Jean Paul
Flegeljahre
Jean Paul

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Über dem Essen – bald auf Walts, bald auf Vults Zimmer – dehnten beide die Mahlzeit in die Länge, die aus einer Portion für zwei Menschen bestand, weil kein Wirt die zweite herborgte (was jedoch das Beisammenwohnen desto schöner motiviert), und zwar dadurch, daß sie mit höherem Geschmacke sprachen als mit körperlichem und mehr Worte als Bissen über die Zunge brachten. Sie rechneten aus, um wie viele Meilen die ersten Kapitel dem Magister Dyk schon näher wären, mit welchem Feuer der Hoppelpoppel ihn durchgreifen und aus allen Fugen schütteln würde, und ob das Drucken etwa, wenn es anginge, nicht so schnell fortginge, daß mit dem Schreiben kaum nachzukommen wäre. – Vult bemerkte, wenn ein Romanschreiber gewiß wüßte, daß er sterben würde – z.B. er brächte sich nur um –, so könnt' er so seltsame herrliche Verwicklungen wagen, daß er selber kein Mittel ihrer Auflösung absähe, außer durch seine eigne; denn jeder würde, wenn er tot wäre, die durchdachteste Entwicklung voraussetzen und darnach herumsinnen. »Weißt du denn gewiß, Walt, daß du am Leben bleibst? Sonst wäre manches zu machen. – Inzwischen seh' ich jetzt in unsrer Stube herum und denke daran, wie auffallend, falls wir nun beide durch unsern Hoppelpoppel uns unter Ehrenpforten und in Unsterblichkeits-Panthea hineinschrieben, unser Nest würde gesucht und besucht werden – jeden Bettel, den du an die Wand spucktest, würde man wie aus Rousseaus Stube auf der Peters-Insel abkratzen und abdrucken – die Stadt selber bekäme einigen Namen, wahrscheinlich nach Ähnlichkeit von Ovidiopolis den Namen Harnischopolis – Was mir aber die persönliche Unsterblichkeit versäuert, ist, daß mein Name nur lange währt, nicht lang.Lange bezieht sich auf Zeit, lang auf Raum. O wer es wissen könnte bei der Taufschüssel, daß er sich einen großen Namen machte, würde sich ein solcher Mann, wenn er sonst scherzt, nicht einen der ausgestrecktesten erkiesen, zum Beispiel (denn der Sinn hat nichts zu sagen) den Namen, den schon ein Muskel führt, nämlich Mr. Sternocleidobronchocricothyrioideus? Belesene Damen kämen zu ihm und redeten ihn an: Herr Sternocl und könnten nicht weiter. Militärs tätens nach und sagten: Herr Sternocleido! – Die Geliebte allein suchte den Namen auswendig zu können und liebt' ihn so lange, als sie ausspräche: teurer Mr. Sternocleidobronchocricothyrioid! Er würde gern zitiert von Gelehrten, weil schon sein Name eine Zeile gilt vor Setzern und Käufern. – Apropos! Warum schickt denn der Sieben-Erbe Paßvogel nicht den ersten Korrekturbogen, gemäß allen Testaments-Klauseln in Haßlau?«

»Der Autor bessere noch an der Handschrift, ließ er mir vorgestern sagen«, sagte Walt. – Darauf verschnauften sich beide in der Luft. Wie manchen flüchtigen Zug der höhern Stände schnappte der Notar auf der Straße im Vorbeigehen auf für seinen Roman! Die Art, wie ein Haßlauer Hofkavalier aus dem Wagen sprang oder wie eine Gräfin aus dem Fenster sah, konnte romantisch niedergeschrieben werden und ein Mann für Tausend stehen und fallen! Diese Übertragungs-Manier, ein Farbenkorn zu einer erhobenen Arbeit zu machen, erleichtert Bauernsöhnen das Studium der höhern Stände unglaublich. Aus demselben Grunde besuchte Walt am liebsten die Hofkirche und tat die Augen auf.

Alsdann ging man nach Hause und ans Erschaffen, das so lange währte, bis es finster wurde. Auf die Dämmerung verschoben sie – um Licht zu ersparen – teils weitläuftigere Gespräche, teils Flöte. Wenn Vult so blies hinter der Wand und Walt so dort saß im Finstern und in den blauen Sternenhimmel sah und an den Morgen in Rosenhof dachte und an Winas Herz und Wiederkunft und unter dem mondhellen Flöten-Lichte sein klippenvolles Leben eine romantische Gegend wurde: o so stand er oft auf und setzte sich wieder hin, um den Bruder dadurch im Blasen nicht zu stören, daß er ihm bekannte, wie ihn jetzt die Minuten in Brautkleidern umtanzten und mit Rosenketten umflöchten. Aber wenn er ausgeblasen hatte und nach der langen Polardämmerung Licht kam: so sah ihn Walt forschend an und fragte froh: »Bist du zufrieden, Bruder, mit dieser süßen Enge des Lebens; und mit den Orchester-Tönen und innern Zauberbildern, die wir heute vielleicht ebenso reich, nur ungestörter, genossen haben als irgendein großer Hof?« – »Eine wahre Himmelskarte ist unser Leben,« versetzte Vult, »freilich vor der Hand nur ihre weiße Kehrseite; doch einen Taler, den mir jemand auf die Karte legte, säh' ich nicht mit Unlust.«

Am Morgen darauf sprach Walt von seinen schönen Aussichten auf die flötende Nachtigallen-Dämmerung. Etwas mühsam wurde Vult zu einer neuen Wiederschöpfung des melodischen Himmels gebracht. Aber mit desto größerem Feuer erzählte darauf der Notar, wie glücklich er die dämmernde harmonische Hörzeit angewandt habe, nämlich zur Verfertigung einer Replik und eines Streckverses im Roman; der Held sei – hab' er unter der Flöte gedichtet – getadelt worden, daß er über das Wort einer alten, kranken, dummen Frau, welche ihn für seine Gaben an jedem Abend in ihr Gebet eifrig einzuschließen versprochen, sich innigst erfreuet; allein der Held habe versetzt: nicht ihres Gebetes Wirkung auf ihn wäre ihm etwas, sogar wenn diese gewiß wäre, sondern die auf sie selber, daß ein so frierendes Wesen doch jeden Abend in eine schöne Erhebung und Erwärmung gelange. »Ist das kein wahrer Zug von mir, Vult?«

»Es ist ein wahrer von dir« (sagte Vult) – »In der Kunst wird, wie vor der Sonne, nur das Heu warm, nicht die lebendigen Blumen.« Walt verstand ihn nicht; denn oft kam es ihm vor, als finde Vult zuweilen später den Sinn als das Wort.

Im nächsten Dämmerungs-Feiertag und Feierabende, nämlich im dritten, war der dritte abgeschafft, Vult griff kein Flötenloch, blies keine Note. Aber der Bruder nahm den künstlerischen Eigensinn nicht übel, hielt den Bruder für so glücklich als sich und wandte nichts ein gegen einen Wechsel der Dämmer-Partien. »Hab' ich denn nicht eine Luftröhre wie du, so gut zu Lauten gebohrt als die Flöte? Kann ich denn dir nichts sagen, ohne das Holz ins Maul zu stecken? – Diskurieren wir lieber beiderseits«, sagte Vult.

In den folgenden Dämmerungen kehrte dieser zur alten Sitte zurück, hinter den Laternenanzündern die Gassen zu durchstreifen – ein Abenteuer mit einer Schauspielerin zu bestehen – Burgunder allein zu borgen (Walten hielt er, seit dieser ihn mit Zucker absüßte, keines mehr würdig) – mit der Flöte in fremde Flöten auf der Gasse oder in die Kulisse einzutreten – und sich endlich auf dem Kaffee-Hause halb tot zu ärgern, daß er am Ende so gut als einer sich unter die Haßlauer mische und, allmählich hinabgewöhnt, sich mit ihnen in Gespräche verflechte, da er doch mit der festesten Verachtung im Sommer angekommen sei.

Walt blieb freudig zu Hause; er fand in den kleinsten Blümchen, die durch seinen Schnee hindurchwuchsen, so viel Honig, als er brauchte. Als die Tage abnahmen: so freuete er sich über die Länge der Abenddämmerung so wie des gestirnten Morgens; ohne dabei zu vergessen, daß er sich ebensogut, nur später, über die Zunahme freuen würde. Der Mond war eigentlich sein Glücksstern, so daß er ihm in jedem Monate nicht viel weniger als 27 schöne Abende oder Morgen herunterwarf; denn beinahe 14 Tage (nur die paar ersten ausgenommen) konnt' er auf dessen Wachstum bauen; – von Vollmond bis zum letzten Viertel wurde ohnehin Elysiums Schimmer, bloß später, oft über seinem Bette aufgetragen, und das letzte Viertel gab den Morgenstunden Silber in den Mund. Da einmal gerade in der Dämmerung Ballmusik gegenüber war: so nahm er sich sein Stück Winterlustbarkeit heraus, so gut wie einer. Die Musik drang unsichtbar, ohne den Armen-Zickzack und die Backen-Kurven des Orchesters, nur entkörpert mit seligen Geistern in sein dämmerndes Stübchen. Er stellte sich zum Tanzen an, und weil es ihm an den schönsten Tänzerinnen nicht fehlte – da ganze Harems und Nonnenschaften darin waren und mehrere Rosenmädchen und alles –: so zog er Göttinnen von solchem Glanz zum Tanzen auf und machte mit ihnen – obwohl leise, um unter seinen Füßen nicht rezensiert zu werden – nach den fernen Takten, die er begleitete, so gut seine Pas, seine Seiten-, seine Vorpas zu Hopstänzen, zu Eier-, zu Schaultänzen, daß er sich vor jedem sehen lassen durfte, der nichts suchte als einen muntern Geist, der im Finstern umhersetzt. Was er in der Seligkeit zu scheuen hatte, war bloß Vults plötzlicher Eintritt.

Ihn – der ohnehin nicht gewohnt war, daß er etwas hatte – drückte kein Entbehren; er hatte Phantasie, welche helles Krystallisationswasser ist, ohne welches die leichtesten Formen des Lebens in Asche zerfallen.

Doch wurde sein Himmel nicht immer so phantastisch weit über die Lüfte der Erde hinausgehoben, er wurde auch zuweilen so real heruntergebaut wie ein Theater- oder ein Betthimmel. An Sonntagsgeläuten, am Hofgarten, an frischer kalter Luft, Winterkonzerten (die er unten auf der Gasse spazierend hörte) hatt' er so viel Anteil als irgendeine Person mit Schlüssel und Stern, der im Innern gerade beide fehlen. Aß er sein Abendbrot, so sagt' er: »Der ganze Hof ißt doch jetzt auch Brot wie ich«; dabei setzte und benahm er sich zierlich und artig, um gewissermaßen in guter Gesellschaft zu sitzen. An Sonntagen kauft' er in einem guten Hause sich einen der besten Borsdorfer Äpfel ein und trug ihn sich abends in der Dämmerung auf und sagte: »Ganz gewiß werden heute an den verschiedenen Höfen Europens Borsdorfer aufgesetzt, aber nur als seltner Nachtisch; ich aber mache gar meinen Abendtisch daraus – und wenn ich mehr Leibliches begehre, du guter Gott, so erkenne ich deine Güte nicht, die mir ja in einem fort mit stillsten Freuden wie mit tiefen Quellen die Seele überfüllt.«

Im durchsichtigen Netze seiner Phantasie fing sich jeder vorüberschießende Freuden-Zweifalter – dazu gehörte sogar ein erwachender gelber Schmetterling im Gartenhaus – jeder Stern, der stark funkelte – italienische Blumen, deren deutschen Treibscherben zwischen Schauls er auf der Gasse aufgestoßen – eine bekränzte, zwischen Andacht und Putz glühende Braut – ein schönes Kind – ein Kanarienvogel in der Webergasse, der mitten im deutschen Winter in Kanarieninseln und in Sommergärten hinüberschauen ließ – und alles.

Flog Flora, die Bettmeisterin, mit hellen Gesängen die Treppen herauf, so hörte er erste Sängerinnen für seinen Teil. –

Einst an einem Markttage hatt' er halb Italien mit einem ganzen Frühling um sich. Der Tag schien dazu erlesen zu sein. Es war ein sehr kalter und heller Winternachmittag, worin Mücken in den schiefen Strahlen spielen, als er im Hofgarten – den der gute Fürst jeden Winter dem Publikum öffnen ließ – die silbernen Schneeflocken der Bäume unter der blitzenden Sonne in weiße Blüten, die den Frühling überluden, umdachte und darunter weiterspazierte. So plötzlich auf die Frühlings-Insel ausgesetzt, schlug er in ihr die heitersten Wege ein. Er machte einen nahen an der Bude eines Sämereienhändlers vorbei und hielt ein wenig vor dessen Budentisch, nicht um eine Düte zu kaufen – wozu ihm ein Beet fehlte, da alle seine Morgen Lands nur in seinem Morgenland bestanden –, sondern um den Samen von französischen Radiesen, Maienrüben, bunten Feuerbohnen, Zuckererbsen, Kapuzinersalat, gelbem Prinzenkopf zu denken und zu riechen und auf diese Weise (nach Vults Ausdruck, glaub' ich) einen Vorfrühling zu schnupfen. In der Tat geht unter allen Sinnen-Wegen keiner so offen und kurz in das fest zugebauete Gehirn als der durch die Nasenhöhlen.

Darauf holte er sich beim Bücherverleiher vieles, was er von guten Werken über Schmetterlinge, Blumen- und Feldbau erwischen konnte – und las aufmerksam in den Werken, um sich die Lenz-Sachen vorzustellen, die darin auftraten. Bloß das Ökonomische, Botanische und Naturhistorische überhüpfte er ohne besondern Verstand und Eindruck, weil er auf wichtigere Dinge zu merken hatte.

Als der Bruder fort war, stand gerade die Abendröte am Himmel und auf dem Schneegebürg, dieses Vorstück Aurorens, dieser ewige Widerschein des Frühlings.

Über das Haus herüber war schon das Mondsviertel gerückt und konnte, nicht weit von der Röte, zugleich mit ihr in sein Stübchen kleine Farben und Strahlen werfen. »Wenn nicht der Winter nur eine längere Polar-Morgenröte des Frühlings für die Menschen ist,« sagt' er, indem er aufstand, »so weiß ich in der Tat nicht was sonst.« Der ganze Nachmittag war voll Frühling gewesen – und jetzt in der Abendstunde quoll gar ein Nachtigallenschlag wie aus einem äußern Blütenhain in seinen innern herüber. Er nahm einen Judenjungen, der im nächsten Wirtshaus schlug, für eine wahre Nachtigall. Ein unmerklicher Irrtum, da die Philomele, die uns singt, eigentlich doch nirgends sitzt und nistet als in unserer Brust! Schnell, wie von einem Zauberer, wurden die steilen Felsenwände seiner Lage umher mit Efeu und mit Blümchen überzogen. Der Mond kam heller herein, und Walt stand und ging mitten in seinem leisen Glanze träumend betend, es war ihm, als höben und hielten ihn die geraden Strahlen und als habe er jeden gemeinen Gegenstand im Zimmer oder auf der Gasse mit Festtapeten zu verhüllen, damit der Himmel nur Himmlisches auch auf der Erde berühre. »So war es gerade einst«, sang er mehrmals, auf jenen Abend deutend, wo er neben Winas Zimmer mondstill auf und ab ging. Ja, er improvisierte singend den Polymeter:
 

»Liebst du mich?« fragte der Jüngling die Geliebte jeden Morgen; aber sie sah errötet nieder und schwieg. Sie wurde bleicher, und er fragte wieder, aber sie wurde rot und schwieg. Einst, als sie im Sterben war, kam er wieder und fragte, aber nur aus Schmerz: »Liebst du mich nicht?« – und sie sagte ja und starb.
 

Er versang sich immer tiefer in sein Herz – Zeit und Welt verschwand – er spielte wie eine sterbende Ephemere süß in den hellern Strahlen des Mondes und unter Mondsstäubchen –: da kam Vult heiter zurück und brachte die Nachricht, Wina sei angekommen, deckte aber sogleich deren Wert für ihn selber durch eine zweite lustige zu (und lachte stark): daß er nämlich, sagt' er, im Vorbeigehen zu seinem Schuster gegangen, um ihn zu fragen, ob er denn seit 14 Tagen keinen 15ten gefunden, um die Rehabilitierung, Palingenesie, Petersensche Wiederbringung seiner Stiefel (so drücke mancher leider ihr Besohlen aus) zu vollenden; er habe ihn aber nicht eher als auf dem Rückwege gefunden, wo er auffallend ihm immer rechts in die Schattenseite ausgebogen; – bis er nach langem Predigen gesehen, daß der Mann die Stiefel, welche der Bußtext der Kasualrede waren, an den Beinen bei sich habe und herumtrage, um sie erst noch etwas abzutreten, bevor er sie flicke. »War dieser Spaß, der noch dazu voll Anspielungen steckt, nicht so viel wert als das beste Paar Stiefel selber?« – »Ist er denn so sonderlich?« sagte Walt. – »Warum«, fragte Vult bestürzt, »siehst du so sonderbar aus? Warest du traurig?« – »Ich war selig, und jetzt bin ichs noch mehr«, versetzte Walt, ohne sich weiter zu erklären. Die höchste Entzückung macht ernst wie ein Schmerz, und der Mensch ist in ihr eine stille Scheinleiche mit blassem Gesicht, aber innen voll überirdischer Träume.


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