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Mehr als zehn Jahre waren vergangen, als ich die Familie Almeida wiedersah.
Die Stadt hatte sich sehr verändert, und es fiel mir schwer, Almeidas Haus zu finden, obgleich er genau an derselben Stelle wie damals wohnte. Wo früher nur ein Weg zwischen Gärten und Wildnis war, lag jetzt eine Straße mit Villen, und Geschäftshäuser waren im Begriff sich vorzudrängen. Ziemlich still war es hier, die Reisvögel ließen ihre Schläge hören, es klang wie eine Glocke hoch oben in den Bäumen, wo man sie nicht sah. Der rote Kies war nach dem Nachtregen von Feuchtigkeit durchzogen, die Villen lagen blendend und still in der Vormittagssonne in einem Duft, der über allem hing, einem süßen, warmen und fast handgreiflichen Blumenduft, Jasmin, Heliotrop, der aus den Gärten und den noch feuchten, üppigen, brünstigen Bäumen kam.
Ich suchte das alte Bungalo oben beim St. Thomas Walk auf, wo ich seinerzeit gewohnt hatte, und es berührte mich peinlich, daß ich den Ort fast nicht wiedererkannte, obgleich er unverändert war. Können zehn Jahre so viel ausmachen? Ein junges Chinesenfräulein in grüner Seide, das oben auf einer Veranda stand, betrachtete mich mit offenkundigem, unbeweglichem Hohn, wie nur Chinesen ihn auszudrücken verstehen; also auch hier schienen die Chinesen jetzt eingerückt zu sein.
Der hohe Kampferbaum, der ehemals als Kennzeichen in der Nähe von Almeidas Haus aufragte, war verschwunden, ich mußte mich erkundigen, bevor ich das Haus fand, und erkannte es kaum, als ich es endlich wiedersah. Der Garten war nicht mehr derselbe; statt der Dschungeln, die damals bis an den Weg gingen, von einem Graben begrenzt, lag da jetzt eine gepflegte, fünf bis sechs Jahre alte Gummiplantage hinter einem Gitter; eine Tasse am Fuße jedes Baumes zeigte, daß das Zapfen im vollen Gange sei. Von der Gärtnerei schien nicht viel mehr übrig zu sein, und nicht wie früher füllten Käfige und Kisten mit wilden Tieren Almeidas Garten, alles schien zu Gummi geworden zu sein, wie überall im Osten.
Das Haus selbst war unverändert, nur noch ausgeblichener von der Sonne und, wie mir schien, kleiner. Dieselben verschossenen Bambusjalousien bildeten Vorhänge vor den Veranden im zweiten Stock, dieselben großen chinesischen Postamente von Steingut flankierten die Eingangstür. Ein ficus elastica breitete sich mit seinen langen, fetten Schößlingen übers Dach, Tropenpflanzen und seltene Kakteen wuchsen in großen Lehmkübeln. Nicht ein Laut war aus dem Hause zu hören, das geblendet in der Sonne lag.
In den Zimmern war niemand, als ich hereinkam. Nackte Füße huschten über den Ziegelsteinboden, ein Kuli, der sich gleich zurückzog, als er mich sah, um Bescheid zu sagen. Alte verstaubte Dinge hingen an den Wänden, Gemälde und Galanteriewaren aus einer entschwundenen Zeit, Papiermachéreliefe, Dinge, die ein Menschenalter in einem Hause hängenbleiben, weil keiner sie mehr sieht; sie waren sicher immer hier gewesen, ich aber erinnerte mich ihrer nicht von früher und fühlte mich dadurch beklommen. Jetzt hörte ich nackte Füße über mir und eine langsame, melodische Stimme mit schwachen Konsonanten – »who's dhere?« – Sussies Stimme! Langsam kam sie die Treppe herunter.
Sie erkannte mich nicht.
»I'll dell my father,« sagte Sussie langsam mit einem langsamen Seitenblick, und ging würdig durchs Zimmer; sie erinnerte im Tempo an gewisse große Tiere, die von Natur langsam sind und die Grazie der Ruhe besitzen. Wie war sie prachtvoll! Sie war ja etwas massiv geworden, stout, mit Porter verglichen, aber von einem dreiundzwanzigjährigen Weibe, und älter war sie ja noch nicht, kann man nicht genug bekommen. Sie war im Hemd, das Haar hing ihr lose übern Rücken, genau wie vor zehn Jahren. Ein paar starke, schöne Knöchel guckten hervor, mit bernsteingelber Haut und einzelnen schwarzen Haaren, solide Beine. Ich spähte nach dem kleinen Loch in der Zahnreihe, aber es war nicht mehr da, statt dessen war offenbar ein neuer Zahn gekommen, ein Schimmer von Gold verriet, wie. Ein fehlender Zahn ist nicht immer ein Zeichen, daß man alt wird.
Weder Mr. noch Mrs. Almeida hatten sich wesentlich verändert. Mrs. Almeida empfing mich, als ob nicht zehn Jahre, sondern zehn Tage vergangen seien, sie zeigte mir gleich mit lautem, entzücktem Papageigeschrei, daß auch sie neue Zähne bekommen habe – und zwar ein ganzes Gebiß, sowohl oben wie unten, sie schnappte es behende aus dem Mund und hielt es hoch, so daß es wie ein Grinsen ohne Lippen und anderes Zubehör in der Luft schwebte, ja, ja, mein Lieber, zweiunddreißig funkelnagelneue Zähne, und nicht einen echten mehr im Munde, ach ja, man wurde alt, aber hielt sich glücklicherweise auf der Höhe seiner Zeit; darauf legte Mrs. Almeida, indem sie mit reißender Zungenfertigkeit das Gespräch auf andere Dinge brachte, die Zähne auf ein Bort, jetzt hatte ich sie gesehen, und die übrige Zeit machte sie es sich mit dem leeren Loch bequem.
Sie war noch ganz dieselbe, lärmend und kummervoll, dieselben unheimlich hohlen Augen, rot und wie ausgestochen, dieselbe eindringliche Art zu erzählen, mit unbewußtem Komödienspiel dabei, dieselbe primitive Ausdrucksfähigkeit. Die Stimme war flacher geworden, wie bei alten Leuten mit kleinen Lungen; sicher maß die Alte jetzt nicht mehr als einen Viertelmeter über der Brust, und es waren nichts als Knochen da; trotz alledem aber war sie feurig, lebhaft wie ein Affe; eine merkwürdige Widerstandskraft lebte in der kleinen Person.
Almeida war nicht mehr so groß, wie ich ihn in der Erinnerung hatte, etwas eingeschrumpft, aber machte doch noch einen kräftigen Eindruck, muskulös und behaart, mit einem unschuldigen Wesen, ein sehr hübscher Mann, olivenfarbig und mit einem rötlichen Glanzlicht im Auge, schmale, maskuline Züge, die die Spuren einer bunten indisch-kreolischen und weit entfernt jüdischen Abstammung in sich vereinigten; er teilte sich noch immer mit Stentorstimme mit, schrie aus vollen Lungen, wenn Mrs. Almeida zugegen war, er war es ja gewöhnt, daß er sie übertäuben mußte, wenn er überhaupt ein Wort einfügen wollte; man befand sich an Bord eines Schiffes mit einem brüllenden Lotsen, wenn Mr. Almeida sprach, konnte aber an den Lippen seiner Frau sehen, daß sie unausgesetzt weiterredete, obgleich ihre Stimme in den Vibrationen von Almeidas Bariton ertrank. Trotzdem aber waren sie die besten Freunde, das war nur eine Praktik, die sich entwickelt hatte, weil der Mann sonst nie zu Worte gekommen wäre.
Er schrie mir eine kurze, erfreuliche Übersicht über alles zu, was sich seit damals ereignet hatte, ja, er sei natürlich rubber-Mann geworden und könne wohl sagen, daß er es zu guter Zeit geworden wäre, er beabsichtige jetzt mit der ganzen Familie nach Europa zu reisen und sich dort niederzulassen: er habe gute Jahre gehabt, die Gärtnerei hätte er aufgegeben, weil sie sich nicht mehr lohnte, wäre aber doch noch zu einer letzten großen Expedition oben im Himalaja gewesen, auf der Suche nach the lost orchid, die er dann auch wirklich gefunden habe. Und Mr. Almeida führte mich hinaus und zeigte mir den Gummiwald. Groß war er nicht, aber ergiebig. Mr. Almeida hatte eine Erfindung gemacht, von der er sich viel versprach, ein System, die Tasse am Baum zu befestigen. Es war erfreulich, den sympathischen Mann wiederzusehen und zu hören, wie hoffnungsvoll alles stand.
Als wir wieder ins Haus kamen, fanden wir Miß Almeida vor, jetzt aber als Lady, angekleidet und modelliert, mit Schnürleib, konversierend. Daß sie mich anfangs nicht erkannt hatte, war aus unserer Erinnerung ausgelöscht, als unvorteilhaft für uns beide, ich hätte gar nicht dabei verweilen sollen. Während unseres Dialogs schwieg Mrs. Almeida, stand etwas abseits und folgte der Tochter mit zärtlichem Triumph; ihre Züge bewegten sich wie bei einer Taubstummen, indem sie unwillkürlich alles, was Miß Almeida sagte, mit Mimik begleitete.
Das Wunderwerk konnte auch wirklich gar nicht vollkommener sein, das junge Mädchen stand auf dem höchsten Gipfel der Üppigkeit, und stand dort ruhevoll, sie war wirklich wunderschön. Sie hatte noch die runden, unbeschriebenen Kinderzüge und die braunen, durch sich selbst lächelnden Augen, aber wie war sie schwer und schön geworden, wie eine Frucht, die in Sonne und Ruhe reift – sie war nie aus Singapur herausgekommen, hatte sich nie gerührt, und war dennoch brausend stark und fehlerfrei geworden wie eine Eva der Tropen. Ich nehme an, daß sie im Profil am vorteilhaftesten war, denn sie wandte sich die ganze Zeit von der Seite an mich, mit dem Blick aus dem Augenwinkel, wodurch sie an ein Selbstporträt erinnerte; sie sprach mit langsamer, langsamer Stimme, die mehr der musikalische Ausdruck einer schlummernden, warmen Weiblichkeit als Worte zu sein schien.
»Nein,« schrie Mrs. Almeida kopfschüttelnd, »wir handeln nicht mehr mit Tieren, wir hatten zu viel Betriebsverluste, sie starben, bevor wir sie verkaufen konnten, die Kuli vergifteten sie, jetzt haben wir nur diesen Kasseworri, den mein Mann aus Ceram bekommen hat, und dann ein paar siamesische Katzen.«
Wir standen im Hinterhof vor einem Stall, wo ein Kasuar mit kobaltblauem Hals kopfnickend auf und ab ging und aus der Tiefe der Kehle einen Laut wie Trommelwirbel hervorbrachte.
»Er grämt sich«, sagte Mrs. Almeida und sah den Vogel teilnahmsvoll an, der mit einer Haut überm Auge blinkte und mit erhobenem Bein stehenblieb, wie um zu lauschen. »Ach der arme Vogel, man hat ihn ja aus seiner Heimat fortgebracht. Tiere können sich so grämen. Wir hatten mal zwei Hunde, die mein Mann aus einem zoologischen Garten in Europa für einige andere Tiere zum Austausch bekommen hatte. Es waren zwei große dänische Doggen, Grangdanoise, mein Mann wollte versuchen, eine Zucht mit ihnen anzulegen; so groß waren sie – -«
Mrs. Almeida zeigte einige Meter über den Boden und riß die Augen himmelweit auf.
»Oh my! Es waren die größten Hunde, die ich je gesehen habe! Sie bellten ganz tief, bumm – bumm! Wenn sie durchs Zimmer gingen und einen zufällig anstießen oder einen nur mit dem Schwanz anwedelten, ah ah ...«
Mrs. Almeida schwankte nach rückwärts, als ob jemand ihr einen Stoß versetzt habe, man meinte den großen Hund zu sehen, der sie schubste; sie gewann indessen das Gleichgewicht wieder, nickte imponiert, ja, ja, es waren riesige Hunde!
»Aber gutmütig. Sie starben, konnten das Klima nicht vertragen. O nein. Erst starben die Jungen, denn sie bekamen einen Wurf Junge, die Mutter aber hatte nichts für sie, und sie konnten noch nicht selbst trinken. Sie waren so süß – -«
Und Mrs. Almeida wurde zu einem jungen Hund, sie tastete zitternd mit den Gliedern herum, wendete sich mit blinden Augen von rechts nach links, und winselte mit matter, matter Stimme – – so hilflos und süß waren sie gewesen.
»Wir konnten sie nicht am Leben erhalten. Mein Mann steckte sie in seine Blumentöpfe, damit sie doch nicht ganz verloren gingen.«
Mrs. Almeida kniff sich in die Nase, in ihrer Kehle wollte etwas aufsteigen. Sie sah mich hart an:
»Dann starb das Männchen. Der Wächter hatte Schuld. Der Bengale, der nachts den Garten bewachte, war eifersüchtig auf den Hund, weil er bellte, wenn jemand vorbeiging, er sei der Wächter, und darum warf er dem Hund Sand in die Augen. Er kam zu meinem Knie mit seinen armen Augen. Ich wusch sie aus und tat alles, was ich konnte, aber er bekam eine Entzündung und starb.
Nun blieb die Hündin allein. Aber sie grämte sich und wollte nicht fressen. Schließlich wollte sie nicht mehr aufstehen –«
Die Stimme versagte Mrs. Almeida, sie blickte flackernd umher, die erloschenen blauen Augen wurden heiß, und zu meinem Erstaunen sah ich, wie ihr Haar sich sträubte und den Kopf wie graues Moos umbrauste. Nur mit Mühe sprach sie weiter.
»In der letzten Nacht rief sie so jammervoll, und ich setzte mich zu ihr. Sie brannte wie Feuer, aber ich konnte ihr keine Linderung verschaffen. Bevor sie starb, war es, als ob sie nach jemandem in weiter, weiter Ferne heulte – – Uh! Uh!«
Sie machte den Mund rund wie ein Loch und ahmte das Todesgeheul des Hundes nach, so daß ich für sie zu fürchten begann, sie starb, erschlaffte, der Mund stand offen.
Dann faßte sie sich, verharrte einen Augenblick wie ein Bild tiefen, stummen Schmerzes.
Sie schüttelte den Kopf, wie um sich gegen ein Insekt zu wehren, das ihr ins Ohr fliegen wollte, eine Gebärde, die ich von früher her kannte, der Wahnsinn brach aus ihrem Blick, um gleich wieder zu weichen. Sie grub ihre Hand in das graue Haar.
»Poor bitch,« klagte sie und starrte zur Erde.
Mrs. Almeida unterhielt mich diesmal nicht von ihren toten Kindern, aber ein Schatten von dem, was sie gelitten hatte, fiel auf die Erzählung von den beiden armen Hunden. Bald würde auch die Erinnerung an sie mit ihr sterben. Nicht einmal der Schmerz ist dauernd.
Nach dem Essen bat Mrs. Almeida die Tochter, uns eine hymn auf dem Klavier zum besten zu geben, sie ermunterte sie mit schlauen Augen und warf mir einen heimlichen Blick zu: jetzt solle ich aber mal was zu hören bekommen! Sussie setzte sich ans Klavier und spielte einen Psalm mit ihren kindlich dummen Händen, und zählte flüsternd den Takt dazu, ei-en und-de zwei-e und– de, genau wie ein Kind, und schielte ein wenig beim Notenlesen. Später zeigte sie sich mit einem enormen Damenhut auf dem Kopf, und im Profil, wie das Selbstporträt einer bildschönen Malerin; sie war bei Freundinnen eingeladen.
Der Eindruck ihrer vollendeten Schönheit folgte mir und vermengte sich mit dem süßen, etwas schweren und ewig sommerlichen Blumenduft, der auf Singapurs roten Wegen liegt, als ich abends nach Hause ging.
Trotz der Wärme aber überfiel mich ein Schauer beim Gedanken an Mrs. Almeida, die mit ihrer kleinen, flachen, senilen Stimme wie ein Hund geheult hatte.
Jetzt, wie ehemals, blühten die großen Akazienbäume und trugen rote Hahnenkämme auf der einen Seite der Krone und alte schwarze Schoten auf der andern.