse, was ich zu seyn wünsche; eine Lage, worin, nach Sokratischer Anweisung, meine Sinne gesund, mein Verstand heiter, und mein Wille frey erhalten werde. – Ohne Form, wie du weißt, kann nichts bestehen; und da sich mir in unsern Tagen keine Form anbietet, worin – meine besten Kräfte aufgefodert, erweckt und angewandt – ich zum höchsten Genusse der Menschheit gelangen könnte: so bilde ich mir selbst eine andre, die mich wenigstens vor allzutiefem Sinken bewahren wird; oder vielmehr, ich ziehe mich in die älteste lauterste Form der Menschheit zurück, indem ich allen eiteln beunruhigenden Freuden den Paß verhacke, den Zerstreuungen ausweiche, meine Seele stiller mache, und so jede einfache Naturneigung in mir empor bringe und stärke.
Biderthal hörte auf zu reden, und alles schwieg. Woldemar hatte sich entfärbt; die Augen stunden ihm voll Wasser. Er raffte sich auf, und fiel seinem Bruder um den Hals. »Lieber!« sagte er zu ihm mit beklommener Stimme – »Lieber! ... Du hast mir aus dem Liede meiner tiefsten Schwermuth vorgesungen.« ... Sein Gesicht senkte sich gegen Biderthals Brust, die Wehmuth überwältigte ihn.
Freunde! hub er an, indem er sich wieder in die Höhe richtete – Es ist wahr, nur all zu wahr, daß unser Leben in einen der trübsten Zeitpunkte gefallen ist. Die edelsten Formen der Menschheit sehen wir zertrümmert; und wenn wir nun auch Vieh werden wollen, wie uns die Weisen rathen: so sind wir, aus Mangel an Leibeskräften, auch das zu seyn nicht einmal im Stande.
Wir müssen dennoch, fuhr er fort, indem er Biderthals und Dorenburgs Hand ergriff – wir müssen dennoch Muth behalten, und, anstatt unter schönen Schwärmereyen zu erliegen, uns empor schwingen zu Wirklichkeit und Wahrheit; – wir müssen auf dem Wege der Vorsehung, wenn er auch noch so dunkel scheint, demüthig fortwandeln; thätig seyn auf der Stelle, wohin sie uns gesetzt hat; die große Weltmasse voran wälzen helfen: denn zurück wälzen werden wir sie nie. – Die Zeit ist vielleicht nahe, wo aus jenen zertrümmerten Formen eine neue zusammen fließen wird, – eine reinere und bessere. – Was wollen wir uns mit eitlem Flickwerke aufhalten? Der unsichtbare Geist, der einmal entwichen ist, wird in die verlassene Hülle nie zurück kehren; er hatte sie ausgebraucht; im Gebrauch sie zerstört. Nachbilden – ja, das können wir einigermaßen: aber was ist diese Nachbildung? – Eine hohle Wachspuppe, in welcher auch nicht einmal die innere todte Gestalt zu finden ist; – geschweige bewegender Organismus; – und geschweige die Seele! – Wir irren überhaupt, wenn wir glauben, ein gewisser Geist müsse nothwendig in eine gewisse Form, und in eine gewisse Form nothwendig ein gewisser Geist gebannt seyn. Man nenne mir irgend Eine, und gebe an, was man als ihre nothwendigen Folgen ansieht; und ich will zeigen, daß, unter verschiedenen Umständen, an mehr als einem Orte diese Form da gewesen ist – ohne dergleichen Folgen hervor zu bringen. Ich will Gesellschaften aufweisen in unseren Tagen, von denen sich beweisen läßt, daß sie die Hauptcharaktere an sich haben, über deren Abgang, als die einzige Quelle unseres Elendes, so sehr gejammert wird; und ich will darthun, daß diese Gesellschaften demohngeachtet aus den nichtswürdigsten Menschen bestehen.
Dorenburg bat um ein ausdrückliches besonderes Beyspiel.
Ihr dürft euch nur an die Stadt X* und ihren Bezirk erinnern, antwortete Woldemar. Ihr wißt, die Einwohner dieser volkreichen Gegend sind die emsigsten und ordentlichsten Leute von der Welt; sie hangen mit Leidenschaft an ihrem Beruf, an ihrer Familie, an ihrer Verfassung, an ihrer Religion, an ihren Wohnplätzen: und dennoch, was für elende unglückliche Menschen? Wie voll Neid und Bosheit gegen einander; wie voll Mißtrauen, Ungerechtigkeit und Frevel? Ihre tückischen Herzen sind dem Wohlwollen, der Freundschaft – sind jeder frohen und edlen Empfindung verschlossen; ihre Stirnen mit dem gehässigsten Eigensinn bezeichnet, mit Feindseligkeit gegen alles, was den menschlichen Geist zu erheben dient.
Dorenburg wollte dies Beyspiel näher untersucht haben.
Nein, unterbrach ihn Woldemar, wir gehen kürzer in die Zeiten der Patriarchen selbst, eurer besten Originale, zurück. – Sagt, war es nicht in Abrahams Tagen, da Sodom und Gomorrha untergiengen, und bewohnte nicht eine von diesen Städten der Erzvater Lot? – War es nicht Abrahams Sohn, der dem Hunger, dem Raube, der Gewaltthätigkeit, bald hierhin, bald dorthin entlaufen mußte? – Waren es nicht die Söhne des noch ängstlicher herumgetriebenen, kummervollen, geplagten Erzvaters Jacob, welche ihren Bruder Joseph, aus Mißgunst wegen eines bunten Rocks ermorden wollten, und hernach aus Barmherzigkeit an Sclavenhändler verkauften? – Und die andern Thaten dieser Söhne? ... Verfolgt in diesem Sinne die Jahrbücher der Welt, die ganze Reihe von Denkmalen in gebundener und ungebundener Rede: Ihr werdet überall etwas finden, was eure Formen-Systeme ziemlich erschüttern, auch euern Unwillen gegen die Tage, worin wir leben, ein wenig mäßigen wird.
Schwerlich! erwiederte Biderthal; denn was ist das alles gegen den scheußlichen Unglauben der heutigen Welt an Tugend und bessere Menschheit, gegen ihre Verachtung alles Ueberirrdischen und allein die Seele Beglückenden? – Ich fürchte mich daran zu denken.
Allerdings, antwortete Woldemar, ist hier ein Abgrund des Verderbnisses; eine schreckliche, aber unvermeidliche Kluft, die, wie Tod und Verwesung, zum Uebergang in ein neues, vielleicht besseres Leben vor uns liegt. Der von uns betretene Weg brachte dieser Kluft uns immer näher und näher. Wir haben sie erreicht, und müssen nun hinüber. Lange genug fuhren wir fort persönliche Eigenschaften, Tugenden, Umstände und Zustände anzupreisen, für die wir keinen Sinn mehr hatten, oder vielmehr, die unsern Sinnen ganz entrückt waren. – Wir sollten und wollten unsere Glückseligkeit mit Verachtung – mit Hintansetzung wenigstens, der Wollust und der Reichthümer suchen; und es war doch nichts mehr da, wofür wir etwas thun konnten, als – Wollust und Reichthümer. Keine der Bedürfnisse, welche die Seele mit Gewalt erheben, waren mehr vorhanden; keine Gegenstände mehr, bessere und freywillige Bestrebungen zu erwecken.
Und nun? sagte Biderthal vor sich.
Und nun, fuhr Woldemar fort, stand ein Mann auf, der es frey heraus sagte: Wir schätzten nur die Wollust, hätten nur unsere Sinne, gerade fünfe an der Zahl, und kein Herz und keinen Geist; nur Begierden, und kein unmittelbares Gefallen am Menschen, keine Liebe: die Tugend die sich selbst lohne, sey ein Hirngespinnst.
Wer Ohren hatte zu hören, der hörte. Ganz Europa fiel der neuen Lehre bey. Man wußte ihren Urheber nicht genug zu rühmen, und nicht genug ihm zu danken.
Und in der That war es ein großes, den Geist seiner Zeit so zu fassen, wie es Helvetius gethan hatte; die leeren Schatten vollends zu verjagen; alle bloße Dunstgestalten zu zerstreuen; und aus den einzig wirklich vorhandenen Materialien ein neues System von Tugend und Glückseligkeit aufzuführen, das so schön und bündig war, als es aus dergleichen Materialien nur immer werden konnte. – Daß er aber diese Materialien durchaus und überall für die einzigen hielt, und nun glaubte und zu behaupten wagte, Sokrates und Epiktet, und Curius, Metellus, Sülly, Alfred – Helden, Heilige und Weise, alle, groß und klein, hätten im Grunde nichts anders vor Augen gehabt, als was auch Er, Generalpachter von Frankreich, vor Augen hätte, und wären nur nicht klug genug gewesen, um, wie er, genug zu wissen was sie wollten, – wodurch sie denn in den mancherley Irrgärten der Tugend wären herum getäuscht worden, und darüber das Eins das Noth ist, den bessern Theil, wirklich zu erhaschen versäumt hätten: – dies zeugte von einer Taubheit des Herzens, und einer Versunkenheit der Lebensgeister, welche in jeder gesunderen Seele die widrigste Mischung von Mitleiden, Unwillen und Ekel erregen mußte.
Allein dieser gesunderen Seelen waren nicht viele unter denen, welchen die Stimme des Propheten der Sinnlichkeit erscholl; weit die meisten fanden, daß er wunderbar ihr eigenes Herz ihnen offen gelegt hatte, und sie riefen laut: dieß wäre die reine volle Stimme der Natur. – Das hörten die Jünglinge – und sie wurden weise wie ihre Väter; lernten die Vorschriften der alten Sittenlehre verspotten; den blinden Enthusiasmus für Tugend und Ehre in ihrem Herzen verlachen; alle das unnütze Zeug von sich wegthun, ›was doch keine Freuden verschaffen könnte, die sich nicht auf eine weit vollkommenere Art aus dem rosenbekränzten Becher, und von den Lippen einer schönen Cyane saugen ließen.« Jeder demnach eiferte die kahlen Umschweife zu vermeiden, und gerade auf das Ziel loszugehen; niemand wollte der Betrogene seyn, und sich durch Alfanzereyen von Tugend und Ehre hinter das Licht führen lassen, Spiel-Marken anstatt des Geldes einsäckeln. Und so verschwanden vollends Tugend und Ehre, wie auch das Geld verschwinden würde, wenn die Metalle ihren eigenthümlichen inneren Werth bey uns verlören. Die Folgen dieser Vernichtung des Edelsten und Besten haben wir gesehen, und sehen sie, leider! noch. Aber die Menge der Hinabgesunkenen wird, hoffe ich, die Kluft bald gefüllt haben. Zu umgehen war sie nicht; alles nahm zu gewaltsam die Richtung nach ihr hin. Unsre Herzen waren durchaus eitel geworden, und da der Mensch den Trieben des Herzens allein doch am Ende folgt; wozu hätte es genützt, daß diese langer geläugnet, länger verstellt geblieben wären? Daß sie offenbar wurden, daß sie eine Zeitlang allein herrschten, ungehindert alle ihre Wirkungen hervorbrachten, war unendlich besser. Denn so tief konnte bey dem allen der Mensch nicht sinken, daß er irgend eine Eigenschaft seiner Gattung ganz verloren hätte. Eben so wenig konnten alle und jede Veranlassungen aufhören, diejenigen Kräfte in ihm aufzurufen, in deren Anwendung er den besten Genuß seines Daseyns von jeher gefühlt hat und auf alle Zeiten hinaus fühlen wird. Er mußte also bey seinem unseligen Versuche bald der Dürftigkeit des Zustandes inne werden, auf den er sich so treuherzig einschränken wollte. Aus dem wiederholten, obgleich nur dunkeln Gefühl dieser Dürftigkeit mußte allmählig eine deutlichere Erkenntniß hervorgehn; aus dieser Erkenntniß, so lange der einmal gefaßte Unglaube an ein Besseres fortdauerte, Verzweiflung; und aus dieser Verzweiflung, eine betrübte, niederschlagende Resignation. Wir kennen diese philosophische Resignation, dieses höchste Gut, oder vielmehr dieses Ende der Weisheit unserer Helden und Heiligen der Sinnlichkeit, der zufolge sie über die Nichtswürdigkeit, über den unerträglichen Ekel, der sie verzehrt, durch die Wissenschaft dieses Ekels und dieser Nichtswürdigkeit sich zu trösten suchen. Eine dürre fürchterliche Wüste!
Aber sie hat einen Ausgang. Er ist schwer zu finden; doch wird er gefunden. Ich selbst kenne einige Zurückgekommene, die nun mit voller Seele an der Tugend höchstes Wesen glauben. – »Da mich, sagte einer von diesen zu mir, ein guter Geist durch tausend Krümmungen an einen Ausgang des Labyrinths geleitet hatte, und ich nun einen Pfad, der sich in gerader Richtung vor mir hinzog, betrat, gelangte ich bald in Gegenden, wo mir wurde, als erwachte ich aus einer tiefen Ohnmacht. Warmes Blut trat mir ans Herz, und mein Herz fieng an hoch zu schlagen. Mein innerstes Bewußtseyn erwachte. Ich erblickte eine neue Welt, empfing ein neues Daseyn. Unerschütterlich wurde nun meine Ueberzeugung, daß die thierischen Triebe nicht unsre ganze Natur ausmachen; daß der beste Genuß unseres Wesens uns nicht von unten herauf, sondern von oben herab kommt, – der Mensch nicht allein vom Brodte lebt; – und daß die höchste Glückseligkeit nicht eine gewisse Art des äußerlichen Zustandes, sondern eine Beschaffenheit des Gemüths, eine Eigenschaft der Person ist.«
Gewiß, meine Freunde, wird die Anzahl der Zurückkommenden sich vermehren. Je weiter diese Unglücklichen von der Tugend entfernt waren; je unschuldiger – oder je gewissenloser durch eine gänzliche Verblendung: desto tiefere Wurzeln wird der wieder erlangte bessere Glaube in ihre Herzen schlagen. Sie haben empfunden, wie dem Menschen bald zu Muthe wird, der, ohne Widerhalt, endlich jedem, auch dem kleinsten Reiz zur Lust unterliegen muß; welche Schwäche, welche Niederträchtigkeit den Abgöttischen umfaßt und gefangen nimmt, dem auf jedem Schritt ein elender Gegenstand voll Allmacht entgegen kommt; welcher Umgang in einer Gesellschaft von lauter dergleichen Götzensclaven ist, die, ohne Selbstständigkeit, ohne Zuversicht und ohne Liebe, wie Gespenster durcheinander schweifen, – in dringenden Momenten ihre Sehnerven fast zerreißen, um einen Zug der Wahrheit von einander zu erhaschen; einen Blick, um sich mit Vertrauen hineinzuhacken; – sie haben empfunden, wie schwer die Errettung aus diesem jammervollen Zustande ist; wie es demjenigen, der lange jedem seiner Triebe nachhing, und nicht einmal die Vorschriften seines Eigennutzes zu befolgen wußte, wie es dem so schwer, ja beinah unmöglich werde, sich den unwandelbaren Gesetzen der Rechtschaffenheit treulich zu unterwerfen; und wie dennoch eine solche Unterwerfung ohne Ausnahme und nachherige Klügeley, Tugend und Charakter allein zu sichern vermöge.
Einen Augenblick! so ungern ich Sie unterbreche; fieng Henriette an. – Sollte das wahr seyn, daß die Erfahrung des Lasters den, der glücklich durchkommt, zu einem desto besseren und weiseren Menschen mache? Ich glaube beobachtet zu haben, daß der volle Abscheu, welchen die Unschuld vor dem Laster fühlt, mit dieser Unschuld unwiederbringlich verlohren gehe. Eben so die volle Liebe zum Guten und Schönen. – Die bezaubernden Reize des Lasters verderben die Einbildung, verwirren, durch die Einbildung, den Verstand, und lassen in dem Herzen, das sich ihnen hingab, eine unheilbare Schwäche zurück. Die reinste Seele, wenn übrigens keine zu große Verschiedenheit der Kräfte vorhanden ist, wird sich immer auch als die stärkste beweisen. Ich weiß auch kein Beyspiel, daß ein Lasterhafter, durch Erfahrung belehrt, bloß aus sich selbst anderes Sinnes geworden wäre: immer hatte er seine Veränderung einer glücklichen Begebenheit zu verdanken, wo ihm Unschuld in den Weg trat, ihn anblickte, oder ihren unbefleckten Mund wider ihn aufthat. – – Zuverläßig, mein Freund, liebt derjenige am meisten das Gute als gut, der es nie verließ! Die andern unterwerfen sich blos der Tugend, oder liebkosen ihr; dieser ist der Tugend Freund!
Wahr! wahr! rief Woldemar aus – Kein Licht leuchtet so hell, als das Licht einer Seele voll Unschuld, und der Friede aus der Höhe übertrift alle Vernunft und Erfahrung. Ich denke mit Schaudern an den Wetterstrahl, der aus einer einfältigen Rede oft in mein Herz fuhr und mich zu Schanden machte. – Aber, liebe Henriette, ich glaube nicht wider diese Wahrheit geredet zu haben. – Hören Sie mich ganz!
So weit die Geschichte reicht, sehen wir Tugend und Laster in wunderlicher Vermischung; in einer Vermischung, die wie ein Vergleich aussieht: beyde überall mit gewissen äußerlichen Formen der Lebensart, der Gesetzgebung und der Religion gleich unzertrennlich verknüpft; nirgend Tugend in eigener Gestalt. – Die bloßen Triebe zum Guten und Edeln, ungeläutert und sich selbst überlassen, diese Triebe mit ihren unmittelbaren zufälligen Aeußerungen, sind noch nicht die Tugend, sie sind nur ihre Elemente. Diese Elemente hat die Zeit analysirt, eine Menge Scheidungen damit vorgenommen, mit dem Geschiedenen allerhand Mischungen versucht. Jede dieser Mischungen erhielt ihr eigenes Gefäß und Siegel. Einige läuterten sich schön. Zerbrach nun aber das Gefäß, oder bekam es eine Oefnung; so verflog der Geist, und hinterließ wenig mehr, als Geruch. Mit allen bisherigen Formen der Menschheit ist es so ergangen. Gute und schlechte haben unter einander sich zertrümmert; alle in Unwesen sich entbildet; sind zusammen ein ungeheures Chaos geworden, das noch gährt: die Oberfläche eine scheusliche Lache; die vermischte Ausdünstung Gestank!
Einige Form – muß jedem Dinge bleiben; und so behält auch der Mensch auf alle Fälle wenigstens die Form seiner besondern Thierheit. Diese war es nun, wohinein er alles flüchtete, was er noch zu retten gewußt hatte, und er wendete an ihre Ausbildung seine gesammten Kräfte.
Der Erfolg war zum Erstaunen; nichts war ihm noch in dem Grade gelungen. Verfeinerte, ausgearbeitete Thierheit, dachte er, müßte also wohl seine eigentliche wahre Bestimmung seyn; und er verdoppelte die Schritte. – Nicht lange, so wähnte er sich nahe an der höchsten Vollkommenheit seiner Natur. Er jubelte, taumelte vor Stolz. Das Thier, und das Thier allein, sollte und wollte sich nun alles in allem seyn; sollte und wollte von keinem Geiste mehr wissen, weder in ihm, noch über ihm. Und damit entfloh der letzte Funken ächter und alter Tugend.
Aber auch ohne Tugend kann der Mensch nicht dauern, so wenig als ohne Speise und Trank. Er mußte also – oder vielmehr er muß, denn in diesem Zeitpunkte befinden wir uns eben, – er muß – er wird, durch seinen menschlichen Instinkt gezwungen, aus den Tiefen seines Wesens sich eine Tugend wieder hervorschaffen.
Und diese Tugend, da sie, allen nur ersinnlichen Hindernissen zuwider, aus seinen nothwendigsten und dringendsten Trieben, wie von selbst hervorgegangen ist, muß und wird ihm die Geheimnisse seiner Natur und seiner Glückseligkeit heller offenbaren, als es noch keine Form bisher zu thun vermögend war Plato sagt im zweyten Buche der Republik: »Kein Einziger von euch, lieben Freunde, die ihr euch Lobredner der Tugend nennt, von den Heroen der Vorzeit an, deren Sprüche uns aufbehalten sind, bis zu unsern Zeitgenossen; kein Einziger hat jemals auf eine andre Weise das Laster gescholten, die Tugend gelobt, als um des guten Namens, um der Ehre, um der Geschenke willen, die uns die Tugend gewährt. Beydes an sich selbst, wie es mit seiner eigenthümlichen Kraft in des Besitzers Seele wohnt, verborgen vor Göttern und Menschen: dies hat keiner jemals, weder in Gedichten noch in gewöhnlicher Sprache kund gethan. Daß nemlich die Ungerechtigkeit von allen Uebeln der Seele das größte; Gerechtigkeit aber, das größte Gut sey. Hättet ihr alle, von Anfang an, so gelehrt, und diesen Glauben in uns gebracht, so würden wir nicht einer den andern davor hüten, Unrecht zu thun; sondern ein jeder würde sein eigener vornehmster Wächter seyn, aus Furcht, wenn er Unrecht thäte, dem größten Uebel in sich Raum zu geben.
Ich weiß nicht, erwiderte Biderthal, ob du wirklich neue Ideen in mir erweckest, meinem Verstande eine wahrhaft neue Erleuchtung mittheilst, oder ob du mich nur blendest. – Ich finde doch am Ende immer den Gedanken wieder, daß Tugend aus Begriffen nicht viel mehr als ein Fantom seyn kann. Die erste gute Handlung, wenn ich so reden mag, die ausgeübt wurde, ohne Vorschrift, ohne Gesetz, ohne Absicht auf ihre Güte ausgeübt; ihren Lohn hatte sie bey sich in der Befriedigung des Triebes der sie foderte; und so wurde sie jedes mal wiederholt, wenn eine ähnliche Gelegenheit sich hervor that. Wo Tugend lebendig ist, da besteht sie auf diese Weise. Es ist damit wie mit der Freundschaft, die sich nicht machen, nicht zusammensetzen läßt, sondern durch gegenseitiges Verhältniß, wie aus Einem Stücke, entweder da ist, oder nie da seyn wird; ohne unmittelbaren Geschmack ist sie eitel Heucheley. – Alles was sich von den Vortheilen der Tugend, von den Freuden, die sie begleiten, von ihren Triebfedern in Gedanken aufbewahren, gleichsam, verzeihe mir ein niedriges Gleichniß – einsalzen und in den Rauch aufhängen läßt – ist so weit hergeholt, so schwach und so schwindend! – Und dergleichen Gedanken sollen denn doch sinnliche Begierden überwältigen; mit ihrer Vereinigung soll eine Form sich bilden, worin unsere Kräfte coaguliert, zu einem undurchdringlichen Ganzen höchster Vortreflichkeit werden! – Ich fasse das nicht – begreife noch weniger von einer Tugend in eigener Gestalt, die aus unseren dringendsten Trieben wie von selbst hervor gehen könnte. Denn es giebt doch wohl kein innerliches Bestreben im Menschen, das nicht durch den Reiz eines Gegenstandes außer ihm zuerst wäre in Bewegung gesetzt worden. So wenig unser Angesicht sich in sich selbst beschauen kann: so wenig kann es unsere Seele. Sie wird ihres inneren Wesens nur durch Anstoß und Gegenwirkung gewahr. Zur Entdeckung unserer besten, reinsten, unsinnlichsten Freuden gelangten wir indem wir sinnlich handelten. Und obschon wir dergleichen Empfindungen nachher abzusondern, einigermaßen in uns aufzubehalten vermögen; so können sie doch in dieser Abgezogenheit nur auf eine sehr düstere und hinfällige Weise bestehen; sie gleichen, wie ich schon vorhin bemerkte, einem Traumgesicht, und bedürfen einer immerwährenden Erfrischung durch wiederholte That. Tugend also muß mit Bedürfniß und Leidenschaft zusammen fließen, wenn sie zuverläßig seyn soll; Lage und Umstände müssen zu Hülfe kommen, damit sie durch täglichen Gebrauch zur Angewöhnung werde! – Wenn nun diese Lage, diese Umstände ...
Du verfällst in Wiederholungen, sagte Woldemar: so kommen wir nicht weiter. Was du vorbringst, ist mir so wenig entgegen und fremd, daß ich meine eigenen Wendungen und Worte in deiner Rede wieder finde; nur gehst du im Verbinden und Folgern ziemlich einseitig und flüchtig zu Werk.
So viel ist gewiß, daß sich Tugend nicht erklügeln läßt, und daß gute und edle Gesinnungen nur aus guten und edlen Trieben hervorgehen können.
Auch das mag wahr seyn, daß unsre Seele, eben so wenig als unser Angesicht, sich in sich selbst zu beschauen im Stande ist, und daß sie ihres Wesens nur durch Anstoß und Gegenwirkung inne wird.
Aber sie wird es denn doch inne, und sie gelangt zur Beschauung ihrer selbst in unaussprechlichen Gefühlen. Sie, ihr inneres Wesen, ihr wunderbares Ich, wird und ist in allen Menschen sich selbst ein Gegenstand der Betrachtung, der Beurtheilung, und in dieser Beurtheilung, der Freude und des Schmerzes, des Wohlgefallens und des Abscheus, und zwar der nächste, unmittelbarste, wirklichste, fruchtbarste und interessanteste von allen. Da wir den Werth der Dinge außer uns nach ihren Wirkungen auf uns bestimmen, so muß unsere eigene innerliche Beschaffenheit, weil sie uns unmittelbar angeht, uns unendlich über alles andre wichtig seyn. Die Quaalen des Gewissens und der heimlichen Schaam, die Freuden der Tugend und die Gewalt der Ehre nehmen daher ihren Ursprung, und geben, in ihren wunderbaren Erscheinungen, tausend Beweise für mich an die Hand. Freylich muß, wie du erinnertest und ich zugab, unser Bewußtseyn durch Einwirkung von außen zuerst geweckt werden; bestehen aber und fortdauern kann es nur in sich selbst durch deutliche Erkenntniß, die dem Menschen Persönlichkeit, Freyheit, inniges Gefühl der Seele, eigentliches Leben giebt. Also ist der Begriff, wenn gleich sinnliche Empfindung unmittelbarer und früher ist, dennoch wichtiger, fruchtbarer, höher und besser. Wir sehen auch die Menschen viel weniger durch wirkliche, angenehme und unangenehme, Empfindungen, als durch Meinungen und auf Meinungen gegründete Vorurtheile regiert. Und was am merkwürdigsten ist, und eine tiefe Erwägung verdient: wir werden jeder sinnlichen Vorstellung und ihres Gegenstandes überdrüßig, so bald sich die innere Vorstellung, der Begriff vollkommen gebildet hat. Der Kern ist alsdann genossen, die Hülse leer, und wir lassen sie liegen. Unser Leben hienieden ist nichts anders als eine solche fortgesetzte Entsinnlichung der Körperwelt, und eine Verwandlung von Seele in Seele durch gesellschaftliche Bewegung. Wir würden unseres liebsten Freundes, wir würden unserer selbst überdrüßig werden, wenn in seinem oder unserem Daseyn sich ein Stillstand ereignete. Willkührlich demnach und unwillkührlich, aus Instinkt und Ueberlegung streben wir insgesammt, unsere Empfindungen in Begriffe zu verwandeln, Seele mit Seele zu durchdringen, und in dem Gefühl eigener, unabhängiger, immer weiter sich ausdehnender Vortreflichkeit den höchsten Grad unseres Daseyns zu erhalten.
Worin aber menschliche Vortrefflichkeit bestehe, darüber ist unter Menschen von gesundem Verstande nie ein Zweifel gewesen. Die Gaben sind mancherley; aber jeder ist vortreflich in seinem Maaß, dessen Vernunft seine Empfindungen, Begierden und Leidenschaften überschaut und beherrscht.
Ich sage beherrscht! denn Empfindungen, Begierden und Leidenschaften müssen da seyn, wenn sich menschliche Vernunft hervorthun soll. Aus stumpfen Sinnen werden nie helle Begriffe hervorgehen; und wo Schwäche der Triebe und Begierden ist, da kann weder Tugend noch Weisheit eine Stelle finden. Kein Volk; keine Obrigkeit! Keine Obrigkeit; keine Gemeine! Je zahlreicher aber und je rüstiger die Menge, desto größer das Fürstenthum!
Und gleich einem Fürstenthum ist die Vernunft, von der ich rede. Ihr gehört jenes herrschende Gefühl, jene herrschende Idee, wodurch allen übrigen Ideen und Gefühlen ihre Stelle angewiesen wird, und ein höchster unveränderlicher Wille in die Seele kommt; sie entwickelt in sich selbst jenen auf unüberwindliche Liebe gegründeten unüberwindlichen Glauben, und mit diesem Glauben jenen heiligen Gehorsam, der die edelste und höchste Kraft des Menschen, der die Krone seiner Freyheit ist.
Unter allen Völkern und zu allen Zeiten ist hierüber nur eine Stimme gewesen. Nicht den feurigen Sinn und das glühende Herz für sich allein, sondern den starken Geist, der Herz und Sinn nach Gesetzen zu lenken wußte, haben sie über alles bewundert. Einen Agesilaus bewunderten sie, wenn er den Preis der sauersten Arbeit, die Erfüllung seiner heißesten Wünsche, den Ruhm Asien erobert und den Thron des großen Königs umgestürzt zu haben, auf den ersten Wink der Ephoren dahin giebt, und nach Sparta zurück eilt, indem er, wie Xenophon sagt, dem Gehorsam gegen die Befehle seines Landes und einem durch die Gesetze eingeschränkten Ansehen, vor jenen großen Besitzthümern in Asien und vor der unumschränkten Gewalt, die sich ihm anbot, den Vorzug ertheilte. – Eben diesen Agesilaus, wenn er sich dem Kusse der Liebe entzieht; seiner Leidenschaft, der Betrübniß ihres Gegenstandes, und dem gefälligen Rathe seiner Freunde widersteht, und endlich zu diesen sagt, nachdem er eine Zeitlang nachdenkend und ganz in sich gekehrt da gestanden hatte: – »Laßt mich; denn ich kann euch versichern, daß ich eine größere Wonne genieße, indem ich von neuem diesem Kuß entsage, als wenn ich in diesem Augenblicke die Gewalt erhielte, alle meine Wünsche zu befriedigen.« – Einen Lysander bewunderten sie, wenn er von seinem Freunde, den er zum Könige, und, was in den Augen dieses Freundes noch mehr war, zum Heerführer der verbundenen Griechen wider die Perser gemacht hatte; wenn er von diesem Freunde auf die schändlichste Weise gekränkt, seine andern Freunde ermahnt, von ihm selbst abzulassen, und sich an den König zu hängen; wenn er dann diesem Könige in den gemäßigsten Ausdrücken Vorstellungen thut, und aus Pflicht gegen sein Vaterland sich als den emsigsten in seinem Dienste zeigt. – Einen ...
Woldemar! fiel Biderthal lächelnd ein – Bruder! Mit wem redest du? Woher sind die Leute, die du anführst? – Sind sie aus unserm Jahrhundert? Oder reißt das Feuer dunkler Weissagung dich hin?
Ich rede mit dir, antwortete Woldemar treuherzig, und meine Leute sind Lacedämonier, gerade aus dem Volke, welches du vor andern angezogen haben würdest, um deine Lieblingsmeynung zu unterstützen, und welches am eigenthümlichsten den Ruhm der Tugend besaß. Und da wollte ich nur ganz sachte dich auf die Bemerkung leiten, daß es nirgend Menschen gegeben hat, die weniger nach Trieben und Leidenschaften gehandelt, und sich mehr um kaltes Blut und ruhige Vernunft bemüht haben, als eben diese Lacedämonier. Ihre ganze Zucht und Einrichtung gieng dahin, sich von allen menschlichen Gefühlen unabhängig zu machen, und nachher nur so viel davon wieder anzunehmen, als nöthig war, um einen brauchbaren Spartaner vorzustellen. Sie sind der auffallendste Beweis von der Uebermacht des Begriffes über die Empfindung; sind, von dieser Seite betrachtet, die erhabensten Menschen gewesen.
So zeigten sie sich aber nur in dem magischen Bezirk ihrer Verfassung, welches die zweyte Bemerkung ist, worauf ich dich zu führen dachte. Wurden sie aus diesem magischen Kreise herausgesetzt, so verloren sie alle Haltung und begingen die niederträchtigsten und schändlichsten Dinge. Die Ursache hievon? – Sie waren nur für Sparta, nicht für die Menschheit erzogen; ihre Tugend war eine blos bürgerliche Tugend!
König Pausanias zog, als die Ehre seines Landes, gegen den Mardonius zu Felde. Als dieser in der Schlacht gefallen war, und ein Bundesgenosse vorschlug, an dessen Leichnam die dem Leonidas von den Barbaren zugefügte Schmach zu rächen, so schalt ihn der Held, und sagte: Sparta suche seinen Ruhm in der Mäßigung, nicht in einer niedrigen Rache. Er stellte kurz darauf zwey Gastmale an; das Eine mit Asiatischer Pracht, das Andre mit Lacedämonischer Einfalt. Der Contrast war auffallend; und Pausanias rief aus: welche Narrheit von einem Mardonius, der so köstlich zu leben gewohnt ist, Leute anzufallen, die alles entbehren können! – Und nun, wie plötzlich fiel er dennoch ab, und wie häßlich ist nicht die Geschichte seiner Verrätherey?
Andern Lacedämonischen Heerführern, die in ähnliche Umstände versetzt wurden, gieng es auf eine ähnliche Weise; dergestalt, daß sogar ein Gylippus, der Befreyer von Syrakus, nachdem er eine Menge großer Thaten verrichtet hatte, der Versuchung unterlag, die ihm anvertrauten zugesiegelten Geldsäcke heimlich aufzutrennen, und sein Vaterland auf die niederträchtigste Weise zu bestehlen. – Eine Prüfung von Lysanders Leben würde uns noch weit andere Dinge sehen lassen; aber ich übergeh ihn lieber und lasse auch den Agesilaus unangefochten. – Genug: wenn ich die Tugend dieses Volks an sich, und dabey noch die Hinfälligkeit dieser Tugend betrachte; so scheint sie mir der Martern, womit sie erkauft wurde, und des Opfers so vieler herrlichen und schönen Gefühle der Menschheit nicht werth. Ich wenigstens, wenn ich Kinder hätte, würde nie, um ihnen diese Tugend zu verschaffen, sie einer jährlichen Geisselung auf den Tod um den Altar der Diana, den Vorübungen zu diesem gräßlichen Schauspiel, und der Aussendung auf Straßenraub und Meuchelmord dahin geben.
Was die wirklich großen und tugendhaften Männer aus den übrigen Staaten Griechenlandes angeht, so hatten diese sicher ihre Vortrefflichkeit nicht allein der bürgerlichen Verfassung, worin sie lebten, und den öffentlichen Sitten zu verdanken, sondern eben so sehr, und vielleicht in merklich höherem Grade, den Lehren der Weisheit wovon sie durchdrungen waren. Der große Haufe, den allein die Form und gemeine Sitte bildete, war schlechter als bey uns. Wer die alte Geschichte aus ihren Quellen geschöpft hat, kann dies mit Händen greifen. In Wahrheit, man weiß nicht wie einem geschieht, wenn man die Gesinnungen, die Meinungen und den Wandel dieser Völker, sowohl in öffentlichen als Privatangelegenheiten, etwas näher sich vor Augen stellt. Ich las erst neulich den Thucydides wieder, und mir fiel darin, als hätte ich sie noch nie gelesen, jene Rede auf, welche vor dem Peloponnesischen Kriege von Athenischen Gesandten zu Lacedämon gehalten wurde. Die Athener hatten ihren Bundsgenossen allerhand Drangsale angethan, so daß diese zuletzt sich empörten und zu Sparta um Beystand flehten. Da vertheidigten sich die Athener nun, unter andern, durch folgende Gründe: »Auch ihr, o Lacedämonier, sagten sie, habt ja des Peloponneses Staaten, die ihr beherrscht, nach eurem Vortheil eingerichtet. Und hattet ihr euch damals, als Sparta ganz Griechenland anführte, auf immer behauptet, und bey der Herrschaft verhaßt gemacht, gleich wie wir; so würdet ihr wahrlich die Bundsgenossen nicht weniger drücken, und euch gezwungen sehen, entweder mit Nachdruck zu herrschen, oder euch selbst in Gefahr zu setzen. Eben so ist auch unser Verfahren weder seltsam, noch der menschlichen Sitte entgegen, wenn wir die angetragene Herrschaft angenommen haben, und diese nicht vermindern, von den wichtigsten Gründen genöthigt, von Ehre, und Furcht und Nutzen! Auch ist solches keine Neuerung von uns; sondern ein beständiges Gesetz: daß der Schwächere von dem Stärkeren gebändigt werde. Ferner dünkten wir uns selbst der Herrschaft würdig, und schienens auch euch, so lange bis ihr, die sonst den Nutzen erwogen, die Gerechtigkeit jetzt in Anschlag bringt; welche noch keiner, wenn auch mit Gewalt etwas zu gewinnen war, vorzog, und den höheren Vortheil vernachläßigte ... Wer die Macht zu zwingen hat, bedarf keiner Gerichte« u. s. w.
Eben diese Athener hören wir, einige Jahre später, den Meliern, die von ihnen unabhängig waren, drohend einschärfen: daß sie Leute vor sich hätten, die wohl wüßten, daß man das genaueste Recht in menschlichen Angelegenheiten, nur unter Personen, die sich unter einerley Umständen befänden, zum Maaßstabe der Entscheidung mache; wer hingegen die überlegene Macht in Händen habe, der gehe so weit, als er könne, und der Schwächere müsse sich darein ergeben ... So hielten es die Menschen alle, mit Bewilligung der Götter, die nicht anders wären.
Perikles, in der Ermunterungsrede an seine augenblicklich feig gewordenen, schon vor Sparta kriechenden Mitbürger, beschwört sie, bey ihren tyrannischen Anmaßungen selbst, nicht davon abzustehen, da sowohl Gefahr als Ehre, eine billigere Denkungsart auf das dringendste verböten.
Dieselben Gesinnungen finden wir in den übrigen Staaten Griechenlands, so daß sie auch die Bürger unter einander entzweyten, wovon immer der eine Theil den andern zu unterjochen strebte, und den Vortheil des Stärkeren für den allgemeinen Geist der Gesetze ansah. Nicht die Entfernung willkührlicher Gewalt, sondern ihren Besitz wünschte sich das Volk; nicht die allgemeine Herrschaft der Gesetze, sondern die Herrschaft über die Gesetze. Welcher Despotismus aber kann wohl schlimmer seyn, als Pöbel-Despotismus? Was verderblicher, als das Ringen nach Ansehen und Einfluß bey einer thörichten, ungeschlachten Menge, die alles straft, was ihr nicht gefällt: Tugend, oft und hart; das schlaue Laster aber, selten? »Auch die beste Erziehung, sagt Plato Im VI. B. d. Rep. und die edelste Seele ist nicht im Stande hiegegen auszuhalten, und wir werden niemals unter solchen Umständen einen wahrhaft tugendhaften Mann erblicken, es sey denn, daß sich unmittelbar ein Gott zu ihm herab lasse.« Daher das Lob derjenigen, als der weiseren und besseren Menschen, die ihr Leben in der Stille hinzubringen suchten, so daß auch vom Epaminondas gerühmt wird: Er hätte sich nie eine Partey gemacht, als nur, um mit öffentlichen Aemtern verschont zu bleiben. Die nemliche Denkungsart finden wir bey den Römern, wo Geiz und Herrschsucht, auch schon in den frühesten Zeiten, die gemeinen Triebfedern waren, Ich kenne die gute Seite neben dieser schlimmen, und verhülle mir nicht ohne Mühe ihren Glanz. Aber folgende Sätze bleiben unbeweglich: – Daß, wo Menschen bloß durch Neigungen und Leidenschaften, welche Lage und Umstände in ihnen erwecken, zu Tugenden geführt werden, ihre Tugenden nicht anders als sehr unrein und mit großen Lastern vermischt seyn können. Ferner: Daß selbst auch diese unreinen und mit so vielen Lastern vermischten Tugenden, nur sehr schwankende und hinfällige Tugenden seyn können. Ersteres ist an sich so klar, wird durch die alltäglichste Erfahrung so sehr bewiesen, und von eines jeden eigenem Herzen, wenn er es aufrichtig fragen will, so tief erkannt, daß es ekelhaft seyn würde, es noch lange beweisen zu wollen. Das zweite ist eine nothwendige Folge des ersten, und findet sich überdem in der hiehin einschlagenden Geschichte, durch die auffallendsten Begebenheiten, auf jeder Seite bestätigt. Umstände und Lagen verwandeln sich beständig; und sie werden um so weniger durch vorhandene Anstalten und Gesetze befestigt, je mehr die eigentliche bürgerliche Verfassung selbst nur ein Umstand – eine Folge blos natürlicher Triebe, eine Art von Ungefähr war. Ein Ruck nach dem andern muß da bald erfolgen, und immer größere Unordnungen zu Wege bringen. Das Uebel erscheint desto größer, je eingeschränkter die Lage, und je angemessener dieser eingeschränkten individuellen Lage die Verfassung war. Alle Tugenden kommen um ihre Krücken und fallen danieder. Neigungen und Meinungen sind nicht mehr dieselben; jeder Privatmann hat seinen Sinn geändert: der öffentliche Verstand muß zu rasen scheinen und die alten Gesetze leerer Dünkel werden. Da ist keine Rettung, wenn nicht irgend woher ein freyer, aufgeklärter – philosophisch-heroischer Geist ins Mittel tritt und dem Unwesen abhilft. – – Es ist nicht zu erzählen, und ist nicht abzusehen, was ein Solon, Numa, Pythagoras, Sokrates, Zeno, mit ihren Schülern, gewirkt und Gutes gestiftet haben. Des göttlichen Nazareners, der in dem kleinen Judäa, wie verborgen, eine kurze Zeit umher wandelte; von jedermann verlassen, unter Spott und Schlägen, den Tod am Kreuze litt, und dessen hinterlassenes Wort die Welt umgestaltet hat, erwähne ich nicht, weil ich nur menschliche Kräfte und Mittel in Anspruch nehmen, wägen und vergleichen will. – Und da ist es unläugbar, daß philosophische Geist, das ist überlegende, durchgreifende, nach ewigen Gesetzen waltende Vernunft, von jeher das Salz der Erde gewesen ist. – Aber es will jetzt Mode werden, setzte Woldemar, etwas aufgebracht, hinzu – von Kenntnissen zu reden, als wenn sie dumm, von Theorie und Weisheit, als wenn sie thöricht machten. Man verschmäht Unterricht, Studium, Gelehrsamkeit, Bücher, als unwirksame Dinge, und erwägt nicht, oder weiß nicht, wie viel das zu allen Zeiten gewirkt hat; erwägt oder weiß nicht, daß es die Gelehrten waren, die zu allen Zeiten im Grunde die Welt regierten.
Biderthal war in Nachdenken versunken. Dorenburg aber faßte Woldemars letzten Worte auf, verbreitete sich darüber, und führte, um es Woldemar entgegen zu setzen, nach und nach alles herbey, was von Antisthenes an, bis auf Mohamed, Montaigne und Rousseau, über das Unnütze in den Wissenschaften, und das Schädliche in den Künsten: wider Philosophen und Philosophie – Wahres, Falsches und Scheinbares gesagt und gefabelt worden. Biderthal erwachte darüber und half. Henriette hetzte. So glitten sie über die Hauptsache weg; ließen bey Seite und vergaßen alles andere, um nur auffallend darzuthun: daß die Wissenschaften der Schlamm und die Grundsuppe menschlicher Erkenntniß wären, die Gespenster des ehmals Wirklichen und Lebendigen, welche nun im Hause umgiengen und es unwohnbar machten. Ein Gelehrter, wurde behauptet, wäre das unthätigste Geschöpf unter dem Monde, das am Wesenlosen seine einzige Lust hätte, eben so träge als unfähig, einen wahrhaft nützlichen Bürger abzugeben. Verstand hätten wir immer genug, um gut zu seyn; die Einsichten giengen nicht in den Willen über, und machten – wie schon gesagt – das Herz nicht anders, worauf es doch allein ankäme; es wäre noch niemals nur ein einzelner Mensch, geschweige denn eine Gesellschaft, durch Geistes-Anbau besser geworden.
Woldemar hörte geduldig zu. Er sah gern die Unterredung diese neue Wendung nehmen. Der Eifer seiner Freunde ergötzte ihn; er ließ ihm den Lauf. Zuweilen sah er aus, wie betroffen, und als ob er nachdenkend würde. – Endlich fieng er an, an seinen Fingern auf und ab zu zählen, und dabey mit dem Kopfe, bald zu nicken, bald zu schütteln, wie einer, der nicht wüßte, was er von dem Dinge sagen sollte, das er dächte.
Eine Pause kam, und er fiel ein. – Epaminondas! – Xenophon! – Dion! – Archytas! – Perikles! – Thucydides! – Phocion! – Demetrius von Phalera! – Scipio und Polyb! – Cato! – Cäsar! – Brutus! – Cicero! – Plinius! – Antonin – Mark Aurel! – und wie viele andre? Lauter Männer, welche der Philosophie und den Wissenschaften ergeben; größtentheils mit Leidenschaft ergeben waren! – Und man muß gestehen, daß sie in bürgerlichen Geschäften sich doch auch noch ziemlich thätig zu beweisen pflegten.
Eine wunderbare Sache! meinte Woldemar: denn im Ernste ließe sich nicht wohl das für etwas leeres und nichtswürdiges achten, was Männer, die gewiß im Falle gewesen wären, den Werth der Dinge und ihren Einfluß auf die menschliche Seele aus eigenem Gefühl und aus eigener Erfahrung zu schätzen, für ein so großes Gut gehalten hätten, daß sie sich nicht gescheut, es gegen jedes andre auf die Wage zu legen.
Der erste auf meiner Liste, fuhr er fort, war Epaminondas. Von ihm merkte ich schon vorhin an, daß er öffentliche Bedienungen geflohen habe. Liebe zu den Wissenschaften, denen er alle seine Muße widmete, soll hievon die Hauptursache gewesen seyn. Dabey, sagt die Geschichte, sang er und schlug die Zitter wie Damon; spielte wie Olympiodorus auf der Flöte; tanzte wie Calliphronus. Und dennoch wo ist ein Held, der größer, wo ein Bürger, der besser genannt zu werden verdiente? – Ich übergehe die andern Namen, weil es mir genug scheint, an sie erinnert zu haben, und weil mir so eben noch etwas viel ärgeres einfällt.
Es sind die drey Mönche aus dem Hieronymiter-Orden, welche Ximenes, selbst ein Mönch, mit unumschränkter Vollmacht nach Amerika schickte, um in den Colonien neue Einrichtungen zu treffen. Diese Mönche, welche aus der Einsamkeit des Klosters und dem sogenannten Müßiggange der Studierstube auf einmal in die Geschäfte der Welt versetzt wurden, sah man Wunder der Thätigkeit, der Standhaftigkeit und der Weisheit verrichten. Sie bewiesen ein so tiefes Einsehen, eine so weit umfassende Klugheit, eine so große Mäßigung, Uneigennützigkeit und Herzhaftigkeit, daß ihr Verdienst über alles Lob erhaben ist. – Ein ähnliches Beyspiel finden wir an Petro de la Gasca, welcher, um den Aufruhr des Pizarro beyzulegen, nach Peru abgeschickt wurde. Er wollte keinen Ehrentitel, kein Gehalt, keine Begleitung; sondern machte sich allein, mit einem Bedienten, seinem Kirchenrock, und seinem Brevier auf den Weg. So langte er an, und versuchte alles Mögliche, um in dieser unscheinbaren Gestalt seine Absichten zu erreichen, und weiter nichts als ein Diener des Friedens zu seyn. Als aber Nothwendigkeit und Pflicht es ihm geboten, ergriff er den Degen, stellte sich an die Spitze des Heers und der Flotte, siegte, ordnete, kam wieder nach Spanien, und zog sich in seine Einsamkeit zurück. Ueberhaupt waren die Geistlichen noch zu jener Zeit, durchgängig, die besseren, tüchtigeren Menschen, weil sie fast die einzigen waren, deren Verstand durch einen gewissen förmlichen Unterricht einige Ausbildung erhielt, und deren Lebensart stilles anhaltendes Nachdenken begünstigte, und an Ordnung gewöhnte. Wie viele Grausamkeiten haben sie nicht in Amerika verhindert; wie vielen sich mit Nachdruck und Gefahr, obgleich vergeblich, widersetzt; wie manches Gute hie und da noch gestiftet: sie, und sie allein!
Was ein Grad mehr oder weniger von Aufklärung vermag, davon erblicken wir im Großen ein sehr auffallendes Beyspiel, wenn wir die Eroberung von Mexico durch den Cortes, und die von Peru durch den Pizarro, mit einander vergleichen. Bis zu den kleinsten Umständen ist hier alles lautschreyendes Zeugniß wider Eure Lehre.
Und haben wir nicht an den Katholiken und Protestanten in Deutschland ein Beyspiel in der Nähe? Wo liegt die Ursache, daß sich unter diesen so bald, in jedem Fache, die tüchtigeren Männer fanden? Daß sie nicht nur in allen Wissenschaften entschieden sich hervorthaten, sondern auch die besten Geschäftsmänner, die größten Aerzte, Künstler und Erfinder lieferten? Daß sittenerhaltender Fleiß, blühendes Gewerbe, und Völker verbindende Betriebsamkeit gleichsam ihr Eigenthum wurden? Schon ins dritte Jahrhundert dauert diese Erscheinung fort: denn noch sind die Protestanten überall, bis zur niedrigsten Classe herab, und Zahl gegen Zahl, bey weitem die Geschickteren, Sittlicheren, Emsigeren und Klügeren. Der Unterschied ist auffallend, wo beyde Partheyen neben einander wohnen. – Wie erklären wir dieses? Doch wohl nicht aus der Verschiedenheit des theologischen Lehrbegriffes! Wie denn Frankreich? das ganz katholisch ist, und doch keinesweges auf die angeführte Weise kontrastieren könnte. Also nicht in der Religion, sondern in etwas Zufälligem, wenigstens mit ihr nicht wesentlich Verknüpftem, muß jene merkwürdige, Deutschland eigenthümliche Erscheinung ihren Grund haben. Mir däucht, es bedarf keines ungewöhnlichen Scharfsinns um diesen Grund im Ganzen der Erziehung und Anführung, in der Materie und Form des Unterrichts, wie er, vom lallenden Kinde an bis zum Lehrer der Beredsamkeit auf hohen Schulen, an beyden Seiten ist und nicht ist, zu entdecken. Die ersten Beförderer der Reformation waren Humanisten, und so wurden die Humaniora bis zum ABC Buche herab bey der Gegenparthey verdächtig. Das Wort sollte nicht weiter Fleisch werden! ... Genug an diesem Winke, da es an sich schon klar ist, und keiner Ausführung an Beyspielen bedarf, daß mit fantastischen oder abergläubischen Vorstellungen verschonte Köpfe, desto mehr Raum für wahre und fruchtbare Begriffe behalten, und eigentliche Grundsätze nur in ihnen recht gedeihen können: daß Verständigung des Gewissens das Herz nothwendig läutert, seine Bewegungen richtiger und zuverläßiger macht; daß wahre Erleuchtung den Menschen, unter allen Umständen, auch bessert, und darum selbst die geringste wirkliche Verbesserung der Erziehung und des Unterrichts, von unendlich guten Folgen seyn muß.
Noch eine sehr merkwürdige Erfahrung! fuhr Woldemar fort; und die ganz hierhin gehört – diese nemlich: daß, gewöhnlich, wir den protestantischen Missethäter getroster zum Gerichtsplatz wandeln sehen, als den katholischen. Gleichwohl kann der Katholische, wenn er es von ganzer Seele ist, sich des Himmels vielleicht gewisser glauben, als der Protestant. Aber dieser ist durch das bischen mehr Unterricht, das er in seiner Kindheit genossen hat, eines geistigern Enthusiasmus fähig, sein Begleiter weiß lebhaftere und zusammengesetztere Vorstellungen in ihm hervorzubringen, und das ist genug, um seinen Muth und seine Kräfte so merklich zu erhöhen.
Noch ein letztes Wort, und ich schweige!
Die Welt ist voll von dem Ruhme der Männer, welche die Stoische Schule hervorgebracht hat; und gewiß sind ihre Tugenden und großen Eigenschaften doch mehr dem Geiste dieser mächtigen Philosophie, als dem Patriotismus oder irgend einer aus bürgerlichen Verhältnissen entsprungenen Gesinnung beyzumessen. Eines Brutus, eines Cato will ich nicht einmal erwähnen, so ungünstig jeder Tugend auch schon damals Roms Verfassung war; sondern eines Soranus, eines Helvidius, eines Thrasea, die in Zeiten lebten, deren Verderbniß schaudern macht. Von Soranus und Thrasea sagt Tacitus, daß Nero, nach Hinrichtung so vieler großer Männer, in diesen beyden endlich die Tugend selbst auszurotten gestrebt habe. Ich weiß nichts rührenderes und nichts größeres als das Ende des letzteren. Da man ihm die Botschaft seiner Verurtheilung brachte, war er in einer Unterredung mit dem Philosophen Demetrius über die Natur der Seele begriffen. Er ging dem Quästor entgegen, und hierauf mit Helvidius und Demetrius in sein Zimmer, hielt die Adern an beyden Armen hin, und als das Blut floß, rief er den Quästor näher, spritzte es über die Erde und sagte: libemus Jovi liberatori! Jupitern dem Befreyer! ... O Freunde! – Der Mensch ist durchaus gebrechlich und wandelbar in seinem Thun; aber wo er noch einige Größe, einige Standhaftigkeit zu beweisen vermag, da vermag er es allein durch irgend einen hohen Begriff, der in seiner Seele herrschend geworden ist; da handelt er aus Vernunft, die das Leben des Geistes – Gefühl der Gottheit und ihrer Kraft ist.
Henriette sprang auf, ergriff Woldemars Hand, drückte sie an ihr Herz und wollte sie küssen. In den Augen der übrigen stand es deutlich, daß sie Theil an Henriettens Empfindungen nahmen, in ihren Dank willigten, und im Grunde des Herzens ihn bestätigten.
Die Sonne ist untergegangen, sagte Woldemar; wir sind tief im Walde: laßt uns aufbrechen, meine Freunde!
Es war ein schöner Heimweg für alle.
Woldemar wurde noch über seine Aussichten in eine bessere Zukunft befragt: Was er eigentlich hoffe; ob er ein Ende sehe; und welche Ordnung der Dinge alsdann seyn werde?
Woldemar bekannte, daß er kein Ende sehe. Alle Veränderungen, die mit der Menschheit vorgiengen, sagte er, veränderten nur hie und da ihr äußerliches Ansehen, ohne jemals ihre Art zu verändern, und dem Sittlichen über das Unsittliche wirklich die Oberhand zu verschaffen. Der große Haufe der Menschen bliebe in demselben Grade eigensüchtig, gewaltthätig, thierisch – von Herzen lasterhaft. Zu einem äußerlich sittlichen Verhalten bequemten sie sich nur aus Noth, der Verträglichkeit wegen; und so würden auch ihre innerlichen freywilligeren Tugenden nur aus Unbehagen erzeugt, nur um mit sich selbst einigermaßen leben zu können. Diese wie jenes, Gerechtigkeit und Weisheit, würden zu den Mühseligkeiten des Lebens, zu den beschwerlichen Ausgaben gerechnet, und man hielte für die Einnahme, was ungestraftes Laster, willkührliche Gewalt, leichter und vollkommener verschafften. Kurz, die Menschen im Durchschnitte sähen es für ihren Vortheil an, dem besseren Theile ihrer selbst, der eigentlichen Humanität, allen möglichen Abbruch zu thun, und ihre Brutalität in Freyheit zu setzen. Da es immer so gewesen wäre; und, nach seinem Urtheil, immer so bleiben würde, wenn nicht in dem Wesen selbst des Menschen eine Veränderung vorgienge, wodurch das Verhältniß seiner Neigungen und Kräfte umgekehrt würde: so hätte er aus voller Ueberzeugung wider die zu hohe Meinung seiner Freunde von den vergangenen Zeiten sich auflehnen und die gegenwärtige Periode, als – vielleicht – mit besseren Dingen schwanger in Schutz nehmen können. Denn der sittliche Trieb im Menschen könnte zu wirken und auch in Absicht des Ganzen der Menschheit sich thätig zu beweisen nicht aufhören: er wäre die wahre eigentliche Menschenenergie; Gott im Menschen. Der Gegenstand dieses Triebes wäre – Tugend in eigener Gestalt; nämlich: reine Tugend, Tugend als Zweck an sich. Auf eine bewundernswürdige Weise hätte sich diese Energie in Zeiten, wo Unsittlichkeit und Unvernunft alles zu verschlingen drohten, mehrmals bewiesen. Welcher Gestalt sie unsern gegenwärtigen Bedürfnissen zu Hülfe kommen würde, darüber hätte er keine Vermuthung; nur dünkte ihm, eine große Veränderung zum Bessern – oder der jüngste Tag müsse vor der Thüre seyn. Er verließe sich darauf, daß Gott im Verborgenen regiere. Das Vergangene wäre ihm ebenso räthselhaft, als die Zukunft dunkel; doch hätte Geschichte und Beobachtung ihn so viel gelehrt, daß in allem und durch alles ein freyes Wesen herrsche, welches wir vergeblich zu binden suchen. Dies nicht sehen – dem Gotte mit Gewalt entfliehen, so gar ihn unterwerfen zu wollen, wäre Geist der Zeit – Aber Er würde sich zeigen – unüberwunden!
Das Waldgespräch, und was auf dem stillen Rückwege bey zunehmender Dämmerung, während ein Stern nach dem andern hervor kam, und man beym Zuhören gleichsam dem Himmel in die Augen sah, noch war geredet worden, hatte tiefe Eindrücke und einen lebhaften Reiz zum weiteren Nachdenken zurück gelassen.
Woldemar war entschlossen, es auf alle Fälle hiebey bewenden zu lassen, und seinen Freunden nicht weiter einzureden. Er zweifelte nicht, daß bald ein sehr gutes Gleichgewicht von selbst sich machen, alles sich aufs beste fügen und einrichten würde.
Der Erfolg rechtfertigte diese Muthmaßung. Oefter scherzte Woldemar nachher mit seinem Bruder und Dorenburg über ihre Streifereyen in sein Gebiet, und wollte hoffen, es würde ihm doch wohl Noch einmal in seinem Leben so gut werden, daß er über sie, als Sonderlinge – Schwärmer und Separatisten den Kopf schütteln, und die gute Sache des Gemeinsinnes und herrschender Gebräuche, als derselben Stellvertreter, wider sie in Schutz nehmen könnte.
Aber weit davon entfernt, daß dem Uebermüthigen dieser Genuß zu Theil wurde, sollte er im Gegentheil an sich selbst Dinge erfahren, die er keinem Seher geglaubt hätte, und wodurch er, wie es die Folge dieser Geschichte zeigen wird, auf einem langsamen äußerst schmerzhaften Wege erst zu einer tieferen Selbsterkenntniß gebracht wurde.
Biderthal hatte den Wunsch und die Hoffnung, seinen Bruder mit Henriette vermählt zu sehen, unter allen diesen Vorgängen behalten, und redete oft davon mit seiner Luise und bey Dorenburg. Allein sie sahen miteinander keine Möglichkeit dazu, so lange Hornich lebte, und enthielten sich bey Henriette und Woldemar, die sie von Herzen beklagten, diesen Gegenstand zu berühren, weil daraus nur mehr Mißmuth und eine höchst unangenehme Verlegenheit entstehen konnte.
Nun begab es sich aber, daß Hornich, nach langem Kränkeln, sichtbar seinem Ende sich nahte; und da fiel es Biderthalen unmöglich, länger an sich zu halten.
An einem Abend, da die Geschwister bey Dorenburg sehr vergnügt zusammen bey Tische saßen, und Henriette unversehens, ihres Vaters wegen, abgerufen wurde, hub er an –
Zuerst von dem vielen Guten des thätigen, verständigen, von so manchen Seiten verdienstvollen Greises, der nun bald von ihnen scheiden würde – und wie einem dieß alles so klar vorschwebte, wenn man jemand dem Tode sich nahen sähe; wie man dann nicht begriffe, manches in einem so harten Lichte gesehen zu haben, und sich nun Einseitigkeit, Ungerechtigkeit, Persönlichkeit, mit bitterer Reue, vorwürfe.
– Aber, setzte er hinzu: – Etwas Gutes, womit es hohe Zeit war, wird dieser Tod hervorbringen.
... Die unselige Quälerey hatte überlange gedauert, und ist mir vielleicht noch peinlicher als dir gewesen, lieber Woldemar! – Jetzt wird dir und noch Jemand bald geholfen seyn.
Woldemar verstand nicht gleich.
»Unselige Quälerey? – Geholfen, mir und noch Jemand? ...«
Biderthal lächelte. Luise, Dorenburg und Caroline mit ihm.
Nein, in Wahrheit! sagte Woldemar. – Doch mußte er anfangen mitzulächeln.
Auf einmal verstand er, fuhr zusammen – sprang, die Serviette wegwerfend, vom Stuhle auf und lief zu Biderthal, dem er um den Hals fiel: – »Meine unselige Quälerey, du guter Biderthal! mein peinlicher, hülfsbedürftiger Zustand! – und küßte den Bruder, lachte, und küßte wieder. – Niemand begriff was ihm begegnete. Alle sahen ihn verwundert an: Dorenburg und Biderthal mit Lächeln; Caroline und Luise betroffen und ernsthaft. Er besann sich; erröthete.
Bester! sagte er zu Biderthal: deute mir das nicht unrecht, daß ich deiner zärtlichen brüderlichen Aufwallung so ungereimt begegne. Du kamst mir zu unerwartet. Gleich verstand ich dich nicht; und da ich dich verstand, machten deine Ausdrücke mir den Contrast meines wirklichen Zustandes, mit diesem Zustande in deiner Einbildung so auffallend, und stellten mir die Sache in ein so comisches Licht, daß ich mir nicht anders als mit Lachen und Aufspringen zu helfen wußte.
Sieh, Lieber, fuhr er sehr ernsthaft fort, ich bin gewiß, daß mir bey Henriette auch nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen ist, daß ich sie wohl zum Weibe haben möchte. Mein Verhältniß mit ihr nahm gleich von Anfang einen Charakter an, der jenen Gedanken ausschloß, ihm allen Zugang wehrte – jetzt ihn eben so unmöglich gemacht hat, als den Gedanken, eine Person meines eigenen Geschlechts zu heyrathen. Ihr wißt, daß ich Henriette häufig Bruder Heinrich nenne: so ist mein Gefühl in Absicht ihrer. Wie ihr dies nicht sehen, wie ihr alle euch in Absicht meiner Gesinnungen so gewaltig irren konntet, ist mir unbegreiflich.
Du bist sehr platonisch geworden, antwortete Biderthal! So habe ich dich ehmals nicht gekannt – das weißt du!
Aergere mich nicht mit diesem Worte, erwiderte Woldemar; du weißt wie ich seinen gleißnerischen Mißbrauch hasse, von jeher ihn gehaßt habe, und du selbst bezeugst es mit deinem Vorwurfe! Gebe ich denn jetzt platonische Liebe vor? Bedarf ich eines solchen Vorwandes, irgend Eines? – Und was willst du damit, daß du mich ehmals so nicht gekannt hättest? Was dir auch im Sinne liegen mag, so bin ich mir dagegen bewußt, immer noch platonisch genug gewesen zu seyn, um nie an mein Herz zu drücken, was ich verachten mußte; platonisch genug selbst in den frühesten Jahren jugendlicher Ausgelassenheit, um doch nie diese Lippen, die ich allein der Freundschaft und Liebe geweiht glaubte, mit einem leichtfertigen Kusse zu beflecken. – – Du wirst mir auch nicht Schuld geben können, daß ich mich in sogenannten – ehrbaren Liebeshändeln viel herum getrieben, mich leicht und gern darin verwickelt hätte. Gerade wegen der Reizbarkeit meiner Sinne, der Heftigkeit meiner Begierden, und wegen meiner überhaupt sehr leidenschaftlichen Gemüthsart, lernte ich bald das Zerstreuende, Schwächende, Verwüstende, das mit dergleichen verknüpft ist, als etwas unerträgliches, mir ganz unleidliches erkennen; und bemühte mich nun aus allen Kräften, meiner Einbildungskraft Meister zu werden. Der feste Entschluß und das Gelingen war beynah Eins. Nachdem ich mir alle Anschläge dieser Art schlechterdings untersagt hatte; keinen solchen Gedanken mehr aufkommen ließ: konnte ich mit den schönsten und angenehmsten Weibern vertraulich umgehen, ohne im mindesten meine Ruhe zu verlieren. Wirklich, mein Freund, ist das bey weitem nicht so schwer, als es verdorbene Menschen uns überreden wollen; denn selbst derjenige mächtige Reiz der Schönheit, welcher Leidenschaft erweckt, kann die Seele wie lange entzücken, ehe sich Begierden merken lassen.
Gut, sagte Biderthal: Wenn aber dies letzte nun dein Fall wäre?
Bin ich ein Knabe? erwiderte Woldemar – Ich sollte Liebe, leidenschaftliche Liebe im Herzen haben, und es selbst nicht wissen?
Ach! rief Biderthal wehmüthig aus – Du bist ein so unbegreiflich sonderbarer Mensch – Hast dich schon oft so unglaublich getäuscht ... Wenn du abermals dich hintergiengest, dich verwickeltest – Wenn ich dich wieder unglücklich sehen müßte! O, Woldemar! ...
Ein tiefer Seufzer brach ihm das letzte Wort im Munde, und er saß da – das rührendste Bild zärtlicher Sorge und ächter Liebe und Treue.
Ueber Woldemar hatte sich mit Biderthals Rede eine Fluth von Erinnerungen, Gedanken und Empfindungen ergossen; so, daß ihn der Anblick seines Bruders mit zehnfacher Gewalt erschütterte. Er wollte sprechen, seine Lippen öffneten sich; aber ihrer zitternden Bewegung folgten keine Worte. Plötzlich traten ihm Thränen in die Augen. Er stand auf, und nachdem er einigemal im Zimmer auf und nieder gegangen war, näherte er sich Biderthalen, faßte ihn herzlich bey der Hand: – »Sey ruhig, Bester! sagte er zu ihm; ich bitte dich, sey ruhig! Ich schwöre dir in diesem feyerlichen Augenblick, daß ich für Henriette nichts, als die reinste, heiligste Freundschaft empfinde; und alle Kenner des menschlichen Herzens sind darüber einig, daß Freundschaft nie in die Leidenschaft der Liebe ausarten könne. Warum willst du, daß ich – wider die Stimme meines Herzens – die Freundinn zu meiner Gattinn machen soll? ... Lieber! Es ist unmöglich – Ich kann nicht!«
Woldemar wurde gefragt: Ob er denn entschlossen sey, nie zu heyrathen? – Ob Henriette willens sey immer ledig zu bleiben? – Nach letzterem hatte er nie geforscht; über das erstere erklärte er sich zweifelhaft. So schieden sie auseinander.
Henriette erfuhr diese Unterredung am folgenden Morgen von ihren Schwestern. Ueber Biderthals Anrede erröthete sie; und daß Woldemar laut gelacht hatte, machte sie stutzig. Nie war in ihre Seele der Argwohn gekommen, daß über ihre Freundschaft mit Woldemar ein unrichtiger Gedanke möglich sey; – ein Gemisch von Unwillen und Schmerz bewegte ihr Inwendiges. – Und Woldemar – hatte nur gelacht! ... Doch fand sie dies am Ende minder außerordentlich, und verwieß sich ihre Befremdung. Aber lebhaft fühlte sie in diesem Augenblick den Unterschied – zwischen Mann und Jungfrau?
Ihre Schwestern, denen die kleine Verwirrung, worin Henriette gerathen, nicht entgangen war, machten ihre eigenen Auslegungen darüber. Henriette ließ sie nicht lange im Irrthum; sie erklärte einerley mit Woldemar, und that es noch bündiger als er, und durchaus bestimmter.
Du bist also wohl fest entschlossen nie zu heyrathen? sagt Caroline.
Man kann nicht fester, erwiderte Henriette.
Und Woldemar auch wird nie heyrathen?
Woldemar wird heyrathen, und du sollst sehen, er heyrathet bald.
Ich bitte dich, Henriette, fiel Luise ein – aber du mußt nicht böse werden – Da Woldemar erst zu uns gekommen war ...
Schon genug! sagte Henriette. – Ich verlange das nicht zu läugnen, daß Woldemar Eindrücke auf mich gemacht hatte, wovon ich damals glaubte, daß Leidenschaft sie leicht zu Leidenschaft würde beleben können. Woldemar kannte sein Herz besser; und ich – habe seitdem auch das meinige kennen gelernt. Nunmehr, nach der innigen Freundschaft, die unter uns entstanden ist, kann ich mir Woldemar gar nicht mehr als Liebhaber nur denken. Ich bin gewiß, daß ihm in Absicht meiner nicht anders zu Muthe ist. Aber den Fall gesetzt, es wäre möglich, daß Woldemar nun auf einmal in Liebe gegen mich entflammte – sieh! es würde dies eine Wirkung auf mich machen, wovor meine Einbildung sich entsetzt – es wäre das Unglücklichste, was mir begegnen könnte. Gut, daß ich eher des Himmels Einsturz zu befahren habe!
An demselben Tage, gegen Abend, gieng Woldemar zu Henriette, um ihr den Auftritt bey Dorenburg zu erzählen. – »Ich weiß schon alles, unterbrach sie ihn, da er anfangen wollte: Sie sollen heyrathen; das steht Ihnen nicht an, und wir werden uns zanken – denn ich will es, Sie müssen!« –
Wenn ich muß; Wohlan!
»Deine Hand darauf!«
Woldemar zuckte – Henriette lächelte: »Nun?«
Henriette! Schwester! – Was soll dieser Scherz!
»Scherz! – Warum Scherz?«
Ach! rief Woldemar unwillig.
Sacht, sacht! sprach Henriette; ich habe Ihr Wort, und darauf fordere ich Ihre Hand. – Her, lieber Woldemar; her Ihre Hand – für Allwina Clarenau –
Ey! rief Woldemar, das ist ja wieder etwas Neues! –
»Etwas Neues? Nichts weniger! Ich hatte Ihnen meine Freundinn bestimmt, noch ehe Sie bey uns waren. Dieser Gedanke ist mir von Tage zu Tage lieber geworden, und ich hätte Ihnen längst davon gesagt, wenn nicht die Gewalt, welche Allwinens Vater dem meinigen über das Schicksal des guten Kindes gelassen hat, der Erfüllung meines Wunsches bisher im Wege gewesen wäre. Auf der ganzen Welt ist so kein Mädchen für Sie wie unsere Clarenau.«
Allwina ist ein liebes herrliches Geschöpf, sagte Woldemar; aber um des Himmels willen, warum soll ich denn durchaus eine Frau haben?
Henriette zuckte mitleidig die Achseln: »Wunderlicher Mann! – um desto glücklicher zu seyn; auch um mich desto glücklicher zu machen.«
Sie heyrathen dann wohl auch?
»Wie mögen Sie nur so albern thun, Woldemar? Mit mir, mit Ihrer Henriette dergleichen – ja, Complimente? Als wenn nicht der Unterschied in die Augen fiele? Mich verlöhren Sie beynah ganz, wenn ich meinen Stand änderte; Sie im Gegentheil, bringen mich um nichts, wenn Allwina Ihre Gattinn wird: vielmehr gewinne ich unendlich. Muß ich etwa der Länge nach dies auseinander setzen? – Hiezu kommt noch, daß ich, nach meines Vaters Tode, bey euch am liebsten meine Wohnung aufschlüge.« –
Woldemar umarmte seine Freundinn – Aber, sagte er, ich fühle keine eigentliche Liebe, nicht die erste Spur einer Leidenschaft für Allwina; sie ist gewiß in demselben Falle gegen mich, und ich kann nicht begreifen ...
Halten Sie ein, Woldemar, erwiderte Henriette lebhaft; Sie würden mich zum erstenmal in Ihrem Leben ungeduldig machen. – Haben Sie nicht hundertmal versichert, daß Sie nie aus Leidenschaft heyrathen – nie von einem Mädchen Leidenschaft verlangen würden; man dürfe von keinem Mädchen, das ein ächtes Kind der Natur sey, eigentliche Leidenschaft erwarten: denn Mutter Natur habe das Weib nur zu Einer, der Leidenschaft für die Kinder angewiesen; Mutterherz sey ihr wahres, eigentliches Wesen. »Wo ein Weib – sagten Sie – die Leidenschaft der Liebe, gleich uns Männern, zu empfinden scheint; da wird fast immer etwas unlauteres, verkehrtes zum Grunde liegen. Nicht ein herrschender, unmittelbarer Trieb; sondern Leichtsinn, Eitelkeit, schnödes Gelüst reißt es hin. Und darum – fügten Sie hinzu – ist ein ungetreues, buhlerisches Weib mit Recht für das niederträchtigste aller Wesen zu halten« ... Also, mein Freund, wäre das, was sie eben vorzubringen gedachten, wohl nur eine Ausflucht gewesen; und was haben Sie Ausflüchte nöthig? Sie sind in Verlegenheit, ich seh' es – das kränkt mich eben. Ueber meinen Antrag zu stutzen, war natürlich; wie Sie ihn aber von sich weisen – darin ist ...
Nicht wahr, sagte Woldemar – darin ist Verstellung? – – Liebe Henriette! ich will Ihnen meines Herzens Gedanken treulich offenbaren. Allwina Clarenau ist allerdings ein sehr reizendes Geschöpf in meinen Augen. Wohl ist es mir auch einmal durch den Kopf geflogen: das wäre gerade eine Frau für dich! und vielleicht wäre der Gedanke öfter wiedergekommen, und hätte nach und nach mehr Raum gewonnen: wäre nicht das schöne innige Verhältniß mit Ihnen gewesen. So aber mochte ich mir nicht einfallen lassen zu heyrathen, weil ich mir nicht wollte einfallen lassen, daß Sie heyrathen könnten. Und dann: ich fühlte mich so glücklich in meiner Lage, – liebe Henriette, so weit über alle meine Hoffnung glücklich, daß ich mich vor der Sünde fürchtete, noch glücklicher werden zu wollen. – Noch glücklicher? – Sage, liebe Henriette, wäre es nicht Frevel? –
Und wäre es nicht Frevel auch von dir, deiner Freundinn einen Mann anzurathen, der doch an dir allein, obgleich nur in Freundschaft, aber doch an dir allein nur mit ganzer Seele hängt? – Nein; laß, laß! – ich bitte dich, Engel, laß! –
Woldemar! sagte Henriette, indem sie sich aufrichtete, und mit durchdringendem Blicke ihn faßte – Woldemar! Lieber! – nur ein wenig Besinnung! – Für so gering wollten sie Ihre Seele ausgeben, daß ihre Kraft an einem einzigen Gefühl erschöpft wäre? Sehen Sie nicht, was für eine Schmach Sie auf unsere Freundschaft werfen; was für ein läppisches, ärgerliches Ding Sie daraus machen, so bald Ihnen diese im Wege ist, alles seyn zu können, wozu Sie von der Natur den eigentlichsten Beruf haben? Antworten Sie mir nicht, dies lasse sich gegen mich selbst zurückwenden. Sie wissen, was ich seit Jahren beschlossen hatte, und mit bestem Grunde. Ueberhaupt ist mit einem Mädchen der Fall durchaus anders. In meiner Lage nun gar, die so voll herzlicher Geschäftigkeit, so voll wahres Lebens und Genusses ist, daß ich schwerlich zu weit gehe, wenn ich meine Bestimmung für so schön und gut und vollkommen achte, als irgend Eine. – Man bedenkt, man erwägt nicht genug, fuhr sie lächelnd fort, welche nützliche Sache in einer großen Familie, ja im Staat, eine ledige Tante ist. Sie hat alles Gute und nichts von dem Bösen einer milden Stiftung. Daß die mehrsten langweilig, verdrießlich, zänkisch, lästig, unerträglich sind, ist die Schuld der Person, nicht des Berufs. Dieser ehrwürdige Beruf und Stand soll durch mich einmal ein Muster bekommen; ich will – was noch keiner Tante eingefallen ist – den Tanten zum Exempel leben – – Genug hievon – Und genug überhaupt. Wenn Ihre Freundschaft zu mir das ist, wofür ich sie immer gehalten habe (und das muß sie seyn, oder es ist Grillenfängerey damit) so kann niemanden dadurch etwas genommen werden, am wenigsten dereinst Ihrer Gattinn, wer sie auch sey. Allwina, die bisher so merklich dadurch gewonnen hat; die selbst mich ausschweifend liebt; wie könnte sie dadurch verlieren? Allwina hat von jeher ihren eigenen Antheil an Ihrem Herzen gehabt, einen so eigenen vielleicht, als immer ich, und gewiß einen mehr unmittelbaren. Die Lieblichkeit des Mädchens, ihre köstliche Unschuld, die es einem so hell entgegen strahlt, daß sie unverführbar ist, wie die Unschuld eines Engels; ihre frohe Laune; ihre Arglosigkeit, Genügsamkeit, Selbstvergessenheit ... wie waren Sie nicht tausendmal davon entzückt, sind es alle Tage noch? – Und, Woldemar – die Schönheit des holden Kindes! – Oder ist Allwina vielleicht nicht schön? – (Woldemar mußte lächeln) – und auch vielleicht nicht jung? – Doch ist sie sieben Jahre jünger als ich, eben im neunzehnten. Gewiß, lieber Woldemar, es ist kein geringes Wunder, daß Sie neben Allwina Zeit behielten, mich ihre Freundinn werden zu lassen. Wären Sie nicht der seltsame Mann, mit einem Kopf, der Ihnen wenigstens eben so viel zu schaffen macht, als Ihr Herz, und mit diesem ähnliche Bedürfnisse hat: es wäre nie geschehen – Und desto schlimmer für Allwina! Wie vieles in Woldemar, das ohne mich nie an Allwina gelangt wäre!
Nicht weiter, Henriette! rief Woldemar. Ich verstehe, ich fühle alles; aber ich bin betäubt. Wenn der Engel mir bestimmt ist, ich will ihn nicht von mir weisen. Lassen Sie mir Zeit.
Es war im März, da diese Unterredung vorfiel.
Einige Zeit darauf glaubte Hornich sich von neuem zu erholen, und drang selbst in Henriette, daß sie die Clarenaus auf ihren Landsitz nach Pappelwiesen begleiten sollte.
Dahin kam nun Woldemar öfter zum Besuch. – Gieng und kam wieder. – Wollte nicht bleiben, und blieb jedesmal länger.
Henriette stand in sehr geheimen Verträgen mit der Natur! Diese schien hier ganz mit ihr dazu verschworen zu seyn, daß des guten Woldemars Herz von der Liebe beschlichen würde. Wie ihm bald zu Muthe wurde, erhellt aus einem ziemlich dithyrambischen Briefe, den er in die Stadt an seinen Biderthal schrieb.
Am 23sten April.
Ich glaube, Bruder, alle Nachtigallen haben sich hieher in unsere Büsche beschieden! Es ist ein Singen, daß man es kaum aushalten kann. Alle die andern Vögel dazu. Das Heer von Lerchen, die in unterbrochenem Jubel einem über dem Kopfe schweben. Rund herum die ganze vollständige Symphonie. »Und dann – höre! – die Wechsellieder der Nachtigallen durch alle den Gesang durch. Man weiß nicht, wohin man sich kehren und wenden soll. Ruht das Ohr einen Augenblick, dann fallen alle die Baum- und Hecken-Blüthen über einen – alle das neu gewordene Laub ...
Und siehe da, die herrliche Ebene; – das vielfarbene Grün dort im Thal! – O, und jene Hügel hinauf! Seitwärts die darüber ragenden Höhen! Hier – durch die Oeffnung – noch weiter! Alle Gipfel durchsichtig; alles so lüftig, so voll lebendigen Othems, sich anhauchend mit Wohlgerüchen, und ausströmend seine beste Kraft in Schönheit und Anmuth ...
Heute – Wir waren ausgewandert nach Brinken, standen in dem unermeßlichen Obstgarten, schauten in den Blumenhimmel schweigend, wonnevoll.
Man sollte uns Milch in die Kirschenlaube an dem einen Ende des Baumgartens bringen. Sie war gekommen; man rief uns; wir giengen.
Ausgeruht, erquickt, machten wir uns auf zum Rückwege – traten aus der Laube, schauten, entzückter, noch einmal in den Blumenhimmel, konnten die Füße nicht bewegen zum Weggehen.
»Nur Eins fehlt hier, sagte Allwina; ich habe keine Nachtigall gehört.«
Da plötzlich, dicht über uns vom nächsten Zweige, das hellste Schlagen, heller, stärker, fort bis zum Entathmen des Sängers – Es fuhr durch alle Glieder, in die Seele!
Wie mir nur wurde – auch so plötzlich! ... Ich weiß, ich verstehe es nicht.
Meine Begleiterinnen, die zwey lieben Mädchen standen da vor dem Verzückten. – Gott! Ich wankte, taumelte nieder, verbarg mein Gesicht ...
Die Sonne neigte sich zum Untergehen. Sachte wandelten wir zurück nach Pappelwiesen. Ich, zögernd hinter den zwey Mädchen – in mich sammelnd alle die Töne, die in meiner Seele angeschlagen hatten, daß sie nicht verhallten, wenigstens nicht so geschwind verklängen. Ein vieljähriges Gemisch dunkler Empfindungen ordnete sich in Accorde, und diese Accorde wieder in Melodie. In den schwindenden Sonnenglanz traten Sirius und Venus. Vor und nach erschienen die übrigen Sterne. – –
– So weit hatte ich gestern Abend geschrieben. Jetzt komme ich von einem Spaziergange im großen Englischen Garten, mit Allwina zurück. Henriette hatte zu schreiben.
Du erinnerst dich der offenen Seite, wo das Wäldchen – und alles, die ganze Gegend, schön, wie ein Paradies, vor einem liegt.
Wie ein Paradies! hatten wir öfter gesagt.
Es schwebte mir auf der Zunge, heute zu sagen: – wie im Paradiese!
Ich konnte nicht, fühlte, daß ich erröthete.
Wir wendeten uns linker Hand nach dem Wasserfall, setzten uns nächst dem großen Teiche, der so hell und schön da stand, daß man sich nur gleich hätte hineinstürzen mögen. –
... Am Sonnabend schreibe ich dir wieder, und wer weiß, vielleicht etwas Merkwürdigeres.
Dein Woldemar.
... Es giebt eine Menge lieblicher Scenen, wo die verborgensten Quellen der Seele sich öffnen, und die sich auf kein Schaugerüst bringen – sich weder malen noch beschreiben lassen.
Allwina ruhte an Henriettens Busen. Da empfieng sie Woldemars Gelübde, da ergab sich ihre Seele dem Edlen.