Franz Kafka
Tagebücher 1910–1923
Franz Kafka

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1916

 

19. April. Er wollte die Tür zum Gang öffnen, aber sie widerstand. Er blickte hinauf, hinunter, das Hindernis war nicht zu finden. Auch versperrt war die Tür nicht, der Schlüssel steckte innen, hätte man von außen zuzusperren versucht, wäre der Schlüssel herausgestoßen worden. Und wer hätte denn zusperren sollen? Er stieß mit dem Knie gegen die Tür, das Mattglas erklang, aber die Tür blieb fest. Sieh nur.

Er ging ins Zimmer zurück, trat auf den Balkon und blickte auf die Straße hinab. Er hatte aber das gewöhnliche Nachmittagsleben unten noch nicht mit seinen Gedanken erfaßt, als er wieder zur Tür zurückkehrte und nochmals zu öffnen versuchte. Aber nun war es kein Versuch, die Tür öffnete sich sogleich, es bedurfte kaum eines Druckes, vor dem Luftzug, der vom Balkon her strich, flog sie geradezu auf; mühelos wie ein Kind, das man zum Scherz die Klinke berühren läßt, während ein Größerer sie in Wirklichkeit niederdrückt, erlangte er den Eintritt in den Gang.

 

Ich werde drei Wochen für mich haben. Heißt das grausam behandelt werden?

 

Vor kurzem geträumt: Wir wohnten auf dem Graben in der Nähe des Cafés Continental. Aus der Herrengasse bog ein Regiment ein, in die Richtung zum Staatsbahnhof. Mein Vater: »So etwas muß man sehn, solange man dazu imstande ist« und schwingt sich (im braunen Schlafrock des Felix, die ganze Gestalt war eine Vermischung beider) auf das Fenster und spreizt sich draußen mit ausgestreckten Armen auf der sehr breiten, stark abfallenden Fensterbrüstung. Ich packe ihn und halte ihn an den beiden Kettchen, durch welche die Schlafrockschnur gezogen ist. Aus Bosheit streckt er sich noch weiter hinaus, ich spanne meine Kräfte auf das äußerste an, um ihn zu halten. Ich denke daran, wie gut es wäre, wenn ich meine Füße mit Stricken an irgend etwas Festem anbinden könnte, um nicht vom Vater mitgezogen zu werden. Allerdings müßte ich, um das zu bewerkstelligen, den Vater wenigstens ein Weilchen lang loslassen und das ist unmöglich. Diese ganze Spannung erträgt der Schlaf – und gar mein Schlaf – nicht und ich erwache.

 

20. April. Auf dem Gang kam ihm die Hauswirtin mit einem Brief entgegen. Er prüfte das Gesicht der alten Dame, nicht den Brief, und öffnete ihn unterdessen. Dann las er: »Sehr geehrter Herr. Seit einigen Tagen wohnen Sie mir gegenüber. Eine starke Ähnlichkeit mit einem alten guten Bekannten macht Sie mir merkwürdig. Bereiten Sie mir das Vergnügen und besuchen Sie mich heute nachmittag. Mit Gruß Louise Halka.«

 

»Gut«, sagte er sowohl zur Hauswirtin, die noch vor ihm stand, als auch zum Brief. Es war eine willkommene Gelegenheit, eine vielleicht nützliche Bekanntschaft in dieser Stadt zu machen, in der er noch ganz fremd war.

»Sie kennen Frau Halka?« fragte die Wirtin, während er nach dem Hut langte.

»Nein«, sagte er fragend.

»Das Mädchen, das den Brief brachte, ist ihre Dienerin«, sagte die Wirtin wie zur Entschuldigung.

»Das mag sein«, sagte er, unwillig über die Teilnahme, und beeilte sich, aus der Wohnung zu kommen.

»Sie ist eine Witwe«, hauchte ihm die Wirtin von der Schwelle noch nach.

 

Ein Traum: Zwei Gruppen von Männern kämpften miteinander. Die Gruppe, zu der ich gehörte, hatte einen Gegner, einen riesigen nackten Mann, gefangen. Fünf von uns hielten ihn, einer beim Kopf, je zwei bei den Armen und Beinen. Leider hatten wir kein Messer, ihn zu erstechen, wir fragten in der Runde eilig, ob ein Messer da sei, keiner hatte eines. Da aber aus irgendeinem Grunde keine Zeit zu verlieren war und in der Nähe ein Ofen stand, dessen ungewöhnlich große gußeiserne Ofentüre rotglühend war, schleppten wir den Mann hin, näherten einen Fuß des Mannes der Ofentüre, bis er zu rauchen begann, zogen ihn dann wieder zurück und ließen ihn ausdampfen, um ihn bald neuerlich zu nähern. So trieben wir es gleichförmig, bis ich nicht nur im Angstschweiß, sondern wirklich zähneklappernd erwachte.

Hans und Amalia, die zwei Kinder des Fleischers, spielten mit Kugeln an der Mauer des Magazins, eines großen alten festungsartigen Steinbaues, der mit seinen zwei Reihen stark vergitterter Fenster sich weithin am Flußufer dehnte. Hans zielte vorsichtig, prüfte Kugel, Weg und Grube, ehe er den Stoß abgab, Amalia hockte bei der Grube und klopfte mit den Fäustchen vor Ungeduld auf den Boden. Plötzlich aber ließen beide von den Kugeln ab, standen langsam auf und sahen das nächste Magazinfenster an. Man hörte ein Geräusch, wie wenn jemand eine der kleinen trüben dunklen Scheiben der vielgeteilten Fenster reinzuwischen suche, es gelang aber nicht, und nun wurde sie entzweigeschlagen, ein mageres, scheinbar grundlos lächelndes Gesicht erschien undeutlich in dem kleinen Viereck, es war wohl ein Mann, und er sagte: »Kommt Kinder, kommt. Habt ihr schon ein Magazin gesehn?«

Die Kinder schüttelten die Köpfe, Amalia sah erhitzt zum Mann auf, Hans blickte nach rückwärts, ob Leute in der Nähe wären, aber er sah nur einen Mann, der, gleichgültig gegen alles, mit gebeugtem Rücken einen schwer beladenen Karren das Quaigeländer entlang schob. »Dann werdet ihr aber wirklich staunen«, sagte der Mann, sehr eifrig, als müsse er durch Eifer die Ungunst der Verhältnisse überwinden, die ihn mit Mauer, Gitter und Fenster von den Kindern trennten. »Jetzt aber kommt. Es ist höchste Zeit.« – »Wie sollen wir hineinkommen?« sagte Amalia. »Ich werde euch die Tür zeigen«, sagte der Mann. »Folgt mir nur, ich gehe jetzt nach rechts und werde an jedes Fenster klopfen.«

Amalia nickte und lief zum nächsten Fenster, wirklich klopfte es dort und so auch bei den folgenden. Aber während Amalia dem fremden Mann gehorchte und ihm gedankenlos nachlief, wie man etwa einem Holzreifen nachläuft, ging Hans nur langsam hinterher. Ihm war nicht wohl zumut, das Magazin, das zu besuchen ihm bisher niemals eingefallen war, war gewiß sehr sehenswert, aber ob es wirklich erlaubt war, hineinzugehn, war durch die Einladung eines beliebigen Fremden noch durchaus nicht erwiesen. Es war eher unwahrscheinlich, denn wenn es erlaubt gewesen wäre, dann hätte ihn doch der Vater gewiß schon einmal hingeführt, da er nicht nur ganz in der Nähe wohnte, sondern sogar im weiten Umkreis alle Leute kannte, von ihnen gegrüßt und mit Ehrerbietung behandelt wurde. Und nun fiel Hans ein, daß dies also auch von dem Fremden gelten müsse, er lief, um das festzustellen, Amalia nach und erreichte sie, als sie und mit ihr der Mann bei einer kleinen, gleich unten am Erdboden befindlichen Tür aus Eisenblech haltmachten. Es war wie eine große Ofentüre. Wieder schlug der Mann beim letzten Fenster eine kleine Scheibe ein und sagte: »Hier ist die Tür. Wartet einen Augenblick, ich werde die Innentüren öffnen.«

»Kennen Sie unsern Vater?« fragte Hans sofort, aber das Gesicht war schon verschwunden, und Hans mußte mit seiner Frage warten. Nun hörte man, wie tatsächlich die Innentüren geöffnet wurden. Zuerst kreischte der Schlüssel kaum hörbar, dann lauter und lauter in nähern Türen. Das hier durchbrochene dicke Mauerwerk schien durch viele eng aneinanderliegende Türen ersetzt zu sein. Endlich öffnete sich auch die letzte nach innen, die Kinder legten sich auf den Boden, um hineinsehen zu können, und dort war nun auch das Gesicht des Mannes im Halbdunkel. »Die Türen sind offen, also kommt! Nur flink, nur flink.« Mit einem Arm drückte er die vielen Türplatten an die Wand.

Als wäre Amalia durch das Warten vor der Tür ein wenig zur Besinnung gekommen, schob sie sich jetzt hinter Hans und wollte nicht die erste sein, ihn aber stieß sie nach vorn, denn mit ihm wollte sie sehr gerne ins Magazin. Hans war ganz nahe der Türöffnung, er fühlte den kühlen Anhauch, der aus ihr kam, er wollte nicht hinein, nicht zu dem Fremden, nicht hinter die vielen Türen, die zugesperrt werden konnten, nicht in das kühle alte riesige Haus. Nur weil er hier schon vor der Öffnung lag, fragte er:

»Kennen Sie unsern Vater?«

»Nein«, antwortete der Mann, »aber kommt schon endlich, ich darf nicht so lange die Türen offenlassen.«

»Er kennt unsern Vater nicht«, sagte Hans zu Amalia und stand auf; er war wie erleichtert, nun würde er gewiß nicht hineingehn.

»Ich kenne ihn aber doch«, sagte der Mann und schob den Kopf in der Öffnung weiter vor, »natürlich kenne ich ihn, der Fleischer, der große Fleischer bei der Brücke, ich selbst hole dort manchmal Fleisch, glaubt ihr, ich würde euch ins Magazin einlassen, wenn ich nicht eure Familie kennen würde?«

»Warum hast du zuerst gesagt, daß du ihn nicht kennst?« fragte Hans und hatte sich, die Hände in den Taschen, schon ganz vom Magazin abgewendet.

»Weil ich hier in dieser Lage keine langen Gespräche zu fuhren wünsche. Kommt erst herein, dann kann man über alles sprechen. Im übrigen mußt du, Kleiner, gar nicht hereinkommen, im Gegenteil, mir ist es lieber, wenn du mit deinem ungezogenen Benehmen draußen bleibst. Deine Schwester aber, die ist vernünftiger, die kommt und wird willkommen sein.« Und er streckte Amalia die Hand entgegen.

»Hans«, sagte Amalia, während sie ihre Hand der fremden Hand, näherte, ohne sie aber noch zu fassen, »warum willst du nicht hineingehn?« Hans, der nach der letzten Antwort des Mannes auch keine deutliche Ursache für seine Abneigung anführen konnte, sagte nur leise zu Amalia: »Er zischt so.« Und tatsächlich zischte der Fremde, nicht nur beim Reden, sondern auch, wenn er schwieg. »Warum zischst du?« fragte Amalia, die zwischen Hans und dem Fremden vermitteln wollte.

»Dir, Amalia, antworte ich«, sagte der Fremde. »Ich habe einen schweren Atem, es kommt von dem ununterbrochenen Aufenthalt hier in dem feuchten Magazin, auch euch würde ich nicht raten, lange hierzubleiben, aber für ein Weilchen ist es eben außerordentlich interessant.«

»Ich gehe«, sagte Amalia und lachte, sie war schon ganz gewonnen, »aber«, fugte sie dann wieder langsamer hinzu, »Hans muß auch mitkommen.«

»Natürlich«, sagte der Fremde, hopste mit dem Oberkörper hervor, faßte den vollständig überraschten Hans bei den Händen, so daß dieser gleich niederfiel und zog ihn mit aller Kraft ins Loch hinein. »Hier geht's hinein, mein lieber Hans«, sagte er und schleppte den sich Wehrenden und laut Schreienden mit sich, ohne Rücksicht darauf, daß ein Rockärmel von Hans an den scharfen Kanten der Türen in Fetzen ging.

»Mali«, rief plötzlich Hans – er war schon mit den Füßen im Loch, so rasch ging es trotz allen Widerstandes – »Mali, hol den Vater, hol den Vater, ich kann nicht mehr zurück, er zieht mich so stark.« Aber Mali, ganz verwirrt durch das rohe Eingreifen des Fremden, überdies ein wenig schuldbewußt, denn sie hatte ja zu der Untat gewissermaßen aufgefordert, schließlich aber doch auch sehr neugierig, wie sie es von allem Anfang an gewesen war, lief nicht weg, sondern hielt sich an Hansens Füßen an ... [bricht ab]

Es wurde natürlich bald bekannt, daß der Rabbi an einer Tonfigur arbeitete. Sein Haus, das mit allen Türen aller Zimmer Tag und Nacht offen stand, enthielt nichts Sichtbares, das nicht allen gleich bekannt wurde. Immer wanderten einige Schüler oder Nachbarn oder Fremde die Treppe des Hauses auf und ab, blickten in alle Räume und traten, wenn sie nicht gerade den Rabbi selbst irgendwo antrafen, überall ein, wo es ihnen beliebte. Und einmal fanden sie in einem Waschtrog einen großen Klumpen rötlichen Tons.

So sehr hatte die Freiheit, die der Rabbi allen in seinem Haus gab, sie verwöhnt, daß sie sich nicht scheuten, den Ton zu betasten. Er war hart, kaum daß sich bei starkem Druck die Finger von ihm färbten, sein Geschmack – auch mit der Zunge mußten die Neugierigen an ihn heran – war bitter. Wofür der Rabbi ihn hier im Waschtrog aufbewahrte, war unverständlich.

 

Bitter, bitter, das ist das hauptsächlichste Wort. Wie will ich eine schwingende Geschichte aus Bruchstücken zusammenlöten?

 

Leicht flog ein schwacher weißgrauer Rauch ununterbrochen aus dem Kamin.

 

Der Rabbi stand mit aufgestülpten Ärmeln wie eine Wäscherin vor dem Trog und knetete den Ton, der schon in rohen Umrissen die menschliche Gestalt zeigte. Immer hielt der Rabbi, selbst wenn er nur an einer kleinen Einzelheit, etwa an einem Fingerglied arbeitete, die ganze Gestalt mit den Augen fest. Trotzdem die Figur doch sichtlich menschenähnlich zu gelingen schien, benahm sich der Rabbi wie ein Wütender, immer wieder fuhr sein Unterkiefer vor, ununterbrochen wälzten sich seine Lippen aneinander vorüber, und wenn er die Hände in dem bereitstehenden Wasserkübel feuchtete, stieß er so wild hinein, daß das Wasser die Decke des kahlen Gewölbes anspritzte.

 

11. Mai. Also Brief dem Direktor übergeben. Vorgestern. Bat entweder, falls Krieg im Herbst zu Ende ist, um langen Urlaub für später, und zwar ohne Gehalt, oder, falls der Krieg weitergeht, um Aufhebung der Reklamation. Das war eine ganze Lüge. Halbe Lüge wäre gewesen, wenn ich um sofortigen langen Urlaub gebeten hätte und für den Fall der Verweigerung um Entlassung. Wahrheit wäre gewesen, wenn ich gekündigt hätte. Beides wagte ich nicht, daher ganze Lüge.

Nutzlose heutige Unterredung. Direktor glaubt, ich wolle die drei Wochen des gewöhnlichen Urlaubs, die mir als Reklamiertem nicht gebühren, erpressen, bietet sie mir daher ohne weiteres an, war dazu angeblich schon vor dem Brief entschlossen. Vom Militär spricht er überhaupt nicht, als stünde es nicht im Brief. Wenn ich davon spreche, überhört er es. Langen Urlaub ohne Gehalt findet er offenbar komisch, erwähnt es vorsichtig in diesem Ton. Drängt mich, den Drei-Wochen-Urlaub sofort zu nehmen. Macht Zwischeneinfugungen als laienhafter Nervenarzt, wie alle. Ich hätte doch keine Verantwortung zu tragen wie er, seine Stellung, die könnte allerdings krank machen. Wieviel habe er auch früher gearbeitet, als er sich zur Advokatursprüfung vorbereitete und gleichzeitig in der Anstalt Dienst tat. Neun Monate elf Stunden Tagesarbeit. Und dann der Hauptunterschied. Hätte ich denn irgendwie und jemals für meine Stellung zu fürchten? Er aber hätte diese Furcht gehabt. Er hätte Feinde in der Anstalt gehabt, die alles mögliche versucht hätten, um ihm sogar in dieser Weise den »Lebensast« zu durchschneiden, ihn zum alten Eisen zu werfen.

Von meinem Schreiben spricht er merkwürdigerweise nicht.

Ich, schwächlich, trotzdem ich sehe, daß es fast um mein Leben geht. Bleibe aber dabei, daß ich zum Militär will und daß drei Wochen mir nicht genügen. Darauf verschiebt er die Fortsetzung der Unterredung. Wäre er nur nicht so freundlich und teilnehmend!

Ich werde an Folgendem festhalten: Ich will zum Militär, diesem zwei Jahre verhaltenen Wunsch nachgeben; aus verschiedenen Rücksichten, die nicht meine Person betreffen, würde ich, wenn ich einen langen Urlaub bekäme, diesen vorziehn. Das ist aber wohl aus amtlichen wie militärischen Rücksichten unmöglich. Unter langem Urlaub verstehe ich – der Beamte schämt sich, es zu sagen, der Kranke nicht – ein halbes oder ein ganzes Jahr. Ich will kein Gehalt, weil es sich nicht um eine organische, zweifellos feststellbare Krankheit handelt.

Das alles ist Fortsetzung der Lüge, kommt aber in der Wirkung, wenn ich konsequent bleibe, der Wahrheit nahe.

 

2. Juni. Was für Verirrungen mit Mädchen trotz aller Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Grauhaarigkeit, Verzweiflung. Ich zähle: es sind seit dem Sommer mindestens sechs. Ich kann nicht widerstehn; es reißt mir förmlich die Zunge aus dem Mund, wenn ich nicht nachgebe, eine Bewunderungswürdige zu bewundern und bis zur Erschöpfung der Bewunderung zu lieben. Gegenüber allen sechs habe ich fast nur innerliche Schuld, eine aber ließ mir durch jemanden Vorwürfe machen.

 

Aus ›Das Werden des Gottesglaubens‹ von N. Söderblom, Erzbischof von Upsala, ganz wissenschaftlich, ohne persönliche oder religiöse Teilnahme.

Urgottheit der Mesai: wie er das erste Vieh vom Himmel an einem Lederriemen in den ersten Kral hinunterläßt.

Urgottheit einiger australischer Stämme: er kam als mächtiger Medizinmann vom Westen, machte Menschen, Tiere, Bäume, Flüsse, Gebirge, setzte die heiligen Zeremonien ein und bestimmte, aus welchem Clan ein Mitglied eines bestimmten andern Clans sein Weib nehmen sollte. Als er fertig war, ging er davon. Die Medizinmänner können an einem Baum oder Seil zu ihm hinaufsteigen und Kraft holen.

Bei andern: während ihrer schöpferischen Wanderungen führten sie auch hie und da zum erstenmal die heiligen Tänze und Riten aus.

Bei andern: die Menschen schufen selbst in der Urzeit die Totemtiere durch Ausübung der Zeremonien. Die heiligen Riten brachten also selbst den Gegenstand, auf den sie gerichtet sind, hervor.

Die Bimbiga nahe der Küste kennen zwei Männer, welche in der Urzeit auf ihren Wanderungen Quellen, Waldungen und Zeremonien schufen.

 

19. Juni. Alles vergessen. Fenster öffnen. Das Zimmer leeren. Der Wind durchbläst es. Man sieht nur die Leere, man sucht in allen Ecken und findet sie nicht.

 

Mit Ottla. Sie von der Englischlehrerin abgeholt. Über den Quai, steinerne Brücke, kurzes Stück Kleinseite, neue Brücke, nach Hause. Aufregende Heiligenstatuen auf der Karlsbrücke. Das merkwürdige Abendlicht der Sommerzeit bei nächtlicher Leere der Brücke.

 

Freude über Maxens Befreiung. An die Möglichkeit glaubte ich, nun sehe ich aber noch die Wirklichkeit. Für mich jetzt wieder nicht.

 

Und sie hörten die Stimme Gottes des Herrn, der im Garten ging, da der Tag kühl geworden war.

 

Ruhe Adams und Evas.

 

Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und kleidete sie.

 

Wüten Gottes gegen die Menschenfamilie.
Die zwei Bäume,
das unbegründete Verbot,
die Bestrafung aller (Schlange, Frau und Mann),
die Bevorzugung Kains, den er durch die Ansprache noch reizt.
Die Menschen wollen sich durch meinen Geist nicht mehr strafen lassen.

 

Zur selbigen Zeit fing man an zu predigen von des Herrn Namen.

 

Und dieweil er ein göttlich Leben führte, nahm ihn Gott hinweg und ward nicht mehr gesehn.

 

3. Juli. Erster Tag in Marienbad mit F. Tür an Tür, von beiden Seiten Schlüssel.

 

Drei Häuser stießen aneinander und bildeten einen kleinen Hof. In diesem Hof waren in Schuppen noch zwei Werkstätten untergebracht, und in einer Ecke stand ein hoher Haufen kleiner Kisten. In einer äußerst stürmischen Nacht – der Wind trieb die Regenmassen über das niedrigste der Häuser scharf in den Hof hinein – hörte ein Student, der in einer Dachkammer noch über seinen Büchern saß, einen lauten Klageton aus dem Hof. Er fuhr auf und horchte, es blieb aber still, dauernd still. »Eine Täuschung wohl«, sagte sich der Student und begann wieder zu lesen. »Keine Täuschung«, so setzten sich nach einem Weilchen die Buchstaben im Buch förmlich zusammen. »Täuschung«, wiederholte er und half den unruhig werdenden Zeilen mit seinem Zeigefinger nach, den er entlangführte.

 

4. Juli. Eingesperrt in das Viereck eines Lattenzaunes, der nicht mehr Raum ließ als einen Schritt der Länge und Breite nach, erwachte ich. Es gibt ähnliche Hürden, in die Schafe des Nachts gepfercht werden, aber so eng sind sie nicht. Die Sonne schien in geradem Strahl auf mich; um den Kopf zu schützen, drückte ich ihn an die Brust und hockte mit gekrümmtem Rücken da.

 

Was bist du? Elend bin ich. Zwei Brettchen gegen die Schläfen geschraubt habe ich.

 

5. Juli. Mühsal des Zusammenlebens. Erzwungen von Fremdheit, Mitleid, Wollust, Feigheit, Eitelkeit und nur im tiefen Grunde vielleicht ein dünnes Bächlein, würdig, Liebe genannt zu werden, unzugänglich dem Suchen, aufblitzend einmal im Augenblick eines Augenblicks.

Arme F.

 

6. Juli. Unglückliche Nacht. Unmöglichkeit, mit F. zu leben. Unerträglichkeit des Zusammenlebens mit irgend jemandem. Nicht Bedauern dessen; Bedauern der Unmöglichkeit, nicht allein zu sein. Weiter aber: Unsinnigkeit des Bedauerns, Sichfügen und endlich Verstehn. Von der Erde aufstehn. Halte dich an das Buch. Aber wieder zurück: Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, von dem hohen Fenster hinunterspringen, aber auf den vom Regen durchweichten Boden, auf dem der Aufschlag nicht tödlich sein wird. Endloses Wälzen mit geschlossenen Augen, dargeboten irgendeinen! offenen Blick.

 

Nur das Alte Testament sieht – nichts darüber noch sagen.

 

Traum von Dr. H., saß hinter seinem Schreibtisch, irgendwie gleichzeitig angelehnt und vorgebeugt, wasserhelle Augen, führt langsam und genau in seiner Art einen klaren Gedankengang aus, höre selbst im Traume kaum etwas von seinen Worten, folge nur dem Methodischen, von dem sie getragen werden. War dann auch mit seiner Frau beisammen, sie trug viel Gepäck, spielte erstaunlicherweise mit meinen Fingern, ein Stück aus dem dicken Filz ihrer Ärmel war herausgerissen, dieser Ärmel, dessen kleinsten Teil ihre Arme ausfüllten, war mit Erdbeeren gefüllt.

 

Ausgelacht zu werden kümmerte Karl unbeschreiblich wenig. Was waren das für Burschen und was wußten sie. Glatte amerikanische Gesichter mit nur zwei, drei Falten, diese aber tief und wulstig eingeschnitten in dieser Stirn oder auf einer Seite der Nase und des Mundes. Geborene Amerikaner, deren Art festzustellen förmlich ein Behämmern ihrer steinernen Stirnen genügte. Was wußten sie ... [bricht ab]

 

Einer lag schwerkrank im Bett. Der Arzt saß beim Tischchen, das an das Bett geschoben war, und beobachtete den Kranken, der wiederum ihn ansah. »Keine Hilfe«, sagte der Kranke, nicht als frage, sondern als antworte er. Der Arzt öffnete ein wenig ein großes medizinisches Werk, das am Rande des Tischchens lag, sah flüchtig aus der Entfernung hinein und sagte, das Buch zuklappend: »Hilfe kommt aus Bregenz.« Und als der Kranke angestrengt die Augen zusammenzog, fügte der Arzt hinzu: »Bregenz in Vorarlberg.« – »Das ist weit«, sagte der Kranke.

 

Nimm mich auf in deine Arme, das ist die Tiefe, nimm mich auf in die Tiefe, weigerst du dich jetzt, dann später.

 

Nimm mich, nimm mich, Geflecht aus Narrheit und Schmerz.

 

Es fuhren die Neger aus dem Gebüsch. Um den mit silberner Kette umzogenen Holzpflock warfen sie sich im Tanz. Der Priester saß abseits, ein Stäbchen über dem Gong erhoben. Der Himmel war umwölkt, aber regenlos und still.

 

Ich war noch niemals, außer in Zuckmantel, mit einer Frau vertraut. Dann noch mit der Schweizerin in Riva. Die erste war eine Frau, ich unwissend, die zweite ein Kind, ich ganz und gar verwirrt.

 

13. Juli. Also öffne dich. Der Mensch komme hervor. Atme die Luft und die Stille.

 

Es war eine Kaffeewirtschaft in einem Heilbad. Der Nachmittag war regnerisch gewesen, kein Gast war erschienen. Erst gegen Abend lichtete sich der Himmel, der Regen hörte langsam auf, und die Kellnerinnen begannen die Tische abzutrocknen. Der Wirt stand unter dem Torbogen und blickte nach Gästen aus. Tatsächlich kam auch schon einer den Waldweg herauf. Er trug ein langgefranstes Plaid über der Schulter, hielt den Kopf zur Brust geneigt und setzte mit gestreckter Hand den Stock bei jedem Schritt weit von sich auf den Boden.

 

14. Juli. Isaak verleugnet seine Frau vor Abimelech, wie schon früher Abraham die seine.

 

Verwirrung mit den Brunnen in Gerar. Wiederholung eines Verses.

 

Die Sünden Jakobs. Prädestination Esaus.

 

Im trüben Sinn schlägt eine Uhr.
Höre auf sie, wenn du eintrittst ins Haus.Hier und an vereinzelten anderen Stellen des Tagebuches finden sich Zeichnungen. Hier ist die Opferung Isaaks durch Abraham angedeutet.

 

15. Juli. Er suchte Hilfe in den Wäldern, er sprang fast durch die Vorberge, er eilte zu den Quellen der ihm begegnenden Bäche, er schlug die Luft mit den Händen, er schnaufte durch Nase und Mund.

 

19. Juli.

Träume und weine, armes Geschlecht,
findest den Weg nicht, hast ihn verloren.
Wehe! ist dein Gruß am Abend, Wehe! am Morgen.

Ich will nichts, nur mich entreißen
Händen der Tiefe, die sich strecken,
mich Ohnmächtigen hinabzunehmen.
Schwer fall' ich in die bereiten Hände.

Tönend erklang in der Ferne der Berge
langsame Rede. Wir horchten.

Ach, sie trugen, Larven der Hölle,
verhüllte Grimassen, eng an sich gedrückt den Leib.

Langer Zug, langer Zug trägt den Unfertigen.

Sonderbarer Gerichtsgebrauch. Der zum Tode Verurteilte wird dort in seinem Zimmer vom Scharfrichter ohne Beisein anderer Personen erstochen. Er sitzt an seinem Tisch und beendet den Brief, in dem es heißt: Ihr Geliebten, Ihr Engel, wo schwebt ihr, unwissend, unfaßbar meiner irdischen Hand ... [bricht ab]

 

20. Juli. Aus einem Kamin der Nachbarschaft tauchte ein kleiner Vogel, hielt sich am Kaminrand fest, sah sich in der Gegend um, erhob sich und flog. Kein gewöhnlicher Vogel, der aus dem Kamin auffliegt. Aus einem Fenster des ersten Stockwerks blickte ein Mädchen zum Himmel auf, sah den Vogel hoch sich heben, rief: »Dort fliegt er, schnell, dort fliegt er«, und zwei Kinder drängten sich schon zu ihren Seiten, um den Vogel auch zu sehn.

 

Erbarme dich meiner, ich bin sündig bis in alle Winkel meines Wesens. Hatte aber nicht ganz verächtliche Anlagen, kleine gute Fähigkeiten, wüstete mit ihnen, unberatenes Wesen, das ich war, bin jetzt nahe am Ende, gerade zu einer Zeit, wo sich äußerlich alles zum Guten für mich wenden könnte. Schiebe mich nicht zu den Verlorenen. Ich weiß, es ist eine lächerliche, in der Ferne und schon sogar in der Nähe lächerliche Eigenliebe, die daraus spricht, aber lebe ich einmal, so habe ich auch die Eigenliebe des Lebendigen, und ist das Lebendige nicht lächerlich, dann auch seine notwendigen Äußerungen nicht. – Arme Dialektik!

Bin ich verurteilt, so bin ich nicht nur verurteilt zum Ende, sondern auch verurteilt, mich bis ins Ende hinein zu wehren.

 

An dem Sonntagvormittag kurz vor meiner Abreise schienst du mir beistehn zu wollen. Ich hoffte. Bis heute leeres Hoffen.

Und was ich auch klage, ist ohne Überzeugung, selbst ohne wirkliches Leid, schwingt wie der Anker eines verlorenen Schiffes weit über der Tiefe, die Halt geben könnte.

Gib mir nur Ruhe in den Nächten – kindisches Klagen.

 

21 Juli. Sie riefen. Es war schön. Wir standen auf, die verschiedensten Leute, versammelten uns vor dem Haus. Die Straße war still, wie an jedem frühen Morgen. Ein Bäckerjunge setzte seinen Korb nieder und sah uns zu. Alle kamen dicht hintereinander die Treppe herabgelaufen, die Bewohner aller sechs Stockwerke waren durcheinandergemischt, ich selbst half dem Kaufmann aus dem ersten Stock den Überzieher anziehn, den er bisher hinter sich hergeschleift hatte. Dieser Kaufmann führte uns, das war richtig, er war am meisten von uns allen in der Welt durchgesiebt. Zunächst ordnete er uns zu einem Haufen, ermahnte die Unruhigsten zur Ruhe, den Hut des Bankbeamten, den dieser immerfort schwenkte, nahm er und warf ihn auf die andere Straßenseite, jedes Kind wurde von einem Erwachsenen an die Hand genommen.

 

22. Juli. Sonderbarer Gerichtsgebrauch. Der Verurteilte wird in seiner Zelle vom Scharfrichter erstochen, ohne daß andere Personen zugegen sein dürfen. Er sitzt am Tisch und beendet seinen Brief oder seine letzte Mahlzeit. Es klopft, es ist der Scharfrichter. »Bist du fertig?« fragt er. Seine Fragen und Anordnungen sind ihm dem Inhalt und der Reihenfolge nach vorgeschrieben, er kann davon nicht abweichen. Der Verurteilte, der zuerst von seinem Platz aufgesprungen ist, sitzt wieder, starrt vor sich hin oder hat das Gesicht in die Hände gelegt. Da der Scharfrichter keine Antwort bekommt, öffnet er auf der Pritsche seinen Instrumentenkasten, wählt die Dolche aus und sucht ihre vielfältigen Schneiden noch stellenweise zu vervollkommnen. Es ist schon sehr dunkel, er stellt eine kleine Traglaterne auf und entzündet das Licht. Der Verurteilte wendet heimlich den Kopf nach dem Scharfrichter, als er aber seine Arbeit bemerkt, schauert ihn, er kehrt sich wieder um und will nichts mehr sehn. »Ich bin bereit«, sagt der Scharfrichter nach einem Weilchen.

»Bereit«, ruft mit schreiender Frage der Verurteilte, springt auf und sieht nun doch den Scharfrichter voll an. »Du wirst mich nicht töten, wirst mich nicht auf die Pritsche legen und erstechen, bist ja doch ein Mensch, kannst hinrichten auf dem Podium mit Gehilfen und vor Gerichtsbeamten, aber nicht hier in der Zelle, ein Mensch unter andern Menschen.« Und da der Scharfrichter gebeugt über dem Kasten schweigt, fügt der Verurteilte ruhiger hinzu: »Es ist unmöglich.« Und da auch jetzt der Scharfrichter stillbleibt, sagt der Verurteilte noch: »Gerade weil es unmöglich ist, ist dieser sonderbare Gerichtsgebrauch eingeführt worden. Die Form sollte noch gewahrt, aber die Todesstrafe nicht mehr vollzogen werden. Du wirst mich in ein anderes Gefängnis bringen, dort werde ich wahrscheinlich noch lange bleiben, aber hinrichten wird man mich nicht.« Der Scharfrichter lockerte einen neuen Dolch in seiner Wattehülle und sagte: »Du denkst wohl an die Märchen, in denen ein Diener den Auftrag bekam, ein Kind auszusetzen, dies aber nicht zustande brachte, sondern lieber das Kind einem Schuster in die Lehre gab. Das ist ein Märchen, hier ist aber kein Märchen.«

 

21. August. Zur Sammlung. »Alle schönen Worte vom Hinauswachsen über die Natur erweisen sich als wirkungslos gegenüber den Urmächten des Lebens.« (Aufsätze gegen Monogamie.)

 

27. August. Schlußansicht nach zwei schauerlichen Tagen und Nächten: Danke deinem Beamtenlaster der Schwäche, Sparsamkeit, Unschlüssigkeit, Berechnungskunst, Vorsorge usw., daß du die Karte an F. nicht weggeschickt hast. Es ist möglich, daß du sie nicht widerrufen hättest, ich räume ein, es ist möglich. Was wäre der Erfolg? Eine Tat, ein Aufschwung? Nein. Diese Tat hast du schon einigemal vollzogen, gebessert hat sich nichts. Suche es nicht zu erklären; gewiß kannst du alle Vergangenheit erklären, da du doch nicht einmal eine Zukunft wagen willst, ohne sie vorher erklärt zu haben. Was eben unmöglich ist. Das, was Verantwortungsgefühl ist und als solches sehr ehrenwert wäre, ist im letzten Grunde Beamtengeist, Knabenhaftigkeit, vom Vater her gebrochener Wille. Das bessere, daran arbeite, das liegt unmittelbar vor deiner Hand. Das heißt also, schone dich nicht (überdies auf Kosten des doch von dir geliebten Menschenlebens von F.), denn schonen ist unmöglich, das scheinbare Schonen hat dich heute fast zugrunde gerichtet. Es ist nicht nur das Schonen, was F., Ehe, Kinder, Verantwortung usw. betrifft, es ist auch das Schonen, was das Amt betrifft, in dem du hockst, was die schlechte Wohnung betrifft, aus der du dich nicht rührst. Alles. Also damit höre auf. Man kann sich nicht schonen, nicht vorausberechnen. Du weißt nichts von dir in der Hinsicht, was besser für dich ist. Heute in der Nacht zum Beispiel ist in dir auf Kosten deines Gehirnes und Herzens ein Kampf zwischen zwei ganz gleichwertigen gleichstarken Motiven durchgeführt worden, auf beiden Seiten Sorgen, das heißt Unmöglichkeit der Berechnung. Was bleibt übrig? Dich nicht mehr zu solchem Kampfplatz zu entwürdigen, wo förmlich ohne Rücksicht auf dich gekämpft wird und du nichts fühlst als die Stöße der schrecklichen Kämpfer. Dich schwinge also auf. Dich bessere, der Beamtenhaftigkeit entlaufe, fange doch an zu sehn, wer du bist, statt zu rechnen, was du werden sollst. Die nächste Aufgabe ist unbedingt: Soldat werden. Laß auch den unsinnigen Irrtum, daß du Vergleiche anstellst, etwa mit Flaubert, Kierkegaard, Grillparzer. Das ist durchaus Knabenart. Als Glied in der Kette der Berechnungen sind die Beispiele gewiß zu brauchen oder vielmehr mit den ganzen Berechnungen unbrauchbar, einzeln in Vergleich gesetzt sind sie aber schon von vornherein unbrauchbar. Flaubert und Kierkegaard wußten ganz genau, wie es mit ihnen stand, hatten den geraden Willen, das war nicht Berechnung, sondern Tat. Bei dir aber eine ewige Folge von Berechnungen, ein ungeheuerlicher Wellengang von vier Jahren. Mit Grillparzer stimmt der Vergleich vielleicht, aber Grillparzer scheint dir doch nicht nachahmenswert, ein unglückseliges Beispiel, dem die Künftigen danken sollen, weil er für sie gelitten hat.

 

8. Oktober. Foerster: Die Behandlung der im Schulleben enthaltenen menschlichen Beziehungen zu einem Gegenstand des Unterrichts machen.

 

Die Erziehung als Verschwörung der Großen. Wir ziehen die frei Umhertobenden unter Vorspiegelungen, an die wir auch, aber nicht in dem vorgegebenen Sinne glauben, in unser enges Haus. (Wer möchte nicht gern ein Edelmann sein? Türschließen.)

Das Lächerliche in der Erklärung und Bekämpfung von Max und Moritz.

Der Wert des Austobens der Laster, der durch nichts zu ersetzen ist, besteht darin, daß sie in ihrer ganzen Kraft und Größe aufstehn und sichtbar werden, selbst wenn man in der Erregung der Mitbeteiligung nur einen kleinen Schimmer von ihnen sieht. Man lernt das Matrosenleben nicht durch Übungen in einer Pfütze, wohl aber kann man durch allzu großes Training in der Pfütze unfähig zum Matrosen werden.

 

16. Oktober. Unter den vier Bedingungen, welche die Hussiten den Katholiken als Grundlage einer Vereinigung vorlegten, war auch die enthalten, daß alle Todsünden, worunter sie »Fressen, Saufen, Unkeuschheit, Lügen, Meineid, Wucher, Annahme eines Beicht- und Meßpfennigs« zählten, mit dem Tode bestraft werden sollten. Eine Partei wollte sogar einem jeden einzelnen das Recht eingeräumt wissen, die Todesstrafe zu vollziehn, sobald er irgendwen mit einer der genannten Sünden befleckt erblicken würde.

 

Ist es möglich, daß ich die Zukunft zuerst in ihren kalten Umrissen mit dem Verstand und dem Wunsch erkenne und erst, von ihnen gezogen und gestoßen, allmählich in die Wirklichkeit dieser gleichen Zukunft komme?

 

Wir dürfen den Willen, die Peitsche mit eigener Hand über uns schwingen.

 

18. Oktober. Aus einem Brief:An Felice Bauer.

Es ist nicht so einfach, daß ich das, was du über Mutter, Eltern, Blumen, Neujahr und Tischgesellschaft sagst, einfach hinnehmen könnte. Du sagst, daß es auch für dich »nicht zu den größten Annehmlichkeiten gehören wird, bei dir zu Hause mit deiner ganzen Familie am Tisch zu sitzen«. Du sagst damit natürlich nur deine Meinung, ganz richtigerweise ohne Rücksicht darauf, ob es mir Freude macht oder nicht. Nun, es macht mir nicht Freude. Aber es würde mir gewiß noch viel weniger Freude machen, wenn du das Gegenteil dessen geschrieben hättest. Bitte, sag mir so klar als es möglich ist, worin wird diese Unannehmlichkeit für dich bestehn und worin siehst du ihre Gründe? Wir haben ja, soweit ich in Frage komme, schon oft über die Sache gesprochen, aber es ist schwer, hier das Richtige nur ein wenig zu fassen.

In Schlagworten – und deshalb mit einer der Wahrheit nicht ganz entsprechenden Härte – kann ich meine Stellung etwa so umschreiben: Ich, der ich meistens unselbständig war, habe ein unendliches Verlangen nach Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit nach allen Seiten. Lieber Scheuklappen anziehn und meinen Weg bis zum Äußersten gehn, als daß sich das heimatliche Rudel um mich dreht und mir den Blick zerstreut. Deshalb wird jedes Wort, das ich zu meinen Eltern oder sie zu mir sagen, so leicht zu einem Balken, der mir vor die Füße fliegt. Alle Verbindung, die ich mir nicht selbst schaffe oder erkämpfe, sei es selbst gegen Teile meines Ich, ist wertlos, hindert mich am Gehn, ich hasse sie oder bin nahe daran, sie zu hassen. Der Weg ist lang, die Kraft ist klein, es gibt übergenug Grund zu solchem Haß. Nun stamme ich aber aus meinen Eltern, bin mit ihnen und den Schwestern im Blut verbunden, fühle das im gewöhnlichen Leben und infolge der notwendigen Verranntheit in meine besondern Absichten nicht, achte es aber im Grunde mehr, als ich weiß. Das eine Mal verfolge ich auch das mit meinem Haß, der Anblick des Ehebettes zu Hause, der gebrauchten Bettwäsche, der sorgfältig hingelegten Hemden kann mich bis zum Erbrechen reizen, kann mein Inneres nach außen kehren, es ist, als wäre ich nicht endgültig geboren, käme immer wieder aus diesem dumpfen Leben in dieser dumpfen Stube zur Welt, müsse mir dort immer wieder Bestätigung holen, sei mit diesen widerlichen Dingen, wenn nicht ganz und gar, so doch zum Teil unlöslich verbunden, noch an meinen laufenwollenden Füßen hängt es wenigstens, sie stecken noch im ersten formlosen Brei. Das ist das eine Mal.

Das andere Mal aber weiß ich wieder, daß es doch meine Eltern sind, notwendige, immer wieder Kraft gebende Bestandteile meines eigenen Wesens, nicht nur als Hindernis, sondern auch als Wesen zu mir gehörig. Dann will ich sie so haben, wie man das Beste haben will: habe ich seit jeher, in aller Bosheit, Unart, Eigensucht, Lieblosigkeit, doch vor ihnen gezittert und tue es eigentlich auch noch heute, denn damit kann man nicht aufhören, und haben sie, Vater von der einen Seite, Mutter von der andern, meinen Willen wiederum notwendigerweise fast gebrochen, dann will ich sie dessen auch würdig sehn. Ich bin von ihnen betrogen und kann doch, ohne verrückt zu werden, gegen das Naturgesetz nicht revoltieren, also wieder Haß und nichts als Haß (Ottla scheint mir zuzeiten so, wie ich eine Mutter von der Ferne wollte: rein, wahrhaftig, ehrlich, folgerichtig. Demütigkeit und Stolz, Empfänglichkeit und Abgrenzung, Hingabe und Selbständigkeit, Scheu und Mut in untrüglichem Gleichgewicht. Ich erwähnte Ottla, weil doch auch in ihr meine Mutter ist, ganz und gar unkenntlich allerdings.) Ich will sie also dessen würdig sehn.

Du gehörst zu mir, ich habe dich zu mir genommen, ich kann nicht glauben, daß in irgendeinem Märchen um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als um dich in mir, seit dem Anfang und immer von neuem und vielleicht für immer. Also du gehörst zu mir, deshalb ist mein Verhältnis zu deinen Verwandten ähnlich meinem Verhältnis zu den meinen, allerdings natürlich im Guten und Bösen unvergleichlich lauer. Sie geben eine Verbindung ab, die mich hindert (hindert, selbst wenn ich niemals ein Wort mit ihnen reden sollte), und sie sind im obigen Sinn nicht würdig. Ich rede zu dir so offen wie zu mir, du wirst es nicht übelnehmen und auch keinen Hochmut darin suchen, er ist zumindest dort, wo du ihn suchen könntest, nicht vorhanden.

Wenn du nun hier bist und an dem Tisch meiner Eltern sitzest, ist natürlich die Angriffsfläche, welche das mir Feindliche in meinen Eltern mir gegenüber hat, eine viel größere geworden. Meine Verbindung mit der Gesamtfamilie scheint ihnen eine viel größere geworden (sie ist es aber nicht und darf es nicht sein), ich scheine ihnen eingefügt in diese Reihe, deren ein Posten das Schlafzimmer nebenan ist (ich bin aber nicht eingefügt), gegen meinen Widerstand glauben sie, in dir eine Mithilfe bekommen zu haben (sie haben sie nicht bekommen), und ihr Häßliches und Verächtliches steigert sich, da es in meinen Augen einem Größern überlegen sein sollte.

Wenn dem so ist, warum freue ich mich dann über deine Bemerkung nicht? Weil ich förmlich vor meiner Familie stehe und unaufhörlich die Messer im Kreise schwinge, um die Familie immerfort und gleichzeitig zu verwunden und zu verteidigen, laß mich darin ganz dich vertreten, ohne daß du mich in diesem Sinn deiner Familie gegenüber vertrittst. Ist dir, Liebste, dieses Opfer nicht zu schwer? Es ist ungeheuerlich und wird dir nur dadurch erleichtert, daß ich, wenn du es nicht gibst, kraft meiner Natur es dir entreißen muß. Gibst du es aber, dann hast du viel für mich getan. Ich werde dir absichtlich ein bis zwei Tage nicht schreiben, damit du es, von mir ungestört, überlegen und beantworten kannst. Als Antwort genügt auch – so groß ist mein Vertrauen zu dir – ein einziges Wort.

 

30. Oktober. Zwei Herren sprachen im Sattelraum über ein Pferd, dem ein Stallknecht den Hinterleib massierte. »Ich habe Atro«, sagte der Ältere, Weißhaarige, und nagte, ein Auge etwas zugekniffen, leicht an seiner Unterlippe, »ich habe Atro seit einer Woche nicht mehr gesehen, das Gedächtnis für Pferde bleibt selbst bei größter Übung ein unsicheres. Ich vermisse jetzt an Atro manches, was es in meiner Vorstellung unbedingt besaß. Ich rede jetzt vom Gesamteindruck, die Einzelheiten mögen ja stimmen, wenn mir auch jetzt sogar eine Schlaffheit der Muskeln hie und da auffällt. Sehen Sie hier und hier.« Er bewegte forschend den geneigten Kopf und tastete mit den Händen in der Luft.


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