Jean Paul
Der Jubelsenior
Jean Paul

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Jetzt war es meine Pflicht, endlich einmal die Vokation zu promulgieren. Ich promulgierte und verlas solche und setzte bei, dem Fräulein von Sackenbach habe jeder von ihnen bei der Sache das meiste zu danken. Die Sippschaft war sprachlos – dann gab ich dem Senior das Dekret und die Brille – und als ers halblaut vor uns allen gelesen hatte, sagt' er: »Ja, Gott hat geholfen – du, mein jüngster Sohn, trittst in meine Fußstapfen und bist jetzt zum zeitigen Adjunktus in Neulandpreis aus Gnaden voziert.« – Ingenuin nahm das Blatt eilig, aber er konnt' es nicht lesen und fassen, das rote Titelblatt der Entzückung stand auf seinem Gesicht, er mußte ohne Besinnen es mir verbeugend geben. Nun blieben auf allen Zungen die Laute aus, aber in keinem Auge die Tränen. Der alte Vater nahm freundlich seiner Tochter Hand und sagte: »Du kömmst also morgen nicht von mir, und nun bleibst du bei deinen Eltern, bis sie sterben.« – Die Mutter fiel freudetrunken dem beglückten Sohn ans Herz und sagte: »Gott schenkt mir heute mehr Freude, als mein altes Herz wird tragen können.« – Und Alithea fassete dankbar weinend meine Hand und sagte mir: »Ja wohl haben Sie heute recht geweissagt«, aber sie besann sich schnell – denn eine Verlobung hatt' ich prophezeiet – und setzte dazu – »Aber das wußten Sie doch nicht voraus, was wir Ihnen zu danken kriegten.« – Und dann blickte mich die alte Mutter mit dem redlichsten weichsten Auge voll überschwenglichen Lohnes an. – O ihr guten Alten, die ihr gleich den Federnelken tief in das Erdenbeet (nur wenige Blätter liegen noch auswärts) eingesenket seid, ihr guten Kinder, denen das Schicksal, wie gefüllten Hyazinthen, bei dem Versetzen den Boden recht hart zusammentrat, wie unbeschreiblich schön und schimmernd und erquickt steht ihr alle unter der Wässerung der Freudenzähren – und ein laues Wehen spült die Tropfen weg, und eine ganze heiße helle Sonne liegt auf eueren Blumenkelchen!...

Aber das Saitenspiel der Entzückung mache nun kleinere Schwingungen! Unser aller voriger Bund war zertrennt – ein neuer geknüpft – das Glockenspiel der innern nachklingenden Entzückungen machte taub, und der Leuchtregen der frohen Tränen machte blind – die Kinder lachten lauter und liefen schneller – Scheinfuß läutete heftig zum Nachmittagsgottesdienst, und niemand hörte und gehorchte – – – Aber endlich gingen doch schon beim vierten Verse die zwei Jubelleute in die Kirche.

Hingegen die überraschten erhitzten Professionisten blieben sämtlich sitzen und wollten kein Gebet mehr tun als das nach dem Essen und suchten sich an den oft angezognen Ziemer (er stand bisher wie ein alter Klassiker oder wie ein neuer ungenossen da und wurde kalt unter Warmen) gleichsam wie an ihre Kiblah, an ihre Handwerkslade zu halten, oder wär's ihr Schwerpunkt und primum mobile. Der neue Adjunktus selber wäre freudig bei der lustigen Brüdergemeine verblieben, hätt' ihn das Zuggarn des Jubilars (es war aus einigen Mienen gestrickt, die dem Neuvozierten statt der profanen Werkstatt eine heiligste zeigten) nicht weggeschleppt. Gobertina wollte nach; Alithea mußte nach.

Nur mich brachte niemand in die Kirche: nachmittägige Kirchenandacht kömmt mir oft vor wie vormittägige Abendmusik. Jede Vesperrührung, die etwan zu gewinnen war, wurde nicht nur durch die größere des Morgens verschattet und verbauet, sondern auch durch das Magenfieber vom Mittags-Kleefutter: die mit dem Honig der Nahrung verpichten Bienen-Flügel tragen die Seele auf keine Blume.

Aber die Wahrheit zu sagen, die Sache war die, ich wollte gern den – gegenwärtigen fünften offiziellen Bericht des Appendix schließen: noch ist er nicht geschlossen, die Sonne steht schon tief und mehr an der Feder als auf dem Papier, und jede Minute muß ich aufsehen, daß Alithea aus dem Pfarrhause heraufkommt und mich fragt, ob ich ewig sitzen und schreiben will.

Man muß nämlich wissen, daß ich vor drei Stunden, als die Kirchleute noch sangen, mit dem vollen Herzen meines Bocks und mit gegenwärtigem Papier auf den bekannten Birkenhelikon gestiegen bin und mich vor ein eingewurzeltes Tischchen auf die um die drei Hängebirken wie ein Kragen gekrümmte Zirkelbank gesetzt habe, wo ich – eben sitze und den heutigen Sonntag abschatte. Ich bat den Buchdrucker, niemand auf den Berg zu lassen, und es werde sein eigner Schade nicht sein. – Er tats.

Nun sitzt der Leser vor dem vollendeten Sonntagsstück und vor der stereographischen Projektion erhabener Fakta – – – und jetzt seh' ich nicht ein, warum ich nur noch einen Strich dem Tableau geben soll. Ingenuin ist voziert – Alithea ist adjungiert – der Senior ist das erstere von neuem – die Seniorin das zweite von neuem – das Fräulein ist in integrum restituiert – die drei Handwerker haben Arbeit von mir – – – wahrhaftig wenn ein Autor es so weit gebracht hat mit seiner Mannschaft und Kolonie, daß er sie alle auf eine solche Ruhe- und Fürstenbank niedergesetzt, so darf er schon von seiner aufstehen und fortgehen. Als Artist lös' ich mich von der Familie ab, als Mensch und Gast verquick' ich mich erst recht mit ihr: denn ich gehe vor acht Tagen nicht aus Neulandpreis, die ich auf eine kritische Beschneidung des Herzens, der Ohren und Lippen dieses Werkleins verwenden will, und trage noch, wo Ausschweifungen fehlen, die nötigsten gleichsam als Extravasate und Speckgeschwülste im mystischen Körper nach, oder in einer schönern Metapher, ich putz' ihn mit Garnituren von Barockperlen.

Dennoch würd' ich mir nichts daraus machen, den Malern nachzuschlagen, die das arrondierte Gemälde mit einem Besatz und Anschrot fremder Gegenstände vom Rahmen isolierend entfernen wollen: aber ich will bekennen, was ich fürchte. Ach wenn alte eingewinterte Herzen schnell in der schnellen Wärme der Freudentränen wie gefrornes Obst auftauen: so hält sich die zertriebene Textur nicht lange mehr. – Der Mensch, der vor der Marter aufrecht blieb, wird oft von der auflösenden schwülen Entzückung gebeugt und bis auf die Erde, wie Klosterbilder sich krümmen, wenn man sie warm behaucht. Und wenn dann von diesem für einen Ton bestimmten Saiten-Paar der Ehe die eine Saite unter dem heftigen Anschlagen der Freude risse, so würde bald auch die andere springen. – Und diese zwei Leichen hätt' ich dann in diesem meinem Sommer-Pavillon, wie in einer kalten päpstlichen Kirche, auszusetzen.

Wie toll! – Seh' ich nicht jetzt drüben auf dem reparierten Straßendamm die zwei alten Leute zwischen ihren Söhnen gehen, und der Weginspektor, der Hamstergräber, zeigt ihnen, wie alles ist? Alithea fehlt, denn sie kocht; inzwischen war sie gegen vier Uhr hier auf meiner hohen Lehrstelle und Loge zum hohen (physischen) Licht gewesen, um mir, wie sie sagte, den gravierten Zahnstocher mit dem furnierten Zoilusgriff unter die Birken nachzutragen – – leider wird auch mehr als ein Leser im fünften Bericht den schattenden Durchgang einer solchen Venus durch meinen Phöbus oder auch durch die Abendsonne observieret haben. Wir sind jetzt einander viel näher, seitdem sie weiß, daß ich in der Welt gerade so viel Figur mache, als ich habe, nämlich nur meine eigne statt der des vornehmen Herrn v.Esenbeck. Ich sagte gleichwohl der Lieben, der Appendix und der Tag schlössen sich nur vereint, und darnach könnte sie in Gottes Namen wiederkommen und mit mir treiben, was sie wollte.

Und in acht Minuten (das weiß ich, da die Sonne, wie unterirdisches Schatz-Gold, immer weiter versinkt mit ihrem überirdischen, durch ein Abendrot nach dem andern) steht sie da. Überhaupt welch einem Abende seh' ich entgegen! Denn das prophetische Gerüste aus Kaffeesatz, aus rastriertem Hand-Geäder und krummen Temperamentsblättern trag' ich so wie die Esenbecksche rote Goldader und Stirn-Äquatorlinie ab, da nun die größte Favorita endlich fertig steht; und ich brauche weder (wer zwänge mich?) mehr zu weissagen noch zu lügen noch freizudenken, sondern kann so viel Religion haben, als wär' ich zwischen meinen vier Pfählen. – Mit welcher süß schauernden Brust werd' ich, halb von Morgen-Phantasien, halb von Abendwolken rotgefärbt, an Alitheens Hand, die ich heute in die weiche ihres Geliebten betten helfen, von diesem glimmenden rauschenden Vorgebürge der guten Hoffnung hinunterziehen ins geheiligte beruhigte Abendzimmer unter lauter Menschen ohne Falsch! – Noch dazu kann ich alles genießen, ohne daß ich im geringsten aufpassen oder abservieren und memorieren muß, weil dieser Appendix dann schon abgeschnappt und unfähig ist eines neuen Nachtrags von lebendigen Zügen. – Mit welcher reinerer Wonne, als ich heute fühlen konnte, werd' ich die fromme der befriedigten Alten teilen, deren schlaffen Mund jetzt nur das lächelnde Entzücken, nicht der Schlagfluß verzieht und die so spät im Leben Wohllaute der Jugend, wie Sterbende Musik, vernehmen! – Und mit welcher Stärke werd' ich, da die Menschen sonst füreinander nur die Echos ihrer Hiobsklagen sind, wie im Mausoleum der Cäcilia ein Widerhall als Repetierwerk der Trauerstimmen eingebauet war, unter so vielen groben und klaren, nahen und fernen Echos der Freudentöne selber eines vorstellen! – Und dann, wenn wir alle an der großen Eßtafel das sorgenvolle Herz ausgeschüttet und es wieder mit dem Labewein der Freude, der Liebe und der Tugend nachgefüllet haben, und wenn die zwei müden Alten und die abgehetzten Enkel eingeschlafen und die Handwerker stummer und träger geworden sind, mit welcher labenden Erweichung, die den schwülen Lebens-Jubel kühlt, werd' ich schon ganz spät, wenn die Silbersolution des Mondes in großen Silbertropfen von den regen Birkenblättern gleitet, und wenn die Ewigkeit die Leichenfackeln der Sterne um die schwarze Bahre der verhüllten Erde stellt, werd' ich so spät, sag' ich, mich von den weichen, tief gerührten Brautleuten auf den Gottesacker führen lassen, wo die keuchende Menschenbrust gleichsam unter den Zypressen der Insel KandiaDorthin brachten sonst die orientalischen Ärzte ihre Lungensüchtigen, weil die Zypressenwälder die Luft für die offizinell und heilsam machen. einen erleichterten Atem holt! – Und dann, wenn wir über die grünen Stoppeln des abgemähten Kirchhofs gehen, den die weißen Grenzsteine und die braunen Maulwurfshügel des Lebens zerstücken, über diese verschüttete Grubenzimmerung des stumm arbeitenden Todes und über diesen vollen zugedeckten untersten Schiffsraum der schwimmenden Erde, wenn alsdann das tropfende, vom Hügel niedergezogne Auge seine Träne fallen lässet, indem es aufwärts blickt unter seine Sterne hinein, und wenn uns dann der sanfte Ingenuin vor die zwei buntbestrichnen hölzernen, aber nun bleichern und morschen Schließquadrate der Lebensbücher seiner Schwestern bringt, und wenn er schon weint und seine Braut und ich, eh' er noch gesprochen hat, wie süß und leicht wird dann mein Herz zergehen! – Und wenn endlich der Bruder spricht und uns die Namen und die Reize der entflohenen Schwestern sagt und wenn der volle Puls der heutigen Freude das enge Menschenherz mit dem zugegossenen Blute nicht nur voll und schwer macht, sondern auch weich, und wenn zuletzt der überwundne Jüngling die warme Hand seiner nachweinenden Alithea wie einen Trost ergreift und sagt: »Nun bist du meine einzige Schwester....« Nein, sage das nicht, Ingenuin, ich hatte ebenso viele Schwestern wie du, und die Erde hat sie verhüllt, ich will sie nicht so spät heraufsteigen sehen aus dem toten Meere der Vergangenheit...

Ach warum soll sich denn der Mensch lieber nach der Vergangenheit als nach der Zukunft sehnen, da bloß ein Gott eine vergangne Ewigkeit hat und der Mensch nur eine künftige?....

Du bist hinuntergezogen, goldne Sonne, und hast die abblühende Rose unsers Abends mitgenommen und sie den erwachten Menschen der neuen Welt als die Rosenknospe eines frischen Morgens gegeben!....

– Wie? ich hätt' es nicht merken sollen, daß eine schwer atmende Brust hinter mir poche, die meine fliegenden Zeilen im Entstehen erhascht? – – Nein, nein, geliebte erste Leserin, nur sanft zusammenfahren über die Anrede sollst du jetzt vor so vielen Lesern, du beste, mit dem Monde hinter mir stehende und glänzende – Alithea!...

Ende der Geschichte


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