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Das Leben
Im nächsten Flusse wusch er den Bettelstab und die Hände ab, in welche er ihn vor dem Verkäufer aus Schonung frei genommen. Der erste Akt der Wohltätigkeit, den er nach dem Kaufe des Stabes verrichtete, war einer mit dem Holze selber an Flöß-Holz. Er konnt' es nicht ertragen, daß, während mitten im Strome viele Flöß-Scheite lustig und tanzend hinunterschwammen, eine Menge anderer, die nicht unbedeutender waren, sich in Ufer-Winkeln stießen, drängten und elend einkerkerten; eine solche Zurücksetzung auf die Expektantenbank verdienten die Flöß-Scheite nicht; er nahm daher seinen Bettelstock und half so vielen hintangesetzten Scheiten durch Schieben wieder in den Zug der Wogen hinein, als neben ihm litten; denn alle Scheite – so wie alle Menschen – zu befördern, steht außer dem Vermögen eines Sterblichen.
Er holte darauf einen kleinen zerlumpten Jungen ein, der barfuß in einem Paar roten Plüschhosen voll unzähliger Glatzen ging, das, von einem Manne abgelegt, eine Pump- und Strumpfhose zugleich an ihm geworden war. Der Knabe hatte nichts bei sich als ein Gläschen, mit dessen Salbe er sich unaufhörlich die rotkranken Augen bestrich. Walt fragte ihm sanft seine Leidensgeschichte ab. Sie bestand nur darin, daß er von seiner Stiefmutter weggelaufen, weil sein Vater, ein Militär, von dieser weggelaufen, und daß er sich zu den Franzosen zu betteln hoffe. »Kannst du hessische Groschen brauchen?« fragte Walt, der zu seinem Schrecken zu großes Geld bei sich fand. Der Knabe sah ihn dumm an, lächelte dann, wie über einen Spaß, und sagte nichts. Walt wies ihm einen. »O,« sagt' er, »das kenn' er wohl, sein Vater hab' ihn oft wechseln lassen.« Der Notar erfuhr endlich, der Knabe sei ein Hesse – und gab ihm alle vaterländische Groschen.
Allmählich äußerte jetzt der Bettelstab seine feindselige Kraft, eine Wetterstange zu sein, welche Gewitter zieht. Walt konnte den Frühling des Vormittags durchaus nicht wieder zurückbringen, sondern mußte den Herbst vor sich stehen sehen, der gerade so episch macht als der Lenz lyrisch und romantisch. Er durft' es dem Stock sehr aufbürden, daß er nach den Leipziger Bergen sah und doch ganz vergeblich hinter ihnen auf der andern Seite in die Leipziger Ebenen herabzufahren suchte bis vor Winas Gartentüre, weil der Stock sich gleichsam unter den Berg-Schlitten stemmte und stülpte.
Er sah nur das Fliehen und Fliegen des Lebens, die Eile auf der Erde, die Flucht des Wolkenschattens, indes am Himmel die Wolke selber nur langsam zieht, und die Sonne gar wie ein Gott steht und blickt. Ach, in jedem Herbst fallen auch dem Menschen Blätter ab, nur nicht alle.
Er sah eine abgefressene Wiese, aber violett von ausgeschlossenen giftigen Herbstblumen. Auf ihr lärmten Zugvögel, die miteinander den Plan zu ihrer Nachtreise zu bereden schienen. Auf der Landstraße fuhr ein rasselnder Wagen hin, unter den Hinterrädern boll ein Hund. Am fernen Berg-Abhange schritt eine weibliche weiße Gestalt kaum merkbar hinter ihrem dunkelbraunen Manne, um in irgendeinem unbekannten Dörfchen ein Glas und eine Tasse zu genießen und dazu vor- und nachher so viel von schöner Natur, als unterwegs gewöhnlich vorkommt. In der Nähe trippelten zwei weißgeputzte Mädchen von Stande, mit Blumen und Schnupftüchern in den Händen, durch die grünen Saaten-Furchen, und die gelben Schawls flatterten zurück.
Er ging vor einem bis an die Himmelswagen hinauf getürmten sogenannten Brautwagen vorbei, worauf alle die Wachsflügel, Flügeldecken, Glasfedern und der Federstaub einerseits, und die Steiß- und Schwanzflossen, die Brust- und Rückenflossen, die Danaidengefäße, Wasserstücke, Wasserwagen, Regenmesser und Trockenseile andererseits unter dem Namen Hausgeräte aufgeladen waren, welche der Mensch durchaus hienieden haben muß, um nur einigermaßen halb durch das Leben zu schwimmen, halb darüber zu fliegen. Der Eigentümer aber schritt voll Empfehlungen der größten Vorsichtsregeln für seine aufgepackten Flügel und Flossen neben dem Wagen her und versprach sich und andern Schritt vor Schritt ganz andere, blauere Tage in der Zukunft, als er in seinem vorigen unbekannten Neste gehabt.
Darauf kam Walt auf ein Filial-Dörfchen von fünf oder sechs waschenden, fegenden Häusern und rauchenden Backöfen. Die Jünglinge hoben mit Stangen und halber Lebensgefahr einen Maienbaum mit roten Bänder-Fahnen in die Höhe, der für ein Dorf wohl nicht weniger ist, als was eine Vogelstange für eine Mittelstadt. Die Mädchen, welche die Bänder hinauf geschenkt, sahen hochrot dem Aufbäumen zu und hatten nichts im seligen Kopf und Herzen als den morgendlichen Kirmes-Tanz um den Baum mit den allerbedeutendsten Purschen des Orts.
Darauf begegnete der Notar einem schwer ausgeschmückten eilfjährigen Mädchen mit einer Krücke – was ihn unsäglich erbarmte –, und die Frau Patin lief aus dem Örtchen ihrem Kirmesgast schon entgegen.
Darauf kam ein an sich selber angeketteter Malefikant zwischen seinen Kerker-Führern; alle priesen, soweit sie mit Worten noch vermochten, das Bier des vorigen Dorfs; auch der Malefikant.
Er kam durch das ansehnlichere Dorf, worin das Filial nur eingepfarrt war. Da die Mutterkirchen-Türe gerade offenstand – aus dem kurzen dicken Turme wurde etwas geblasen, worein wieder der Viehhirt blies –, so ging er ein wenig hinein; denn unter allen öffentlichen Gebäuden besucht' er Kirchen am liebsten, als Eispaläste, an deren leere Wände das Altarlicht seiner frommen Phantasie sich mit Glanz und irrenden Farben am schönsten brach und umhergoß. Es wurde drinnen getauft. Der Täufer und der Täufling schrien sehr vor dem Taufengel. Vier oder fünf Menschen waren nach ihrer Art sonntäglich blasoniert, graviert, mit getriebner Arbeit vom Schneider bedeckt; nur aus den vornehmsten Kirchen-Logen, den adeligen, schaueten Mägde, die Arme in blaue Schürzen wie in Unter-Schauls gewickelt, im demi-négligé des Wochentags heraus. Wirtschafts-Kleidung in heiliger Stätte war ihm harter Mißton. Der Pate des getauften Urenkels war der Ur-Großvater desselben, der das Schrei-Hälschen kaum halten konnte vor Jahren, und dessen abgepflückte winterliche nackte Gestalt Walten besonders dadurch ins Herz drang, daß der alte Mann fünf oder sechs schneeweiße Haare – mehr nicht – zu einem grauen Zöpflein zusammen gesammelt und gedreht hatte, um sich zu zeigen.
Daß der alte Mensch dem jungen so nahe war, das Kind des Grabes dem Kinde der Wiege, die gelben Stoppeln dem heitern Maien-Blümchen, das rührte den Notar noch eine Stunde über das Dorf hinaus. »Spielet doch Kindtaufens«, sagt' er zu einigen Kindern, die ein Kreuz trugen und Begrabens spielen wollten. Gerade aus dem Herzen flog ihm in den Kopf der Streckvers:
»Spielet jauchzend, bunte Kinder! Wenn ihr einst wieder Kinder werdet, bückt ihr euch lahm und grau; unter dem weinerlichen Spiele bricht der Spielplatz ein und überdeckt euch. Wohl auch abends blüht in Osten und Westen eine Aurora, aber das Gewölke verfinstert sich, und keine Sonne kommt. O hüpfet lustig, ihr Kinder, im Morgenrot, das euch mit Blüten bemalt, und flattert eurer Sonne entgegen.«
Die Zauberlaterne des Lebens warf jetzt ordentlich spielend bunte laufende Gestalten auf seinen Weg; und die Abendsonne war das Licht hinter den Gläsern. Sie wurden gezogen, und es mußte vor ihm vorüberlaufen unten im Strom ein Meßschiff – ein niedriger Dorfkirchhof an der Straße, über dessen Rasenmauer ein fetter Schoßhund springen konnte – eine Extrapost mit vier Pferden und vier Bedienten vornen – der Schatte einer Wolke – nach ihr ins Licht der Schatte eines Rabenzugs – zerrissene hohe graue Raubschlösser – ganz neue – eine polternde Mühle – ein zu Pferde sprengender Geburts-Helfer – der dürre Dorfbalbier mit Schersack ihm nachschießend – ein dicker überröckiger Landprediger mit einer geschriebenen Erntepredigt, um für die allgemeine Ernte Gott und für seine den Zuhörern zu danken – ein Schiebkarren voll Waren und ein Stab Bettler, beide um die Kirmessen zu beziehen – ein Vor-Dörfchen von drei Häusern mit einem Menschen auf der Leiter, um Häuser und Gassen rot zu nummerieren – ein Kerl auf seinem Kopfe einen weißen Kopf von Gyps tragend, der entweder einen alten Kaiser oder Weltweisen vorstellen sollte oder sonst einen Kopf – ein Gymnasiast spitz auf einem Grenzstein seßhaft, mit einem Leih-Roman vor den Augen, um sich die Welt und Jugend poetisch ausmalen zu lassen – und endlich oben auf ferner Höhe und doch noch zwischen grünen Bergen ein vorschimmerndes Städtchen, worin Gottwalt übernachten konnte, und die helle Abendsonne zog alle Spitzen und Giebel sehr durch Gold ins Blau empor.
»Wir sind laufende Strichregen und bald herunter«, sagt' er, als er auf einem Hügel bald rück-, bald vorwärts sah, um die Kette der auseinandereilenden Gestalten zu knüpfen. Da stieg ihm ein Bilder-Händler mit seiner auf eine Walze gefädelten flatternden Bilder-Bibel und Bilder-Galerie auf dem Nabel nach und fragte, ob er nichts kaufe. »Ich weiß gewiß, daß ich nichts kaufe,« – sagte Walt und gab ihm zwölf Kreuzer – »aber lassen Sie mich ein wenig dafür darin herumblättern.«
»Wer lieber als ich«, sagte der Mann und bog seinen Thorax zurück und sein Bilderbuch ihm entgegen. Hier fand der Notar wieder die stehenden Bilder der laufenden Bilder, das Leben fuhr mit Farben auf dem Papiere durcheinander, die halbe Welt- und Regenten-Geschichte, Potentaten und herkulanische Topf-Bilder und Hanswürste und Blumen und Militär-Uniformen, und alles überlud den Magen des Mannes. »Wie heißet das Städtlein droben?« sagte Walt. »Altfladungen, mein lieber Herr, und die Berge dort sind eine prächtige Wetterscheide, sonst hätte uns vorgestern das liebe Gewitter alles angezündet« (versetzte der Bildermann) – »indes hab' ich noch schöne aparte Stücke zum Ansehen« und blätterte das bunte Häng-Werk mit beiden Händen auf. Walts Auge fiel auf eine Quodlibetszeichnung, auf welcher mit Reißblei fast alle seine heutigen Weg-Objekte, wie es schien, wild hingeworfen waren. Von jeher hielt er ein sogenanntes Quodlibet für ein Anagramm und Epigramm des Lebens und sah es mehr trübe als heiter an – jetzt aber vollends; denn es stand ein Januskopf darauf, der wenig von seinem und Vults Gesichte verschieden war. Ein Engel flog über das Ganze. Unten stand deutsch: »Was Gott will, ist wohl getan«; dann lateinisch: »Quod Deus vult, est bene factus.« Er kaufte für seinen Bruder das tolle Blatt.
Der Bildermann verließ den Hügel mit Dank. Walt heftete das von dem Vorüberzuge unseres malenden und gemalten Lebens gerührte Seelen-Auge auf den wetterscheidenden Berg, der ganz unter den Rosen der Sonne mit einzelnen Felsen-Schneiden und mit Schafen glühte, und er dachte:
»So fest steht er nun ewig da – früh, als noch keine Menschen hier waren, schnitt er auch die schweren Wetterwolken entzwei und zerbrach ihre Donnerkeile und machte es hell und schön im Tale ohne Augen – Und wie tausendmal mag das Abendrot im Frühlingsglanz herrlich ihn vergoldet haben, da noch kein Leben unten stand, das in die Herrlichkeit mit Träumen versank. – – Bist du denn nicht, du große Natur, gar zu unendlich und zu groß für die armen Kleinen hier unten, die nicht Jahre lang, geschweige Jahrtausende glänzen können, ohn' es zu zeigen? – Und dich, o Gott, hat noch kein Gott gesehen. Wir sind ganz gewiß klein.«
Je mehr es Abend wurde, desto mehr ging das epische Gefühl in das süße romantische über, und hinter den Rosen-Bergen wandelte wieder Wina in Gärten. Denn der Abend färbet zugleich die optischen und geistigen Schatten bunter an. Er sehnte sich nach einem fremden Menschenworte; zuletzt drängt' er sich an einen Mann, der einen Schiebekarren voll Wolle ungemein langsam schob und immer stand und nach der Sonne sah.
»Er sei«, sagte dieser sehr bald aufgeregt, »sonst nur ein Hutmann gewesen und habe auf einem gläsernen Horn sein Vieh so in der Stadt zusammengeblasen, daß mancher Hutmann etwas daran gewendet hätte, wenn ers Blasen halb so hätte lernen können. Nicht ein jedweder sei es kapabel. Und er wünschte zu wissen, ob andern Hirten ihr Vieh so nachgegangen, wenn sie durch die Elbe vorausgewatet; ihm sei es wie Soldaten nachgezogen; und Gott behüt' ihn, daß er sich dessen rühmte, aber wahr sei's.«
Der Notar hatte über nichts so viel Freude, als wenn arme Teufel, die niemand lobte, sich selber lobten. »Ich schiebe noch ganzer fünf Stunden durch« – sagte der Mann, den der Anteil ins Reden setzte – »die frische Nacht hab' ich dazu sehr gern.« – »Das kann ich mir leicht denken, mein Alter« (sagte Walt, der den unvergeßlichen dichterischen Mann von Tockenburg vor sich glaubte) – »im zweiräderigen Schäferhäuschen, wo er doch meist im Frühling schläft; hatt' er ja den ganzen Sternenhimmel vor sich, wenn er aufwachte. Ihm ist die Nacht gewiß besonders lieb?«
»Ganz natürlich, denk' ich«, versetzte der Schäfer; »denn sobalds frisch wird und es tapfer tauet, so zieht die Wolle die Nässe etwas an sich und schlägt mehr ins Gewicht, das muß ein rechtschaffener Schäfer wissen, Herr. Denn zum Zentner wills doch immer etwas sagen, wenns auch nicht viel ist.«
Da ließ ihn Walt mit einer zornigen guten Nacht stehen und eilte dem rauchenden Bergstädtchen zu, wo er, nach den heutigen Dörfern zu schließen, im Nachtquartier unter solche Abenteuer zu geraten verhoffte, die vielleicht ein anderer mit Wurzeln und Blüten geradezu ausheben und in einen Roman verpflanzen könnte.