Jens Peter Jacobsen
Niels Lyhne
Jens Peter Jacobsen

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14. Kapitel

Jetzt ist es Herbst. Auf den Gräbern oben auf dem Friedhof sind keine Blumen mehr und braun und faulend liegt das Laub in der Feuchtigkeit unter den Bäumen des Gartens von Lönborghof.

In bitterer Schwermut geht Niels Lyhne in den leeren Zimmern umher. Etwas in ihm ist gebrochen, in der Nacht, als das Kind starb. Er hat das Selbstvertrauen verloren, seinen Glauben an die Kraft des Menschen, das Leben zu ertragen, das er zu leben bekommen. Das Dasein war widerlich geworden, und sein Inhalt sickerte bedeutungslos nach allen Seiten fort.

Es nützte nichts, daß er jenes Gebet, das er gebetet, den wahnsinnigen Schrei eines Vaters nach Hilfe für sein Kind nannte, obgleich er wußte, daß niemand den Schrei hören könne. Er hatte gewußt, was es war, das er inmitten seiner Verzweiflung getan. Er war versucht worden und er war gefallen; es war ein Sündenfall, ein Abfall von sich selbst und von der Idee. Es war wohl, daß die Tradition in seinem Blute zu stark gewesen; das Menschengeschlecht hatte während so vieler Jahrtausende stets in seiner Not zum Himmel geschrien, und nun hatte er dem ererbten Drange nachgegeben; aber er hätte widerstehen sollen wie einem bösen Instinkt; er wußte ja doch bis in die innersten Fibern seines Gehirns, daß Götter Träume seien, und daß es ein Traum, zu dem er geflohen, als er betete, ebenso wie er in alter Zeit, wenn er sich der Phantasterei in die Arme geworfen, gewußt hatte, daß es Phantasterei sei. Er hatte das Leben nicht ertragen können wie es war, er war in der Härte des Kampfes der Fahne untreu geworden, zu der er geschworen; denn das Neue, der Atheismus, die heilige Sache der Wahrheit, welches Ziel hatte das alles, was war es anders als Flittergoldnamen für das eine Einfache: das Leben ertragen, wie es war! das Leben ertragen, wie es war und das Leben sich nach den eigenen Gesetzen des Lebens bilden lassen.

Es kam ihm vor, als habe jene qualvolle Nacht sein Leben abgeschlossen; was nachher kam, konnte nur interesselose Szene sein, die an den fünften Akt angeheftet war. Er konnte gern seine alte Lebensanschauung wiederaufnehmen, wenn er Lust dazu hatte, aber einmal war er gefallen, und ob er es später noch einmal tun oder es nicht tun würde, das war ganz gleichgültig, das eine wie das andere.

Das war die Stimmung, in der er sich am häufigsten befand.

Dann kam jener Novembertag, an dem der König starb, und der Krieg mehr und mehr zu drohen begann.

Bald hatte er seine Angelegenheiten auf Lönborghof geordnet und meldete sich als Freiwilliger.

Die Langweiligkeit der Ausbildung ertrug er sehr leicht; es war ja schon außerordentlich viel, kein überflüssiger Mensch zu sein; und als er dann zur Armee kam, der ewige Kampf mit der Kälte, dem Ungeziefer, Unbequemlichkeiten jeder Art, alles dies, das die Gedanken vertrieb, so daß sie sich mit dem beschäftigen konnten, was dicht vor der Tür lag, es machte ihn beinahe munter, und seine Gesundheit, die teilweise unter dem Kummer des letzten Jahres gelitten hatte, wurde wieder ganz vortrefflich.

An einem trüben Märztage bekam er dann einen Schuß in die Brust.

Hjerrild, der Arzt am Lazarett war, sorgte dafür, daß er in einen kleinen Saal gelegt wurde, in dem nur vier Betten waren. Der eine von denen, die da drinnen lagen, war durchs Rückgrat geschossen und lag ganz still; der zweite hatte eine Wunde in der Brust, er lag dort seit ein paar Tagen und phantasierte ohne Unterbrechung ganze Stunden lang in hastig gesprochenen, abgerissenen Worten; der letzte endlich, der Niels am nächsten lag, war ein großer, starker Bauernbursche mit dicken, runden Backen; ein Granatsplitter war ihm ins Gehirn gedrungen, und ununterbrochen, stundaus, stundein hob er jede halbe Minute den rechten Arm und das rechte Bein zu gleicher Zeit und ließ sie dann sofort wieder zurückfallen, indem er die Bewegung mit einem hörbaren, aber dumpfen, tonlosen »Ho–ho« begleitete, immer im selben Takt, immer genau dasselbe, Ho, wenn er die Glieder hob, Ho, wenn sie zurückfielen.

Dort lag Niels Lyhne. Die Kugel war ihm in die rechte Lunge gegangen und nicht zum Vorschein gekommen. Im Kriege können nicht viel Umstände gemacht werden, und er erfuhr, daß er nicht viel Aussicht habe zu leben.

Das wunderte ihn, denn er fühlte sich nicht sterbend und hatte keine Schmerzen an seiner Wunde. Aber bald überkam ihn eine Mattigkeit, die ihm sagte, daß der Arzt recht habe.

Nun war also das Ende da. Er dachte an Gerda, er dachte viel an sie am ersten Tag, aber fortwährend störte ihn der seltsam kalte Blick, den sie gehabt, als er sie zum letztenmal in seine Arme genommen. Wie schön wäre es gewesen, schmerzlich schön, wenn sie sich bis zum letzten Augenblick an ihn geklammert und ihn nicht aus dem Auge gelassen hätte, bis der Tod es matt gemacht, zufrieden damit, ihr Leben bis zum letzten Atemzuge an dem Herzen gelebt zu haben, das ihr so teuer gewesen, anstatt sich in der letzten Stunde von ihm zu wenden, um sich zu weiterem Leben über das Leben hinaus zu erretten.

Den zweiten Tag im Lazarett wurde Niels mehr und mehr schwermütig durch den schwülen Dunst da drinnen, und die Sehnsucht nach frischer Luft und der Wunsch zu leben, hatten sich in seinen Gedanken seltsam verflochten. Es war doch soviel Schönes im Leben gewesen, dachte er, als er sich an das frische Lüftchen daheim am Strande erinnerte, an das kühle Rauschen in Seelands Buchenwäldern, an die reine Bergluft in Clarens, an die zarte Abendbrise am Gardasee. Wenn er aber an die Menschen dachte, so wurde ihm wieder weh in der Seele. Er rief sie einen nach dem andern vor sich hin und alle gingen sie an ihm vorüber und ließen ihn allein, und nicht einer blieb zurück. Aber hatte er denn auch an ihnen festgehalten, war er treu gewesen? Es war nur, daß er langsamer aufgegeben hatte. Nein, das war es nicht. Es war das große Traurige, daß eine Seele stets allein ist. Es war eine Lüge, jeder Glaube an die Verschmelzung von Seele und Seele. Nicht die Mutter, die uns auf den Schoß nimmt, nicht der Freund, nicht das Weib, das an unserm Herzen ruhte ...

Gegen Abend begann die Wunde sich zu entzünden, und die Schmerzen nahmen beständig zu.

Hjerrild kam abends und saß einen Augenblick neben ihm; um Mitternacht kam er wieder und saß lange dort. Niels litt viel und stöhnte vor Schmerz.

»Ein Wort im Ernst, Lyhne,« sagte Hjerrild, »wollen Sie einen Geistlichen?«

»Ich habe nicht mehr mit Geistlichen zu tun als Sie«, flüsterte Niels erbittert.

»Von mir ist nicht die Rede, ich lebe und bin gesund, quälen Sie sich doch nicht mit Ihren Anschauungen; Leute, die sterben müssen, haben keine Anschauungen, und die sie haben, bedeuten nichts, Anschauungen sind nur zum Leben da; im Leben tun sie ihren Dienst. Kann es einem einzigen Menschen nützen, ob er in dieser oder jener Anschauung stirbt? Glauben Sie mir, jeder von uns hat lichte, süße Erinnerungen aus seiner Kindheit; ich habe so viele Dutzend sterben sehen, es tröstet immer, die Erinnerungen hervorzuholen. Lassen Sie uns ehrlich sein, wir mögen sein, wie wir es nennen wollen, aber wir bringen Gott doch nie ganz aus dem Himmel; unser Hirn hat ihn sich zu oft dort oben gedacht, er ist hineingeläutet und hineingesungen, seitdem wir kleine Kinder waren.«

Niels nickte; Hjerrild beugte sich zu ihm nieder, um zu hören, ob er etwas sagen wolle.

»Sie meinen es gut,« flüsterte Niels, »aber«, und er schüttelte entschlossen den Kopf.

Lange blieb es still da drinnen, nur das ewige Ho–ho, Ho–ho des Bauernburschen hämmerte langsam die Zeit in Stücke.

Hjerrild erhob sich. »Fahrwohl, Lyhne,« sagte er, »es ist ein schöner Tod, für unser armes Land zu sterben.«

»Ja,« sagte Niels, »aber es war doch nicht auf diese Weise, daß wir träumten, das unsere zu tun, damals vor langer, langer Zeit.«

Hjerrild ging; als er in seinem Zimmer war, stand er lange am Fenster und sah hinauf zu den Sternen. »Wenn ich Gott wäre,« murmelte er, und in Gedanken fuhr er fort, »würde ich viel lieber den selig machen, der nicht im letzten Augenblick noch umkehrt.«

Niels Schmerzen wurden heftiger und heftiger. Sie hämmerten und hämmerten unbarmherzig in der Brust und wurden unerträglich; es wäre vielleicht gut gewesen, einen Gott zu haben, zu dem man hätte beten und klagen können.

Gegen Morgen begann er zu phantasieren. Die Entzündung war in vollem Gange.

Und so dauerte es noch zwei Tage und Nächte.

Als Hjerrild Niels Lyhne zum letztenmal sah, lag er und fabelte von seiner Rüstung und davon, daß er stehend sterben wolle.

Und endlich starb er dann den Tod, den schweren Tod.


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