Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In den hübschen Anlagen hinter dem alten Palast der Päpste in Avignon steht eine Aussichtsbank, von der man über die Rhone, über die Blumenufer der Durance, über Höhen und Wiesen und einen Teil der Stadt sieht.
An einem Oktobernachmittag saßen auf dieser Bank zwei dänische Damen, eine verwitwete Frau Fönß und ihre Tochter Ellinor.
Obgleich sie schon ein paar Tage hier gewesen und die Aussicht wohl kannten, welche vor ihnen lag, so saßen sie doch und wunderten sich darüber, daß es in der Provence so aussah.
Daß dies wirklich die Provence war! Ein lehmiger Fluß, mit Flächen schlammigen Sandes und unendlichen Strecken von steingrauem Kies; dann blaßbraune Wiesen ohne einen Grashalm, blaßbraune Halden, blaßbraune Höhen, und staubhelle Wege, und hie und da bei den weißen Häusern Gruppen schwarzer Bäume, vollständig schwarzer Büsche und Bäume. Über all diesem ein weißlicher lichtzitternder Himmel, der alles noch blasser machte, noch trockner und ermüdender hell, nicht ein Schimmer üppiger, gesättigter Töne, lauter hungrige, dürre Farben, und nicht ein Laut in der Luft, nicht eine Sense, die durch das Gras fuhr, nicht ein Wagen, der über die Wege rasselte, und die Stadt da zu beiden Seiten gleichsam aus Ruhe aufgebaut, mit all den mittagstillen Gassen, all den taubstummen Häusern, wo jeder Riegel, jede Jalousie geschlossen, in jedem einzigen geschlossen, Häuser, die weder sehen noch hören konnten.
Frau Fönß hatte dieser leblosen Einförmigkeit gegenüber nur ein resigniertes Lächeln, aber Ellinor wurde sichtlich nervös davon, nicht lebhaft ärgerlich nervös, aber klagend und matt, wie man es nach tagelangem Regenwetter wird, wenn all unsere trübseligen Gedanken nicht herabregnen, oder bei dem idiotisch tröstenden Ticken einer Stubenuhr, wenn man dasitzt und seiner selbst unheilbar überdrüssig ist; oder bei den Blumen unserer Tapete, wenn dieselbe Kette abgenutzter Träume gegen unsern Willen in unserem Gehirn umherrasselt und zusammengeknüpft wird und in Stücke geht und in erstickender Unendlichkeit wieder zusammengeknüpft wird. Sie wirkte geradezu körperlich auf sie ein, diese Landschaft, und brachte sie einer Ohnmacht nahe; so hatte sich heute alles mit Erinnerungen an eine Hoffnung verschworen, die vernichtet war, an lebhaft süße Träume, die jetzt krankhaft widerlich waren, Träume die so schamrot machten, wenn sie ihrer gedachte und die sie doch nie vergessen konnte. Und was hatte es denn mit dieser Gegend zu tun; der Schlag hatte sie doch soweit von hier getroffen, in heimischen Umgebungen, am farbenwechselnden Sund, unter lichtgrünen Buchen – und doch hatte jeder blaßbraune Hügel es hier auf den Lippen, und jedes grünverhängte Haus stand da und schwieg darüber.
Es war der alte Schmerz für junge Herzen, der sie betroffen; sie hatte einen Mann geliebt und an Gegenliebe geglaubt, und da hatte er plötzlich eine andere erwählt; weshalb, wozu? was hatte sie ihm getan? hatte sie sich verändert? war sie nicht mehr dieselbe? und all die ewigen Fragen wieder und immer wieder. Sie hatte ihrer Mutter kein Wort gesagt, aber ihre Mutter hatte alles verstanden und war so besorgt um sie gewesen; sie hätte bei dieser Sorgfalt, die wußte und doch nicht wissen durfte, laut aufschreien mögen, und ihre Mutter hatte dies auch begriffen, und daher waren sie gereist.
Die ganze Reise war nur, damit sie vergessen sollte.
Frau Fönß brauchte die Tochter nicht ängstlich zu machen, indem sie ihr ins Gesicht sah, um zu wissen, wo sie wieder weilte; wenn sie nur die kleine nervöse Hand ansah, die neben ihr lag und so machtlos verzweifelt über die Sprossen der Bank strich, um jeden Augenblick wieder ihre Stellung zu verändern, wie ein Fieberkranker, der sich ruhelos in seinem Bette hin und her wirft; wenn sie das nur tat, diese Hand ansah, so wußte sie auch, wie lebensmüde die jungen Augen vor sich hinstarrten, wie zerquält das feine Antlitz in jedem Zug zitterte, wie bleich es in seinem Leiden war, und wie krankhaft die blauen Adern durch die zarte Hand an den Schläfen schienen.
Es tat ihr so weh um ihre kleine Tochter, und sie hätte sie so gern sich an ihre Brust lehnen lassen, um all die Trostesworte über sie auszuhauchen, die sie nur ersinnen konnte; aber sie hegte die Überzeugung, daß es Schmerzen gäbe, die in Verborgenheit hinsterben müssen, die sich nicht in Worten ausschreien dürfen, nicht einmal zwischen Mutter und Tochter, damit nicht eines Tages unter neuen Verhältnissen, wenn alles sich zu Glück und Seligkeit aufbauen will, diese Worte ein Hindernis werden können, etwas, das schwer lastet und unfrei macht, weil der, der sie gesprochen, sie in der Seele des andern flüstern hört, sie in den Gedanken des andem gewendet und gedreht und erwogen glaubt.
Und dann auch, daß sie fürchtete, der Tochter zu schaden, indem sie ihr das Vertrauen leicht machte; sie wollte nicht, daß Ellinor vor ihr erröten sollte; sie wollte nicht, wie sehr es sie auch erleichtern konnte, ihr über die Demütigung forthelfen, die darin liegt, daß man die verborgensten Winkel seiner Seele vor den Augen eines anderen öffnet; im Gegenteil, je schwerer es dadurch für sie beide wurde, umsomehr freute sie sich darüber, daß sie die Vornehmheit der Seele, die ihr selbst innewohnte in einer gewissen, gesunden Starrheit bei ihrer jungen Tochter wiederfand.
Einmal – es war einmal vor vielen, vielen Jahren, als sie selbst solch ein achtzehnjähriges Mädchen gewesen, da hatte sie mit ihrer ganzen Seele geliebt, mit allen Sinnen ihres Körpers, mit jeder Lebenshoffnung, jedem Gedanken; und es hatte nicht sein sollen, nicht sein können; er hatte nichts zu bieten gehabt als seine Treue, die in einer unendlich langen Verlobung erprobt werden sollte, und in ihrem väterlichen Hause waren Verhältnisse gewesen, die nicht warten konnten. Da hatte sie den genommen, den man ihr gegeben, ihn, der Herr war über diese Verhältnisse. Sie verheirateten sich, dann kamen die Kinder; Tage, der Sohn, der mit hier in Avignon war, und die Tochter, die neben ihr saß; und es war alles viel besser geworden, als sie erwarten konnte, viel leichter und freundlicher. Acht Jahre dauerte es, dann starb der Mann, und sie betrauerte ihn mit aufrichtigem Herzen, denn sie hatte diese feine, dünnblütige Natur lieben gelernt, die mit angespannter, egoistischer, fast krankhafter Liebe alles das umfaßte, was ihr durch Verwandtschaft und Familienbande angehörte, und die sich von der ganzen großen Welt da draußen einzig und allein um das kümmerte, was jene meinten; um sonst nichts. Nach dem Tode des Mannes hatte sie dann meistens für ihre Kinder gelebt, aber sie hatte sich nicht mit ihnen eingeschlossen, sie hatte teilgenommen am Gesellschaftsleben, wie es für eine so junge und vermögende Witwe natürlich war; und jetzt war ihr Sohn einundzwanzig Jahre alt, und ihr fehlten nicht mehr viele Tage bis zu vierzig. Aber sie war noch schön, nicht ein grauer Faden in ihrem dicken, dunkelblonden Haar, nicht eine Runzel um die großen, mutigen Augen, und die Figur schlank in ihrer formbeherrschten Fülle. Die kräftigen, linienfeinen Züge wurden durch den dunkleren, mehr farbentiefen Ton, den die Jahre ihnen gegeben, hervorgehoben, aber das Lächeln ihrer tiefgeschweiften Lippen hatte etwas so Süßes; eine fast rätselhafte Jugend in dem sanften Aufleuchten ihrer braunen Augen machte alles wieder mild und weich. Und doch hatte sie auch wieder die ernstvolle Rundung der Wangen, das willenstarke Kinn des gereiften Weibes.
»Da kommt gewiß Tage,« sagte Frau Fönß zur Tochter, als sie Lachen und einige dänische Ausrufe von der andern Seite der dicken Hagebuchenhecke her hörte.
Ellinor nahm sich zusammen.
Und es war Tage; Tage und Kastagers, Großhändler Kastager aus Kopenhagen mit Schwester und Tochter; Frau Kastager lag krank im Hotel.
Frau Fönß und Ellinor rückten, um den beiden Damen Platz zu machen; die Herren versuchten einen Augenblick stehend Konversation zu machen, ließen sich aber bald von der Feldsteinmauer locken, die den Aussichtspunkt umgab, und so saßen sie da und sprachen nur das notwendigste, denn die zuletztgekommenen waren müde von dem kleinen Eisenbahnausflug, den sie in die rosenblühende Provence unternommen hattm.
»Halloh!« rief Tage und schlug sich mit der flachen Hand auf die hellen Beinkleider, »seht dahin!«
Man sah hin.
Draußen in der braunen Landschaft zeigte sich eine Staubwolke, über dieser ein Staubmantel, und dazwischen gewahrte man ein Pferd. »Das ist der Engländer, von dem ich erzählte, der kürzlich angekommen,« sagte Tage zur Mutter gewendet. »Haben Sie schon einmal jemand so reiten sehen?« fragte er Kastager, »er erinnert mich an die Gauchos.«
»Mazeppa?« sagte Kastager fragend.
Der Reiter verschwand.
Dann erhoben sie sich und machten sich auf den Weg ins Hotel.
Die Kastagers hatten sie in Belfort getroffen, und da sie dieselbe Tour machten, durch Südfrankreich an die Riviera, so waren sie vorläufig zusammen gereist. Hier in Avignon hatten sich dann die beiden Familien aufgehalten, der Großhändler, weil die Frau einen Aderkropf bekommen, die Familie Fönß, weil Ellinor augenscheinlich der Ruhe bedurfte.
Tage war entzückt über das Zusammenleben, denn Tag für Tag verliebte er sich sterblicher in die hübsche Ida Kastager; aber Frau Fönß war nicht sehr zufrieden, denn obwohl Tage für sein Alter sehr sicher und entwickelt war, so hatte er doch durchaus keine Eile mit einer Verlobung, – und außerdem dieser Kastager! Ida war ein prächtiges, kleines Mädchen, die Frau war eine außerordentlich gebildete Dame von ausgezeichneter Familie, und der Großhändler selbst war sowohl tüchtig wie reich und brav, aber es lag ein Hauch von Lächerlichkeit auf ihm, und die Leute pflegten unmerklich zu lächeln oder zu blinzeln, wenn man den Großhändler Kastager nannte. Er war nämlich so feurig und dann so außerordentlich begeistert, war es so offenherzig, so lärmend, so mitteilsam, und daher kam es; denn mit der Begeisterung umzugehen erfordert ja soviel Diskretion. Frau Fönß konnte aber den Gedanken nicht ertragen, daß man Tages Schwiegervater mit einem gewissen Lächeln oder Blinzeln nannte, und deshalb verhielt sie sich der Familie gegenüber ein wenig kühl, zum größten Kummer des verliebten Tage.
Am nächsten Vormittag waren Tage und seine Mutter gegangen, um sich das kleine Museum der Stadt anzusehen. Sie fanden die Pforte offen, die Türen zur Sammlung jedoch geschlossen; das Läuten erwies sich nutzlos. Indessen gab die Pforte Einlaß in den nicht besonders großen Hofraum, der von einem kürzlich getünchten Bogengang umgeben war, dessen kurze, dicke Säulen durch schwarze Eisenstangen voneinander getrennt waren.
Sie gingen umher und besahen das, was längs der Mauern aufgestellt war, römische Grabdenkmäler, Stücke von Sarkophagen, eine kopflose Gewandstatue, zwei Rückenwirbel von einem Walfisch und eine Reihe architektonischer Details.
Auf allen Merkwürdigkeiten lagen frische Spuren von den Kalkbürsten der Maurer.
Nun waren sie wieder an ihrem Ausgangspunkt.
Tage lief die Treppe hinauf, um zu sehen, ob nicht irgendwo im Hause Leute seien, und Frau Fönß ging inzwischen im Bogengang auf und ab.
Als sie auf der Tour nach der Pforte zu war, zeigte sich am Ende des Ganges, gerade vor ihr, ein hoher bärtiger Herr mit sonnverbranntem Gesicht. Er hatte ein Reisebuch in der Hand, lauschte zurück und blickte dann vorwärts, gerade auf sie.
Sie dachte sofort an den Engländer von gestern.
»Verzeihen Sie, Madame«, begann er fragend und grüßte.
»Ich bin hier fremd«, entgegnete Frau Fönß, »es scheint niemand zu Hause zu sein, aber mein Sohn ist hinaufgelaufen, um zu sehen, ob – –«
Diese Worte wurden auf französisch gewechselt.
Im selben Augenblick kam Tage. »Ich war überall«, sagte er, »auch in der Wohnung, aber ich habe nicht eine Katze gefunden.«
»Ich höre«, sagte der Engländer, diesmal auf dänisch, »daß ich das Vergnügen habe, mit Landsleuten zusammen zu sein.«
Er grüßte wieder und ging einige Schritte zurück, wie um anzudeuten, daß er dies nur gesagt habe, damit sie wissen sollten, daß er verstehe, was sie sprachen; plötzlich aber trat er näher als zuvor, mit gespanntem, bewegtem Ausdruck und sagte: »wäre es möglich, daß die gnädige Frau und ich alte Bekannte sind?«
»Emil Thorbrögger?« rief Frau Fönß aus und reichte ihm die Hand.
Er faßte sie. »Ja, der bin ich«, sagte er fröhlich, »und Sie sind es!«
Er hatte beinahe Tränen in den Augen, als er sie anblickte.
Frau Fönß stellte Tage als ihren Sohn vor.
Tage hatte diesen Thorbrögger nie im Leben nennen hören, aber daran dachte er nicht, nur daran, daß dieser Gaucho sich als Däne entpuppte, und als eine Pause entstand und jemand etwas sagen mußte, konnte er nicht umhin, auszurufen: »und ich, der ich gestern sagte, Sie erinnerten mich an einen Gaucho!«
»Nun«, entgegnete Thorbrögger, »das kam der Wahrheit auch ziemlich nahe, da ich einundzwanzig Jahre lang in den Prairien von La Plata gelebt und während dieser Zeit ganz gewiß mehr auf dem Pferd als auf den Füßen gewesen bin.«
Und ob er jetzt nach Europa zurückgekehrt sei?
Ja, er habe seine Besitzungen verkauft und seine Schafe und sei gekommen, um sich in dieser alten Welt umzusehen, in der seine Heimat; aber zu seiner Schande müsse er gestehen, daß er es oft ziemlich langweilig finde, so zu seinem Vergnügen zu reisen.
Er habe vielleicht Heimweh nach den Prairien?
Nein, er habe nie Sehnsucht nach Orten oder Ländern gehabt, es sei wohl nur die tägliche Arbeit, die er entbehre.
So wurde noch eine Weile gesprochen. Endlich kam der Kustos, erhitzt und außer Atem, mit Salatköpfen unterm Arm und einem Büschel brandroter Tomaten in der Hand, und sie wurden in die kleine, schwüle Gemäldesammlung eingelassen, wo sie nur den allervagesten Eindruck von den gelblichen Gewitterwolken und den schwarzen Wellen des alten Vernet bekamen, während sie sich hingegen mit ihrem beiderseitigen Leben und ihren Schicksalm während all der Jahre, die seit ihrer Trennung vergangen waren, bekannt machten.
Denn er war es, er, den sie geliebt, als sie sich mit einem anderen verband, und während der Tage, die nun folgten, wo sie oft zusammen waren und wo die anderen in dem Gefühl, daß so alte Freunde sich viel zu sagen haben mußten, sie so oft allein ließen, – in diesen Tagen merkten sie beide, daß, wie sehr sie sich auch im Laufe der Jahre verändert haben mochten, ihre Herzen doch nichts vergessen hatten.
Vielleicht war er es, der es zuerst gewahrte, denn die ganze Unsicherheit der Jugend, ihre Sentimentalität und ihre elegische Sehnsucht kamen über ihn und er litt darunter; es widerstrebte dem gereisten Manne, so mit einem Male der Lebensruhe, der Sicherheit beraubt zu werden, die er sich mit der Zeit erworben hatte, und er wünschte seiner Liebe ein anderes Gepräge, er wollte sie würdiger, gefaßter.
Ihr war nicht, als fühle sie sich jünger, aber sie hatte die Empfindung, als sei in ihrer Seele ein zurückgehaltener, aufgestauter Tränenquell wieder aufgebrochen, und es war so glücklich und erleichternd, zu weinen, und sie fühlte sich reich in diesen Tränen, als sei sie mehr wert geworden und alles ihr auch werter; schließlich doch ein Gefühl von Jugend.
Eines Abends war Frau Fönß allein zu Hause: Ellinor hatte sich früh schlafen gelegt, und Tage war mit Kastagers ins Theater gegangen. Sie hatte in dem langweiligen Hotelzimmer gesessen und in jenem Halbdunkel geträumt, das ein paar Lichter hervorrufen können, bis die Träume endlich stehen geblieben waren und sie müde geworden, aber in jener milden, lächelnden Müdigkeit, die über uns kommt, wenn glückselige Gedanken im Begriff sind, in unserer Seele zu entschlummern.
Sie konnte hier aber doch nicht sitzen bleiben und den ganzen Abend vor sich hinstarren; nicht einmal ein Buch hatte sie, und mehr als eine Stunde mußte doch vergehen, ehe das Theater aus war. Sie begann im Zimmer auf und ab zu gehen; dann blieb sie vor dem Spiegel stehen und ordnete sich das Haar.
Sie konnte doch ins Lesekabinett hinabgehen und die illustrierten Blätter ansehen. Um diese Zeit war es dort am Abend stets leer.
Sie warf einen großen, schwarzen Spitzenschleier über den Kopf und ging.
Ja, es war leer.
Das kleine übervoll möblierte Zimmer war von einem halben Dutzend großer Gasflammen hell erleuchtet: es war heiß hier drinnen und die Luft zum Ersticken trocken.
Sie zog den Schleier auf die Schultern herab.
Die weißen Blätter dort auf dem Tische, die Mappen mit ihren großen Goldbuchstaben, die leeren Samtsessel, die regelmäßigen Quadrate des Teppichs und die einförmigen Falten der Ripsgardinen, das alles sah so stumm aus in dem grellen Licht.
Sie träumte noch, und träumend lauschte sie auf das langtönende Singen der Gasflammen.
Einem konnte in dieser Hitze beinahe schwindlig werden.
Um sich zu stützen, faßte sie langsam nach einer großen, schweren Bronzevase, die auf einer Konsole an der Wand angebracht war und griff in den blumenverzierten Rand.
Es war bequem, so zu stehen, und die Bronze war so angenehm kühl in der Hand. Aber wie sie so dastand, kam noch etwas Anderes dazu. Sie begann es als eine Annehmlichkeit für ihre Glieder zu empfinden, diese plastisch schöne Stellung, in die sie versunken war, und das Bewußtsein, wie gut es sie kleidete, die körperliche Empfindung von Harmonie – das alles sammelte sich zu einem Gefühl von Triumph, durchströmte sie wie ein seltsam festlicher Jubel.
Sie dünkte sich so stark in dieser Stunde, das Leben lag wie ein großer und strahlender Tag vor ihr, nicht wie ein Tag, der sich den stillen, wehmutsvollen Stunden der Dämmerung zuneigt, sondern wie eine große, wache Spanne Zeit mit heißklopfenden Pulsen in jener Sekunde, mit des Lichtes Lust, mit Handeln und Eile und einer Unendlichkeit nach außen und nach innen. Und des Lebens Fülle begeisterte sie, und sie sehnte sich nach ihr mit der Glut und dem Schwindel eines Reisefiebers.
Lange stand sie so von ihren Gedanken beherrscht, alles um sich her vergessend. Da plötzlich, als hörte sie die Stille da drinnen und das Singen der Gasflammen, ließ sie die Hand von der Vase fallen, setzte sich an den Tisch und blätterte in einer Mappe.
Sie vernahm Schritte, die an der Tür vorübergingen, hörte sie umwenden – und sah Thorbrögger eintreten.
Sie wechselten ein paar Worte, da sie aber mit ihren Bildern beschäftigt schien, begann auch er die Journale anzusehen, die vor ihm lagen. Sie interessierten ihn indessen nicht sehr, denn als sie bald darauf aufblickte, begegnete sie seinem Blick, der forschend auf ihr ruhte.
Er sah aus, als sei er im Begriff zu sprechen; um seinen Mund lag ein entschlossen nervöser Ausdruck, der ihr so bestimmt sagte, welcher Art die Worte sein würden, daß sie errötete und instinktmäßig, gleichsam als wolle sie diese Worte zurückhalten, ihm ein Bild über den Tisch reichte und auf die Zeichnung einiger Pampasreiter deutete, die den Lasso über wilde Stiere warfen.
Er war auch nahe daran, sich zu einem Scherz über des Zeichners naive Vorstellungen von der Kunst des Lassowerfens hinreißen zu lassen; es war ja so verlockend leicht, darüber zu reden im Gegensatz zu dem, was er in seinen Gedanken trug – aber er schob das Blatt doch resolut beiseite, beugte sich ein wenig über den Tisch und sagte: »Ich habe soviel an Sie gedacht, seitdem wir uns wieder getroffen; ich habe stets soviel an Sie gedacht, sowohl damals in Dänemark wie da drüben, wo ich war. Und ich habe Sie immer geliebt, und wenn es mir jetzt manchmal scheint, daß ich Sie erst jetzt liebe, wo wir uns wieder gefunden haben, so ist das nicht wahr, wie groß meine Liebe auch sein mag,– denn ich habe Sie immer geliebt, immer habe ich Sie geliebt. Und wenn Sie jetzt mein würden – Sie können nicht begreifen, was es für mich wäre, wenn Sie, die Sie mir so lange Jahre genommen waren, jetzt zu mir zurückkehrten.«
Darauf schwieg er einen Augenblick, dann erhob er sich und trat näher zu ihr.
»Aber so sagen Sie doch ein Wort; ich spreche hier blindlings drauf los; ich muß zu Ihnen reden wie zu einem Dolmetscher, einem Fremden, der es dem Herzen wieder sagen soll, zu dem ich spreche; ich weiß ja nicht... ich kann meine Worte nicht abwägen ... ich weiß ja nicht, wie fern oder wie nah; ich wage ja nicht, der Anbetung, die mich ganz erfüllt, Worte zu verleihn – oder darf ich?«
Er sank neben ihr in einen Stuhl.
»Wenn ich dürfte, wenn ich nicht fürchten müßte – ist es wahr! O, Gott segne Dich, Paula!«
»Nichts braucht uns noch länger zu trennen,« sagte sie und reichte ihm die Hand, »was auch kommen mag, ich habe das Recht, einmal glücklich zu sein, einmal voll aus meiner Natur zu leben, meiner Sehnsucht und meinen Träumen. Ich habe niemals entsagt, weil das Glück nicht zu mir gekommen, habe ich doch nicht geglaubt, daß das Leben lauter Armseligkeit und Pflicht sei; ich wußte ja, daß es Glückliche gibt.«
Schweigend küßte er ihre Hand.
»Ich weiß,« sagte sie traurig, »daß die, welche mich am mildesten beurteilen, mir das Glück gönnen werden, mich von Dir geliebt zu wissen; aber diese werden auch sagen, daß mir das genügen sollte.«
»Aber mir wäre das nimmermehr genug, und Du hast nicht das Recht, mich so fortzuschicken.«
»Nein, sagte sie, nein!«
Bald nachher ging sie hinauf und sah nach Ellinor.
Ellinor schlief.
Frau Fönß setzte sich an ihr Bett und sah auf das bleiche Kind, dessen Züge sie nur undeutlich in dem gelben Schein der Nachtlampe unterscheiden konnte.
Um Ellinors Willen mußten sie warten. Nach Verlauf einiger Tage würden sie sich von Thorbrögger trennen und allein nach Nizza gehen; den ganzen Winter wollte sie nur leben, um Ellinor wieder gesund zu machen.
Aber morgen würde sie den Kindern erzählen, was geschehen war und was zu erwarten sei. Wie sie es nun auch aufnehmen würden, ihr war es unmöglich, Tag aus Tag ein mit ihnen zu leben und durch ein solches Geheimnis fast von ihnen getrennt zu sein. Und sie mußten ja auch Zeit haben, um sich an den Gedanken zu gewöhnen; denn eine Trennung von ihnen würde es ja werden, ob größer oder kleiner, das würde von den Kindern selbst abhängen. Was die Einrichtung ihres Lebens im Verhältnis zu ihm und ihr betraf, so sollten sie vollständig darüber verfügen. Sie wollte nichts fordern. Hier war es an ihnen, zu geben.
Sie hörte Tages Schritte im Salon und ging zu ihm hinein.
Er war so strahlend und so nervös zugleich, daß Frau Fönß sofort dachte, es sei etwas geschehen, und sie ahnte auch was.
Er jedoch, der nach einer Einleitung suchte zu dem, was er auf dem Herzen hatte, saß da und sprach zerstreut vom Theater, und erst als seine Mutter zu ihm trat und ihm die Hand auf die Stirn legte und ihn zwang, zu ihr aufzublicken, da vermochte er zu erzählen, daß er um Ida Kastager geworben und ihr Jawort erhalten hatte.
Sie sprachen dann lange davon, aber Frau Fönß fühlte während der ganzen Zeit, daß in dem, was sie sagte, eine gewisse Kälte lag, die sie nicht überwinden konnte, weil sie fürchtete, allzusehr mit Tage übereinzustimmen auf Grund der Bewegung, in der sie selbst sich befand, und dann kam dazu, daß sie es nicht ertragen konnte, in ihren mißtrauischen Gedanken auch nur den leisesten Schatten eines Zusammenhangs zwischen ihrer Güte von heute Abend und dem, was sie morgen zu erzählen hatte, zu wittern.
Tage merkte ihr jedoch keine Kälte an.
Frau Fönß schlief während dieser Nacht nicht viel; sie hatte Gedanken, die sie wach halten mußten. Sie dachte, wie seltsam es sei, daß er und sie sich finden mußten, und daß, als sie sich fanden, sie sich liebten wie in alter Zeit.
Aber es war nun einmal alte Zeit, besonders für sie; sie war ja nicht, sie konnte ja nicht mehr jung sein. Und dies würde sich zeigen, er würde Nachsicht mit ihr haben, sich daran gewöhnen müssen, daß es lange her, seitdem sie achtzehn Jahre alt gewesen. Aber sie fühlte sich jung, sie war es in so vielen Beziehungen, und trotzdem war es besonders das, daß sie sich ihrer Jahre bewußt war; sie sah es so deutlich: in tausend Bewegungen, in Mienen und Gesten, in der Art, wie sie einen Wink befolgen, wie sie bei einer Antwort lächeln würde; zehnmal am Tage würde sie sich alt machen, weil ihr der Mut fehlen würde, in ihrem Äußern so jung zu sein wie in ihrem Sinne.
Und die Gedanken kamen und gingen, aber durch alles dies brach sich stets die eine Frage Bahn, was ihre Kinder sagen würden.
Am Vormittag des nächsten Tages forderte sie die Antwort heraus.
Sie saßen im Salon.
Sie sagte, daß sie ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen habe, etwas, das eine große Veränderung für sie alle herbeiführen, etwas, das ihnen sehr unerwartet kommm würde. Sie bat sie, so ruhig zuzuhören, wie sie könnten, und sich vom ersten Eindruck nicht zu Unbedachtsamkeiten hinreißen zu lassen; denn sie müßten wissen, daß das, was sie ihnen erzählen würde, fest beschlossene Sache sei, und daß nichts, was sie ihrerseits sagen könnten, sie dahin bringen würde, daran zu ändern.
»Ich will mich wieder verheiraten«, sagte sie und erzählte ihnen, wie sie Thorbrögger geliebt, bevor sie ihren Vater gekannt; wie sie von ihm getrennt worden, und wie sie sich jetzt wiedergefunden.
Ellinor weinte, aber Tage hatte sich von seinem Platz erhoben, gänzlich verwirrt; dann war er zu ihr getreten, war vor ihr auf die Kniee gesunken und hatte ihre Hand ergriffen, die er schluchzend, vor Bewegung halb erstickt, an seine Wangen drückte, in jedem seiner Züge eine unsägliche Zärtlichkeit, eine vollständige Ratlosigkeit.
»O, aber Mutter, geliebte Mutter! was haben wir Dir denn getan, haben wir Dich nicht immer geliebt, haben wir uns nicht, wenn wir Dir nahe waren und wenn wir Dir fern waren, nach Dir gesehnt wie nach dem Besten, was wir auf der Welt besaßen. Unsern Vater haben wir nicht anders gekannt als durch Dich, Du hast uns ihn lieben gelehrt, und wenn Ellinor und ich so viel voneinander halten, so ist es doch, weil Du unermüdlich Tag für Tag dem einen gezeigt hast, was an dem andem liebenswert war – und ist es nicht so mit jedem Menschen gewesen, dem wir nahe getreten sind, haben wir nicht alles von Dir! Alles haben wir von Dir, und wir beten Dich an, Mutter, wenn Du wüßtest... o, Du weißt nicht, wie oft unsere Liebe zu Dir sich sehnt, über alle Grenzen und Schranken hinauszugehen, zu Dir, aber Du wieder hast uns gelehrt, sie niederzuhalten, und wir wagen nie, Dir so innig nahe zu kommen, wie wir so gern möchten. Und jetzt sagst Du, daß Du ganz von uns fort willst, uns ganz beiseite schieben! Aber das ist ja unmöglich; der es am bösesten auf der Welt mit uns meint, könnte uns nichts antun, das so fürchterlich wie dies – und Du meinst es ja gut mit uns, wie ist es da möglich! Sag schnell, daß es nicht wahr, sag, es ist nicht wahr. Tage, es ist nicht wahr, Ellinor.«
»Tage, Tage, komm doch zu Dir und mach es Dir und uns nicht so schwer!«
Tage stand auf.
»Schwer!« sagte er, »schwer, schwer, o wäre es nichts weiter als schwer, aber es ist ja fürchterlich, – unnatürlich; es ist um wahnsinnig darüber zu werden! Ahnst Du auch wirklich, was Du mir zu denken gegeben? Meine Mutter der Liebe eines fremden Mannes hingegeben, meine Mutter begehrt, umfangen und wieder umfangend, o, das sind Gedanken für einen Sohn, Gedanken schlimmer als der ärgste Hohn,– aber es ist unmöglich, es muß unmöglich sein, es muß, denn sollten die Bitten eines Sohnes nicht so viel Macht haben! Ellinor, sitz nicht dort und weine, komm und hilf mir Mutter bitten, daß sie Mitleid mit uns habe.«
Frau Fönß machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und sagte: »Laß Ellinor, sie mag müde genug sein, und überdies habe ich Euch ja gesagt, daß sich nichts mehr daran ändern läßt.«
»Ich wollte, ich wäre tot,« sagte Ellinor, »aber alles, was Tage sagt, ist wahr, Mutter, und es kann nimmermehr recht sein, daß Du uns in unserem Alter einen Stiefvater gibst.«
»Stiefvater,« rief Tage aus, »ich will nicht hoffen, daß er nur einen Augenblick wagt ... Du bist wahnsinnig, wo er eintritt, da gehen wir hinaus; es gibt keine Macht der Welt, die mich zu der geringsten Gemeinschaft mit dem Menschen zwingen könnte. Mutter hat zu wählen – er oder wir! Gehen die Neuvermählten nach Dänemark, so sind wir landesverwiesen, bleiben sie hier, so gehen wir.«
»Das gedenkst Du zu tun, Tage?« fragte Frau Fönß.
»Ich glaube kaum, daß Du zweifeln kannst. Stelle Dir nur das Familienleben vor; Ida und ich sitzen im Mondenschein da draußen auf der Terrasse und hinter dem Lorbeerboskett flüstert jemand; Ida fragt, wer flüstert, und ich antworte: Meine Mutter und ihr neuer Gatte.– Nein, nein, dies hätte ich nicht sagen sollen; aber Du siehst, wie es schon jetzt wirkt, welchen Schmerz es mir bereitet, und glaube mir, Ellinor wird es auch nicht kräftiger machen.«
Frau Fönß ließ die Kinder gehen und blieb allein.
Nein, Tage hatte recht, es hatte ihnen nicht gut getan; wie weit diese kurze Stunde sie schon von ihr getrennt hatte; wie sie sie ansahen, nicht wie ihre, sondern wie ihres Vaters Kinder, und wie bereit sie waren, sie zu lassen, sobald sie nur gemerkt, daß nicht jedes Gefühl ihres Herzens ihnen gehörte! Aber sie war doch nicht einzig und allein Tages und Ellinors Mutter, sie war doch, auch ein Geschöpf für sich, mit Leben für sich und Hoffnung für sich, auch ohne im Zusammenhang mit ihnen. Aber so jung, wie sie geglaubt, war sie doch vielleicht nicht. Das hatte sie im Gespräch mit ihren Kindern gemerkt. War sie nicht furchtsam gewesen trotz ihrer Worte, hatte sie sich nicht beinahe gefühlt wie jemand, der einen Eingriff in die Rechte der Jugend macht, und waren nicht die Ansprüche und die ganze naive Tyrannei der Jugend durch alles gegangen, was sie gesagt hatten? – uns kommt es zu, zu lieben, uns gehört das Leben und euer Leben ist's, für uns da zu sein! Sie fing an zu begreifen, daß es eine Befriedigung gewahren kann, ganz alt zu sein; nicht, daß sie es wünschte, aber es lächelte ihr doch matt entgegen wie ferner Frieden nach all der Erregung der letzten Zeit und jetzt, wo die Aussicht auf so viel Unfrieden so nahe war. Denn sie glaubte nicht, daß ihre Kinder auf andere Gedanken kommen würden, und sie mußte doch immer und immer wieder mit ihnen darüber sprechen, bevor sie die Hoffnung aufgab. Das Beste war, wenn Thorbrögger sofort abreiste; wenn er nicht anwesend, würden die Kinder vielleicht weniger reizbar sein, und sie konnte ihnen dann zeigen, wie eifrig sie darauf bedacht war, alle mögliche Rücksicht auf sie zu nehmm; die erste Bitterkeit würde Zeit bekommen zu schwinden und alles ... nein, sie glaubte nicht daran, daß alles wieder gut werden würde.
Es wurde abgemacht, daß Thorbrögger nach Dänemark reisen solle, um ihre Papiere in Ordnung zu bringen. Vorläufig sollte er dann dort bleiben. Dadurch schien indessen nichts gewonnen zu sein. Die Kinder mieden sie; Tage war stets mit Ida und ihrem Vater zusammen, und Ellinor mußte der kranken Frau Kastager immer Gesellschaft leisten. Und waren sie wirklich zusammen, wo waren dann die alte Vertraulichkeit, das alte Behagen, wo waren die tausend Gesprächstoffe – und fanden sie endlich einen, wo war dann das Interesse dafür geblieben? Sie hielten ein Gespräch aufrecht wie Menschen, die eine Zeitlang Gefallen an ihrer gegenseitigen Gesellschaft gefunden haben und sich nun trennen sollen, und der, der reisen will, hat schon all seine Gedanken um das Ziel der Reise gesammelt, und der, welcher zurückbleibt, denkt nur daran, wie er in das tägliche Leben und die täglichen Gewohnheiten zurückfallen wird.
Es war keine Gemeinschaft mehr in ihrem Leben, das Gefühl der Zusammengehörigkeit war geschwunden. Sie sprachen wohl davon, wie sie sich in der nächsten Woche, im nächsten Monat, wohl auch noch im übernächsten Monat einrichten würden, aber es interessierte sie nicht, als ob es Tage aus ihrem eigenen Leben wären, um die es sich handelte; es war nur eine Wartezeit, die auf diese oder jene Weise überstanden werden mußte, denn alle drei fragten sie sich: was dann? Weil sie sich nicht sicher fühlten in ihrem augenblicklichen Leben, weil sie keinen Grund hatten, es aufzubauen, bevor das geordnet war, was sie getrennt hatte.
Und an jedem Tage, der hinging, vergaßen die Kinder mehr und mehr, was die Mutter für sie gewesen, so wie Kinder nun einmal, wenn sie glauben, daß ihnen Unrecht geschehen, tausend Wohltaten über ein einziges Unrecht zu vergessen pflegen.
Tage war der weichste von ihnen, aber auch zugleich der, welcher am tiefsten verletzt war, weil er derjenige, der am meisten geliebt hatte. Er hatte lange Nächte hindurch über die Mutter geweint, die er nicht behalten konnte wie er wollte, und es gab Zeiten, wo die Erinnerung an ihre Liebe zu ihm jedes andere Gefühl in seiner Brust übertäubte. Eines Tages war er auch zu ihr gegangen und hatte gebeten und gefleht, daß sie nur ihnen gehören möge, ihnen allein und keinem anderen, und er hatte ein Nein bekommen. Und dieses Nein hatte ihn hart gemacht und kalt, eine Kälte, vor der er sich im Anfang gefürchtet, weil zugleich mit ihr eine so fürchterliche Leere gekommen war.
Mit Ellinor war es anders; sie hatte es seltsamerweise meist wie ein Unrecht gegen ihren verstorbenen Vater empfunden, und sie begann eine Fetischanbetung mit diesem Vater, an den sie sich nur dunkel erinnerte, und schuf ihn sich so lebendig, indem sie sich in alles vertiefte, was sie von ihm gehört; sie fragte Kastager nach ihm und Tage und küßte jeden Abend und jeden Morgen ein Medaillonporträt, das sie von ihm hatte, und sehnte sich mit hysterischem Verlangen nach Briefen von ihm, die sie zu Hause gelassen, und nach Dingen, die ihm gehört hatten.
In demselben Verhältnis wie der Vater auf diese Weise stieg, sank die Mutter. Daß diese sich in einen Mann verliebt hatte, schadete ihr weniger in den Augen der Tochter; sie war nicht mehr die Mutter, die Unfehlbare, die Klügste, Beste, Schönste, sie war eine Frau wie andere, nicht ganz so, aber gerade, weil sie es nicht ganz war, eine, die man kritisieren und beurteilen, an der man Schwächen und Fehler finden konnte. Ellinor war froh darüber, daß sie der Mutter ihre unglückliche Liebe nicht anvertraut hatte, sie wußte ja nicht, wie sehr sie es der Mutter selbst verdankte, daß sie es nicht getan!
Ein Tag ging hin wie der andere, und dies Leben wurde immer unerträglicher, und alle drei fühlten, daß es nutzlos war, und anstatt sie zusammenführen, sie nur immer mehr trennte.
Frau Kastager, die nun gesund geworden war und nichts von alledem mitgemacht hatte, was vor sich gegangen, aber doch diejenige war, die von allen am besten Bescheid wußte, weil man ihr alles erzählt hatte, Frau Kastager hatte eines Tages ein langes Gespräch mit Frau Fönß, die froh war, eine zu haben, welche ruhig mit anhören konnte, wie sie sich die Zukunft geordnet hatte; und in diesem Gespräch schlug Frau Kastager vor, daß die Kinder mit ihr nach Nizza gehen sollten, während man Thorbrögger nach Avignon berief, damit sie sich trauen lassen sollten. Kastager konnte ja da bleiben, um Zeuge zu sein.
Frau Fönß schwankte noch eine Zeitlang, denn es war ihr unmöglich, die Ansicht der Kinder zu erfahren; als man es ihnen erzählt, hatten sie es mit vornehmem Schweigen hingenommen, und als man sie wegen einer Antwort drängte, hatten sie nur gesagt, daß sie sich selbstverständlich nach dem richten würden, was die Mutter beschloß.
Es kam dann, wie Frau Kastager vorgeschlagen; sie sagte den Kindern Lebewohl, und diese reisten; Thorbrögger kam, und sie wurden getraut.
Spanien wurde ihre Heimat; Thorbrögger wählte es um der Schafzucht willen.
Nach Dänemark wollte keiner von ihnen zurück.
Und so lebten sie denn glücklich in Spanien.
Ein paarmal schrieb sie an ihre Kinder, aber in dem ersten, heftigen Zorn darüber, daß sie sie verlassen, schickten sie die Briefe zurück. Später bereuten sie es allerdings; sie vermochten jedoch nicht, es der Mutter zu gestehen und ihr zu schreiben; daher hörte alle Verbindung zwischen ihnen auf. Auf anderen Wegen hörten sie indessen von ihrem beiderseitigen Leben.
Fünf Jahre lebten Thorbrögger und seine Frau glücklich, aber dann wurde sie plötzlich krank. Es war eine schnell zehrende Krankheit, die notwendigerweise mit dem Tode enden mußte. Die Kräfte schwanden stündlich, und eines Tages, als das Grab nicht mehr fern war, schrieb sie an ihre Kinder.
»Teure Kinder!« schrieb sie, »daß Ihr diesen Brief lesen werdet, weiß ich, denn er wird Euch erst erreichen, wenn ich tot bin. Fürchtet nichts, diese Zeilen enthalten keine Vorwürfe; könnte ich ihnen nur Liebe genug mitgeben!
Wo Menschen lieben, Tage und Ellinor, liebe, kleine Ellinor, da muß stets der sich demütigen, der am meisten liebt, und deshalb komme ich noch einmal zu Euch, wie ich mit meinen Gedanken jede Stunde zu Euch kommen werde, so lange ich es noch vermag. Der da sterben soll, teure Kinder, ist so arm; ich bin so arm, denn diese ganze wunderschöne Welt, die nun so viele Jahre mein reiches, gesegnetes Heim gewesen, sie soll von mir genommen werden, mein Stuhl wird leer stehen, die Tür wird sich hinter mir schließen und ich werde meinen Fuß nie wieder hierher setzen. Deshalb sehe ich alles mit der Bitte in meinen Augen an, daß es mich lieb behalten möge, deshalb komme ich zu Euch und bitte Euch, mich mit der ganzen Liebe zu lieben, die Ihr mir früher gegeben habt; denn wisset, nicht vergessen werden, das ist der ganze Anteil an der Menschheit Welt, der von jetzt an mein sein wird. Nicht vergessen werden – sonst nichts! Ich habe nie an Eurer Liebe gezweifelt; ich wußte ja, daß es Eure Liebe gewesen, die Euren großen Zorn erzeugt; hättet Ihr mich weniger geliebt, so hättet Ihr mich auch ruhiger ziehen lassen. Und deshalb will ich Euch sagen, wenn es eines Tages geschehen sollte, daß ein gramgebeugter Mann an Eure Tür kommt, um mit Euch von mir zu sprechen, von mir zu sprechen um des Trostes willen, so vergeßt nicht, daß niemand mich geliebt hat so wie er; und daß alles Glück, das von einem Menschenherzen ausstrahlen kann, von ihm zu mir gekommen ist. Und bald, in der letzten, großen Stunde wird er meine Hand in der seinen halten, wmn das Dunkel kommt, und seine Worte werden die letzten sein, die ich höre... Lebt wohl, ich sage es Euch hier, aber es ist nicht jenes Lebewohl, das das letzte an Euch sein soll, das will ich so spät sagen, wie ich kann, und all meine Liebe soll darin liegen, und die Sehnsucht so vieler, vieler Jahre, und die Erinnerungen an die Zeit, wo Ihr klein wart, und tausend Wünsche und tausend Dank. Leb wohl, Tage, leb wohl, Ellinor, lebt wohl bis zum letzten Lebewohl.
Eure Mutter.«