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9. Kapitel

...Ich habe nur dich geliebt ...

Eine Stunde vorher war lautlos eine Frauengestalt, die ihr Auto weit vor der Billa verlassen hatte, in das Haus geschlüpft. Ebenso lautlos begab sie sich in ihr Schlafzimmer im Erdgeschoß und streifte im Dunkeln bei halb offenen Fenstern einen dunklen seidenen Schlafanzug über. Sie tat es wie eine Traumwandlerin, ihre Gedanken waren anderswo, und ihr Herz war schwer von Selbstvorwürfen, die sie sich nicht ersparen konnte. Sie hatte an Richard Lohr gezweifelt, und das vergaß sie sich nicht.

Leise schlug das Telefon auf dem Nachttisch an.

»Hallo, hier einsame Villa ...«

»Hier der Bewußte ... Morwyn ist tatsächlich abgereist.«

»Unmöglich!«

»Doch ...! – Wir haben ihn unterschätzt ... Genau wie er Sie beobachten lassen wollte, also Sie als Gegnerin erkannt und gefunden hatte, hat er wohl auch gemerkt, daß seine Fahrt nach St. eine Falle darstellt«. Was mich weit mehr beunruhigt, ist Doktor Lohrs Verschwinden. Ich war nur kurze Zeit in seinem Hause, der Diener wollte mir einreden, sein Herr schliefe und dürfe nicht gestört werden, als ich ihm dann sehr energisch Vorhaltungen machte und ihn warnte, gab er zu, daß Lohr noch vor Tagesanbruch mit seinem Auto davongefahren sei und sich seine – also des Dieners – Perücke geliehen habe. Offenbar ist Lohr abermals von der Theorie zur Praxis übergegangen, was nicht gerade günstig für uns sich gestalten kann, da ...«

Der schwer Seufzer, der durch die Leitung kam, ließ Harst verstummen.

»Bitte – weiter!«, flehte Alice Berndt. »Sie ängstigen mich durch Ihre Andeutungen ... Was befürchten Sie?«

Harst, der von einer Tankstelle wenige Kilometer vor Steubenhorst sprach, erklärte der Wahrheit gemäß: »Meine Besorgnis um Lohr ist mehr Gefühlssache. Nachdem er schon einmal als praktischer Detektiv so böse abgeschnitten hat, kann man nie wissen, was geschieht ...«

Die Frau, die auf dem Bettrand saß, und den Hörer an das seine, kleine Ohr preßte, war von alledem zu benommen, um sofort einen klaren Gedanken fassen zu können.

»Aber ... aber Morwyn ist doch abgereist. – wo soll da eine Gefahr auftauchen, außerdem ist dann doch dieses nächtliche Vorhaben ganz überflüssig geworden ...« – sie konnte sich nicht genügend sammeln, denn Harsts neuerliche unklare Bemerkungen über Lohr hatten ihr alles Blut aus dem seinen, stillen und abgeklärten Antlitz getrieben.

Die Leitung blieb eine Weile stumm. Harst überlegte sich die Antwort. »Mit Morwyn ist das eine eigene Sache«, ließ er sich von neuem vernehmen. »Die Gefahr bleibt bestehen, denn Morwyn muß ja noch immer unbekannte Helfer haben ... Es bleibt bei unseren Vereinbarungen. Tun Sie genau, was ich Ihnen sagte. Es hängt sehr viel davon ab. Ich bin da auf zwei neue Fährten gestoßen, die sehr vielverheißend erscheinen.« Er drückte sich äußerst vorsichtig aus, denn, diese Fährten konnten auch trügerisch sein. Es waren lediglich Schlußfolgerungen, denen im Grunde die Anfangs- und Endglieder fehlten. »Machen Sie sich jedenfalls keine übertriebenen Sorgen ... Vor Mitternacht wird sich nichts ereignen ... Die Hunde sind doch eingesperrt? – Gut, – – ich werde hoffentlich rechtzeitig zur Stelle sein. Leider hatte ich eine Panne diese Motorräder sind wie launenhafte, verwöhnte Damen ... – Man ruft mich ... Der Schaden scheint doch ernsthafter zu sein. – Schluß – – Wiedersehen und Kopf hoch!! Tapfer sein, liebe Frau Alice«!! Wir renken die Sache schon ein.«

Abermals seufzte die Frau halb verzagt, als sie den Hörer weglegte. – Ihre erste Ehe mit einem Manne, der erst nach der Hochzeit sein wahres Gesicht gezeigt hatte, war nur kurz und desto freudloser gewesen. Alice Berndt wurde dann aus Not Schriftstellerin, vielleicht hatten gerade ihre unglückliche Ehe und der Tiefstand der moralischen Qualitäten ihres Mannes und dessen dunkler Lebenswandel bei ihr die Neigung für die Schriftstellerei geweckt. Sie hatte Erfolg, sie ging sehr bald ausschließlich zum Kriminalroman über, und sie scheute sich nicht, um ihre Stoffe und Charaktere lebenswahr zu gestalten, in entsprechender Aufmachung die berüchtigtsten Kneipen und Tanzlokale aufzusuchen. Seltsamerweise hatten gerade diese abenteuerlichen Nächte ihrem Dasein ganz unerwartet einen andersgearteten Inhalt beschert, und nie würde sie jene Stunde vor drei Jahren vergessen, als ein zweifellos verkleideter Fremder sich in einer Kaschemme an ihren Tisch gesetzt und nach behutsamen Fragen, die sie ihrer Rolle getreu beantwortete, ihr das Angebot gemacht hatte, das mit einer einmaligen Abfindung von fünftausend Mark verbunden war. Nachdem sie erst das liebreizende Objekt dieses seltsamen Geschäfts gesehen hatte, gab es für sie kein Zögern mehr. Sie willigte ein ... Der Fremde, der zweifellos fühlte daß er ein Weib von Herz und Gemüt vor sich hatte, ahnte nicht im geringsten, mit wem er es zu tun hatte, Alice hatte ihm einen falschen Namen und eine falsche Adresse angegeben. Nachdem der geheimnisvolle Handel von ihr längst vergessen war, fand sie wohl in den Zeitungen die gewissen Anfragen, aber sie antwortete nie. Diese Inserate wurden immer dringender und verhießen zuletzt neuen hohen Verdienst. Sie schwieg. Sie fühlte sich geborgen, und sie wußte noch heute nicht, wer der Verkleidete gewesen. Sie war glücklich im Besitz dessen, was sie während ihrer Ehe heiß ersehnt hatte, und als sie nun ganz leise das Nebengemach betrat, wo die treue Köchin und Hüterin schlief und ein mattes Lämpchen neben dem eleganten Kinderbett brannte, beugte sie sich mit zärtlichem Lächeln über das blonde rosige Mädchenköpfchen und hob das schlaftrunkene Bündelchen behutsam heraus. Die Kleine erwachte nicht, und Alice Berndt schlich genau so lautlos mit ihrer süßen Bürde in ihr Arbeitszimmer, wo sie, nur von den Mondstrahlen zuweilen getroffen, in dem großen Bücherschrank das unterste Mittelfach mit Kissen füllte und die kleine Irmi samt ihren Betten hineinschob und die Tür nur anlehnte.

Dann setzte sie sich in einen Sessel in die dunkelste Ecke neben dem Schrank und breitete eine Decke über ihre Knie. In ihrem Schoße lag eine winzige Selbstladepistole. Der eine Flügel der Tür nach ihrem Schlafgemach stand weit offen, und sie konnte genau die Stelle erkennen, wo an der Wand der kostbare Leistikow, ein sehr bekanntes Gemälde, hing und die Schnitte in der Tapete, die Tresortür, verdeckte ...

Die Standuhr begann mit hallenden Gongschlägen Mitternacht zu schlagen.

Der Mond war höher gestiegen und schien in die beiden Zimmer hinein.

Urplötzlich tauchte da ein Schatten im Schlafgemach auf, stand still, – es war ein rothaariger, rotbärtiger Stromer, der die Schuhe über der Schulter trug, den schäbigen Filz tief über den Kopf gezogen hatte.

Er horchte ... Sein Oberkörper war vorgebeugt. Und seine Haltung verriet äußerstes Mißtrauen. Dann drehte er sich um, nahm das Bild von der Wand, probierte einen nach einem Wachsabdruck gefertigten Schlüssel, und der Riegel des Patentschlosses des eingemauerten Tresors schnappte zurück, und die schwere Panzertür öffnete sich. – Der Einbrecher zog eine Taschenlampe hervor, leuchtete in den Tresor hinein und griff nach einem versiegelten Umschlag, auf dem nur »Irmi« in dicker Rundschrift zu lesen war.

Aber der Eindringling, nun völlig mit seinen unliebsamen Gedanken beschäftigt, hätte klüger getan, den nur angelehnten Fenstern seine Aufmerksamkeit zu schenken ...

Im Gesichtskreis Alices tauchte eine zweite, ähnlich hochgewachsene Stromergestalt auf. Dieser Mann hob langsam den rechten Arm, und das Mondlicht ließ einen dunklen Pistolenlauf matt aufblinken.

Frau Berndt erkannte die Gefahr. Sie als Kriminalschriftstellerin war sehr wohl fähig, diese Zusammenhänge zu überschauen. Bevor der Meuchelmörder noch abdrücken konnte, feuerte sie selbst, und der Arm mit der drohenden Waffe sank schlaff herab, die Pistole des Zweiten polterte auf den Teppich, und blitzartig sprang der Mann zum Fenster hinaus, umkreiste die Villa halb und entging so uns dreien, die wir gegen seinen Willen bis in die nächsten Büsche vorgedrungen waren. Irgendwo hörte man drüben im Walde einen Automotor anspringen, das Geräusch entfernte sich ...

Ich war diesmal noch schneller als der flinke Fred. Als ich in das Schlafgemach hineinturnte, stand Frau Alice einem Menschen gegenüber, der mit demütig gesenktem Kopf – ohne Hut und Perücke – alle die erregten Fragen über sich ergehen ließ und in nichts mehr dem so überlegen-ironischen Theoretiker Richard Lohr glich.

»... Du mußt einen Wachsabdruck von dem Schlüssel genommen haben...? ... Du hast mir also nicht geglaubt, daß Irmgard nicht mein Kind ist? Du wolltest prüfen, was an meinen Angaben wahr sei? – – Antworte doch!«

Doktor Lohr erwiderte leise: »Ich habe nur etwas zu meiner Entschuldigung anzuführen, Alice ... Ich habe dich geliebt, und ich glaubte, du hättest nach dem Tode deines Mannes einen ... Verehrer gehabt, der ...«

»Irmgards Vater war?! – 0h, du großer Tor!«

»Doch nicht so groß, als es scheint ... Ich erhielt einen anonymen Brief ... Eilbrief, – – heute in aller Frühe ... Man riet mir, aus deinem Tresor den Umschlag »Irmi« herauszunehmen, und da ich den Schlüssel, den Nachschlüssel, bereits ...«

Neben uns erschien durch das Fenster eine neue Gestalt, die von dem Pseudopudel »Scylla« mit eifrigstem Schwanzwedeln begrüßt wurde.

Der ländliche, mit Staub bedeckte Händler musterte unsere Gruppe mit scharfen Blicken und lächelte dann unmerklich, hob vom Boden die Pistole des Attentäters auf und betrachtete den Schalldämpfer.

»Herrn Chester Morwyns Waffe!«, sagte Harst achselzuckend. »Weshalb zielten Sie nur auf den Arm, Frau Alice?! Nun bereitet uns der Mann nur weitere Schwierigkeiten. – Doktor Lohr, legen Sie den Umschlag »Irmi« in den Tresor zurück und schließen Sie wieder ab und händigen Sie mir den Nachschlüssel aus. Ich glaube, Frau Alice und Sie sind nun miteinander quitt, und Sie beide werden sich vieles ohne Zeugen zu sagen haben. Immerhin sollen Fred und Gustav im Garten für alle Fälle als Wächter zurückbleiben. Die Sache ist noch nicht spruchreif ... – Also – entfernen wir uns.«

Lohr und Alice waren allein. Nebenan weinte das durch die Schüsse aufgeweckte kleine Mädelchen leise vor sich hin. Frau Berndt winkte Lohr, nahm Irmi auf den Schoß und wiegte sie wieder in Schlaf.

Lohr stand dabei und wagte erst zu sprechen, als das Kind sich beruhigt hatte.

»Alice, ich habe Ellen Garp nie geliebt ... Ich habe für sie nicht einmal Sympathie empfunden. Sie war mir nichts als ein »Kriminalfall«, dessen kriminelle Einzelheiten ich erst ermitteln wollte. Ich merkte, daß Allan sie verachtete und mit eisigen Blicken strafte, obwohl er in Gegenwart anderer sich zu beherrschen suchte. Unsere Freundschaft hat leider durch meine Schuld einen argen Stoß erlitten, und die Eifersucht auf den Vater des Kindes dort ...« – er streichelte dem Mädchen das Haar – »hat ...«

»Du großer Tor!!«, flüsterte die Frau zärtlich. »Ich kenne den Vater nicht, ich hoffe, daß Harst ihn kennt und daß ...«

Sie schwieg jäh. Richard Lohr umfaßte sie und das ahnungslose kleine Geschöpfchen, und willig bot sie ihm die Lippen zum Kusse dar, während ein paar Tränen ihre Augen verdunkelten.


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