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Verhältnis zwischen Leib und Geist
»Wollen wir aber die Sache lieber an der Wurzel fassen; denn alle Einwendungen von Traum, Alter und Sterben aufgestellt, treiben doch zuletzt auf das Verhältnis der Seele zum Körper zurück und müssen von da aus betrachtet und erwogen werden. – Was ist der Leib? Der eigentliche Kernmensch, oder nur der Scheinmensch? Ist er das Gewächshaus, der Treibkasten der Seele oder das Gewächs selber, wovon uns außen nur die Rinde erscheint? – Oder bloß der hölzerne Bienenstock, worin die Psyche ihre Brut und ihren Honig macht und ohne den sie ebensogut im Freien fliegen und leben könnte? Ist er die Puppe oder Chrysalide im Winter des hiesigen Dasein, welche der Tod für die Psyche zersprengt für eine wärmere Jahrzeit?
Wenige wird es – sie müßten denn in der französischen Akademie der Wissenschaften zu Paris sitzen – noch mit dem veralteten abgelebten Irrtum geben, daß unser Geist, d. h. unser Vorstellen, Bewußtsein, Empfinden und Wollen nichts sei als die mécanique céleste unserer Körperteile ohne eine besondere Kraft, welche alles aufnimmt und zusammenhält. Dies wäre ein Planetensystem ohne Sonne, ein Widerschein ohne Licht. Spricht sich ein solcher Mechanikus des Unmechanischen aus: so muß er das Ich mit seiner Fülle zu einem Kinde der körperlichen Bewegung machen; aber er erkläre nur vor der Hand das Leben daraus, das doch tiefer steht. Das Leben des Wurms, ja der Pflanze beherrscht, verknüpfet und gestaltet die einzelnen Bestandteile aber diese machen das unteilbare Leben nicht, so wenig als [man] 1173 durch alle chemischen Bestandteile des Bluts außerhalb des Körpers etwas anders nachzumachen imstande ist als ein totes Scheinblut. Nur das Leben tut das Wunder der neuen Wieder-Schöpfung verlorner Glieder, sogar der Augen z. B. in den Schnecken, ein Kunstgebilde, das schon die Rechnungen des Optikers, und noch mehr die toten Nachbildungen des sehenden Menschen übersteigt. – Das Leben ist weder irgendein bestimmter Körperteil, noch in irgendeinem gefangen; es wohnt im Schleim, Fett, Blut und Muskel und Knochen; und der Brei des Aufgußtiers und der Schleim des Weichtiers, der Frost des Fisches und das Feuer des Vogels, das Gebirge des Walfisches und das Sonnenstäubchen der unsichtbaren Tierchen auf Tierchen, alles wird gleich bequem vom Leben bewohnt, so wie beherrscht und erhalten. – Säet in einen beetgroßen Treibkasten einen ganzen Garten aller unähnlichsten Blumen und Fruchtgewächse: das Leben gestaltet aus demselben Licht- und Wärmestoff, aus denselben Luft- und Erdarten, Düngesalzen und Feuchtigkeiten, aus dem Einerlei das üppige Mancherlei von Duft und Farbe und Blatt und Frucht.
Der Mechanikus des Geistigen kann also schon das niedriger gehende Leben nicht zum Abkömmling einzelner Teile, nicht einmal des Ganzen machen, das vielmehr dessen Sohn und Diener ist; wie will er nun mit dem Geiste, den er wenigstens für ein himmelhoch gesteigertes Leben ansehen muß, verfahren, um ihm einen unadeligen, d. h. körperlichen Stammbaum zu unterschieben?
Er muß, da er als vollständiger Materialist, nichts als den Leib zum Schauplatz und Schauspieler der ganzen Menschenrolle gebrauchen kann, gerade die körperliche Hälfte der Leibnizischen Hypothese von der prästabilierten Harmonie annehmen und unsern ganzen Lebenslauf in ein – von einem allmächtigen Uhrmacher aufgezognes – in siebzig bis achtzig Jahren abrollendes Empfind-, Vorstell- und Triebwerk setzen, dessen innere Räder (sobald man überhaupt Einwirken zuläßt) mit den großen Rädern der Weltuhr ineinander eingreifen. Das ganze Gehwerk der Vorstellungen wie das Schlagwerk des Redens wird freilich von etwas, welches man Bewußtsein nennt, unbegreiflich begleitet; aber dieses Etwas muß der Mechanikus ebensogut unter die 1174 körperlichen Räder rechnen, nur muß ers als Rädchen alle Räder begleiten oder durchlaufen lassen. Irgendein Eingreifen und Richten, Hemmen, Ordnen durch eine geistige Kraft, ausgenommen auf ein einziges Mal die göttliche oder irgendeine allmächtige, muß der Materialist-Mechanikus durchaus abweisen.
Eine so ungelenke unbeholfene einbeinige Prästabilier-Hypothese bringt den Mechanikus des Geistigen nicht weit, und er greift daher, daß sie zweifüßig besser stehe, zu einer Seele, die er als Perpendikel oder Unruhe mit dem körperlichen Räderwerk verknüpft. Dadurch gewinnt er sich ein bequemes hin- und herziehendes Schach oder eine Zwickmühle zwischen ungleichartigen Kräften; die körperliche bestimmt und nährt die geistige, die geistige ist sich ihrer und [der] andern bewußt und sieht vielen zu und ordnet in etwas.
Obgleich eine Vorstellung z. B. von einer Bewegung nicht einerlei sein kann mit einer Bewegung selber: so bleibt doch dem Mechanikus, da die Materie nur durch Bewegung tätig ist, nichts übrig als diese im Gehirn zum Erklären oder vielmehr Aufheben der geistigen Tätigkeit. Man wählt nun dazu Fibern – Spannungen – Gehirn-Eindrücke – Gehirnbilder – Wasserkügelchen – Elektrizität – Nervenäther und endlich Nervengeist oder Nervengeister – und aus allen diesen Materien (aus den Nervengeistern aber vorzüglich, deren Name schon Mitteltinten und Halbschatten von Geist vorspiegelt) – läßt sich gerade das rechte magische Helldunkel gewinnen, worin man als Gegenspieler der Taschenspieler, die in ihrem Zauberrauche Körper und Bilder die Geister spielen lassen, mit umgekehrter Magie Geister für Körper ausgeben kann.
Nicht einmal für die Empfindungen und die Vorstellungen – vom Bewußtsein und Wollen versteht es sich ohnehin – kann der Mechanikus im Gehirn etwas Begleitendes, geschweige Entsprechendes auftreiben; denn die sogenannten Eindrücke, Spuren, Bilder, Spannungen sind bloß als metaphorische Zustände in der Seele vorhanden, aber nicht als eigentliche in Gehirn und Nerven möglich. Das Gehirn ist ein Knäul von Nerven, die das Rückenmark aufeinandergewickelt hat; dieser dickste Nerve 1175 besteht wie jeder dünnste aus Eiweißstoff, fettiger Materie, wenigem Salz und vielem Wasser. Ein Nerve überhaupt ist geflochten aus Fäden, die Fäden sind gesponnen aus Fasern, die Fasern sind zusammengereiht aus Markkügelchen. Die nun aus Kügelchen geformte oder geballte Gehirnkugel besteht, ungleich der Erdkugel, wovon nur zwei Drittel Meer sind, aus vier Fünftel Wasser.Nach Vauquelin, Fourcroy. Ja Gall fand in Wasserköpfen oft vier Pfund Wasser (also fast so viel Gewicht als Gehirn) gehäuft ohne Nachteil der geistigen Kräfte, durch deren Frühzeitigkeit vielmehr jenes sich entwickelt. Wie sind nun diesen Wasser- und Markkügelchen Spannungen, oder Eindrücke, oder Bilder aufzunötigen, nur wenn von bloßen äußern Einwirkungen der Sinnenwelt die Rede ist, geschweige von den innern unzähligen der Seelenwelt? Müßten nicht die Eindrücke des nämlichen Sinnes im Gehirne auf das Ende seines Nerven oder seines Nervenpaars erdrückend und verschlichtend aufeinanderfallen? Welche Feuchtigkeit oder Körperlichkeit überhaupt könnte die ins Unübersehliche reichende abgeteilte Fülle der Empfind- und der Vorstellwelt fassen und beherbergen? – Zwischen dem kleinen Gehirn, das den beiden Welten dienen soll, und dem Rückenmark, das es nicht tut, und den Nervenknoten, die Gehirnchen vorstellen, findet die Zergliederung keine Unterschiede. Noch mehr wird durch die Beobachtung Sömmerings entschieden, daß das Gehirn eines dreijährigen Menschen schon so groß ist wie das eines erwachsenen, der vieljährigen Schatz-Anhäufung gar nicht zu gedenken am Gehirn, da man doch sonst nach dessen Größe Verstandes-Größe schätzen will, obgleich die Maus und der Spatz nach Verhältnis ein größeres haben als wir und der Elefant ein kleineres als beide. – In den Gehirnen vollends der verschiednen Geister-Menschen ist auch nicht das Kleinste, was die so große Verschiedenheit wie die zwischen Wilden, Künstler, Mathematiker, Philosophen, Krieg- und Tatenmenschen und Gedächtnishelden auch nur durch Perlschrift, geschweige durch erhabene oder vertiefte Buchstaben ansagte. – Warum zeigt sich die Verdopplung der Gehirnglieder nicht als eine der Empfind- und Gedächtnisbilder, 1176 sondern gibt als Doppelklavier nur Einfachheit der Töne? – Sowenig es auf der einen Seite Verdoppelung gibt, so wenig nimmt auf der andern die Verkleinerung, indes eine unschädliche von mehren Loten bei dem geringen Gehirngewicht und besonders bei dem durchgängigen Ineinanderlaufen und -greifen der ganzen Kugel und bei der Zartheit der wechselseitigen Beziehungen sich durchaus als beraubend erweisen und ganze Gedächtnisfelder verheeren müßte. Alle Gefühle und Leidenschaften arbeiten – schon nach Plato und nach den besten Physiologen – ausschließlich im Herzen, die Liebe, die Freude, die Trauer u. s. w.; indes oben das Gehirn selber nichts von ihnen spürt, so wie wiederum das Herz keinen körperlichen Anteil an den Anstrengungen des Denkens und Empfindens, welche im Gehirne vorgehen, verrät; denn z. B. den Herzkranken schadet die kleinste Gemütbewegung, aber nicht die tiefste Geistanstrengung. Warum läßt man nun nicht ebensogut allen Gefühlen besondere Körperspuren im Herzen entsprechen wie den Gedanken im Kopfe und setzt leibhafte Anlagen und Ein- und Nachdrücke von Rührung, Melancholie, Weichheit in den vier Herzkammern voraus? Warum [macht] man, noch toller, nicht das Rückenmark als Vater des Gehirns, so gut wie dieses zum Denkwerkzeug?
Noch etwas, und zwar etwas recht Gefügiges, ein körperlicher Proteus, der sich dem geistigen nachverwandelt, bleibt übrig, der Nervensaft, den man immer feiner destillierte bis zu Nervengeist und Nervenäther hinauf. Aber eigentlich könnte man es besser umkehren; die rohere dickere Feuchtigkeit trüge leichter den Nachen der Empfindungen zum Geiste als der dünnere Weingeist. Prägt doch einmal einem elektrischen Strome oder Bächelchen den Schatz der vieljährigen Gedächtnisbilder ein, damit er sie jahrelang festhalte, oder lenkt und zerfällt ihn für die tausend kleinen Fingersprünge eines Klavierspielers oder teilt diese Wasser- oder Ätherkügelchen rollend an die fortlaufenden geistigen Bewegungen aus, an die Phantasiebilder, an die Begriffe u. s. w. – – Wahrlich reiner Körper allein, oder reiner Geist sind mir hellere lichtere Rätsel als beider Verbindung zur Auflösung des Rätsels.«
»Auch ich«, versetzte Alex, »denke dabei so wenig, als hätt' ich 1177 Tonsur und stände an heiliger Stätte. Aber dies muß man der Sache doch lassen, daß man einen Nerven unterbinden kann und dadurch wirklich den Strom der Empfindungen hinaufwärts, so wie den Strom der Woll- und Bewegeinwirkungen herabwärts abzuschneiden vermag. Hier sind offenbar Röhren, Brunnenröhren, Geistwasserleitungen.«
»Ich kann Ihnen sogar«, sagt' ich, »dieses Röhrenwerk noch verhundertfachen: Ein starker Druck auf das Gehirn, das Einschneidungen bis zu einer gewissen Tiefe ohne Schmerzen und löffelweise Herausschöpfungen ohne Ohnmacht erträgt, versenkt es in Unempfindlichkeit und Schlaf. Da nun das Gehirn nichts ist als ein ineinandergewundnes Nervenbündel: so wäre das Einschläfern durch ein Niederquetschen und Verschließen der Nervengeistes-Leitröhren zu erklären. Freilich hätte diese Erklärung einen starken Einwurf gegen sich, daß nämlich die Verzweigung (Anastomose) der Nerven ineinander so gut als die ähnliche der Adern dem Fließen immer Nebenwege offen halte und das Blut z. B. bei stundenlangem Liegen oder Sitzen, folglich Zusammenquetschen der Adern doch freie Seitenadern findet. So viel ist gewiß, daß Niederdrücken und Unterbinden durch die Empfind-Unterbrechungen, die sie machen, die Hypothese einer elektrischen Flüssigkeit, die in den Nerven die Wunder der Erscheinung verrichte, völlig aufheben, da diese Flüssigkeit wenigstens den bloßen verengernden Niederdruck durchbrechen würde. Dabei laufen alle Nerven so vielfach und unaufhörlich ineinander und auseinander, daß eine elektrische Flüssigkeit, wirke sie nun stehend oder angeregt, gleich dem Blitze in keinem geraden Wege zu einer Wirkung bleiben könnte und z. B. der Wille, der durch sie den kleinen Finger bewegen wollte, statt desselben ebensogut Hals, Haut, Schulter anregen müßte, da die Nerven dieser und noch mehrer Teile sich auf dem Arme durchkreuzen. Ja der sogenannte Nervengeist besitzt nicht einmal die gewöhnliche Kraft des elektrischen Funkens, welcher durch Hin- und Herschlagen seine Gewalt nicht einbüßt, indes der Nervengeist sich durch sein Zuströmen erschöpft.«
»Und warum hat man denn« – fiel jetzo Karlson ein – »nur für 1178 Vorstellen und Empfinden im Gehirne begleitende Körperspuren nachgewiesen, d. h. nachzuweisen gesucht? Warum nicht auch für das herausarbeitende Reich des Willens, für die Tugenden, für die Laster, für die ästhetischen Freuden und Leiden, und für die Gefühle und Bestrebungen, welche den Geist jahrelang durchrauschen, leibliches Ufer und Beet gefunden? – Aber ich habe nie gehört, daß man etwa wie zwischen den Gehirnen der Wahnsinnigen und der Weisen, so zwischen den[en] der Bösewichter und der guten Menschen Unterschiede gesucht und angenommen. So bliebe denn gerade der halbe Geist oder das ganze Herz ohne körperliche Bezifferung seiner Grundtöne.« –
»Nun wären wir denn«, sagte Alex lachend, »weit genug. Bewiesen ist – und zwar hinlänglich – daß Gehirn und Nerven, ohnehin als unanmeßbare (inkommensurable) Größen zu jeder Gleichung mit den geistigen Tätigkeiten unfähig, die Unzähligkeit dieser Tätigkeiten nie aufnehmen und nachspiegeln können; inzwischen erkennt und erduldet man doch jede Verbindung zwischen Seele und Leib; worin besteht sie denn nun? Wie verknüpfen sich Außenwelt und Sinnwerkzeuge zur Einwirkung aufs Ich?« –
»Ich antworte so: was ist denn eigentlich die Materie, die wir stets dem Geiste entgegensetzen? Sie ist eine Erscheinung, die wir nur durch unsere Sinnen kennen und durch die wir also nicht umgekehrt unsere Sinne kennenlernen können. Nur eine Kraft ist uns unmittelbar bekannt, unsere geistige. Bei der Materie müssen wir die Kräfte voraussetzen, ohne welche sie nicht existieren und nicht wirken könnte, die aber in keiner Zusammensetzung oder Erscheinung ihren Aufenthalt haben können, sondern in ihren wahren und letzten Bestandteilen. Uns ist nur eine Kraft und zwar unmittelbar bekannt, unsere eigne, die denkt und will und tut; denn unsere Sinne können uns wohl Bewegung, Widerstand, Anziehung, Schwere (die letzte ist nach einer unveränderlichen Richtung) und Undurchdringlichkeit erscheinen lassen, aber alle diese sinnlichen Erscheinungen einer Gesamtheit sprechen uns weder Kräfte der Bestandteile aus, noch überhaupt die Kraft. Gelangen wir nun zu dem Innern der Materie: so ist ihr Schein aufgelöst, in einen Kräfteverein; und da wir uns 1179 schlechterdings nichts Absolut-Totes denken können, und eine tote Kraft (nicht eine gehemmte) so viel ist als ein totes Leben und wir nur die geistige Kraft kennen: so wird uns die scheinbare Körperwelt zu einer lebendigen Unterseelenwelt, zu einem (Leibnizianischen) Monadensystem. Kurz alles ist Geist, nur verschiedner. Nur darin ist nicht der ganze Leibniz lebendig zitiert, daß er einer Seele oder Monade in seiner vorherbestimmten Harmonie die ganze Welt und Geschichte aus ihrem angebornen Knäul abwinden und zusammenweben läßt, ohne den kleinsten angesponnen[en] Faden von außen; denn in der Wahrheit greift und drängt das ungeheure Seelenmeer wirkend ineinander, obwohl mit verschiedener Richtung und Einschränkung.
Der eigentliche Leib der Seele ist der Nervenbaum, dessen Krone wie die der Palme, das Gehirn, das Köstlichste des Gewächses enthält und der zu ihr von dem unten gegliederten Rückgrat (dem Pferdeschweif) als Rückenmarkstamm mit seinen Nervenzweigen aufsteigt. Der übrige Körper ist nur Borke, Treibkasten und Moos dieses wahrhaften Baums des Lebens und der Erkenntnis, welchen die Seele, die Hamadryade desselben, bewohnt wie der spiritus rector die Pflanze in allen Teilen. Die Nerven machen den eigentlichen innern Menschen aus, der gleichsam als Verwandter und Vermittler dem Ich am nächsten steht und ihm die fremde Außenwelt offenbart und darstellt und bekannt macht. Wie auf der einen Seite der Nervenorganismus noch tief unter dem Ich, so steht wieder tief unter jenem die äußere Welt, auch die organisierte, insofern sie keinen Teil seines Organismus ausmacht: so ist wieder jener dem Ich der Seele genug verwandt und genähert, um diese bei ihm einzuführen.
Der Organismus oder das Leben unterscheidet sich vom Unorganischen oder Toten am stärksten dadurch, daß er oder das Leben lauter ungleichartige Stoffe unter ein Gesetz und eine Form zusammenzwingt, welchem Gesetze wieder alle neuen gehorchen müssen, indes das Unorganische in großen Massen aus gleichartigen Teilen, z. B. Luft, Erde, Wasser, Elektrizität, Metalle, Gestein, die Erde füllt. Daher bleibt das Unorganische nach allen Trennungen und Teilungen unbeschädigt und unzerstört 1180 und als ein Klein-, wenn auch Schein-Ganzes zurück. Daher eilet das durch Fäulnis befreite und losgebundne Organische wieder seinen Gesamtverwandten zu, zum Wasser, zur Luft, zur Erde u. s. w. Das Formlose der Wärme, des Lichts und kurz der Massen wird vom Leben in Formen umgearbeitet und befestigt. Das Organische nun, das sich als Sinnwerkzeug gegen die Außenwelt kehrt, wird von ihr bloß durch Flüssigkeiten unmittelbar berührt, das Auge vom Licht, das Ohr von der Luft, der Riechnerve von Gasen, der Geschmack vom Wasser und den Auflösungen darin, das Gefühl von der Wärmmaterie; nur das Getast als der Sinn des Allernächsten macht eine, vielleicht doch zu erklärende Ausnahme. Denn es hat das Sonderbare wie der Geschmack, daß es nicht ohne allen Zeitzwischenraum die Empfindung zubringt, als ob es erst wie jener durch tiefere Feuchtigkeiten wirke.
Nun ist der ganze Kunstbau der Sinnennerven bloß dem Außen als dem Fremden und Feindlichen zugekehrt bis sogar auf die Zungen- und Gefühlwärzchen herab. Hingegen nach innen zu laufen die Seh-, die Hörnerven u. s. w. aus ihren Kunstgrotten als unscheinbare Fäden des Weltlabyrinths und einander an Farbe und Stoff ähnlich ins Gehirn hinein und manche zerfasern sich in unsichtbare Enden. Und doch spiegeln nur diese dünnen Brei-Enden und Fäden im Brei-Gehirne dem Geiste die Raffaels-Gemälde, die Mozarts-Tonstücke, kurz das Sinnen-All oder die äußere Schöpfung vor. Denn daß der Geist nicht etwan auf der Augennetzhaut niste oder auf dem Tapeziernerven des noch künstlicher als das Auge gebauten Ohres klebe und die Hörwelt erlausche, erweist sich dadurch leicht, daß er ebenso gewiß blind und taub wird, wenn bloß die Enden der Augen- und Ohrennerven gequetscht und verletzet werden, als wenn die Kunstanfänge derselben in diesen Fall kommen. Überhaupt nur gegen außen herrschet die Verschiedenheit; im Innern des Menschen ist alles Eintracht und Einfachheit; Gehirn und Rückenmark und Nerven leisten ohne besondere Uniform die verschiednen Dienste bei der Seele, welche bald phantasiert, abstrahiert, Leidenschaften hat und die Muskeln anstrengt. So gibts nirgend so viele 1181 freundschaftliche Vikariate in der Not als im Körper, und fast alles ist darin Verzweigung, nicht bloß das Adersystem; der Schlag der Arterien ersetzt den Schlag des Herzens, ein Lungenflügel verwaltet das Amt des verwesten Flügels, die Hohlader vertritt die rechte Herzkammer, die Aorte die linke; und vollends die Absondergefäße und Drüsenz. B. Milchgefäße. sind in Krankheiten füreinander Geschäftträger und Stellvertreter.
Wenn die äußere Welt als die niedere Seelenwelt durch die Nervenwelt als durch eine höhere Seelenwelt unserem Ich assimiliert und gegeben wird: so fallen die Fragen, als ob Bewegungen, Eindrücke, Körperspuren dem innern und äußern All des Ich entsprechen müßten, von selber weg. Die Schwierigkeit des Einwirkens, die ohnehin in allen Systemen wenigstens das Einwirken der Seele auf die Muskeln begleitet, verringert sich durch das Verhältnis des Gleichartigen zu dem Gleichartigen wenigstens zum Teil; aber ist überhaupt Wirken, sogar das des Ich auf sich selber nicht unerklärlich? Und ist das Erzeugen der Empfindungen durch äußere geistige Seelenkräfte denn unfaßlicher als das Erzeugen der Gedanken durch die innern? Wie wirken denn Gedanken aufeinander und einer erschafft und verstärkt den andern? Sogar die fremde Seele des Magnetiseurs drängt ihre Gedanken zuletzt ohne die frühern grobsinnlichen Umwege in die Seele der Hellseherin, und ohne lange Mittelreihen; obgleich im gemeinen und gesunden Leben Seelen einander die abgekürzten Zugänge verschließen.
Wenn, wie schon bewiesen, keine Bewegungen, Eindrücke, überhaupt Körperspuren dem innern All des Ich im äußern des Gehirns entsprechen können; wenn überhaupt kein mechanischer Weg das Sehen, Hören u. s. w. möglich machtIm Museum die Poren bei der Durchsicht.: so wirkt die Unterseelenwelt des Organismus auf die Oberseele oder Regentmonade bloß nach geistigen Gesetzen ein und vermittelt das Unorganische. Denn nirgend ist so viel Platz – nämlich unermeßlicher –, so viel Mannigfaltigkeit, so viel Verträglichkeit des Widerspenstigen und Unbegriffenes als im Ich. Das Körperliche 1182 als solches oder das Unorganische zeigt sich als das Widerspiel; das Goldstäubchen z. B. behält ewig dieselbe Schwere und Dichtigkeit, ohne Wechsel innerer Zustände und ist keiner Übung fähig. Nur das Organische und der Geist können sich ab- und angewöhnen und sich üben. Der Geist wirkt abgesetzt, der Leib unausgesetzt.
Herbart und andere lassen dem Ich keine Verschiedenheit der Seelenvermögen zu; aber ist bei einem einfachen Wesen oder einer Kraft denn Verschiedenheit der Zustände gedenklicher? Oder auch bei verschiedenen Wesen Unterschiede ihrer Kräfte selber? Und wohnet nicht in der Einfachheit des höchsten Wesens die ganze Unermeßlichkeit aller Kräfte und Zeiten, wogegen das All zur Endlichkeit einschwindet?
Nur im Ich wohnt Entgegengesetztes, neben der Einheit und Verknüpfung, indes das Äußere nur erst in ihm den Schein derselben annimmt, und zweitens die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit, die es außen anschaut und innen selber besitzt. Wir machen aber von dem Länderreichtum des Ich viel zu kleine oder enge Messungen, wenn wir das ungeheure Reich des Unbewußten, dieses wahre innere Afrika, auslassen. Von der weiten vollen Weltkugel des Gedächtnisses drehen sich dem Geiste in jeder Sekunde immer nur einige erleuchtete Bergspitzen vor und die ganze übrige Welt bleibt in ihrem Schatten liegen; und ein Gelehrter wie Böttiger brauchte vielleicht Jahre, wenn seine aufgehäuften Sach- und Sprachschätze, nur in jeder Sekunde ein fremdes Wort oder eine Tatsache oder eine Idee vor ihm vorüberziehen oder fliegen sollte – Aber unser geistige Mond, der uns nur in schmalen Sicheln erleuchtet aufgeht, hat noch wie der himmlische eine Welthälfte, die er unserem Bewußtsein gar nicht zuwendet, die Regiergeschäfte der Muskeln durch die Nerven.
Will man mir die unwillkürlichen, folglich unaufhörlichen und desto unabänderlichern Bewegungen, wie die des Herzens u. s. w., nicht als Werke des Geistes gelten lassen, wofür sie der tiefe Stahl in seiner Hypothese nimmt: so bleiben mir doch bei Menschen, bei Tieren sogar die Tausende Gang-, Sprung-, Wurfbewegungen, die Flügelschläge und Fingersetzungen übrig, welche die ersten 1183 Male mit Willen, Bewußtsein und Berechnung gelernt und vollführt wurden, später aber ohne mithelfenden Geist zu geschehen den Anschein haben, was eben unmöglich ist; denn das Körperliche an sich erlernt und behält nichts, noch abgezogen, daß jede berechnete Bewegung, sogar die Sprungweite in jedem einzelnen Falle neues Rechnen sogar vom Tiere verlangt.
Noch zwei wichtige Erscheinungen stellen sich im Reiche des Geistes auf, um uns zu zeigen, daß wir seine Schätze und seine Fundgruben nicht nach dem, was auf der Oberfläche des Bewußtseins bloßliegt, sondern nach dem zu schätzen haben, was in der Tiefe der Unsichtbarkeit ruht. Unsere geistigen Wurzeln laufen viel weiter, breiter und länger aus als unsere Zweige. Ich gebe nur ein Beispiel. Die feinsten und neusten Bemerkungen über Menschen und Welt werden ohne allen Beweis ausgesprochen; und doch findet sie der Leser richtig und folglich bewiesen; mithin muß der Beweis schon in ihm voraus fertig gelegen haben, also die ganze dunkle Reihe der Erfahrungen; so ists auch mit unsern eignen Bemerkungen, ein einziger Fall reicht uns eine, welche ohne unser Wissen 1000 vorige Fälle umfaßt. So wird oft ein ganzes schweigendes Leben von dem Wunderworte eines Dichters ausgesprochen, und nun spricht es selber fort. – So fühlt man die Unhaltbarkeit mancher Behauptungen lebendig und man weiß entschieden, sie fielen zusammen, wenn man sie nur ein wenig antastete; aber man läßt es dabei und so braucht man nicht immer zu prüfen, um zu widerlegen. –
Ich komme nun auf ein Rätsel, das die meisten für kein großes halten und doch elend lösen und das uns selber andere Rätsel aufschließen kann, ich meine den Instinkt. Die gemeine Entzifferung desselben – die nicht einmal eine musikalische Bezifferung ist – läßt ihn in einem künstlichen Gliederbau für gewisse Lebens-Kunstwerke bestehen, welcher die Tierseele zur Ausführung derselben durch ein Bedürfnis reizt, anregt und bestimmt. So treibt nach Darwin z. B. die Hitze der Brust die Vögel zum Sitzen über den Eiern, der Kühlung wegen, und die Milchfülle der Brust das Säugtier zum Säugen. Aber was kann denn eigentlich für den Instinkt anders im Körper vorbereitet sein als 1184 Arbeitstoff und Arbeitzeug, z. B. in der Spinne die Fadenmaterie und die Spinnwarzen samt den Spinnfüßen? Wo ist aber damit nur im geringsten die geometrische Kunst der konzentrischen Vielecke und Zirkel gegeben, und sind die Spinnmaschinen Webstühle, die ohne eine geistige abmessende Weberin die Vergrößerung der Umkreise, die Abänderungen nach den Orten des Gewebes und die Verbesserung nach den Zeiten ausführen? Ein Handwerkzeug ist noch kein Handwerker, Sprachwerkzeuge geben noch keine Sprache. –
Nirgends weder für die Wehr-, noch für die Nähr- und Fangkünste legte die liebende Allmutter so zusammengesetzte Instinkt-Getriebe an als in den kleinen Müttern für die Brut-Erhaltung; und gerade die winzigsten und die unscheinbarsten Tiere, die Insekten, sind die größten bildenden Künstler gegen die höhern und großen Tiere mit wenigen Jungen. Der größte Teil des Schmetterling- und Käferreichs fliegt über sich hinauf, verrichtet eine Wundertat des Instinkt-Testaments und sinkt dann untergehend zu Boden. Wenn nun ein Darwin und andere wieder wie bei Vögeln mit Drang und Reiz der Eier und Brut das Elterliche motivieren wollen: so ziehen gerade fünf Insektenvölker gegen sie aus, die Bienen, Wespen, Hummeln, die Ameisen und die Termiten, und bekriegen sie. Nämlich nicht die Eltern pflegen die junge Nachkommenschaft, sondern bloß die geschlecht- und kinderlosen Bienen und Ameisen. Weiset mir nun in den Nerven, Gefäßen, Muskeln der Arbeitameisen irgendeinen andern Unterschied als den des mangelnden Geschlechts nach, welcher ihre nach Zeit und Ort und Mühe so zusammengesetzten und abwechselnden Arbeiten erklärte, ihr Bauen, ihr Sonnen der Puppen, ihr Enthülsen oder ihre Hebammendienste bei ihnen, das Füttern der Neugebornen bis zu ihrem Davonfluge! Eben dies gilt von den Pflege- und Baukünsten der geschlechtlosen oder Arbeitbienen, welche mit bloßer platonischer Liebe der Königin heiß anhängen und (falls sie selber Weibchen sind) so unbelohnt die trägen Drohnen füttern und die für eine ferne Zukunft einer ihnen folglich noch ganz unbekannten Brut, die mit keinen Sinnenreizen besticht, Wiegen, Wiegendecken, Brot und Honig 1185 bereiten und ihre kurzen Flugtage des Lebens opfern. – Ich führe flüchtig nur noch das Nächste an, daß z. B. bei den Vögeln das Männchen frei ohne Brut- und Eierdrang, ebenso in der lustigsten Zeit sich selber zum unermüdeten Baugefangnen verdammt und der Bau- und Bettmeisterin des Nestes treu die Handdienste leistet. Noch mehr ists, daß der rege, kräftige, singende Mann ohne Selbbedürfnis und in der wärmsten schönsten Zeit (ganz beschwerlicher als die Männer gewisser Völker) das Kindbett hütet. Und endlich sehe man den Schwalben nach, welche, ungeachtet sie schon ein Troglodyten-Loch zur Wohnung haben, noch früher als das Bette vor der Wiege die Kinderstube machen, und zwar so lange vor aller Ahnung einer Nachkommenschaft und mit einer so seltsamen Abweichung von jeder Vogelweise. Ein langsames bissenweises Zusammenschleppen eines schmutzigen, mehr den Sumpfvögeln gewohnten Elements – ein freies Halbrundformen von zwei Schnäbeln zugleich, dem nicht wie bei den einfachern Zellen der Bienen die Nachbarschaft den Bauriß aufdringt – und sogar die schmale, nicht zu große Öffnung, die zu schätzen ist; dieses Logen-Arbeiten an den Mauern ist eine höhere, aber geheimnisvollere als die der Freimäuerer hinter den Mauern.
Ich will mich aber nicht einmal mit meinen Fragen bei diesen leichtern Fällen aufhalten – noch überhaupt bei dem ganzen ausgebreiteten Vorrate der übrigen tierischen Kunstfertigkeiten, sondern ich will nur fragen, wo sind in den Nerven, Gefäßen, Muskeln, kurz im ganzen Körperbau organische Zwanganstalten und Kunstbestecke aufzuweisen, wodurch nur ein Vogel sich vom andern so unterschiede wie sein Nest, oder gar Bienen und Ameisen sich wie ihre dreifache Lebensweise? Und die Superlative des Instinkts erscheinen gerade bei den kleinsten und vergänglichsten Tieren, den Insekten, die nicht einmal Herz und Blut und Umlauf und statt eines Nervensystems bloß zwei dicke Fäden mit Knötchen und statt eines Gehirns bloß zwei Knoten besitzen, zu welchen die Fäden sich knüpfen. Wo aber nun soll denn der Instinkt doch sitzen und lenken? Da er in der Vielheit vergeblich gesucht wird, so bleibt nur die Einheit übrig, kurz die 1186 Tierseele, welche man bisher bloß als die leidende Zuschauerin und als die mitgetriebne Maschine der treibenden Maschine gelten ließ. Auf welche Weise freilich der Ur-Mechanikus das ganze Räderwerk einer Zukunft in einer geistigen Kraft aufgestellt und aufgezogen zu einem bis im Kleinen unabänderlichen Ablauf: dies ist bloß eine Unbegreiflichkeit, die im Geiste ohnehin schon ihresgleichen mehr als einmal hat. Aber [keine] größere [als] die der langen Reihe einer handelnden Zukunft, gleichsam als ob eine Seele sie nicht faßte; denn Himmel! welch ein All von Anlagen, Gesetzen, Trieben und Ideen beherbergt nicht ein Geist! Und kann er in seine Einfachheit eine weite vergangne Welt aufnehmen, warum nicht ebensogut in sich eine kommende bereithalten und bewahren, welche er gebiert? – Aber eine andere Unbegreiflichkeit oder eine Nacht bleibt es für uns – die wir ohnehin nur zwischen Nächten und Dämmerungen wechseln –, wie einer geistigen Kraft oder Seele eine unabänderliche Vorstellreihe, die sich an Zeit und Ort entwickelt, einzuschaffen und einzupflanzen sei. Aber ist nicht die Gedanken schaffende Seele überhaupt eine Sonne, zu deren Boden wir durch das Lichtgewölk, das über ihr liegt, nicht hinuntersehen können? Wir können, da wir in der Werkstätte selber arbeiten, ja nur aus ihr, nicht in sie schauen. Ganz irrig legen wir den groben dicken Maßstab der Körperwelt, in der nie ein Schaffen, sondern nur ein Nacheinanderfolgen und Mischen des Alten erscheint, an die Seelenwelt an, worin im eigentlichen Sinne geschaffen wird, mithin Neues gemacht, so schnell es auch als Wille und als Gedanke hervor- und vorüberfliege. Noch niemand, selber kein Herbart hat den unbegreiflichen Bund zwischen dem unaussetzenden Entstehen und Emporspringen der Vorstellungen und ihrer Abhängigkeit von einem Wollen, [das] ihnen [bei ihrer] Geburt eine zweckmäßige Aufeinanderfolge aufzwang, ohne Gewalttätigkeit vermitteln können; denn ohne jenen Bund könnte niemand sich vornehmen, nachzusinnen und zu ersinnen. Aber am stärksten tritt das Wunder in Künstlern und unter diesen in Tonkünstlern hervor. Ein Mozart kann wohl die Harmonie und ihre Erweiterung, die Instrumentalbegleitung, aus- und 1187 errechnen, da sie als ein Zugleich kann gemessen und verglichen werden; aber die Melodie als ein vielseitiges, freies Nach- und Auseinander steigt in neuen, fremden Gestalten aus den Tiefen der Empfindungen empor und wieder in die der unsrigen hinunter und weckt, was schwieg. Mozart, unbekannt mit großen Begebenheiten, großen Dichtern und mit dem ganzen ausgedehnten Abgrunde großer Leidenschaften, kurz dieses Kind an Verstand hört bloß sein Inneres an – und hört darin die Zauberflöte. Und das Erhabene und das Rührende und das Leidenschaftliche, kurz jedes Tonwort ist wahrhaft aus tausend Seelen gesprochen. So empfängt denn der Tonkünstler im weit stärkern Sinne Eingebungen als der mehr besonnen schaffende Dichter.
Genug, uns ist neben der Körperwelt noch die wunderbare Seelenwelt aufgetan, über deren Tiefe freilich unser Wurfblei nur schwimmend hangt und nicht fest greift, weil lauter Unbegreiflichkeiten Vorordner und Vorgeordnete sind, empfangne und gebärende Fülle, und Schaffen nach Endabsichten (was irgendwo nach dem längsten Verschieben doch einmal eintreten muß) in der geistigen einfachen Kraft zusammenkommen, von den Instinkttaten an bis zu den menschlichen Ideenschöpfungen. – Man kann mir einen wichtigen Einwurf zu machen glauben und sagen, es gebe ja außer Leib und Seele noch ein Drittes, und dies tue noch größere Wunder als beide, die Lebenskraft; denn das Lehrgebäude, das Tongebäude, das Schwalbenhaus sei leichter gebaut als ein ausgeschnittenes Schneckenauge, oder vielmehr das ursprüngliche selber und jedes Glied; denn was seien alle tierische und menschliche Wunderwerke gegen einen organischen Körper, ein Labyrinth voll Labyrinthe von sich bekämpfenden und sich helfenden Kräften, ein All voll tierischer Bewegungen, wogegen die himmlischen der Weltkörper nur eine leichte Rechenaufgabe sind, eine bis über das Kleinste hinaus durchgearbeitete Repetier- und Sekundenuhr, die sich selber aufzieht und ihre ausgebrochnen Räderzähne selber einsetzt; und wer schaffe und erhalte diesen Körper als das Leben? – Aber der Einwurf ist selber eine schöne Erweiterung meiner Sätze. Denn kann dieses Leben oder Beleben eine einzige allgemeine unteilbare Kraft sein, die 1188 wie Anziehung oder Wärme alle Wesen durchzieht und sich auf eine unbegreifliche Weise einschränkt und individualisiert, und zerspaltet in die verschiedenen Tierleiber, wie man sonst den Gott Spinozas darstellte, die zu gleicher Zeit hier den Polypen wiedererzeugte – dort eine abgesprengte Krebsschere oder einen Salamanderschenkel oder das Fleisch einer Wunde? Doch wozu bestimmte Wiedererzeugung, da es ja die Zeugung und Erhaltung aller Leiber besorgt? – Kann dieselbe unteilbare Kraft zu gleicher Zeit in den verfliegenden Aufgußtieren als kunstlos und in den langlebenden Menschenleibern kunstreich gestaltend erscheinen?
Nähme man jedes Leben als ein drittes Wesen zwischen Leib und Seele an: so bekäme man einen Wolkenschwarm neuer Wesen, für welche kein Himmel und kein Orkus, ja gar kein Gedanke zu finden wäre.Wolfart S. 123. – Aber wem sollen wir nun die organisch bauende und erhaltende Lebenskraft, deren unfaßliche Wunder doch offenbar täglich vor uns und in uns fortdauernd vorgehen, zuschreiben und einverleiben? Offenbar keinem Kreuzen und Wirbeln und Strudeln von elektrischen, galvanischen oder andern unorganischen Kräften, welche ja den ganzen organischen Kunstbau voraussetzen müßten, um ihn zu benützen und zu beleben; ebensowenig den an sich unorganischen Teilen des Leibes, welche eben die Lebenskraft zu einem organischen Ganzen bändigt und ausgleicht und befreundet. Also bleibt nichts übrig für den Aufenthalt und Thron der Lebenskraft als das große Reich des Unbewußten in der Seele selber. Denn daß nur niemand, wie Haller, den für unser Bewußtsein kaum zu fassenden Verstand in dem Kunstgebäude und den Kunstarbeiten des Körpers für unverträglich mit der Seele halte, da er ja denselben Verstand mit allen seinen Wunderwerken doch einem unbekannten blinden bewußtlosen Dinge, Leben genannt, zuschreiben muß, wenn er nicht zur Gottheit hinaufspringen und droben an die Gottheit alle Fäden zu allen augenblicklichen Bewegungen der Tierwelt befestigen will.«
1189 Ich endigte das Herausheben dessen, was die gegenwärtigen Fragen unsers Geistes am meisten berührte und beantwortet; denn über das Leben selber, über sein Hinablaufen in das dunkle Pflanzenreich unter der Erde und über sein Zerspringen in Aufgußtierchen, am meisten aber über das Wunder, womit es sich selber anfängt und über das, womit es sich verdoppelt, war die Untersuchung anderswo und länger anzustellen. Aber mit Anteil sahen die meisten das Reich des Unbewußten von mir aufgeschlossen. Der Rittmeister sagte: es hab' ihn oft bei einer Menge Menschen ordentlich gequält, ja geekelt, daß er bestimmt alle ihre Ansichten und Kenntnisse anzugeben und die Zweige und Wurzeln ihres Herzens bis auf das kleinste Fäserchen zu verfolgen wußte und dann darüber hinaus nichts weiter fand. »Man sieht«, fuhr er fort, »bei gewissen Menschen sogleich über die ganze angebaute Seele hinüber bis an die Grenze der aufgedeckten Leerheit oder Dürftigkeit. Ja oft könnt' ich aus ähnlichen Gefühlen mich selber nicht recht ertragen, wenn mich nicht die lange Perspektive eines unabsehlichen Verbesserns tröstete. Aber Ihr Reich des Unbewußten, zugleich ein Reich des Unergründlichen und Unermeßlichen, das jeder Menschengeist besitzt und regiert, macht den Dürftigen reich und rückt ihm die Grenzen ins Unsichtbare.« – – »Und mir«, versetzte Alex, »kann das Reich des Unbewußten auch nichts schaden, wenn ich in manchen Stunden widerlicher Bescheidenheit mich aufrichten kann, daß ich ein ganzes geistiges Warenlager gleichsam unsichtbar auf dem Rücken trage, das ich am Ende wohl auch einmal vorwärts herumdrehen kann auf den Bauch.«
»Und ernsthaft, warum nicht?« sagt' ich. »Bis zum Unendlichen hinauf, der nichts ist als lauter Besonnenheit und dem nichts verborgen sein kann[Gäb' es ein absolut Verborgnes: so wäre dies der Herr des All.], nicht einmal er sich selber, steigert sich auf unzählichen Stufen das Bewußtsein so schnell, daß dem Weisen ganze dem Wilden tief verschattete Gründe und Abgründe des Innern erleuchtet daliegen.«
»Ach,« sagte Selina, »ist es nicht ein tröstlicher Gedanke, dieser verdeckte Reichtum in unserer Seele? Können wir nicht 1190 hoffen, daß wir unbewußt Gott vielleicht inniger lieben als wir wissen und daß ein stiller Instinkt für die zweite Welt in uns arbeite, indes wir bewußt uns so sehr der äußern übergeben? – Vielleicht kommen daher manche Rührung, manch[e] Andacht, manche innere schnelle Freudigkeit, deren Grund wir nicht erraten. Und wie wohl tut es, daß wir an allen Nebenmenschen auch unscheinbaren, das zu achten haben, was Gott allein kennt.«
Endlich mußt' ich in meinen Darstellungen abbrechen, wo es gerade dem Menschen am schwersten wird, nämlich in der Mitte, und in dieser befindet sich jeder unter dem Philosophieren so wie unter dem musikalischen Phantasieren. Auch lagen die Dörfchen mit ihren Lindenbänkchen mehr seitab und das erhabne Wetterhorn sah uns ganz in der Nähe an. »Lange Untersuchungen sind leichter zu haben als lange Tage«, sagte der Baron Wilhelmi. –
Wie reicher kam ich mit der begeisterten Gesellschaft unter vergoldenden Abendlichtern oben an als am ersten Abende von Blitzen verfolgt. Die Welt umher war versöhnt und die Baumfamilien atmeten ohne Zittern den Himmels-Äther ein, in welchem keine Donnerschläge zum Herabsprunge auf sie lauerten. Auch die Gärtchen, die Staffeln des Turms, lächelten in ihrem kindlichen Blühen die Sonne mit allen ihren kleinen Farben an. Und das Auge stieg von den kühlen Schatten, welche das Gewölke statt des vorigen Feuers warf, erquickt empor und begegnete im Himmel den goldnen Sternen der Gewitterableiter, die nur von Abendstrahlen blitzten; und ging selig langsam an den fernen Gebirgen auf ihrem Abenddunkel hinauf an die sonnenhellen Häupter, denen die Sonne wie eine wechselnde Krone zusank.
Wie ganz anders sieht ein Geist die blühende Natur an, der mit ihr und hinter ihr fortzublühen glaubt, als einer, der als ein ewiges Skelett auf ihr zu bleiben fürchtet und dem sie jetzo selber eines dadurch wird; sowie der Gottunglaubige eine viel unbelebtere Welt erbl[ickt] als der Gottglaubige. Des Rittmeisters innere war eine fortgehende Entzückung. Große Gegenstände des Lebens gingen vor ihm vorüber, denn im Menschen stehen 1191 nie erhabene Gefühle einsam, so wenig wie Berge, sondern sie verbinden sich wie Gebirgketten. Karlson suchte ordentlich seiner geliebten Selina es recht lebhaft darzustellen, wie in dem Zeitpunkt, wo die Seele ihren organischen Zepter niederlegt, ihr nur die bisher beherrschte niedere Welt von Kräften entweiche, sie aber in ihrem ungetrübten Reichtum zurücklasse und wie die Regentin nicht darum untergehe, weil ihre Diener von ihr abfallen. Manche höhere Wahrheiten wirken sogar zu denen hinab, die sie nicht anzuerkennen glauben, und die unbewußt und heimlich von ihnen durchdrungen werden, so wie der Regen sogar zu Pflanzen, die tief unterm Wasser stehen, erquickend hinabgreift.
Aber Selina freute sich freilich am meisten über alle Untersuchungen, weil an diesem Abend überhaupt mehre Engel, die ihr gaben, sich in ihrem Herzen begegneten. Das Sprechen und Hören über den größten Gegenstand des Lebens, der auch ihre Mutter so ergriffen und festgehalten – das Leben neben zwei alten Freunden der Mutter, mir und dem edlen Karlson – und die Erlaubnis und Aussicht, daß sie diese Nacht in der geheiligten Wohnung ihres Henrions übernachten werde. »Nein,« brach sie mit ihrer gewöhnlichen Begeisterung aus, »gerade des Besten ist der Mensch nicht wert. Kann er gut und unschuldig genug sein, um die unschuldige Natur rein in sich aufzunehmen, und harmonisch in sich selber genug, um mit ihren Schönheiten zu harmonieren?« – Diese lieblichen Worte zwangen mich ordentlich, den Magnetismus noch zuletzt in unsere Untersuchung hereinzuführen, da alles das, was mir an diesem Morgen Nantilde über Selinas bange Träume von Henrions Verwundung mitgeteilt, auf einen sich schmerzlich ausbildenden Selbermagnetismus des bescheidnen Mädchens hinwies. »Und warum wollen wir hier«, sagt' ich, »nicht mit einem Worte des Magnetismus gedenken, dessen hohe Erscheinungen so sich an den Seelen- oder Monadenbund zum Dienste eines höhern Ich anschließen, daß sie alle die Kräfte und Reichtümer, die man vor seiner Offenbarung dem Geiste zugeschrieben, jetzo lebendig aufdecken und zeigen?« Ich sah voraus, daß der Magnetismus einem so edlen Wesen einmal die Flügel lüften würde, welche empor wollten, da edlen Geistern 1192 so viele Sterne unter dem Horizonte stehen, die sie nur von oben erblicken können.
Wir schieden nun alle von dem Wetterhorn und dem erhabnen Abende, die Frauen gingen nach Falkenburg zurück; Selina mit unverhohlner Freude, in der Wohnung ihres Geliebten zu übernachten, und sie bemerkte nicht einmal Nantildes heimlichen Trübsinn, welcher mitten durch die Abendröte und Abendsterne die Besorgnis drohte, daß der liebenden Seele, die ohnehin heute sich mit ihm erfüllt habe, die Nachbarschaft so vieler alter Geister seiner Vergangenheit die Träume schauerlich durchschwirren [werde].
Der Baron Wilhelmi bat uns Männer, ihn ein wenig auf seinem Weg nach Wiana zu begleiten, weil er uns etwas Wichtiges zu entdecken habe; und jetzt erfuhr ich erst, warum dieser sonst so helle Mond und Satellit jeder Gesellschaft heute mit einem dunstigen Hofe umzogen gewesen. Der Baron teilte einen Brief mit – der aber leider nicht im frohen Kaffeehäuschen heiterer Neuigkeiten zu geben war – worin sein Korrespondent aus Marseille berichtete, daß Henrion bei der Eroberung [von] Napoli di Romania eine obwohl nicht tödliche Brustwunde erhalten. Der Vater brach sogleich in den Entschluß aus, nach Marseille zu seinem Sohn zu reisen, und suchte hinter diese Hastigkeit seinen Schmerz zu verbergen; aber der Baron widerriet ihm kräftig diese Reise, weil er dadurch die Hoffnungen der Frauen in lauter bange Aussichten verwandeln würde. Alexander setzte noch dazu, viel leichter könne ja er selber reisen und seinen Bruder pflegend zurückbringen. Am Ende überließ man alles der bald heller entscheidenden Zukunft; aber mich durchschnitt desto heißer dieses unerwartete Kometenschwert des Himmels, da ich nun sah, daß Selina, vor welcher Henrion im Traume mit der Brustwunde darniedergelegen, wirklich eine magnetische Seherin sei und in ihren Träumen die ganze Gegenwart von Marseille vorgehen sehe. Ach, sie wird noch viel leiden müssen! 1193
Streckvers auf den Kapitelplaneten Mars
Blutroter am Himmel! Blutroter auf der Erde! Die Sternseher beweisen, kein Wandelstern ist dir so ähnlich als der unsrige in Leben und Gestalt. Kein Licht holen wir nun so oft vom Himmel als rotes, um die Völker zu erleuchten, und die Rosen des Schlachtfeldes blühen unter deinem Strahle üppig auf der Erde. O werde immerhin gestritten, aber nur von Geistern in Geistern und nur der Irrtum falle, nicht der Streiter!