J. P. Jacobsen
Sechs Novellen
J. P. Jacobsen

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Hier sollten Rosen stehen

Hier sollten Rosen stehen. Von den großen, matten Gelben.

Und in üppigen Büscheln müßten sie über die Gartenmauer hängen und die zarten Blätter gleichgültig in die Räderspuren des Weges herabrieseln lassen: ein vornehmer Schimmer von all dem Blumenreichtum da drinnen.

Und sie müßten den feinen, flüchtigen Rosenduft haben, der nicht festzuhalten ist, wie von unbekannten Früchten, von denen die Sinne in ihren Träumen fabeln.

Oder sollten es rote Rosen sein?

Vielleicht.

Die kleinen runden, abgehärteten Rosen könnten es sein, und dann müßten sie in leichten Ranken herabhängen, mit blankem Laub, rot und frisch, und wie ein Gruß oder eine Kußhand für den Wanderer, der müde und bestaubt mitten über den Weg daher kommt, froh, daß er jetzt nur noch eine halbe Viertelmeile bis Rom hat.

An was er denken mag? Wie sein Leben wohl sein mag?

So, – jetzt verdecken ihn die Häuser, die verdecken da drinnen alles, einander, und den Weg und die Stadt, aber nach der andern Seite hin ist Aussicht genug; dort schwenkt der Weg in träger, langsam geschwungener Biegung nach dem Flüsse ab, hinunter nach der trübseligen Brücke. Und dahinter ist dann wieder die ungeheure Campagna.

Das Grau und Grün solcher großen Ebenen ... das ist, als ob die Mattigkeit vieler mühsamer Meilen aus ihnen aufstiege und sich schwer auf einen legte und machte, daß man sich einsam und verlassen fühlte, und einen zum Suchen und Sehnen brachte.

Dann ist es doch viel besser, wenn man sichs in einem Winkel wie diesem behaglich macht, zwischen hohen Gartenmauern, wo die Luft lau und weich und still liegt, – auf der Sonnenseite sitzen, wo eine Bank sich in eine Nische in der Mauer einkrümmt, – dort sitzen und auf den schimmernden, grünen Akanthus im Landstraßengraben schauen, auf die silberbefleckten Disteln und die mattgelben Herbstblumen:

Auf der langen, grauen Mauer gegenüber, eine Mauer voll Eidechsenlöchem und Ritzen mit verdorrtem Mauergras, dort hätten die Rosen stehen sollen, und gerade an der Stelle hätten sie hervorsehen sollen, wo die lange einförmige Fläche von einem geschweiften, großen Korb aus herrlicher alter Schmiedearbeit, einem Gitterkorbe unterbrochen wird, der einen geräumigen und mehr als bis an die Brust reichenden Balkon bildet, wo es erfrischend sein müßte hinaufzusteigen, wenn man des eingeschlossenen Gartens müde war.

Und das sind sie oft gewesen.

Sie haben die prächtige alte Villa gehaßt, die da drinnen sein soll, mit ihren Marmortreppen und ihren grobfädigen Tapeten; und die uralten Bäume mit ihren schwarzen, stolzen Kronen, Pinien und Lorbeer, Edeleschen, Zypressen und Steineichen sind während der ganzen Zeit ihres Wachstums mit jenem Haß gehaßt worden, welchen unruhige Herzen gegen das Alltägliche, das Ereignislose, gegen das, was nicht mitverlangt und deshalb zu widerstreben scheint, hegen.

Aber von dem Balkon aus konnte man wenigstens mit den Blicken hinauskommen, und daher sind sie dort gestanden, Generation auf Generation, und alle haben sie hinausgestarrt, jeder mit seinem Für, jeder mit seinem Wider. Mit goldenen Spangen geschmückte Arme haben auf dem Rande des Eisenkorbes gelegen, und manches seidenumhüllte Knie hat sich gegen jene schwarzen Arabesken gestemmt, während bunte Bänder als Liebesgrüße und Stelldicheinversprechen von all seinen Sprossen herabgeweht haben. Schwerfällige, schwangere Hausmütter, auch sie standen hier einst und sandten unmögliche Botschaften in die Ferne hinaus. Große, üppige, verlassene Frauen, bleich wie der Haß ... wenn ein Gedanke den Tod geben könnte, wenn ein Wunsch die Hölle öffnen könnte!... Frauen und Männer! es sind immer Frauen und Männer, selbst diese mageren, weißen Jungfrauenseelen, die sich wie ein Flug verirrter Tauben gegen das schwarze Gitter pressen und rufen: greift uns ihr edlen Raubvögel!

Hier könnte man sich ein Proverbe vorstellen.

Die Szenerie würde sehr gut für ein Proverbe passen.

Die Mauer dort mit dem Balkon ganz wie sie ist; nur der Weg müßte breiter sein, sich zu einem Rondel erweitern, und in der Mitte ist ein alter, bescheidener Springbrunnen nötig aus gelblichem Tuff und einer Schale aus geborstenem Porphyr. Als Fontänenfigur ein Delphin mit abgebrochenem Schwanz und einem verstopften Nasenloch. Aus dem andern steigt der dünne Wasserstrahl auf. – Auf der einen Seite des Springbrunnens eine halbrunde Bank aus Tuffstein und gebrannten Steinen.

Der lose, weißgraue Staub, der rötliche, gegossene Stein, der behauene, gelbliche, poröse Tuff, der dunkle, geschliffene, von Feuchtigkeit erglänzende Porphyr und dann der lebendige, kleine, silbernerzitternde Strahl: Material und Farben stimmen außerordentlich gut.

Personen: zwei Pagen.

Nicht aus einer bestimmten, historischen Zeit, denn die wirklichen Pagen haben dem Pagenideal ja durchaus nicht entsprochen. Diese Pagen, das sind die Pagen, wie sie in Bildern und Büchern lieben und träumen.

Es ist also nur die Tracht, die etwas Historisches an sich hat.

Die Schauspielerin, welche die jüngere der Pagen sein soll, ist in leichter Seide, die sich fest anschmiegt und hellblau ist, mit eingewebten heraldischen Lilien aus dem lichtesten Gold. Das, und dann soviel Spitzen, wie sich möglicherweise anbringen lassen, sind das hervorragendste an dem Kostüm, das nicht so sehr auf ein bestimmtes Jahrhundert abzielt, als darauf, die jugendlich üppige Gestalt, das prachtvolle, blonde Haar und den klaren Teint hervorzuheben.

Sie ist verheiratet, aber es dauerte nur anderthalb Jahre, dann wurde sie vom Manne geschieden und soll sich durchaus nicht gut gegen ihn benommen haben. Und das mag wohl sein, aber etwas Unschuldigeres kann man nicht vor Augen sehen. Das heißt, es ist nicht jene niedliche Unschuld aus erster Hand, die allerdings ihr Anziehendes hat, sondem jene wohl gepflegte, gut entwickelte Unschuld, in der kein Mensch sich irren kann, und die einem direkt zum Herzen geht und einen mit jener ganzen Macht bezaubert, die nur einmal dem Vollendeten gegeben ist.

Die zweite Schauspielerin ist im Proverbe die schlanke Melancholische. Sie ist unverheiratet und hat keine Geschichte, absolut keine; es gibt niemand, der auch nur das Geringste weiß, und doch liegt soviel Sprechendes in diesen feingezeichneten, fast mageren Gliedern, in dem bernsteinbleichen, regelmäßigen Antlitz, das, von rabenschwarzen Locken beschattet und von jenem kräftigen, männlichen Hals getragen, durch sein höhnisches und doch zugleich sehnsuchtkrankes Lächeln reizt, und unergründlich ist durch diese Augen, deren Dunkel so weich und glänzend ist wie die dunklen Blätter in der Blume des Stiefmütterchens.

Das Kostüm ist aus mildem Gelb, küraßartig, mit breiten Längsstreifen, aufrechtstehendem, steifem Kragen und Knöpfen aus Topas. Ein schmaler, gekrauster Streifen sieht am Rande des Kragens und ebenso an den enganliegenden Ärmeln hervor. Die Beinkleider sind kurz, weit, geschlitzt und von toter, grüner Farbe mit mattem Purpur in den Schlitzen. Graues Trikot. – Der blaue Page hat selbstverständlich ein glänzend weißes.

Beide tragen sie Baretts.

So sehen sie aus.

Und jetzt steht der Gelbe oben auf dem Balkon und lehnt sich über den Rand, während der Blaue unten auf der Bank des Springbrunnens sitzt, gemächlich zurückgelehnt, die beringten Hände um das eine Knie gefaltet. Träumend starrt er auf die Campagna hinaus.

Nun spricht er.

»Nein, es gibt nichts auf der Welt wie die Weiber! – ich begreife es nicht... es muß ein Zauber in den Linien liegen, in denen sie geschaffen sind, wenn ich sie nur vorübergehen sehe! Isaura, Rosamunde, und Donna Lisa und die anderen, wenn ich nur sehe, wie das Gewand sich an ihre Formen schmiegt, wie es sich faltet bei ihrem Gang, so ist mir, als ob mein Herz mir das Blut aus allen Adern tränke und meinen Kopf leer und ohne Gedanken und meine Glieder bebend und ohne Kraft ließe – mein ganzes Wesen in einen einzigen langen, zitternden und angstvollen Sehnsuchtshauch sammelnd. Was ist das? Was mag es sein? Es ist, als ob das Glück unsichtbar an meiner Tür vorüberginge, und ich müßte es greifen und festhalten und es müßte mein sein, so wundersam, – und ich kann es doch nicht fassen, weil ich es nicht sehen kann.«

Darauf spricht der andere Page von seinem Balkon:

»Und wenn Du nun zu ihren Füßen säßest, Lorenzo, und sie in ihre Gedanken verloren, vergessen hätte, weshalb sie Dich rufen ließ, und Du säßest schweigend und wartetest, und ihr schönes Antlitz wäre über Dich gebeugt, in den Wolken seiner Träume ferner von Dir als der Stern an seinem Himmel, und doch Deinem Blick so nahe, daß jeder Zug Deiner Bewunderung preisgegeben wäre, jede schönheitgeborene Linie, jede Farbenlinie der Haut in ihrer weißen Ruhe sowohl wie in ihrem weichen, rosigen Erröten – wäre es Dir dann nicht, als ob sie, wie sie da sitzt, einer andern Welt angehörte als jener, in der Du in Bewunderung kniest, als ob ihr eine andere Welt gehörte, als ob eine andere Welt sie umgebe, in der ihre festlich gekleideten Gedanken einem Ziel entgegen gingen, das Du nicht kennst; wo sie liebt, fern von allem, was Dein ist, von Deiner Welt und allem; wo sie in die Ferne träumt und verlangt – als ob nicht der kleinste Raum für Dich in ihren Gedanken zu gewinnen wäre, obgleich Du Dich danach sehnst. Dich für sie zu opfern, Dein Leben und alles für sie hinzugeben, nur damit das zwischen Dir und ihr wäre, was kaum wie ein Schimmer der Gemeinschaft, wieviel weniger ein Zusammengehören wäre.«

»Ja, ja. Du weißt wohl, daß es so ist. Aber...«

Jetzt läuft eine grüngelbe Eidechse am Rande des Balkons entlang. Sie hält inne und schaut umher. Der Schwanz bewegt sich...

Wenn man jetzt einen Stein hätte...

Nimm Dich in acht, meine vierbeinige Freundin!

Nein, die sind nicht zu treffen; die hören den Stein lange, bevor er kommt. Erschrocken ist sie aber doch.

Aber im selben Augenblick verschwanden auch die Pagen.

Sie saß dort so hübsch, die Blaue, und in ihrem Blick lag grade die rechte unbewußte Sehnsucht, und eine ahnungsvolle Nervosität in all ihren Bewegungen sowohl wie in dem leisen Schmerzenszug um ihren Mund, wenn sie sprach und noch mehr, wenn sie auf die weiche, ein wenig tiefe Stimme des gelben Pagen lauschte, die vom Balkon herab die aufreizenden und doch liebkosenden Worte mit einem Anklang von Spott und einem Anklang von Sympathie zu ihr sprach.

Und ist es jetzt nicht, als ob beide wieder da wären?

Sie sind dort, und sie haben das Proverbe weiter gespielt, während sie fort waren, und haben von jener unbestimmten Jünglingsliebe gesprochen, die niemals Ruhe findet, sondern rastlos durch alle Lande der Ahnungen und alle Himmel der Hoffnung flattert, krank vor Sehnsucht danach sich in der starken, innigen Glut einer einzigen großen Empfindung zu sammeln, davon haben sie gesprochen; der jüngere mit bitteren Klagen, der ältere wehmütig, und jetzt sagt dieser – der Gelbe zum Blauen – er solle nicht so ungeduldig danach verlangen, daß die Gegenliebe eines Weibes ihn fangen und festhalten möge.

»Nein, glaub mir,« sagt er, »die Liebe, die Du in der Umklammerung zweier weißer Arme findest, mit zwei Augen als Deinem nahen Himmel und der sicheren Seligkeit zweier Lippen, die liegt der Erde und dem Staube zu nahe, die hat die freie Ewigkeit der Träume gegen ein Glück eingetauscht, das sich nach Stunden bemißt und nach Stunden altert; denn wenn es sich auch stetig verjüngt, so verliert es doch jedesmal einen jener Strahlen, die mit einem Glorienschein, der nicht welken kann, die ewige Jugend der Träume umstrahlt. Nein, Du bist glücklich!«

»Nein, Du bist glücklich!« entgegnet der Blaue, »ich würde eine Welt darum geben, wenn ich wäre wie Du

Und der Blaue erhebt sich und geht den Weg nach der Campagna hinunter, und der Gelbe sieht ihm mit einem wehmütigen Lächeln nach und spricht vor sich hin: nein, er ist glücklich!

Aber weit unten am Wege wendet der Blaue sich noch einmal nach dem Balkon um und ruft, währmd er das Barett lüftet: »Nein, Du bist glücklich!«

 

Hier sollten Rosen stehen.

Und dann müßte jetzt ein Windhauch kommen und einen Regen von Rosenblättern von den blütenschweren Zweigen herabschütteln und sie dem fortgehenden Pagen nachwirbeln.


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