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Und die Jahre schwanden dahin, eine Weihnacht folgte der andern und füllte die Luft mit ihrem strahlenden Festesglanz bis weit über den Dreikönigstag; Pfingstferien folgten auf Pfingstferien im Lauf über blumensprießende Frühlingswiesen; Sommerferien auf Sommerferien kamen heran, feierten ihre Orgien in freier Luft, ihre Sommergelage und gossen ihren Sommerwein aus vollen Schalen; dann eines Tages, mit der sinkenden Sonne liefen sie fort, und zurück blieb nur die Erinnerung mit sonnverbrannten Wangen, verwunderten Augen und tanzendem Blut.
Und die Jahre schwanden, und die Welt war nicht mehr die Wunderwelt, die sie früher gewesen; diese dunkeln Winkel hinter morschen Holunderbäumen, diese geheimnisvollen Bodenkammern und jener unheimliche Steinsarg unter dem Klastrupwege, – die Schrecken des Märchens wohnten nicht mehr darin; und jener lange Hügel, der sein Gras beim ersten Schlag der Lerche unter den purpurgeränderten Sternen des Tausendschöns und den gelben Glocken der Himmelsschlüssel verbarg, der Bach mit seinen phantastischen Schätzen an Tieren und Pflanzen und die wilden, bergigen Abhänge der Sandgrube mit ihren schwarzen Feuersteinen und silberglänzendem Granitboden – das alles waren nur noch armselige Blumen, Tiere und Steine; das strahlende Gold der Fee war wieder zu welkem Laub verblaßt.
Spiel auf Spiel war alt und sinnlos, dumm und langweilig geworden wie die Bilder in einem Abc-Buch, und einmal waren sie doch so neu, so unverwüstlich neu gewesen. Dort hatten sie mit dem Reifen gespielt, Niels und Pastors Frithjof, und der Reifen war ein Fahrzeug, das strandete, wenn es umschlug; fing man es aber auf, ehe es fiel, so hatte man Anker geworfen. Der schmale Gang zwischen den Wirtschaftsgebäuden, der so schwer zu passieren war, hieß Bab el Mandeb oder die Pforte des Todes; auf der Stalltür stand mit Kreide geschrieben, daß hier England, und auf der Scheunentür stand: Frankreich; die Gartenpforte war Rio de Janeiro, das Haus des Schmiedes aber war Brasilien. – Dann spielte man auch Holger Danske, das konnte man zwischen den großen Kletten hinter der Scheune spielen; aber oben auf dem Felde des Müllers waren einige Erdlöcher, die nannten sie Schluchten, und hier hauste Fritz Burmand und seine wilden Sarazenen mit rotgrauen Turbanen und gelben Helmbüschen, Kletten und Königskerzen von riesigem Wuchs; dort war erst das richtige Mauretanien; denn diese grenzenlose Üppigkeit, diese wimmelnden Massen des quellendsten Lebens reizten den Zerstörungstrieb, berauschten die Sinne mit der Vernichtung Wollust, die hölzernen Schwerter blinkten mit dem Glanz des Stahls, der grüne Pflanzensaft färbte die Klingen blutig rot, und die abgehauenen Stengel wurden unter den Füßen zertreten wie Türkenleiber unter den Pferdehufen, es klang fast, als würden Knochen im Leibe zermalmt.
Unten am Fjord hatten sie gespielt; Muschelschalen wurden als Schiffe ausgesandt, und wenn sie von einem Tangbüschel aufgehalten wurden oder an einer Sandbank landeten, so war das Kolumbus im Sargassomeer oder die Entdeckung Amerikas, Häfen wurden dort angelegt und mächtige Dämme, der Nil wurde in dem festen Strandsand ausgegraben, und einmal bauten sie Schloß Gurre aus Kieselsteinen, – ein kleiner toter Fisch in einer Austernschale war die tote Tove, und sie selbst waren König Waldemar, der trauernd danebensaß.
Aber das war nun vorbei.
Niels war jetzt ein großer Knabe, zwölf Jahre alt, ging ins dreizehnte und brauchte nicht mehr auf Disteln und Kletten loszuschlagen, um seinen Ritterphantasien zu genügen, ebensowenig wie er seine Entdeckerträume zum Segeln in Muschelschalen auszusetzen brauchte; ein Buch und eine Sofaecke reichten jetzt, und reichten sie nicht, wollte ihn das Buch nicht an eine Küste tragen, die ihm lieb, so suchte er Frithjof auf und erzählte ihm die Geschichte, die das Buch nicht erzählen wollte. Arm in Arm gingen sie des Wegs, der eine erzählend, beide lauschend, aber wenn sie so recht genießen, der Phantasie die rechte Färbung geben wollten, dann verbargen sie sich in dem duftenden Dunkel des Heubodens. Bald jedoch wurden diese Geschichten, die endeten, wenn man sich gerade so recht in sie eingelebt hatte, zu einer einzigen langen Geschichte, die gar kein Ende mehr nahm, sondern Generation auf Generation überlebte; denn wenn der Held zu alt wurde, oder wenn man ihn unvorsichtigerweise umkommen ließ, so gab man ihm einen Sohn, der alles vom Vater erbte, und obendrein noch mit solchen neuen Eigenschaften ausgestattet wurde, auf die man im Augenblick gerade besonderen Wert legte.
Alles, was auf Niels Eindruck gemacht hatte, was er sah, was er verstand, und was er mißverstand, was er bewunderte, und das, wovon er wußte, daß man es bewundern müsse – das alles kam in die Geschichte hinein. Wie ein fließendes Wasser von dem Bilde gefärbt wird, das seinem Spiegel sich nähert, und dieses Bild, so wie es eben auftrifft, in ungetrübter Klarheit wiedergibt, oder es entstellt und verzerrt, oder es in wogenden, unsicher tanzenden Umrissen spiegelt, oder es ganz in dem eigenen Farben- und Linienspiel ertränkt – ebenso faßte des Knaben Erzählung Gefühle und Gedanken, eigene wie fremde, faßte sie Menschen und Begebenheiten, Leben und Bücher, so gut sie sich fassen ließen. Sie war wie ein Leben, das sich neben dem wirklichen Leben abspielte, wie ein trautes, heimliches Versteck, in dem man süß von den wildesten Fahrten träumen konnte; sie war wie ein Feengarten, der sich auf den leisesten Wink hin öffnete und einen in all seine Herrlichkeiten aufnahm, allen andern aber verschlossen verblieb; und oben war er durch flüsternde Palmen geschlossen; unten zwischen Blumen aus Sonne, unter Sternenblättern, zwischen rankenden Korallen öffneten sich tausend Wege nach allen Gegenden und nach allen Seiten; ging man den einen, so kam man hierhin, ging man den andern, so kam man dorthin, zu Aladin und Robinson Krusoe, zu Vaulunder und Henrik Magnard, zu Niels Klim und Mungo Park, zu Peter Simpel und zu Odysseus – und dann brauchte man nur zu wünschen und war wieder daheim.
Einen Monat nach Niels zwölftem Geburtstag zeigten sich zwei neue Gesichter auf Lönborghof.
Das eine gehörte dem neuen Hauslehrer, das andere war Edele Lyhnes. Der Hauslehrer, Herr Bigum, war Kandidat der Theologie, auf der Schwelle der Vierziger. Er war ziemlich klein aber kräftig, beinahe lasttierkräftig gebaut; mit breiter Brust, hohen Schultern und wuchtigem Nacken. Die Arme waren lang, die Beine stark und kurz, die Füße breit. Sein Gang war langsam, schwer und nachdrücklich, die Armbewegungen waren unbestimmt, ausdruckslos und erforderten viel Raum. Rotbärtig war er wie ein Wilder, sommersprossig blond seine Hautfarbe. Seine große, hohe Stirn war flach wie eine Wand mit ein paar senkrechten Falten zwischen den Brauen, die Nase war kurz und plump, der Mund groß mit dicken, frischen Lippen. Das Schönste an ihm waren seine Augen, sie waren hell, sanft und klar. An den Bewegungen des Augapfel konnte man sehen, daß er ein wenig schwerhörig war. Dies hinderte ihn aber nicht daran, ein großer Musikliebhaber und ein leidenschaftlicher Violinspieler zu sein; denn die Töne, sagte er, höre man nicht nur mit den Ohren; der ganze Körper höre: Augen, Finger und Füße, und versage das Ohr vielleicht auch einmal, die Hand würde doch mit seltsamer, instinktmäßiger Genialität den rechten Ton ohne Hilfe des Ohrs zu finden wissen. Überdies seien alle hörbaren Töne doch letzten Grundes falsch; denn wem die Gnadengabe der Töne geworden, der besitze in seinem Innern ein unsichtbares Instrument, gegen das die herrlichste Cremoneser Geige nur sei wie eine Kalebasse-Violine der Wilden, und auf diesem Instrument spiele die Seele, aus seinen Saiten erklängen die idealen Töne, und auf ihm hätten die großen Tondichter ihre unsterblichen Werke geschaffen. Jene äußere Musik, von der die Luft der Wirklichkeit durchzittert, und von der die Ohren hören – sie sei nur elende Nachahmung, ein stammelnder Versuch, das Unsagbare zu sagen; sie sei der Musik der Seele zu vergleichen, wie die mit Händen geformte, mit dem Meißel gehauene, mit dem Maß gemessene Statue dem wundersamen Marmortraum des Bildhauers zu vergleichen sei, den zu schauen den Augen niemals vergönnt war, den die Lippen niemals preisen würden.
Musik bedeutete jedoch keineswegs Herrn Bigums Hauptinteresse; zuerst und vor allem war er Philosoph; aber durchaus nicht einer von jenen produktiven Philosophen, die neue Gesetze erfinden und Systeme aufbauen; er lachte über ihre Systeme, diese Schneckenhäuser, die man mit sich über das unendliche Feld des Gedankens schleppt, einfältig im Glauben, das Feld sei drinnen im Schneckenhaus. Und diese Gesetze: Denkgesetze, Naturgesetze! – als ob ein Gesetz entdecken etwas anderes sei, als einen bestimmten Ausdruck für die eigene Beschränktheit finden; so weit kann ich sehen und nicht weiter, dort ist mein Horizont – das bedeutete die Entdeckung und weiter nichts; denn war nicht ein neuer Horizont hinter dem ersten und noch ein neuer und wieder ein neuer, Horizont hinter Horizont, Gesetz hinter Gesetz bis in die Unendlichkeit? Nicht in diesem Sinn war er Philosoph. Er glaubte nicht, eingebildet zu sein oder sich zu überschätzen, aber er konnte seine Augen der Tatsache nicht verschließen, daß seine Intelligenz weitere Gebiete umspannte als die anderer Sterblicher. Wenn er sich in die Werke der großen Denker vertiefte, so war es ihm, als schritte er zwischen einem Volk schlummernder Gedankenriesen, die gebadet im Lichte seines Geistes erwachten und ihre Stärke erkannten. Und so mit allem: jeder fremde Gedanke, jede Stimmung oder Empfindung, was immer beglückt wurde, in ihm zu erwachen, das erwachte mit seinem Zeichen an der Stirn, geadelt, geläutert, mit starken Schwingen, erfüllt von Größe und überstrahlt von Gewalt, von der ihr Schöpfer sich nicht hatte träumen lassen.
Wie oft hatte er nicht fast demütig gestaunt über den wundersamen Reichtum seiner Seele, über die machtsichere gottähnliche Ruhe seines Geistes, denn es gab Tage, an denen er die Welt und die Dinge in dieser Welt von ganz entgegengesetzten Standpunkten beurteilte, wo er die Welt und ihre Dinge unter Voraussetzungen betrachtete, die so verschieden voneinander waren wie Tag und Nacht, jedoch ohne daß diese erwählten Standpunkte und diese angenommenen Voraussetzungen, die er zu den seinen gemacht, ihn jemals auch nur für Sekunden zu dem ihren gemacht hätten, ebensowenig wie der Gott, der die Gestalt des Stiers oder des Schwans angenommen, einen einzigen Augenblick zum Stier oder Schwan geworden und aufgehört hätte, ein Gott zu sein.
Und niemand war da, der ahnte, was in ihm wohnte; alle gingen sie blind an ihm vorüber; er aber freute sich dieser Blindheit, denn er verachtete die Menschheit. Der Tag würde kommen, wo sein Auge brach und das herrliche Gebäude seines Geistes in seinen Grundfesten barst und zusammenstürzte, und alles war, als sei es nie gewesen; aber kein Werk seiner Hand, nicht ein Pünktchen, wollte er hinterlassen, das melden könnte, was mit ihm verlorengegangen. Das Genie in ihm sollte nicht mit Dornen gekrönt werden, da die Welt es verkannt, es sollte sich auch nicht in den besudelnden Purpurmantel ihrer Bewunderung werfen; und er jubelte bei dem Gedanken, daß Geschlecht auf Geschlecht geboren werden und sterben würde, und daß die Größten jedes Geschlechts Zeit um Zeit ihr Leben einsetzen würden, um das zu erringen, was er hätte geben können, wenn er seine Hand hätte öffnen wollen.
Daß er in so bescheidenen Verhältnissen lebte, bereitete ihm einen eigentümlichen Genuß; denn welche großartige Verschwendung lag doch darin, daß sein Geist dazu gebraucht wurde, Kinder zu unterrichten – welch wahnsinniges Mißverhältnis, daß seine Zeit mit dem jämmerlichen täglichen Brot bezahlt wurde – welche gigantische Verkehrtheit schließlich, daß es ihm vergönnt war, dieses Brot auf Empfehlung armseliger, ganz gewöhnlicher Menschen zu verdienen, die dafür bürgten, daß er tüchtig genug sei, den elenden Dienst eines Hauslehrers leisten zu können.
Und ihn hatte man beim Staatsexamen durchfallen lassen.
Oh, es lag eine seltsame Wollust darin zu fühlen, wie man vom brutalen Unverstand des Daseins wie wertlose Spreu beiseite geworfen wurde, der doch das Leere und Kernlose für goldenes Korn schätzte; und dann von sich selbst zu wissen, daß der geringste Gedanke, den man dachte, eine ganze Welt aufwog.
Aber es gab auch Zeiten, wo die Einsamkeit seiner Größe erdrückend auf ihm lastete.
Ach wie oft, wenn er Stunde auf Stunde in heiligem Schweigen sich selbst gelauscht hatte, und dann für das Leben um sich her wieder hörend und sehend wurde, und es fremd fand in seiner Armseligkeit und Vergänglichkeit – wie oft war ihm da nicht wie jenem Mönch, der im Walde gelauscht hatte, während der Vogel des Paradieses einen einzigen Triller schlug, und der, als er zurückkehrte, hundert Jahre verronnen fand! Denn da der Mönch einsam war inmitten des unbekannten Geschlechts, das zwischen wohlbekannten Gräbern lebte, wieviel einsamer war dann nicht er, dessen rechte Zeitgenossen noch nicht einmal geboren waren.
In solchen Augenblicken der Verlassenheit spürte er wohl die feige Sehnsucht in sich, hinabzusinken zu dem Haufen der gemeinen Sterblichen und ihr niedriges Glück zu teilen, Bürger auf ihrer großen Erde, Bürger in ihrem kleinen Himmel zu werden.
Aber bald war er wieder er selbst.
Der zweite Gast des Gutes, Fräulein Edele Lyhne, Lyhnes sechsundzwanzigjährige Schwester, hatte lange Jahre in Kopenhagen gelebt, erst bei der Mutter, die, als sie Witwe geworden, in die Hauptstadt zog, und nach der Mutter Tod bei ihrem reichen Onkel, dem Etatsrat Neergaard. Der Etatsrat machte ein großes Haus und nahm regen Anteil am Gesellschaftsleben, so daß Edele in einem Wirbel von Bällen und Festen lebte.
Überall wurde sie bewundert, und der Neid, der treue Schatten der Bewunderung, verfolgte sie ebenfalls. Es wurde so viel von ihr gesprochen, wie man eben über jemand spricht, der nichts Böses getan hat, und wenn die Herren sich über die drei Schönheiten der Stadt stritten, so gab es immer viele Stimmen, die den einen Namen streichen und Edele Lyhne an seine Stelle setzen wollten; aber man konnte sich nie einigen, welche der beiden Schönheiten ausscheiden sollte, von der dritten konnte überhaupt nicht die Rede sein.
Sehr junge Leute bewunderten sie jedoch nicht, sie fürchteten sich ein wenig vor ihr und fühlten sich in ihrer Gesellschaft doppelt so dumm, wie sie waren; denn sie hörte sie an, in ihrem Blick den vernichtenden Ausdruck einer sanften Geduld, einer boshaft übertriebenen Geduld, die deutlich genug sagte, daß sie auswendig wisse alles, was sie da sprachen; alle ihre Anstrengungen, sich in Edele und in ihren eigenen Augen zu heben, indem sie blasiert taten, wilden Paradoxen nachjagten, oder wenn ihre Verzweiflung den Höhepunkt erreicht hatte, freche Erklärungen gaben; – diese Versuche, die einander in jugendlich schlecht motivierten Übergängen drängten und erdrückten, sie wurden alle mit dem Hauch eines Lächelns begrüßt, dem fatalen Lächeln des Wiedererkennens, das den Unglücklichen erröten machte und ihn fühlen ließ, er sei die hunderundelfte Fliege in demselben unbarmherzigen Spinngewebe.
Außerdem hatte ihre Schönheit weder das Weiche noch das Glühende, das so betörend für junge Herzen ist.
Auf die Herzen der Älteren und auf kühlere Köpfe übte sie hingegen eine eigene Anziehungskraft aus.
Sie war groß.
Ihr schweres dichtes Haar war blond mit jenem matten, rötlichen Schein, der über reifendem Weizen liegt.
Es wuchs ihr in zwei schmaler werdenden Streifen tief in den Nacken hinein, und war hier etwas heller als das übrige Haar und stark gelockt. Auf der hohen, scharfgeformten Stirn zeichneten die ziemlich hellen Brauen sich unbestimmt und ohne Linien ab. Die hellgrauen Augen, groß und klar, wurden durch die Brauen nicht gehoben, und die leichten, dünnen Augenlider vermochten keine Schatten auf ihnen spielen zu lassen. Sie hatten etwas Unbestimmtes und Unbestimmbares in ihrem Ausdruck, blickten jeden stets voll und offen an, kannten keine reich nuancierten Seitenblicke, keine halben, flüchtigen Blitze, schienen unnatürlich wach, unergründlich, nicht zu bezwingen. Das ganze Mienenspiel lag im Untergesicht, wurde von den Nasenflügeln, von Mund und Kinn bestritten. Die Augen sahen nur zu. Namentlich der Mund war ausdrucksvoll mit seinen tiefen Mundwinkeln, seinen scharfgezeichneten Umrissen und den anmutig geschweiften Lippen. Nur in der Haltung der Unterlippe lag etwas Hartes, das beim Lächeln bald fast schmolz, bald aber auch zu einem Ausdruck von Brutalität erstarrte.
Die fast gewaltsam geschwungene Linie des Rückens und die im Verhältnis zu den strengen Formen der Schultern und Arme große Üppigkeit des Busens gaben ihr etwas Herausforderndes, etwas berauschend Tropisches, noch mehr betont durch ihre blendend weiße Haut und das krankhaft durchblutete Rot ihrer Lippen, ein Eindruck, der aufreizend, doch zugleich beängstigend war.
Im ganzen genommen hatte ihre hohe, hüftenschlanke Gestalt etwas raffiniert Stilvolles, das sie, vor allem in ihren Balltoiletten, mit einer resoluten und zielbewußten Kunst zu unterstreichen wußte; indem sie jedoch dieses Kunst-Verstehen – das hier sich selbst verstehen war – so laut werden ließ, verriet sie ein wenig schon schlechten Geschmack, so geschmackbeherrscht sie auch war.
Darin aber fand man nur noch einen Reiz mehr.
Nichts konnte unantastbarer korrekt sein als ihr Auftreten. In dem, was sie sagte und in dem, was sie sich sagen ließ, hielt sie sich innerhalb der Grenzen strengster Prüderie, und ihre Koketterie bestand darin, daß sie sich nicht im mindesten kokett zeigte, daß sie unheilbar blind für den Eindruck war, den sie hervorrief und nicht den geringsten Unterschied zwischen ihren Anbetern machte. Aber gerade deshalb träumten sie alle berauschende Träume von dem Gesicht, das hinter der Maske verborgen sein mußte, deshalb glaubten sie an eine Glut unter dem Schnee, spürten sie einen Duft von Verderbtheit in dieser Unschuld. Keiner von ihnen wäre überrascht gewesen zu erfahren, daß sie einen heimlichen Liebhaber habe, aber auch keiner von ihnen hätte gewagt, seinen Namen zu erraten.
So sah man Edele Lyhne.
Der Grund, weshalb sie die Hauptstadt mit Lönborghof vertauscht hatte, war der, daß ihre Gesundheit durch diese dauernde gesellige Hast, diese Tausendundeine Nacht von Bällen und Maskeraden gelitten hatte, und gegen Ende des Winters hatten sich Anzeichen eingestellt, daß ihre Brust stark angegriffen sei, weshalb der Arzt Landluft, Ruhe und Milch verordnet hatte, lauter Dinge, die sich an ihrem jetzigen Aufenthaltsorte in vollem Maße beisammen fanden. Aber sie fand dort auch eine unerträgliche Langeweile, und sie war noch nicht eine Woche dort, als sie schon sehnendes und verzehrendes Heimweh nach Kopenhagen bekam. Brief auf Brief füllte sie mit Bitten, daß man ihrer Verbannung doch ein Ende machen möge, und sie gab sogar zu verstehen, daß ihre Sehnsucht ihr mehr schade, als die Luft ihr nütze. Der Arzt aber hatte Etatsrats so ängstlich gemacht, daß sie es für ihre Pflicht hielten, sich taub zu stellen, wie bitterlich sie auch klagte.
Es waren nicht gerade die Vergnügungen, die sie so sehr entbehrte; sondern es war das Gefühl des eignen Lebens, wenn es hörbar hineinklang in die lauterfüllte Luft der großen Stadt; hier auf dem Lande aber herrschte eine Stille in Gedanken, in Worten, in den Augen, in allen Dingen, daß man sich unaufhörlich selbst hörte, so unentrinnbar und sicher, wie man in einer schlaflosen Nacht das Ticken der Uhr vernimmt. Und dann zu wissen, daß die da drüben lebten, so lebten wie früher – es war als sei sie schon gestorben und höre in stiller Nacht Töne aus einem Ballsaal in der Luft über ihrem Grabe verklingen.
Hier war niemand, mit dem sie sprechen konnte, denn sie faßten ihre Worte nie in der Nuance, die den Worten Leben einhauchen; gewiß, sie verstanden sie, denn es war ja dänisch, aber sie verstanden nur ganz ungefähr, so wie man eine fremde Sprache versteht, die man nicht zu hören gewohnt ist. Sie ahnen nicht, auf was oder wen jene forcierte Betonung eines Satzes anspielte; sie ließen sich nicht träumen, daß dieses kleine Wort ein Zitat oder jenes andere, gerade so gebraucht, eine neue Variation eines allgemein beliebten Witzes sei. Selbst sprachen sie mit einer rechtschaffenen Magerkeit, so daß man die Rippen der Grammatik durch ihre Phrasen fühlen konnte, und mit einer buchstäblichen Anwendung der Worte, als kämen sie frisch aus den Spalten eines Wörterbuchs. Schon die Art und Weise, wie sie »Kopenhagen« sagten. Bald mit einer mystischen Betonung, als sei es ein Ort, wo man kleine Kinder vertilge, bald mit einer Fernheit in der Stimme, als sei es eine Stadt im Innern Afrikas, oder gar in feierlichem Ton, in dem Geschichte erzitterte, so wie sie Ninive oder Karthago hätten sagen können. Der Pastor gar sagte stets Axelsstadt mit einem erinnerungsvollen Entzücken, als sei es der Name einer alten Geliebten. Niemand von ihnen konnte so Kopenhagen sagen, daß es die Stadt wurde, gestreckt zu beiden Seiten der Ostergade und Kongens Nytorv, von Westerport bis zum Zollhause.
Und so war es mit allem, was sie sagten; und mit allem, was sie taten, war es ebenso.
Es gab nichts auf Lönborghof, daß ihr nicht mißfiel; diese Essenszeiten, die sich nach der Sonne richteten, dieser Lavendelduft in Laden und Schränken, diese spartanischen Stühle, all diese Provinzmöbel, die sich an die Wände drückten, als hätten sie Furcht vor den Menschen; sogar die Luft war ihr zuwider. Man konnte nirgend spazieren gehen, ohne ein robustes Parfüm von Wiesenheu und Feldblumen in Haar und Kleidern nach Hause zu bringen, gerade als ob man in einer Sennhütte eingesperrt gewesen wäre. –
Außerordentlich angenehm war es auch, Tante genannt zu werden, Tante Edele.
Wie das klang!
Daran gewöhnte sie sich schließlich; aber im Anfang war das Verhältnis zwischen ihr und Niels aus diesem Grunde ziemlich kühl.
Niels kümmerte das wenig.
Aber da geschah es an einem Sonntag zu Anfang August, daß Lyhne und seine Frau auf Besuch gefahren und Niels und Fräulein Edele allein zu Hause waren. Am Vormittag hatte Edele Niels gebeten, ihr einen Strauß Kornblumen zu pflücken, aber er hatte es vergessen, und es fiel ihm erst später am Nachmittag wieder ein, als er mit Frithjof umherschlenderte. Nun pflückte er die Blumen und lief damit ins Haus.
Die Stille im Hause machte ihn glauben, die Tante schlafe, und er schlich vorsichtig durch die Zimmer. Auf der Schwelle zum Saal blieb er stehen und begann dann, sehr, sehr leise zu Edeles Tür hinüber zu gehen. Das Zimmer war voll Sonnenschein, ein großer, blühender Oleander beschwerte die Luft mit seinem süßen Mandelduft. Der einzig vernehmbare Laut war ein gedämpftes Plätschern, das dann und wann vom Blumentisch herüberklang, wenn die Goldfische sich in ihrem Glas bewegten.
Niels trat leise auf, mit balancierenden Armen und mit der Zunge zwischen den Zähnen.
Behutsam faßte er den Türgriff, der von der Sonne erhitzt in seiner Hand brannte, und drehte ihn nur langsam und vorsichtig, mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen.
Er öffnete die Tür einen Spalt breit nur, beugte sich in den Raum hinein und legte den Strauß auf den Stuhl gleich neben der Tür. Drinnen war es dunkel, als ob die Vorhänge herabgelassen wären, und die Luft war gleichsam feucht von Duft, Rosenölduft. –
In seiner gebückten Stellung sah er nichts als die helle Strohmatte auf dem Fußboden, die Holzverkleidung unter dem Fenster und den lackierten Fuß eines Gueridons; als er sich aber aufrichtete, um zurückzutreten, sah er die Tante.
Sie lag auf dem seegrünen Atlas des langen Ruhebettes in der phantastischen Tracht eines Zigeunermädchens. Auf dem Rücken lag sie, das Kinn vorgestreckt, die Kehle straff gespannt, die Stirn tiefliegend, und ihr langes, aufgelöstes Haar floß über das Ende des Lagers und über den Teppich. Eine künstliche Granatblüte war an die Insel gespült, die ein bronzefarbener Lederschuh mitten in dem mattgoldenen Strom bildete.
Die Farben ihrer Tracht waren bunt, aber alle waren gedämpft. Ein Mieder aus glanzlosem Stoff, in dunkelblauen, blaßroten, grauen und orangefarbenen Flammen bunt gemustert, umschloß ein weißes Seidenhemd mit sehr weiten Ärmeln, die bis über den Ellbogen herabfielen. Die Seide hatte einen rötlichen Schimmer und sparsam waren Fäden aus rotem Gold eingewebt. Der Rock aus aurikelfarbigem Samt ohne Kante war nicht zusammengerafft, sondern lag lose um sie in schiefem Faltenwurf von unten nach oben über das Lager gebreitet. Vom Knie ab waren die Beine nackt, und die über Kreuz gelegten Knöchel hatte sie mit einem großen Halsband aus matten Korallen zusammengebunden. Auf dem Fußboden lag ein geöffneter Fächer, dessen Zeichnung eine Reihe radförmig gelegter Spielkarten darstellte, und weiter fort lag ein Paar laubbrauner Seidenstrümpfe, von denen der eine ganz aufgerollt, der andere flach ausgebreitet seine ganze Form und den rot aufgenähten Zwickel erkennen ließ.
In demselben Augenblick, da Niels sie erblickte, gewahrte auch sie ihn. Unwillkürlich machte sie eine leichte Bewegung, wie um sich zu erheben; aber sie bezwang sich und blieb liegen wie zuvor, wandte den Kopf nur ein wenig und sah mit fragendem Lächeln den Knaben an.
»Da sind sie«, sagte er und trat mit den Blumen zu ihr.
Sie streckte die Hand danach aus, verglich mit einem flüchtigen Blick die Farbe der Blumen mit den Farben ihres Gewandes und ließ sich dann mit einem müde gemurmelten: »Unmöglich« fallen.
Mit einer abwehrenden Bewegung der Hand verhinderte sie Niels, sie aufzuheben.
»Gib mir das da«, sagte sie und deutete auf ein rotes Flakon, das auf einen zerknitterten Taschentuch zu ihren Füßen lag.
Niels trat hin, er war blutrot, und indem er sich über die mattweißen, langsam sich rundenden Beine und die langen, schmalen Füße beugte, die in ihren feinen, wiegenden Formen etwas von der Intelligenz einer Hand hatten, wurde ihm ganz schwindlig, und als sich auch noch in diesem Augenblick die eine Fußspitze mit einer plötzlichen Bewegung krümmte, war er nahe daran umzufallen.
»Wo hast du die Kornblumen gepflückt?«, fragte Edele.
Niels nahm sich zusammen und wandte sich zu ihr. »In Pastors Roggen habe ich sie gepflückt«, sagte er mit einer Stimme, die ihn selbst wunderte, so viel Klang war darin. Ohne aufzublicken, reichte er ihr das Flakon.
Edele merkte seine Erregung und sah ihn erstaunt an. Plötzlich errötete sie, stützte sich auf dem einen Arm in die Höhe und zog die Beine unter den Rock. »Geh, geh, geh, geh«, sagte sie, halb ärgerlich, halb verlegen, und bei jedem Wort spritzte sie Rosenessenz auf Niels.
Niels ging.
Als er zur Tür hinaus war, ließ sie die Beine langsam vom Ruhebett gleiten und sah neugierig auf sie nieder.
Mit hurtigen, unsicheren Schritten eilte Niels durch die Zimmer hinauf in seine Kammer. Er war ganz verwirrt, fühlte eine wunderliche Mattigkeit in den Knien und hatte ein erstickendes Gefühl im Halse. Er warf sich auf das Sofa und schloß die Augen, aber er konnte keine Ruhe finden. Unbegreifliche Unruhe hatte sich seiner bemächtigt, sein Atem ging schwer, gleichsam wie in Angst, und das Licht quälte ihn trotz der geschlossenen Augenlider.
Nach und nach wurde es anders; es war als ziehe ein wärmender drückender Hauch über ihn hin und mache ihn so hilflos matt. Er hatte eine Empfindung, die man wohl im Traum hat; etwas ist da und ruft, und man möchte so gern kommen, aber es ist nicht möglich, den Fuß zu heben, und man fiebert in seiner Ohnmacht, siecht hin vor Sehnen fortzukommen, wird bis zum Wahnsinn getrieben durch dieses Rufen, das ja nicht weiß, daß man gebunden ist. Und er seufzte ungeduldig wie ein Kranker und sah verloren im Zimmer umher; niemals hatte er sich so unglücklich gefühlt, so einsam, so verstoßen und verlassen.
Dann setzte er sich ans Fenster, mitten in den Sonnenschein, und weinte.
Von diesem Tage an fühlte sich Niels in Edeles Nähe qualvoll glücklich. Sie war nicht mehr ein Mensch wie alle anderen, sondern ein wunderbar erhabenes Wesen, Göttin geworden durch die Mystik einer seltsamen Schönheit, und das Herz schlug stark vor Glück, sie zu betrachten, im Herzen vor ihr zu knien, vernichtet in Demut vor ihr zu kriechen; zuweilen wurde der Anbetungsdrang so groß, daß er sich in einem äußeren Zeichen der Unterwerfung Luft zu machen verlangte, und dann erspähte er einen günstigen Augenblick, schlich sich in Edeles Zimmer und drückte Küsse in einer voraus bestimmten unendlichen Anzahl auf den kleinen Teppich vor ihrem Bett, auf ihren Schuh ober irgendeine andere Reliquie, die sich seinem Fanatismus darbot.
Als ein großes Glück betrachtete er den Umstand, daß gerade in dieser Zeit seine Sonntagsjacke zur Alltagsjacke degradiert wurde; denn in dem Duft, den jene versprengten Tropfen Rosenessenz hinterlassen hatten, besaß er einen mächtigen Talisman, der ihm wie in einem magischen Spiegel Edele so zeigte, wie er sie gesehen hatte, in jenem Maskenanzug auf dem grünen Lager ruhend. In den Geschichten zwischen Frithjof und ihm kehrte dieses Bild immer wieder, und der unglückliche Frithjof war von nun an nie mehr sicher vor barfüßigen Prinzessinnen; schleppte er sich durch des Urwalds Dickicht, so riefen sie ihn aus ihren Hängematten von Lianen an; suchte er in einer Berghöhle Schutz vor dem Orkan, so erhoben sie sich von ihrem sammetweichen Mooslager und hießen ihn willkommen, sprengte er pulvergeschwärzt und blutbespritzt mit gewaltigem Schwerthieb die Tür zur Kajüte des Piraten, so fand er sie auch dort auf dem grünen Sofa des Kapitäns ruhend. Sie langweilten ihn gar sehr, und er konnte gar nicht begreifen, weshalb sie plötzlich für die teuren Helden so notwendig geworden waren.
Wie himmelhoch auch ein Menschenkind seinen Thron gestellt haben mag, wie fest es auch die Tiara des Auserwählten, die Genie bedeutet, um seine Stirn gelegt hat – niemals wird es sich ganz sicher wissen, daß es nicht eines Tages wie König Nebukadnezar plötzlich von der seltsamen Lust ergriffen wird, auf allen Vieren zu kriechen, und mit den niederen Tieren des Feldes Gras zu fressen.
So ging es Herrn Bigum, da er sich ganz einfach in Fräulein Edele verliebte. Und es half ihm nichts, daß er die Weltgeschichte veränderte, um diese seine Liebe zu entschuldigen, es half auch nichts, daß er Edele seine Beatrice, Laura, oder Viktoria Colonna nannte, denn der ganze künstliche Glorienschein, mit dem er seine Liebe krönte, wurde ebenso schnell wie er ihn entfachte durch die unerbittliche Wahrheit wieder gelöscht, daß er sich nur in Edeles Schönheit verliebt hatte; daß nicht ihre Herzens- oder Geisteseigenschaften ihn betört hatten, sondern nur ihre Eleganz, ihr leichter Weltton, ihr sicheres Auftreten, ja, sogar ihre graziöse Unverschämtheit. Es war in jeder Beziehung eine Liebe, die ganz dazu geeignet war, ihn mit schamvoller Verwunderung über die Unbeständigkeit der Menschenkinder zu erfüllen.
Aber was tat das? Was hatten alle diese ewigen Wahrheiten und zeitweiligen Lügen zu sagen, die sich Ring an Ring zu der Panzerbürde fügten, die er seine Überzeugung nannte, – was hatten sie gegen seine Liebe zu sagen? Sie waren ja die Kraft, das Mark, der Kern des Lebens – mochten sie doch ihre Kräfte zeigen; waren sie schwächer, so mußten sie eben reißen; waren sie stärker ... Doch sie waren gerissen, auseinandergezerrt, ein Gewebe mürber Fäden... – Was kümmerten sie sich um die ewigen Wahrheiten! Und die gewaltigen Anschauungen, wem halfen sie? Konnte er sie mit Gedanken erringen, die in die Tiefe der Unendlichkeit gedrungen? Es war wertlos, alles, was er besaß. Und leuchtete auch seine Seele in einer Herrlichkeit, hundertmal glänzender als die Sonne – was nützte es, da sie sich unter dem armselig-häßlichen Filz eines Diogenesmantels verbarg? Form! Form! für dreißig Silberlinge Form nur, gebt für meinen ganzen Inhalt! Gebt mir den Körper des Alkibiades, den Mantel des Don Juan, den Rang eines Kammerjunkers!
Aber das hatte er nun einmal nicht, und Edele fühlte sich durchaus nicht sympathisch berührt von dieser plumpen Philosophennatur, die alle Regungen des Lebens nur in der barbarischen Nacktheit der Abstraktion betrachten konnte und in ihren Äußerungen etwas lärmend Absolutes hatte, das sich mit unangenehmer Sicherheit vordrängte, ungefähr wie eine schlecht angebrachte Trommel in einem sanften Konzert. Das Forcierte an ihm, die Art, wie er sich jeder kleinen Frage gegenüber gleich in muskelstarke Position stellte, so wie ein Kraftmensch, der mit Eisenkugeln spielen soll, das machte ihn lächerlich in ihren Augen; und es beleidigte sie, wenn er von seiner urteilssüchtigen Moral getrieben, indiskret jeder leicht angedeuteten Empfindung ihr Unbestimmtes nahm, indem er alles grob beim rechten Namen nannte, wenn es im Laufe des Gesprächs an ihm vorbeieilen wollte.
Bigum wußte sehr wohl, welch unvorteilhaften Eindruck er machte und wie völlig hoffnungslos seine Liebe war. Doch er wußte das, wie man weiß, wenn man mit der ganzen Kraft seiner Seele hofft, dies Wissen möge falsch sein. Es bleibt ja noch immer das Wunder; und wenn auch keine Wunder geschehen – so könnten sie doch geschehen! Wer weiß? Vielleicht irrt man sich! Vielleicht ist alles Trug, vielleicht führen Verstand, Instinkt, die Sinne mit ihrer taghellen Klarheit einen doch irre, vielleicht gilt es gerade, den unverständigen Mut zu haben, dem Irrlicht Hoffnung zu folgen, das über der begierdeschwangeren Gärung unserer Leidenschaften schwebt. Erst, wenn man die Tür der Entscheidung hat zufallen hören, graben sich die eisigkalten Klauen der Gewißheit in die Brust, um sich langsam, langsam um den nervenfeinen Hoffnungsfaden in unserm Herzen zu sammeln, an dem unsere Glückswelt hängt; dann wird der Faden zerschnitten, dann fällt das, was er trug; es wird zertreten, und durch die öde Leere dringt der scharfe Schrei der Verzweiflung.
Im Zweifel verzweifelt niemand. – – – –
An einem sonnigen Septembernachmittag saß Edele unten auf der Plattform der breiten, altmodischen Holztreppe, die in fünf, sechs Stufen vom Gartenzimmer in den Garten hinunterführte. Hinter ihr waren die Glastüren weit offen, angelehnt an den rot und grün leuchtenden wilden Wein, der an der Mauer rankte. Sie lehnte den Kopf gegen den Sitz eines Stuhls, der mit großen, schwarzen Mappen bepackt war, und hielt mit beiden Händen einen Kupferstich weit von sich ab. Kolorierte Blätter, Darstellungen byzantinischer Mosaiken, in denen Blau und Gold vorherrschten, lagen auf der grünen Matte der Plattform, auf der Türschwelle und dem eichenbraunen Parkettboden des Gartenzimmers verstreut. Am Fuße der Treppe lag ein weißer Schutzhut, denn Edele war barhäuptig; im Haar trug sie als einzigen Schmuck eine Blume aus Goldfiligran, die in ihrer Zeichnung dem Armband entsprach, das sie hoch oben am Arm trug. Ihr weißes Kleid aus fast durchscheinendem Stoff, mit schmalen, seidigen Streifen hatte einen aus grauer und orangefarbener Chenille geflochten Besatz und war mit kleinen Rosetten in denselben Farben verziert. Helle Halbhandschuhe bedeckten ihre Arme bis über den Ellbogen. Sie waren aus perlgrauer Seide, ebenso wie ihre Schuhe.
Durch die herabhängenden Zweige einer uralten Esche sickerte das gelbe Sonnenlicht strahlenweise über die Treppe und bildete in dem kühlen, halbklaren Schatten eine ganze Schicht leuchtender Linien, die die Luft umher mit goldenem Staub erfüllten und helle Flocken auf Stufen, Tür und Mauer zeichneten, Sonnenfleck neben Sonnenfleck, so daß es aussah, als leuchte das Ganze mit eigner Farbe durch ein Schattensieb dem Licht entgegen, weiß von Edeles weißem Kleide, purpurrot von ihren Purpurlippen, und gelb wie Bernstein von ihrem bernsteingelben Haar. Und rund umher noch in hundert anderen Farben, in Blau und Gold, in Braun, in blankem Spiegelglanz und in Rot und Grün.
Edele ließ den Kupferstich fallen und sah hoffnungslos empor, in ihrem Blick stumm den Seufzer klagend, den zu seufzen sie zu müde war. Dann setzte sie sich zurecht mit einer Bewegung, als schlösse sie sich von der Außenwelt ab und zöge sich in sich selbst zurück.
In diesem Augenblick kam Herr Bigum des Weges.
Edele sah mit müde blinzelnden Augen nach ihm, wie ein Kind, das zu gut liegt und zu schläfrig ist, um sich zu rühren, und doch zu neugierig ist, um die Augen zu schließen.
Herr Bigum hatte seinen neuen Filzhut auf; er war ganz in sich selbst versunken und gestikulierte so heftig mit seiner Tombakuhr, die er in der Hand hielt, daß die dünne Silberkette, an der sie hing, jeden Augenblick zu reißen drohte. Mit einer plötzlichen Bewegung schob er die Uhr dann unsanft in die Tasche, warf ungeduldig den Kopf zurück, packte ärgerlich den Aufschlag seines Rockes und ging dann mit einem zornigen Ruck seines ganzen Körpers weiter; mit einem Gesicht, auf dem sich die ganze düstere, hoffnungslose Wut eines Mannes zeichnet, der vor seinen eigenen qualvollen Gedanken flüchtet und doch weiß, daß er vergeblich flieht.
Edeles Hut, der am Fuß der Treppe lag, leuchtend weiß gegen die dunkle Erde des Weges, hielt ihn auf in seiner Flucht. Er nahm ihn vorsichtig mit beiden Händen auf, in demselben Augenblick erblickte er Edele, und, indem er vergeblich nach Worten suchte, behielt er ihn immer noch, ohne ihn ihr zu geben. Nicht einen Gedanken fand er in seinem Hirn, nicht ein Wort wollte über seine Lippen kommen, und mit einem dumpfen Ausdruck lähmenden Tiefsinns starrte er vor sich hin.
»Das ist ein Hut, Herr Bigum«, warf Edele hin, um in diesem verlegenen Schweigen nicht selbst verlegen zu werden.
»Ja«, sagte der Hauslehrer eifrig, als sei er entzückt darüber, von ihr eine Ähnlichkeit bestätigt zu hören, die ihm ebenfalls aufgefallen war; aber im selben Augenblick errötete er über die Unbeholfenheit seiner Antwort.
»Er lag hier,« beeilte er sich hinzuzufügen, »hier auf der Erde, so – ja, so lag er«, und er bückte sich und zeigte, wie der Hut gelegen, mit der ganzen gedankenlosen Umständlichkeit der Verlegenheit und beinahe glücklich über die Erleichterung, die darin lag, ein Lebenszeichen von sich zu geben, wie armselig das Zeichen auch war. Und dabei stand er immer noch mit dem Hute da.
»Wollen sie ihn etwa behalten?« fragte Edele.
Bigum wußte nicht, was er antworten solle.
»Ich meine, ob sie ihn mir nicht geben wollen?« erklärte sie.
Bigum stieg ein paar Stufen hinauf und reichte ihr den Hut. »Fräulein Lyhne«, sagte er, »Sie glauben ... Sie dürfen nicht glauben, Fräulein Lyhne .. ich bitte Sie, lassen Sie mich reden; das heißt .. ich sage ja nichts, aber haben Sie Geduld mit mir. – Ich liebe Sie, Fräulein Lyhne, unsagbar, unsagbar; unbeschreiblich liebe ich Sie! Oh, wenn es ein Wort gäbe, das die bewundernde Furcht eines Sklaven in sich trüge – das ekstatische Lächeln eines Märtyrers, das namenlose Heimweh eines Verbannten – so wollte ich Ihnen mit diesem Worte sagen, wie ich Sie liebe! Oh, lassen Sie mich reden, hören Sie mich an, hören Sie mich an, stoßen Sie mich noch nicht von sich! Glauben Sie nicht, daß ich Sie durch eine wahnsinnige Hoffnung beleidige; ich weiß, wie gering ich in Ihren Augen bin, wie plump ich bin und abstoßend! Ja, abstoßend! Ich vergesse nicht, daß ich arm bin – ja, Sie sollen es hören, so arm, daß ich meine Mutter in einem Armenstift leben lassen muß – muß, sage ich, so grenzenlos arm bin ich! Ja, Fräulein, ich bin nur ein demütiger Diener im Solde Ihres Herrn Bruders, und doch gibt es eine Welt, in der ich Herrscher bin, mächtig, stolz, reich, sage ich, mit dem Glorienschein des Siegers über mir, edel, geadelt durch jenen Trieb, der Prometheus das Feuer vom Himmel der Götter rauben ließ, und dort bin ich der Bruder aller jener Geistesgrößen, die die Erde getragen hat und noch trägt; ich verstehe sie, wie man nur seinesgleichen versteht; keinen Flug sind sie geflogen, zu hoch für die Kraft meiner Schwingen. Verstehen Sie mich, glauben Sie mir? Oh, glauben Sie mir nicht, es ist nicht wahr; ich bin nur die staubgeborene Koboldgestalt, die Sie sehen. Es ist alles vorbei; denn die furchtbare Verirrung dieser Liebe hat meine Flügel gelähmt; die Augen meines Geistes verlieren ihre Sehkraft, mein Herz verdorrt, meine Seele verblutet sich bis zur Blutlosigkeit der Feigheit! Oh, retten Sie mich vor mir selbst, Fräulein, wenden Sie sich nicht höhnisch ab. Weinen Sie über mich! Weinen Sie: Es ist Rom, das in Flammen steht!«
Mitten auf der Treppe war er auf die Knie gesunken; er rang die Hände. Sein Gesicht war bleich und verzerrt; die Zähne im Schmerz zusammengebissen; seine Augen schwammen in Tränen, und seine ganze Gestalt bebte in verhaltenem Schluchzen, das sich nur in pfeifendem Atem Luft machte.
Edele hatte sich nicht von der Plattform erhoben. »Fassen Sie sich, Mensch!« sagte sie mit leise durchklingendem Mitleid, »fassen Sie sich und lassen Sie sich nicht so gänzlich gehen, seien Sie doch ein Mann. Hören Sie, stehen Sie auf; gehen Sie hinunter in den Garten und versuchen Sie, wieder zu sich zu kommen.«
»Können Sie mich denn gar nicht lieben?«, stöhnte Bigum fast unhörbar, »oh, es ist furchtbar; es gibt nichts in meiner Seele, das ich nicht morden, entwürdigen wollte, wenn ich Sie damit gewinnen könnte. Nein, wenn man mir den Wahnsinn böte, und wären Sie mein in den Visionen des Wahns, ganz mein, so würde ich sagen: seht, hier ist mein Hirn, schürft mit unbarmherziger Hand tief in seinem wundervollen Bau, zerreißt jeden einzelnen der feinen Fäden, womit mein Selbst an dem strahlenden Triumphwagen des Menschengeistes gebunden ist; laßt mich unter den Rädern des Wagens versinken im Schlamm der Materie, laßt die andern auf den Wegen ihrer Herrlichkeit emporziehen zum Licht! Verstehen Sie mich? Begreifen Sie, daß, wenn auch Ihre Liebe zu mir käme, – all ihres Glanzes, der Majestät ihrer Reinheit beraubt, ja, erniedrigt, besudelt, ein Zerrbild der Liebe, ein krankes Phantom – ich würde sie entgegennehmen, kniend, wie die heilige Hostie. Aber das Beste in mir ist vergebens, das Schlechte ist vergebens. Ich rufe zur Sonne, aber sie scheint nicht, rufe die Säule an, aber sie antwortet nicht. – Antworten! – Was ist drauf zu antworten, daß ich leide? Nein, diese unsäglichen Qualen, die mein innerstes Wesen bis in die tiefste Wurzel zersplittern; diese Pein, die Sie verletzt und nichts in Ihnen weckt, als ein kleines, kaltes Gefühl des Beleidigtseins! Und in Ihrem Herzen lachen Sie höhnisch über die unmögliche Leidenschaft des armen Hauslehrers!«
»Sie tun mir unrecht, Herr Bigum«, sagte Edele und erhob sich; Bigum erhob sich gleichfalls; »ich lache nicht. Sie fragen mich, ob es keine Hoffnung für Sie gibt, und ich antwortete Ihnen: nein, keine Hoffnung, und dabei ist nichts zu lachen. Aber lassen Sie mich Ihnen eins sagen. Vom ersten Augenblick an, als Sie an mich zu denken begannen, hätten Sie meine Antwort wissen können, und Sie haben sie auch gewußt, nicht wahr? Während der ganzen Zeit haben Sie es gewußt, aber trotzdem haben Sie alle Ihre Gedanken, alle Ihre Wünsche dem Ziel zujagen lassen, von dem Sie wußten, das Sie es nie erreichen würden. Ihre Liebe beleidigt mich nicht, Herr Bigum, aber ich verurteile sie; Sie haben getan, was so mancher tut. Man schließt die Augen vor dem wirklichen Leben, man will das Nein nicht hören, das unseren Wünschen entgegenruft; man will den tiefen Abgrund vergessen, den es uns zeigt, den Abgrund, der zwischen unserer Sehnsucht und dem liegt, wonach wir uns sehnen; man will seinen Traum nun einmal verwirklichen. Aber das Leben rechnet nicht mit Träumen; nicht ein einziges Hindernis läßt sich aus der Wirklichkeit hinausträumen; und so liegt man schließlich jammernd am Abgrund, der sich nicht verändert hat, der ist, wie er immer war; aber man ist selbst verändert, denn mit jenen Träumen hat man all seine Gedanken erregt, seine Sehnsucht bis zur höchsten, höchsten Spannung hinaufgetrieben. Aber der Abgrund ist nicht schmäler geworden, und alles in uns sehnt sich so schmerzlich danach, hinüberzukommen. Aber nein, immer nein; nichts ändert sich. Und hätte man nur beizeiten auf sich selbst geachtet; jetzt aber ist es zu spät: man ist unglücklich!«
Sie schwieg, gleichsam erwachend. Ihre Stimme war ruhig gewesen, suchend, als spräche Sie zu sich selbst; jetzt aber wurde sie abweisend, kalt, hart.
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Herr Bigum, Sie sind für mich nichts von all dem, was Sie zu sein wünschen; macht es Sie unglücklich, so müssen Sie unglücklich sein; leiden Sie, so mögen Sie leiden! Es muß ja Menschen geben, die leiden. Hat man ein Wesen zu seinem Gott, zum Herrn seines Schicksals gemacht, so muß man sich unter den Willen seiner Gottheit beugen; es ist aber niemals klug, sich Götter zu schaffen, und seine Seele in die Gewalt eines andern zu geben; denn es gibt Götter, die niemals von ihrem Piedestal absteigen wollen. Seien Sie vernünftig, Herr Bigum, Ihr Gott ist so klein, so wenig anbetungswert, wenden Sie sich ab von ihm und werden Sie mit einer von den Töchtern des Landes glücklich.«
Mit mattem Lächeln trat sie durchs Gartenzimmer ins Haus; Bigum blickte ihr verzagt nach. Eine Viertelstunde lang ging er noch vor der Treppe auf und nieder; alle Worte, die gesprochen worden, klangen noch in der Luft nach; sie war eben erst gegangen; es war, als weile ihr Schatten noch dort, als könnten Bitten sie noch erreichen, als sei noch nicht alles so hoffnungslos vorbei. Aber dann kam das Stubenmädchen und sammelte die Kupferstiche auf, nahm den Stuhl, die Matte ins Haus, die Mappen – alles.
Nun konnte er gehen.
Oben am offenen Fenster der Dachkammer saß Niels und starrte ihm nach. Er hatte das ganze Gespräch von Anfang bis Ende mitangehört; seine Züge drückten Erschrecken aus, und ein nervöses Zittern ging durch seinen Körper. Zum erstenmal hatte er Furcht vor dem Leben empfunden, zum erstenmal wirklich begriffen, daß, wenn es einen verurteilt hat zu leiden, dieses Urteil weder erdichtet noch angedroht ist; nein, dann wird man zur Folterbank geschleppt, dann wird man gefoltert, und es kommt keine abenteuerliche Befreiung im letzten Augenblick, kein plötzliches Erwachen wie aus einem bösen Traum.
Das war es, was er in ahnungsvoller Angst begriff.
Es war kein guter Herbst für Edele gewesen, und der Winter brach ihre Kräfte so vollständig, daß der Frühling bei seinem Kommen auch nicht einen armen, verkrüppelten Lebenskeim vorfand, gegen den er gut und mild und warm hätte sein können – er fand nur ein Welken, das keine Milde, keine Wärme ändern, nicht einmal aufhalten konnte. Aber er konnte seine Lichtfülle über das Verblassende gießen und mit seiner dufterfüllten Wärme der schwindenden Lebenskraft das Geleite geben, wie das Abendrot noch lange hinter dem sterbenden Tage herzieht.
Im Mai ging es zu Ende, an einem Tag voll Sonnenschein, solch einem Tag, wo die Lerche gar nicht schweigt und der Roggen wächst, daß man es mit Augen sehen kann. Vor ihrem Fenster standen die großen Kirschbäume, blütenweiße Sträuße von Schnee, Kränze von Schnee, Kuppeln, Bogen, Guirlanden, eine Feenarchitektur von weißen Blüten mit dem blausten Himmel als Hintergrund.
Sie fühlte sich so matt an diesem Tag und doch so leicht in ihrer Mattigkeit, so wundervoll leicht, und sie wußte, was kommen würde, denn am Vormittag hatte sie Bigum rufen lassen und ihm Lebewohl gesagt.
Der Etatsrat war von Kopenhagen herübergekommen, und den ganzen Nachmittag saß der schöne, weißhaarige Mann an ihrem Bett und hielt ihre Hände zwischen den seinen. Er sprach nicht, nur dann und wann bewegte er die Hand, dann drückte Edele sie leise, blickte zu ihm auf, und er lächelte ihr zu. Auch ihr Bruder blieb während der ganzen Zeit bei ihr, gab ihr die Medizin und ging auch sonst drinnen zur Hand.
Sie lag so still für sich, mit geschlossenen Augen, und heimische Bilder aus dem Leben da drüben zogen an ihr vorüber. Sorgenfreis hängende Buchen, Lyngbys rote Kirche auf ihrem Sockel aus Gräbern, und das weiße Landhaus am kleinen Hohlweg hinab zum See, wo der Bretterzaun immer grün war, als sei er mit Feuchtigkeit angestrichen, das alles zeichnete sich von ihr ab, nahm zu an Klarheit, verlor an Klarheit und verschwand. Andere Bilder folgten. Da lag die Bredgade, während die Sonne unterging und die Dämmerung an den Häusern emporkroch; und dann das wunderliche Kopenhagen, wie man es fand, wenn man am Vormittag vom Lande hereinkam. Es schien so phantastisch in seiner Geschäftigkeit und seinem Sonnenschein, mit den geweißten Fensterscheiben und seinem Früchteduft in den Straßen; die Häuser sahen so unwirklich aus in dem scharfen Licht, und es war, als läge eine Stille auf ihnen, die selbst Lärmen und Wagengerassel nicht stören konnte ... Und da war das warme, dunkle Wohnzimmer an Herbstabenden, wenn man sich zum Theater angekleidet hatte, und die andern noch nicht fertig waren: – der Duft der Räucherkerzen – das Kaminfeuer, das über den Teppich leuchtete – die Regentropfen, die gegen die Fensterscheiben schlugen – die Pferde, die im Torweg stampften – der melancholische Ruf der Muschelverkäufer unten auf der Straße ... und dann nach all diesem: das Licht, die Musik und die Pracht des Theaters.
Mit solchen Bildern ging der Nachmittag hin.
Drinnen im Saal waren Niels und seine Mutter. Niels lag auf den Knien vor dem Sofa, das Gesicht in den braunen Samt gepreßt, die Hände hatte er über dem Kopf gefaltet; er weinte laut und klagend, und machte keinen Versuch sich zu beherrschen, von seinem Schmerz ganz bewältigt. Frau Lyhne saß bei ihm. Vor ihr auf dem Tisch lag ein Gebetbuch, das bei den Begräbnispsalmen aufgeschlagen war. Bald las sie ein paar Verse, bald beugte sie sich nieder zu ihrem Sohn und sprach ihm mit tröstenden Worten zu und ermahnte ihn; aber Niels ließ sich nicht trösten, und sie konnte weder seinen Tränen noch dem wilden Flehen seiner Verzweiflung Einhalt tun.
Da zeigte sich Lyhne in der Tür des Krankenzimmers. Er machte kein Zeichen, er blickte sie nur ernst an, und sie erhoben sich beide und gingen mit ihm hinein zu seiner Schwester. Er nahm sie bei der Hand und trat mit ihnen ans Bett; Edele sah auf, sah jeden von ihnen an und bewegte die Lippen wie zum Sprechen. Lyhne führte seine Frau ans Fenster und setzte sich zu ihr, während sich Niels am Fußende des Bettes auf die Knie warf.
Er weinte leise und betete mit gefalteten Händen, innig und unablässig in gedämpftem, leidenschaftlichem Flüstern; er sagte Gott, daß er nicht aufhören wolle zu hoffen; »ich lasse Dich nicht, mein Gott, ich lasse Dich nicht, bevor Du ja gesagt hast; Du darfst sie nicht von uns nehmen, denn Du weißt, wie sehr wir sie lieben, Du darfst nicht, Du darfst nicht. Oh, ich kann nicht sagen: Dein Wille geschehe, denn Du willst sie sterben lassen, ach, aber laß sie leben, ich will Dir danken und Dir gehorsam sein, ich will alles tun, wovon ich weiß, daß Du es von mir verlangst, ich will gut sein und nie wieder gegen Deine Gebote handeln, wenn Du sie nur leben läßt. Hörst Du, Gott! ach, halt ein, halt ein und mach Sie gesund, bevor es zu spät ist. Ich will ... ich will ... ach, was kann ich Dir versprechen? – – ja, ich werde Dir danken, Dich nimmer, nimmer vergessen; ach, aber so hör' mich doch! Du siehst ja, daß sie stirbt, Du siehst ja, sie stirbt, hörst Du, nimm Deine Hand fort, nimm sie fort, ich kann sie nicht verlieren, o Gott, ich kann nicht, laß sie leben – willst Du es nicht, willst Du es nicht! Oh, das ist unrecht von Dir ...«
Draußen vor dem Fenster erröteten die weißen Blumen im Schein der untergehenden Sonne wie Rosen. Bogen über Bogen baute der Blütenflor sich zu einer Rosenburg, sich zu einem Chor von Rosen auf, und durch die luftigen Wölbungen blaute dämmernd der abendblaue Himmel herein, während goldenes Licht und Lichter aus Gold, brennend in Purpur, in Glorienstrahlen aus allen schwebenden Girlanden des Blumentempels hervorbrachen.
Weiß und still lag Edele da drinnen, die Hand des alten Mannes in der ihren. Langsam, Zug um Zug, hauchte sie das Leben aus, schwächer und schwächer hob sich die Brust, schwerer und schwerer wurden die müden Lider.
»Grüß – Kopenhagen« war ihr letztes schwaches Flüstern.
Aber ihren letzten Gruß, den hörte niemand. Der kam nicht einmal als Hauch über ihre Lippen, ihr Gruß an ihn, den großen Künstler, den sie heimlich mit der ganzen Kraft ihrer Seele geliebt hatte, dem sie aber nichts gewesen, nur ein Name, den sein Ohr kannte, nur eine fremde Gestalt mehr in der großen bewundernden Menge.
Und das Licht schwand in der blauenden Dämmerung, und die Hände sanken matt auseinander. Die Schatten wuchsen – die Schatten des Abends und des Todes.
Der Etatsrat beugte sich über das Lager und legte die Hand auf ihren Puls und wartete still; und als das letzte Leben entschwunden, die letzte schwache Blutwelle verebbt, da hob er ihre bleiche Hand an seine Lippen: