Franz Kafka
Tagebücher 1910–1923
Franz Kafka

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Reise Weimar-Jungborn

vom 28. Juni bis 29. Juli 1912

Ferienreise 1912, gemeinsam mit mir. Das am 29. Juni genannte Buch ist Kafkas erste Publikation ›Betrachtung‹. – Grete (Grete Öttingen. Anm. d. Red.) die junge hübsche Tochter des Hauswarts im Goethehaus. Hierüber Näheres in meiner Kafka-Biographie. – Die weitere Reise (über Weimar hinaus) machte Kafka allein. Daher am 7. Juli »Nach dem Abschied von dir« usw. Mein Urlaub war kürzer und bereits zu Ende. Die Notiz vom 8. Juli bezieht sich schon auf die Naturheilanstalt Jungborn im Harz. Zu Kafkas Interessengebieten gehörte immer die Naturheilkunde mit all ihren Unterarten wie Rohkost, Vegetarismus, Mazdaznan, Nacktkultur, Gymnastik, Impfgegnerschaft. Die seltsame Mischung von Respekt und Ironie, mit der er diesen Bewegungen gegenüberstand und sich auch jahrelang in einzelne von ihnen einzuordnen bemühte, ist keiner Analyse zugänglich. Das hier veröffentlichte Tagebuch gibt Kafkas Einstellung getreu wieder.

 

Freitag, 28. Juni. Abfahrt Staatsbahnhof. Gut beisammen. Sokoln verzögern die Zugabfahrt. Ausgezogen, in ganzer Länge auf der Bank gelegen. Elbeufer. Schöne Lage der Orte und Villen, ähnlich den Seeufern. Dresden. Mengen der frischen Waren überall. Reinliche korrekte Bedienung. Ruhig gesetzte Worte. Massives Aussehn der Bauten infolge der Betontechnik, die doch zum Beispiel in Amerika nicht so wirkt. Das sonst ruhige, von Wirbelringen marmorierte Elbewasser.

Leipzig. Gespräch mit unserem Dienstmann. Opels Hotel. Der halbe neue Bahnhof. Schöne Ruine des alten. Gemeinsames Zimmer. Von vier Uhr ab lebendig begraben, weil Max wegen des Lärms die Fenster zumachen muß. Großer Lärm. Dem Gehör nach zieht ein Wagen den andern hinter sich. Die Pferde wegen des Asphalts wie laufende Rennpferde anzuhören. Das sich entfernende, durch seine Unterbrechungen Gassen und Plätze andeutende Läuten der Elektrischen. Abend in Leipzig. Maxens topographischer Instinkt, mein Verlorensein. Dagegen stelle ich, später vom Führer bestätigt, einen schönen Erker am Fürstenhaus fest. Nachtarbeit auf einem Bauplatz, wahrscheinlich auf der Stelle von Auerbachs Keller. Nicht zu beseitigende Unzufriedenheit mit Leipzig. Lockendes Café Oriental. »Taubenschlag«, Bierstube. Der schwer bewegliche langbärtige Biervater. Seine Frau schenkt ein. Zwei große starke Töchter bedienen. Fächer in den Tischen. Lichtenhainer in Holzkrügen. Schandgeruch, wenn man den Deckel öffnet. Ein schwächlicher Stammgast, rötlich magere Wangen, faltige Nase, sitzt mit großer Gesellschaft, bleibt dann allein zurück, das Mädchen setzt sich mit ihrem Bierglas zu ihm. Das Bild des vor zwölf Jahren verstorbenen Stammgastes, der vierzehn Jahre lang hergegangen ist. Er hebt das Glas, hinter ihm ein Gerippe. Viele stark verbundene Studenten in Leipzig. Viel Monokel.

Samstag, 29. Juni. Frühstück. Der Herr, der Samstag die Quittung einer Geldsendung nicht unterschreibt. Spaziergang. Max zu Rowohlt. Buchgewerbemuseum. Kann mich vor den vielen Büchern nicht halten. Die altertümlichen Straßen dieses Verlagsviertels, trotz gerader Straßen und neuerer, allerdings schmuckloser Häuser. Öffentliche Lesehalle. Mittagessen in »Manna«. Schlecht. Wilhelms Weinstube, dämmriges Lokal in einem Hof. Rowohlt. Jung, rotwangig, stillstehender Schweiß zwischen Nase und Wangen, erst von den Hüften an beweglich. Graf Bassewitz, Verfasser von ›Judas‹, groß, nervös, trockenes Gesicht. Spiel in der Taille, gut behandelter starker Körper. Hasenclever, viel Schatten und Helligkeit im kleinen Gesicht, auch bläuliche Farben. Alle drei schwenken Stöcke und Arme. Eigentümliches tägliches Mittagessen in der Weinstube. Große breite Weinbecher mit Zitronenscheiben. Pinthus, Korrespondent des ›Berliner Tageblatts‹, dick, flacheres Gesicht, korrigiert dann im Café Français die Schreibmaschinenniederschrift einer Kritik der ›Johanna von Neapel‹ (Uraufführung am Abend vorher). Café Français. Rowohlt will ziemlich ernsthaft ein Buch von mir. Persönliche Verpflichtungen der Verleger und ihr Einfluß auf den Tagesdurchschnitt der deutschen Literatur. Im Verlag.

Abfahrt nach Weimar fünf Uhr. Das ältere Fräulein im Coupé.

Dunkle Haut. Schöne Rundungen an Kinn und Wangen. Wie sich die Nähte der Strümpfe um ihre Beine drehten, sie hatte das Gesicht mit der Zeitung verdeckt und wir sahen die Beine an. Weimar. Auch sie steigt dort aus, nachdem sie einen großen alten Hut angezogen hatte. Ich sah sie später einmal, als ich vom Marktplatz aus das Goethehaus beobachtete. Langer Weg zum Hotel Chemnitius. Fast den Mut verloren. Suchen der Badeanstalten. Dreiteilige Appartements, die man uns anweist. Max soll in einem Loch mit einer Luke schlafen. Freibad am Kirschberg. Schwanensee. Gang in der Nacht zum Goethehaus. Sofortiges Erkennen. Gelbbraune Farbe des Ganzen. Fühlbare Beteiligung unseres ganzen Vorlebens an dem augenblicklichen Eindruck. Das Dunkel der Fenster der unbewohnten Zimmer. Die helle Junobüste. Anrühren der Mauer. Ein wenig herabgelassene weiße Rouleaux in allen Zimmern. Vierzehn Gassenfenster. Die vorgehängte Kette. Kein Bild gibt das Ganze wieder. Der unebene Platz, der Brunnen, die dem ansteigenden Platz folgende gebrochene Baulinie des Hauses. Die dunklen, etwas länglichen Fenster in das Braungelbe eingelegt. Das auch an und für sich auffallendste bürgerliche Wohnhaus in Weimar.

Sonntag, 30. Vormittag. Schillerhaus. Verwachsene Frau, die vortritt und mit ein paar Worten, hauptsächlich durch die Tonart, das Vorhandensein dieser Andenken entschuldigt. Auf der Treppe Klio als Tagebuchführerin. Bild der hundertjährigen Geburtstagsfeier 10. November 1859, das ausgeschmückte, verbreiterte Haus. Italienische Ansichten, Bellagio, Geschenke Goethes. Nicht mehr menschliche Haarlocken, gelb und trocken wie Grannen. Maria Pawlowna, zarter Hals, Gesicht nicht breiter, große Augen. Die verschiedensten Schillerköpfe. Gute Anlage einer Schriftstellerwohnung. Wartezimmer, Empfangszimmer, Schreibzimmer, Schlafalkoven. Frau Junot, seine Tochter, ihm ähnlich. ›Baumzucht im Großen nach Erfahrungen im Kleinen‹, Buch seines Vaters.

Goethehaus. Repräsentationsräume. Flüchtiger Anblick des Schreib- und Schlafzimmers. Trauriger, an tote Großväter erinnernder Anblick. Dieser seit Goethes Tod fortwährend wachsende Garten. Die sein Arbeitszimmer verdunkelnde Buche.

Schon als wir im Treppenhaus unten saßen, lief sie mit ihrer kleinen Schwester an uns vorüber. Der Gipsabguß eines Windspiels, der unten im Treppenhaus steht, gehört in meiner Erinnerung mit zu diesem Laufen. Dann sahn wir sie wieder im Junozimmer, dann beim Anblick aus dem Gartenzimmer. Ihre Schritte und ihre Stimme glaubte ich noch öfters zu hören. Zwei Nelken durch das Balkongeländer gereicht. Zu später Eintritt in den Garten. Man sieht sie oben auf einem Balkon. Sie kommt herunter, später erst, mit einem jungen Mann. Ich danke im Vorübergehn dafür, daß sie uns auf den Garten aufmerksam gemacht hat. Wir gehn aber noch nicht weg. Die Mutter kommt, es entsteht Verkehr im Garten. Sie steht bei einem Rosenstrauch. Ich gehe, von Max gestoßen, hin, erfahre von dem Ausflug nach Tiefurt. Ich werde auch hingehn. Sie geht mit ihren Eltern. Sie nennt ein Gasthaus, von dem aus man die Tür des Goethehauses beobachten kann. Gasthaus zum Schwan. Wir sitzen zwischen Efeugestellen. Sie tritt aus der Haustür. Ich laufe hin, stelle mich allen vor, bekomme die Erlaubnis, mitzugehn, und laufe wieder zurück. Später kommt die Familie ohne Vater. Ich will mich anschließen, nein, sie gehn erst zum Kaffee, ich soll mit dem Vater nachkommen. Sie sagt, ich soll um vier ins Haus hineingehn. Ich hole den Vater, nach Abschied von Max. Gespräch mit dem Kutscher vor dem Tor. Weg mit dem Vater. Gespräch über Schlesien, Großherzog, Goethe, Nationalmuseum, Photographien und Zeichnen und das nervöse Zeitalter. Halt vor dem Haus, wo sie Kaffee trinken. Er läuft hinauf, um alle zum Erkerfenster zu rufen, weil er photographieren wird. Aus Nervosität mit einem kleinen Mädchen Ball gespielt. Weg mit den Männern, vor uns die zwei Frauen, vor ihnen die drei Mädchen. Ein kleiner Hund läuft zwischen uns hin und her. Schloß in Tiefurt. Besichtigung mit den drei Mädchen. Sie hat vieles von den Sachen auch im Goethehaus und besser. Erklärungen vor den Werther-Bildern. Zimmer des Fräuleins von Göchhausen. Die zugemauerte Tür. Der nachgemachte Pudel. Dann Aufbruch mit den Eltern. Zweimaliges Photographieren im Park. Eines auf einer Brücke, das nicht gelingen will. Endlich auf dem Rückweg endgültiger Anschluß ohne rechte Beziehung. Regen. Die Erzählungen von Breslauer Karnevalsscherzen beim Archiv. Abschied vor dem Haus. Mein Herumstehn in der Seifengasse. Max hat inzwischen geschlafen. Abend dreimaliges unverständliches Treffen. Sie mit ihrer Freundin. Zum ersten Mal begleiten wir sie. Ich kann abends nach sechs immer in den Garten kommen. Jetzt muß sie nach Hause. Dann wieder Zusammentreffen auf dem für ein Duell vorbereiteten Rundplatz. Sie sprechen mit einem jungen Mann mehr feindlich als freundlich. Warum sind sie aber nicht schon zu Hause geblieben, da wir sie doch bis auf den Goetheplatz begleitet hatten? Sie hatten doch eiligst nach Hause müssen. Warum rannten sie aber jetzt, offenbar ohne überhaupt zu Hause gewesen zu sein, von dem jungen Mann verfolgt oder um ihm zu begegnen, aus der Schillerstraße heraus, die kleine Treppe hinab, auf den abseits gelegenen Platz? Warum drehten sie sich dort, nachdem sie auf zehn Schritte Entfernung mit dem jungen Mann ein paar Worte gesprochen und scheinbar seine Begleitung abgelehnt hatten, wieder um und liefen allein zurück? Hatten wir sie gestört, die wir nur mit einfachem Gruß vorübergegangen waren? Später gingen wir langsam zurück; als wir auf den Goetheplatz kamen, liefen sie uns schon wieder aus einer andern Gasse, offenbar sehr erschreckt, fast in die Hände. Wir drehten uns aus Schonung um. Aber sie hatten also schon wieder einen Umweg gemacht.

Montag 1.Juli. Gartenhaus am Stern. Im Gras davor gezeichnet. Den Vers auf dem Ruhesitz auswendig gelernt. Kofferbett. Schlaf. Papagei im Hof, der » Grete« ruft. Nutzlos in die Erfurter Allee gegangen, wo sie nähen lernt. Baden.

 

Dienstag 2. Juli. Goethehaus. Mansarden. Beim Hausmeister die Photographien angesehn. Herumstehende Kinder. Photographiegespräche. Fortwährendes Aufpassen auf eine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Sie geht ins Nähen mit einer Freundin. Wir bleiben zurück.

Nachmittag Liszthaus. Virtuosenhaft. Die alte Pauline. Liszt von fünf bis acht gearbeitet, dann Kirche, dann zweiter Schlaf, von elf an Besuche. Max im Bad, ich hole die Photographien, treffe sie vorher, komme mit ihr vors Tor. Der Vater zeigt mir die Bilder, ich bringe Photographieständer, endlich muß ich doch gehn. Sie lächelt mir sinnlos nutzlos hinter dem Rücken des Vaters zu. Traurig. Einfall, die Photographien vergrößern zu lassen. In die Drogerie. Wieder zurück ins Goethehaus wegen des Negativs. Sie sieht mich vom Fenster aus und öffnet. – Vielfaches Treffen der Grete. Beim Erdbeeressen, vor Werthers Garten, wo ein Konzert ist. Ihre Beweglichkeit des Körpers im losen Kleid. Die großen Offiziere, die aus dem ›Russischen Hof‹ kommen. Vielerlei Uniformen. Die Schlanken, Starken in den dunklen Kleidern. – Die Rauferei in der entlegenen Gasse. »Du mußt schon der schönste Dreckorsch sein!« Die Leute an den Fenstern. Die abgehende Familie, ein Betrunkener, eine alte Frau mit Rückenkorb und zwei Burschen als Anhängsel.

Daß ich bald wegfahren muß, drückt mich in der Kehle. Entdeckung von ›Tivoli‹. Tische an der Wand heißen »Seitenbalkon«. Die alte Schlangendame, ihr Mann, der als Zauberer dient. Die weiblichen Deutschmeister.

 

Mittwoch 3. Juli. Goethehaus. Es soll im Garten photographiert werden. Sie ist nicht zu sehn, ich darf sie dann holen. Sie ist immer ganz zittrig von Bewegung, bewegt sich aber erst, wenn man zu ihr spricht. Es wird photographiert. Wir zwei auf der Bank. Max zeigt dem Mann, wie es zu machen ist. Sie gibt mir ein Rendezvous für den nächsten Tag. Öttingen schaut durchs Fenster und verbietet Max und mir, die wir gerade allein beim Apparat stehn, das Photographieren. Wir photographieren doch nicht! Damals war die Mutter noch freundlich.

Abgesehen von den Schulen und den Nichtzahlenden kommen dreißigtausend Menschen im Jahr. – Bad. Ernste, ruhige Ringkämpfe der Kinder.

Großherzogliche Bibliothek am Nachmittag. Trippel-Büste. Das Lob des Führers. Der immer zu erkennende Großherzog. Massives Kinn und starke Lippen, Hand im zugeknöpften Rock. Goethebüste von David [d'Angers] mit nach hinten gesträubtem Haar und großem, gespanntem Gesicht. Die durch Goethe vorgenommene Umwandlung eines Palais in eine Bibliothek. Büsten von Passow (hübscher, kraushaariger Junge), Zacharias Werner, schmales, prüfendes, vordringendes Gesicht. Gluck. Abgegossen vom Leben. Die Löcher im Mund von den Röhren, durch die er geatmet hat. Goethes Arbeitszimmer. Durch eine Tür tritt man gleich in den Garten der Frau von Stein. Die von einem Sträfling aus einer Rieseneiche ohne einen einzigen Nagel gearbeitete Treppe.

Spaziergang im Park mit dem Zimmermannssohn Fritz Wenski. Seine ernsten Reden. Er schlägt dabei mit einem Zweig in die Büsche. Er wird auch Zimmermann werden und wandern. Jetzt wandert man nicht mehr so wie zu seines Vaters Zeiten, die Eisenbahn verwöhnt. Um Fremdenführer zu werden, müßte man Sprachen kennen, also entweder sie in der Schule lernen oder solche Bücher kaufen. Was er vom Park weiß, hat er entweder in der Schule gelernt oder von Führern gehört. Auffallende Führerbemerkungen, die zu dem sonstigen nicht passen, zum Beispiel über das römische Haus nichts als: Die Tür war für die Lieferanten bestimmt.

Borkenhäuschen. Shakespeare-Denkmal. Kinder um mich auf dem Karlsplatz. Gespräche über die Marine. Der Ernst der Kinder. Besprechung von Schiffsuntergängen. Überlegenheit der Kinder. Versprechen eines Balles. Verteilung der Kekse. Gartenkonzert ›Carmen‹. Ganz durchdrungen davon.

 

Donnerstag 4. Juli. Goethehaus. Bestätigung des versprochenen Rendezvous mit lautem Ja. Sie sah aus dem Tor. Falsche Erklärung dessen, denn auch während unserer Anwesenheit sah sie hinaus. Ich fragte noch einmal: »Auch bei Regen?« – »Ja.«

Max fährt nach Jena zu Diederichs. Ich Fürstengruft. Mit den Offizieren. Über Goethes Sarg goldner Lorbeerkranz, gestiftet von den deutschen Frauen Prags 1882. Alle auf dem Friedhof wiedergefunden. Grab der Goetheschen Familie. Walter von Goethe geb. Weimar 9. April 1818, gest. Leipzig 15. April 1885, »mit ihm erlosch Goethes Geschlecht, dessen Name alle Zeiten überdauert«, Grabinschrift der Frau Karoline Falk: »Während Gott ihr sieben der eigenen Kinder nahm, wurde sie fremden Kindern eine Mutter. Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.« Charlotte von Stein: 1742-1827.

Bad. Nachmittag nicht geschlafen, um das unsichere Wetter nicht aus den Augen zu lassen. Sie kam nicht zum Rendezvous.

Treffe Max angekleidet im Bett. Beide unglücklich. Wenn man das Leid aus dem Fenster schütten könnte.

Abend Hiller mit seiner Mutter. – Ich laufe vom Tisch weg, weil ich sie zu sehen glaubte. Täuschung. Dann alle vors Goethehaus. Sie gegrüßt.

 

Freitag 5. Juli. Vergeblicher Gang zum Goethehaus. – Goethe-Schiller-Archiv. Briefe von Lenz. Brief der Frankfurter Bürger an Goethe, 28. August 1830:

»Einige Bürger der alten Maynstadt, seit langem hier gewöhnt, den 28. August mit dem Becher in der Faust zu begrüßen, würden die Gunst des Himmels preisen, könnten sie den seltenen Frankfurter, den dieser Tag gebracht, im Weichbild der Freistadt selbst willkommen heißen.

Weil es aber von Jahr zu Jahr bei Hoffen und Harren und Wünschen bleibt, so reichen sie einstweilen über Wälder und Fluren, Marken und Mauten den schimmernden Pokal nach der glücklichen Ilmstadt hinüber und bitten ihren verehrten Landsmann um die Gunst, in Gedanken mit ihm anstoßen und singen zu dürfen:

Willst du Absolution
Deinen Treuen geben,
Wollen wir nach deinem Wink
Unabläßlich streben,
Uns vom Halben zu entwöhnen
und im Ganzen Guten Schönen
resolut zu leben.«

1757 »Erhabene Großmama! ...«

Jerusalem an Kestner: »Dürfte ich Ew. Wohlgeboren wohl zu einer vorhabenden Reise um Ihre Pistolen gehorsamst ersuchen?« Lied der Mignon, ohne einen Strich. –

Photographien geholt. Hingebracht. Nutzlos herumgestanden, nur drei Photographien von den sechs abgegeben. Und gerade die schlechtem, in der Hoffnung, daß der Hausmeister, um sich zu rechtfertigen, von neuem photographieren wird. Keine Spur.

Bad. Direkt von dort in die Erfurter Straße. Max zum Mittagsmahl. Sie kommt mit zwei Freundinnen. Ich greife sie heraus. Ja, sie mußte gestern zehn Minuten früher weggehn, hat erst jetzt von ihren Freundinnen von meinem gestrigen Warten erfahren. Sie hatte auch Ärger wegen der Tanzstunden. Sie liebt mich sicher nicht, einigen Respekt aber hat sie. Ich gebe ihr die mit dem Herzchen und der Kette umwundene Schokoladenschachtel und begleite sie ein Stück. Ein paar Worte hin und her über ein Rendezvous. Morgen um elf vor dem Goethehaus. Das kann nur eine Ausrede sein, sie muß ja kochen und dann: vor dem Goethehaus! aber ich nehme es doch an. Traurige Annahme. Gehe ins Hotel, sitze ein Weilchen bei Max, der im Bett liegt.

Nachmittag Ausflug nach Belvedere. Hiller und Mutter. Schöne Fahrt im Wagen durch eine einzige Allee. Überraschende Anordnung des Schlosses, das aus einem Hauptteil und vier seitlich angeordneten Häuschen besteht, alles niedrig und zart gefärbt. Ein niedriger Springbrunnen in der Mitte. Blick vorwärts nach Weimar. Der Großherzog war schon seit einigen Jahren nicht hier. Er ist Jäger und hier ist keine Jagd. Der ruhige entgegenkommende Bediente mit glattrasiertem eckigem Gesicht. Traurig wie vielleicht alles Volk, das sich unter Herrschaften bewegt. Trauer der Haustiere. Maria Pawlowna, Schwiegertochter des Großherzogs Karl August, Tochter der Maria Fedorowna und des Kaisers Paul, der erdrosselt wurde. Viel Russisches. Cloisone, Kupfergefäße mit aufgehämmerten Drähten, zwischen die das Email gegossen wird. Die Schlafzimmer mit Himmelskuppel. Photographien in den noch bewohnbaren Zimmern die einzige Modernisierung. Wie sie sich unbeobachtet auch einordnen werden! Zimmer Goethes, ein unteres Eckzimmer. Einige Deckenbilder Oesers, bis zur Unkenntlichkeit aufgefrischt. Viel Chinesisches. Das »dunkle Kammerfrauenzimmer«. Das Naturtheater mit den zwei Zuschauerreihen. Der aus mit den Lehnen aneinandergestellten Bänken bestehende Wagen, dos à dos, in dem die Damen saßen, während die begleitenden Kavaliere neben ihnen ritten. Der schwere Wagen, in dem Maria Pawlowna mit ihrem Mann in sechsundzwanzig Tagen dreispännig von Petersburg nach Weimar auf der Hochzeitsreise fuhr. Naturtheater und Park von Goethe eingerichtet.

Abend zu Paul Ernst.Paul Ernst. Neuklassizistischer Dichter (1866-1933), Verfasser von Dramen (›Canossa‹, ›Brunhild‹), Novellen und Essays. Auf der Gasse zwei Mädchen nach der Wohnung des Schriftstellers Paul Ernst gefragt. Sie schauen uns zuerst nachdenklich an, dann stößt eine die andere, als wolle sie sie an einen Namen erinnern, der ihr gerade nicht einfällt. Meinen Sie Wildenbruch? fragt uns dann die andere. – Paul Ernst. Über den Mund gehender Schnurrbart und Spitzbart. Hält sich am Sessel fest oder an den Knien, obwohl er auch bei Erregung (wegen seiner Kritiker) nicht losgeht. Wohnt am Horn. Eine Villa, scheinbar ganz mit seiner Familie angefüllt. Eine Schüssel stark riechender Fische, welche die Treppe hinaufgetragen werden sollte, wird bei unserem Anblick wieder in die Küche zurückgebracht. – Eintritt des Paters Expeditus Schmitt, mit dem ich schon einmal auf der Hoteltreppe zusammengestoßen bin. Arbeitet im Archiv an einer Otto-Ludwig-Ausgabe. Will Nargileh ins Archiv einführen. Schimpft eine Zeitung »fromme Giftkröte«, weil sie die von ihm herausgegebenen »Heiligenlegenden«›Die schönsten Heiligenlegenden in Wort und Bild‹, herausgegeben von Dr. P. Expeditus Schmitt, O. F. M. (mit Bildern von Franz Pocci), Verlag Hans von Weber, München 1912. angegriffen hat.

 

Samstag 6. Juli. – Zu Johannes Schlaf.Johannes Schlaf (1862-1941) gehört mit Arno Holz zu den Schrittmachern der modernen realistischen Literatur in Deutschland, zu den Vorläufern Gerhart Hauptmanns. In den Jahren vor unserem Besuch machte er wieder von sich reden, indem er eine antikopernikanische Theorie aufstellte und heftig verfocht, der zufolge die Sonne sich um die Erde bewegt. Alte, ihm ähnliche Schwester empfängt uns. Er ist nicht zu Hause. Wir kommen abends wieder.

Einstündiger Spaziergang mit Grete. Sie kommt scheinbar im Einverständnis mit ihrer Mutter, mit der sie noch von der Gasse aus durchs Fenster spricht. Rosa Kleid, mein Herzchen. Unruhe wegen des großen Balles am Abend. Ohne jede Beziehung zu ihr gewesen. Abgerissenes, immer wieder angefangenes Gespräch. Einmal besonders rasches, dann wieder besonders langsames Gehen. Anstrengung, um keinen Preis deutlich werden zu lassen, wie wir mit keinem Fädchen zusammenhängen. Was treibt uns gemeinsam durch den Park? Nur mein Trotz?

Gegen Abend bei Schlaf. Vorher Besuch bei Grete. Sie steht vor der ein wenig geöffneten Küchentür in dem lange vorher gepriesenen Ballkleid, das gar nicht so schön ist wie ihr gewöhnliches.

Schwer verweinte Augen, offenbar wegen ihres Haupttänzers, der ihr schon überhaupt viel Sorgen gemacht hat. Ich verabschiede mich für immer. Sie weiß es nicht, und wenn sie es wüßte, läge ihr auch nichts daran. Ein Weib, das Rosen bringt, stört noch den kleinen Abschied. Auf den Gassen von allen Seiten Tanzstundenherren und -damen.

Schlaf. Wohnt nicht gerade in einer Dachstube, wie es Ernst, der mit ihm zerfallen ist, uns einreden wollte. Lebhafter Mann, den starken Oberkörper von einem fest zugeknöpften Rock umspannt. Nur die Augen zucken nervös und krank. Spricht hauptsächlich von Astronomie und seinem geozentrischen System. Alles andere, Literatur, Kritik, Malerei, hängt nur noch so an ihm, weil er es nicht abwirft. Weihnachten wird sich übrigens alles entscheiden. Er zweifelt an seinem Sieg nicht im geringsten. Max sagt, seine Lage gegenüber den Astronomen sei der Lage Goethes gegenüber den Optikern ähnlich. »Ähnlich«, antwortet er, immer mit Handgriffen auf dem Tisch, »aber viel günstiger, denn ich habe unbestreitbare Tatsachen für mich.« Sein kleines Fernrohr für vierhundert Mark. Zu seiner Entdeckung braucht er es gar nicht, auch Mathematik nicht. Er lebt in vollem Glück. Sein Arbeitsgebiet ist endlos, da seine Entdeckung einmal anerkannt, ungeheure Folgen in allen Gebieten (Religion, Ethik, Ästhetik usw.) haben wird und er natürlich zuerst zu ihrer Bearbeitung berufen ist. Als wir kamen, hat er gerade Besprechungen, die anläßlich seines fünfzigsten Geburtstages erschienen waren, in ein großes Buch geklebt. »Bei solchen Gelegenheiten machen sie es milde.«

Vorher Spaziergang mit Paul Ernst im Webicht. Seine Verachtung unserer Zeit, Hauptmanns, Wassermanns, Thomas Manns. Ohne Rücksicht auf unsere mögliche Meinung wird Hauptmann in einem kleinen Nebensatz, den man erst lange nachdem er ausgesprochen ist, auffaßt, ein Schmierer genannt. Sonst vage Äußerungen über Juden, Zionismus, Rassen usw., in allem nur bemerkenswert, daß es ein Mann ist, der seine ganze Zeit mit allen Kräften gut angewendet hat. – Trockenes, automatisches »Ja, ja« in kleinen Zwischenräumen, wenn der andere spricht. Einmal ging es so weit, daß ich es nicht mehr glaubte. –

7. Juli. Siebenundzwanzig, Nummer des Packträgers in Halle. – Jetzt halb sieben in der Nähe des Gleim-Denkmals auf die schon lange gesuchte Bank niedergefallen. Wäre ich ein Kind, so müßte ich mich abtransportieren lassen, so schmerzen mir die Beine. – Nach dem Abschied von dir, mich noch lange nicht allein gefühlt. Und dann wieder so dumpf geworden, daß es noch kein Alleinsein war. – Halle, kleines Leipzig. Diese Kirchturmpaare hier und in Halle, die durch kleine Holzbrücke oben am Himmel verbunden sind. – Schon das Gefühl, daß du diese Sachen nicht gleich, sondern erst später lesen wirst, macht mich so unsicher. – Der Radfahrerklub, der sich auf dem Markt in Halle zu einem Ausflug versammelt. Die Schwierigkeit, allein eine Stadt oder auch nur eine Gasse anzusehn.

Gutes vegetarisches Mittagessen. Zum Unterschied von den sonstigen Gastwirten schlägt gerade den vegetarischen Wirten das Vegetarische nicht gut an. Ängstliche Leute, die von der Seite an einen herankommen.

Fahrt von Halle mit vier Prager Juden: zwei angenehmen lustigen, älteren starken Männern, einer dem Dr. K. ähnlich, einer meinem Vater, nur viel kleiner, dann ein schwacher, von der Hitze hingeschlagener junger Ehemann und seine abscheuliche, gutgebaute junge Frau, deren Gesicht irgendwie aus der Familie X herkommt. Sie liest einen Drei-Mark-Ullsteinroman von Ida Boy-Ed, mit dem ausgezeichneten, wahrscheinlich von Ullstein erfundenen Titel ›Ein Augenblick im Paradies‹. Ihr Mann fragt sie, wie es ihr gefällt. Sie hat aber erst angefangen. »Bis dato kann man nichts sagen.« Ein guter Deutscher mit trockener Haut und schön über Wangen und Kinn verteiltem, weißlichblondem Bart nimmt an allem, was bei den vieren vorgeht, einen merkwürdig freundlichen Anteil.

Eisenbahnhotel, Zimmer unten an der Straße, mit einem Gärtchen davor. Weg in die Stadt. Eine ganz und gar alte Stadt. Fachwerkbau scheint die für die größere Dauer berechnete Bauart zu sein. Die Balken verbiegen sich überall, die Füllung sinkt ein oder baucht sich aus, das Ganze bleibt und fällt höchstens mit der Zeit ein wenig zusammen und wird dadurch noch fester. So schön habe ich Menschen in den Fenstern noch nicht lehnen sehn. Meist sind auch die Mittelleisten der Fenster festgemacht. Man legt die Schultern an sie, Kinder drehn sich um sie. In einem tiefen Flur sitzen auf den ersten Stufen starke Mädchen in ihren Sonntagskleidern ausgebreitet. Drachenweg. Katzenplan. Im Park mit kleinen Mädchen auf einer Bank, die wir als Mädchenbank gegen Jungen verteidigen. Polnische Juden. Die Kinder rufen ihnen Itzig zu und wollen sich nach ihnen nicht gleich auf die Bank setzen.

Jüdische Gastwirtschaft N. N. mit hebräischer Aufschrift. Es ist ein verwahrlostes, schloßartiges Gebäude mit großem Treppenaufbau, das aus engen Gassen frei hervortritt. Ich gehe hinter einem Juden, der aus der Wirtschaft kommt, und spreche ihn an. Nach neun. Ich will etwas über die Gemeinde wissen. Erfahre nichts. Bin ihm zu verdächtig. Immerfort schaut er auf meine Füße. Aber ich bin doch auch Jude. Dann kann ich bei N. N. logieren. – Nein, ich habe schon eine Wohnung. – So. – Plötzlich geht er nahe an mich heran. Ob ich nicht vor einer Woche in Schöppenstedt gewesen bin. Vor seinem Haustor verabschieden wir uns; er ist glücklich, daß er mich losgeworden ist; ohne daß ich danach frage, sagt er mir noch, wie man zur Synagoge geht.

Leute im Schlafrock auf der Türstufe. Alte, sinnlose Inschriften. Die Möglichkeiten durchdacht, auf diesen Gassen, Plätzen, Gartenbänken, Bachufern aus dem Vollen unglücklich zu sein. Wer weinen kann, soll am Sonntag herkommen. Abend nach fünfstündigem Herumgehn in meinem Hotel auf der Terrasse vor einem kleinen Gärtchen. Am Tisch nebenan die Wirtsleute mit einer jungen, witwenhaft aussehenden, lebhaften Frau. Wangen unnötig mager. Frisur geteilt und aufgebauscht.

 

8. Juli. Mein Haus heißt ›Ruth‹. Praktisch eingerichtet. Vier Luken, vier Fenster, eine Tür. Ziemlich still. Nur in der Ferne spielen sie Fußball, die Vögel singen stark, einige Nackte liegen still vor meiner Tür. Alles, bis auf mich, ohne Schwimmhosen. Schöne Freiheit. Im Park, Lesezimmer usw. bekommt man hübsche, fette Füßchen zu sehn.

 

9. Juli. Gut geschlafen in der nach drei Seiten freien Hütte. Ich kann an meiner Türe lehnen wie ein Hausbesitzer. In den verschiedensten Zeiten in der Nacht aufgekommen und immer Ratten oder Vögel gehört, die um die Hütte herum im Gras kollerten oder flatterten. Der leopardartig gefleckte Herr. Gestern abend Vortrag über Kleidung. Den Chinesinnen werden die Füße verkrüppelt, damit sie einen großen Hintern bekommen.

Der Arzt, früherer Offizier, geziertes, irrsinnig, weinerlich, burschikos aussehendes Lachen. Geht schwunghaft. Anhänger von Mazdaznan. Ein für den Ernst geschaffenes Gesicht. Glatt rasiert, Lippen zum Aneinanderpressen. Er tritt aus seinem Ordinationszimmer, man geht an ihm vorüber hinein. »Bitte einzutreten!« lacht er einem nach. Verbietet mir das Obstessen mit dem Vorbehalt, daß ich ihm nicht folgen muß. Ich bin ein gebildeter Mann, soll seine Vorträge anhören, die auch gedruckt sind, soll die Sache studieren, mir meine Meinung bilden und mich dann darnach verhalten.

Aus seinem gestrigen Vortrag: »Wenn man selbst vollständig verkrüppelte Zehen hat, an einer solchen Zehe aber zieht und dabei tief atmet, so kann man sie mit der Zeit gerade machen.« Nach einer bestimmten Übung wachsen die Geschlechtsteile. Aus den Verhaltungsmaßregeln: »Luftbäder in der Nacht sind sehr zu empfehlen (ich gleite einfach, wenn es mir paßt, aus meinem Bett und trete in die Wiese vor meiner Hütte), nur soll man sich dem Mondlicht nicht zu sehr aussetzen, das ist schädlich.« Unsere gegenwärtigen Kleider kann man gar nicht waschen!

Heute früh: Waschen, Müllern, gemeinsames Turnen (ich heiße der Mann mit den Schwimmhosen), Singen einiger Choräle, Ballspiel im großen Kreis. Zwei schöne schwedische Jungen mit langen Beinen. Konzert einer Militärkapelle aus Goslar. Nachmittag Heu gewendet. Abend mir den Magen so verdorben, daß ich vor Verdruß keinen Schritt machen will. Ein alter Schwede spielt mit einigen kleinen Mädchen Fangen und ist so am Spiel beteiligt, daß er einmal im Laufen ausruft: »Wartet, ich werde euch diese Dardanellen sperren.« Meint den Durchgang zwischen zwei Gebüschen. Als ein altes, nicht hübsches Kindermädchen vorüberging: »Es ist doch etwas, an das man klopfen könnte« (der Rücken im schwarzen, weißpunktierten Kleid). Das immerwährende, grundlose Bedürfnis, sich anzuvertrauen. Jeden Menschen daraufhin ansehn, ob es bei ihm möglich ist und ob er für sich eine Gelegenheit hat.

 

10. Juli. Fuß verstaucht. Schmerzen. Grünfutter aufgeladen. Nachmittag Spaziergang nach Ilsenburg mit einem ganz jungen Gymnasialprofessor aus Nauheim; kommt nächstes Jahr vielleicht nach Wickersdorf. Koedukation, Naturheilkunde, Cohen, Freud. Geschichte von dem von ihm geführten Ausflug der Mädchen und Knaben. Gewitter, alle durchnäßt, müssen sich in der nächsten Herberge in einem Zimmer vollständig ausziehn.

In der Nacht Fieber vom geschwollenen Fuß her. Der Lärm, den die vorüberlaufenden Kaninchen machen. Als ich in der Nacht aufstehe, sitzen auf der Wiese vor meiner Tür drei solche Kaninchen. Ich träume, daß ich Goethe deklamieren höre, mit einer unendlichen Freiheit und Willkür.

 

11. Juli. Gespräch mit einem Dr. Friedrich Sch., Magistratsbeamter, Breslau, der lange in Paris gewesen ist, um die städtischen Einrichtungen zu studieren. Gewohnt in einem Hotel mit der Aussicht in den Hof des Palais Royal. Früher in einem Hotel beim Observatoire. Eines Nachts war im Nebenzimmer ein Liebespaar. Das Mädchen schrie vor Glück in unverschämter Weise. Erst als er sich durch die Wand anbot, einen Arzt zu holen, wurde sie still, und er konnte schlafen.

Meine beiden Freunde stören mich, ihr Weg geht an meiner Hütte vorüber, und da bleiben sie immer ein Weilchen an meiner Tür stehn zu einer kleinen Unterhaltung oder Einladung zu einem Spaziergang. Ich bin ihnen aber auch dankbar dafür.

In der ›Evangelischen Missionszeitung‹, Juli 1912, über Missionen in Java: »Soviel sich auch gegen die dilettantische ärztliche Tätigkeit der Missionäre, die sie in großem Umfange ausüben, mit Recht einwenden läßt, so ist sie doch wiederum das Haupthilfsmittel ihrer Missionstätigkeit und nicht zu entbehren.«

Hie und da bekomme ich leichte, oberflächliche Übelkeiten, wenn ich, meistens allerdings in einiger Entfernung, diese gänzlich Nackten langsam zwischen den Bäumen sich vorbeibewegen sehe. Ihr Laufen macht es nicht besser. Jetzt ist an meiner Tür ein ganz fremder Nackter stehengeblieben und hat mich langsam und freundlich gefragt, ob ich hier in meinem Hause wohne, woran doch kein Zweifel ist. Sie kommen auch so unhörbar heran. Plötzlich steht einer da, man weiß nicht, woher er gekommen ist. Auch alte Herren, die nackt über Heuhaufen springen, gefallen mir nicht.

Abend Spaziergang nach Stapelburg. Mit den zweien, die ich einander vorgestellt und empfohlen habe. Ruine. Rückkehr zehn Uhr. Zwischen zwei Heuhaufen auf der Wiese vor meiner Hütte einige schleichende Nackte, die in der Ferne vergehn. In der Nacht, als ich durch die Wiese nach dem Klosett wandere, schlafen drei im Gras.

 

12. Juli. Erzählungen des Dr. Sch. Ein Jahr auf Reisen. Dann lange Debatte im Gras über das Christentum. Der alte blauäugige Adolf Just, der alles mit Lehm heilt und mich vor dem Arzt warnt, der mir Obst verboten hat. Die Verteidigung Gottes und der Bibel durch ein Mitglied der ›Christlichen Gemeinschaft‹; liest als Beweis, der gerade gebraucht wird, einen Psalm vor. Mein Dr. Sch. blamiert sich mit seinem Atheismus. Die Fremdwörter Illusion, Autosuggestion helfen ihm nichts. Ein Unbekannter fragt, warum es den Amerikanern so gut geht, obwohl sie bei jedem zweiten Wort fluchen. Bei den meisten ist es nicht möglich, ihre wirkliche Meinung festzustellen, obwohl sie sich lebhaft beteiligen. Der, welcher so überstürzt vom Blumentag sprach und wie sich gerade die Methodisten zurückhielten. Der aus der ›Christlichen Gemeinde‹, der mit seinem schönen kleinen Jungen aus einer kleinen Tüte Kirschen und trockenes Brot mittagmahlt und sonst den ganzen Tag im Gras liegt, drei Bibeln vor sich aufgeschlagen hat und Notizen macht. Er ist erst seit drei Jahren auf dem rechten Weg. Die Ölskizzen des Dr. Sch. aus Holland. Pont neuf.

Heu aufgeladen. – An den Eckarplätzen.

Zwei Schwestern, kleine Mädchen. Eine mit schmalem Gesicht, nachlässiger Haltung, übereinander beweglichen Lippen, zart in eine Spitze verlaufender Nase, nicht ganz offenen, klaren Augen. Aus einem Gesicht leuchtet eine Gescheitheit, daß ich sie schon minutenlang aufgeregt angeschaut habe. Es weht mich etwas an, wenn ich sie anschaue. Ihre weiblichere kleine Schwester fängt meine Blicke ab. – Ein neu angekommenes steifes Fräulein mit bläulichem Schein. Die Blonde mit kurzem zerrauftem Haar. Biegsam und mager wie ein Lederriemen. Rock, Bluse und Hemd, sonst nichts. Der Schritt!

Mit Dr. Sch. (dreiundvierzig Jahre) abends auf der Wiese. Spazierengehen, sich strecken, reiben, schlagen und kratzen. Ganz nackt. Schamlos. – Der Duft, als ich abends aus dem Schreibzimmer trat.

 

13. Juli. Kirschen gepflückt. Lutz liest mir Kinkel, ›Die Seele‹, vor. Nach dem Essen lese ich immer ein Kapitel aus der Bibel, die hier in jedem Zimmer liegt. Abend, die Kinder beim Spiel. Die kleine Susanne von Puttkammer, neun Jahre, in rosa Höschen.

 

14. Juli. Kirschen gepflückt auf der Leiter mit Körbchen. Hoch im Baum oben gewesen. Vormittag Gottesdienst an den Eckarplätzen. Der Ambrosianische Lobgesang. Nachmittag die zwei Freunde nach Ilsenburg geschickt.

Ich liege im Gras, da geht der aus der ›Christlichen Gemeinschaft‹ (lang, schöner Körper, braungebrannt, spitzer Bart, glückliches Aussehn) von seinem Studierplatz in die Ankleidehütte, ich folge ihm nichtsahnend mit den Augen, er kommt aber, statt auf seinen Platz zurückzukehren, auf mich zu, ich schließe die Augen, er stellt sich aber schon vor: H., Landvermesser, und gibt mir vier Schriftchen als Sonntagslektüre. Im Weggehn spricht er noch von »Perlen« und »vorwerfen«, womit er andeuten will, daß ich die Schriften dem Dr. Sch. nicht zeigen soll. Es sind: ›Der verlorene Sohn‹, ›Erkauft, oder Nicht mehr mein (für ungläubige Gläubige)‹ mit kleinen Geschichten, ›Warum kann der Gebildete nicht der Bibel glauben?‹ und ›Hoch die Freiheit! aber: Was ist wahre Freiheit?‹. Ich lese ein wenig und gehe dann zu ihm zurück und versuche, unsicher durch den Respekt, den ich vor ihm habe, ihm klarzumachen, warum gegenwärtig keine Aussicht auf Gnade für mich besteht. Darauf redet er eineinhalb Stunden zu mir (gegen Schluß gesellt sich ein alter weißhaariger, magerer, rotnasiger Herr im Leintuch mit einigen undeutlichen Bemerkungen zu uns), mit schöner, nur aus Wahrhaftigkeit möglicher Beherrschung jedes Wortes. Der unglückliche Goethe, der so viel Existenzen unglücklich gemacht hat. Viele Geschichten. Wie er, H., dem Vater das Wort verbot, als er in seinem Hause Gott lästerte. »Mögest du, Vater, darüber entsetzt sein und vor Schrecken nicht weiterreden, mir ist es recht.« Wie der Vater Gottes Stimme auf dem Sterbebette hörte. Er sieht mir an, daß ich nahe an der Gnade bin. – Wie ich selbst alle seine Beweise abbreche und ihn an die innere Stimme verweise. Gute Wirkung. –

 

15. Juli. Kühnemann ›Schiller‹ gelesen. – Der Herr, der immer eine Karte an seine Frau in der Tasche trägt, für den Fall eines Unglücks. – Buch Ruth. – Ich lese Schiller. Unweit liegt ein nackter alter Herr im Gras, einen Regenschirm über dem Kopf ausgespannt.

Das braune und das blaue Kleid das zuerst weißgekleideten steifen Fräuleins, und wie sich ihre Gesichtshaut unter dem Einfluß dieser Farben so deutlich, schulmäßig förmlich, verwandelt.

Plato ›Der Staat‹. – Modell gestanden für Dr. Sch. – Die Seite in Flaubert über die Prostitution. – Die große Beteiligung des nackten Körpers am Gesamteindruck des einzelnen.

Ein Traum: Die Luftbadgesellschaft vernichtet sich mittels einer Rauferei. Nachdem die in zwei Gruppen geteilte Gesellschaft miteinander gespaßt hat, tritt aus der einen Gruppe einer vor und ruft den andern zu: »Lustron und Kastron!« Die andern: »Wie? Lustron und Kastron?« Der eine: »Allerdings.« Beginn der Rauferei.

 

16. Juli. Kühnemann. – Herr Guido von Gillhausen, Hauptmann a. D., dichtet und komponiert ›An mein Schwert‹ u. ä. Schöner Mann. Wage aus Respekt vor seinem Adel nicht, zu ihm aufzuschauen, habe Schweißausbruch (wir sind nackt) und rede zu leise. Sein Siegelring. – Die Verbeugungen der schwedischen Jungen. Das durch Angewöhnung schweratmige Sprechen des Ältern, Rothaarigen. – Rede im Park, angezogen mit einem Angezogenen. Versäumter Massenausflug nach Harzburg. – Abend. Schützenfest in Stapelburg. Mit Dr. Sch. und einem Berliner Friseurmeister. Die große, sanft zum Stapelburger Burgberg aufsteigende, von alten Linden geführte, von einem Bahndamm falsch durchschnittene Ebene. Das Schützenhäuschen, aus dem geschossen wird. Alte Bauern machen die Eintragung ins Schützenbuch. Die drei Pfeifer mit Frauenkopftüchern, die ihnen vom Rücken herabhängen. Alter, unerklärlicher Brauch. Einige in alten, einfachen blauen, ererbten Kitteln, die aus feinstem Leinen sind und fünfzehn Mark kosten. Fast jeder hat seine Büchse. Ein Vorderlader. Man hat den Eindruck, daß alle von der Feldarbeit irgendwie krumm sind, besonders, als sie sich in zwei Reihen aufstellen. Einige alte Anführer in Zylinderhut mit umgeschnalltem Säbel. Roßschweife und noch einige alte Symbole werden herbeigetragen, Aufregung, dann Spiel der Musikkapelle, größere Aufregung, dann Stille und Trommeln und Pfeifen, noch größere Aufregung, endlich werden ins letzte Trommeln und Pfeifen drei Fahnen herausgebracht, letzte Aufregung. Kommando und Abmarsch. Der Alte in schwarzem Anzug, schwarzer Mütze, etwas gedrücktem Gesicht und nicht zu langem, rings um das Gesicht gehendem, dichtem, seidigem, unübertrefflich weißem Bart. Der vorige Schützenkönig, auch mit Zylinder, mit einer portiersähnlichen Schärpe um den Leib, die mit lauter kleinen Metallschildchen benäht ist, auf deren jedem der Schützenkönig eines Jahres eingraviert ist, mit dem entsprechenden Handwerkszeichen. (Der Bäckermeister hat dort ein Laib Brot usf.) Der Abmarsch mit Musik im Staub und der wechselnden Beleuchtung des stark bewölkten Himmels. Puppenhaftes Aussehen eines mitmarschierenden Soldaten (ein Schütze, der gerade dient) und sein hüpfender Schritt. Volksheere und Bauernkriege. Wir folgen ihnen durch die Gassen. Sie sind bald näher, bald ferner, da sie bei den einzelnen Schützenmeistern haltmachen, vorspielen und ein wenig bewirtet werden. Gegen das Ende des Zuges löst sich der Staub gleichmäßig auf. Das letzte Paar ist das klarste. Zeitweilig verlieren wir sie ganz aus den Augen. Der lange Bauer mit etwas eingesunkener Brust, endgültigem Gesicht, Stulpenstiefeln, Kleidern wie aus Leder, wie umständlich er sich vom Pfosten des Tores ablöste. Die drei Frauen, die vor ihm standen, eine vor der andern. Die mittlere dunkel und schön. Die zwei Frauen am Tor des gegenüberliegenden Bauernhofes. Die zwei riesigen Bäume in beiden Höfen, die sich über der breiten Straße vereinigten. Die großen Scheiben an den Häusern früherer Schützenkönige.

Der Tanzboden, zweigeteilt, in der Mitte abgeteilt, in einem zweireihigen Verschlag die Musikkapelle. Vorläufig leer, kleine Mädchen lassen sich über die glatten Bretter gleiten. (Ausruhende, redende Schachspieler stören mich im Schreiben). Ich biete ihnen meine »Brause« an, sie trinken, die Älteste zuerst. Mangel einer wahren Verkehrssprache. Ich frage, ob sie schon genachtmahlt haben, vollständiges Unverständnis, Dr. Sch. fragt, ob sie schon Abendbrot gegessen haben, beginnende Ahnung (er spricht nicht deutlich, atmet zuviel), erst als der Friseur fragt, ob sie gefuttert haben, können sie antworten. Eine zweite Brause, die ich für sie bestelle, wollen sie nicht mehr, aber Karussellfahren wollen sie, ich mit den sechs Mädchen (von sechs bis dreizehn Jahren) um mich, fliege zum Karussell. Am Weg rühmt sich die eine, die zum Karussellfahren geraten hat, daß das Karussell ihren Eltern gehört. Wir setzen uns und drehn uns in einer Kutsche. Die Freundinnen um mich, eine auf meinen Knien. Sich hinzudrängende Mädchen, welche mein Geld mitgenießen wollen, werden gegen meinen Willen von den Meinigen weggestoßen. Die Besitzerstochter kontrolliert die Rechnung, damit ich nicht für die Fremden zahle. Ich bin bereit, wenn man Lust hat, noch einmal zu fahren, die Besitzerstochter selbst sagt aber, daß es genug ist, jedoch will sie ins Zuckerzeug-Zelt. Ich in meiner Dummheit und Neugierde führe sie zum Glücksrad. Sie gehn, so weit es möglich ist, sehr bescheiden mit meinem Geld um. Dann zum Zuckerzeug. Ein Zelt mit einem großen Vorrat, der so rein und geordnet ist wie in der Hauptstraße einer Stadt. Dabei sind es billige Waren, wie auf unsern Märkten auch. Dann gehn wir zum Tanzboden zurück. Ich fühlte das Erlebnis der Mädchen stärker als mein Schenken. Jetzt trinken sie auch wieder die Brause und danken schön, die Älteste für alle und jede für sich. Zu Beginn des Tanzes müssen wir weg, es ist schon dreiviertel zehn.

Der unaufhörlich redende Friseur. Dreißig Jahre alt, mit eckigem Bart und ausgezogenem Schnurrbart. Hinter Mädchen her, liebt aber seine Frau, die zu Hause das Geschäft führt und nicht verreisen kann, weil sie dick ist und das Fahren nicht verträgt. Selbst wenn sie einmal nach Rixdorf fahren, muß sie zweimal aus der Elektrischen steigen, um ein wenig zu Fuß zu gehn und sich zu erholen. Sie braucht keine Ferien, sie ist schon zufrieden, wenn sie ein paarmal länger schlafen kann. Er ist ihr treu, hat bei ihr alles, was er braucht. Versuchungen, denen ein Friseur ausgesetzt ist. Die junge Restaurateursfrau. Die Schwedin, die alles teurer bezahlen muß. Haare kauft er von einem böhmischen Juden, namens Puderbeutel. Als eine sozialdemokratische Abordnung zu ihm kam und verlangte, daß auch der ›Vorwärts‹ aufgelegt werde, sagte er: »Wenn Sie das verlangen, dann habe ich Sie nicht gerufen.« Gab aber schließlich nach. Als »Junger Mann« (Gehilfe) war er in Görlitz. Er ist organisierter Kegler. War vor einer Woche auf dem großen Keglertag in Braunschweig. Es gibt an zwanzigtausend organisierte deutsche Kegler. Auf vier Ehrenbahnen wurde drei Tage lang bis tief in die Nacht geschoben. Man kann aber nicht sagen, daß jemand der beste deutsche Kegler ist.

Als ich abends in meine Hütte kam, fand ich die Zündhölzchen nicht, borgte sie mir in der Nachbarhütte aus und leuchtete unter den Tisch, ob sie nicht vielleicht hinuntergefallen wären. Dort waren sie nicht, dagegen stand dort das Wasserglas. Allmählich zeigte sich, daß die Sandalen hinter dem Wandspiegel, die Zündhölzchen auf einem Fensterbrett waren, der Handspiegel an einer vorspringenden Ecke hing. Der Nachttopf stand auf dem Schrank, die ›Education sentimentale‹ war im Kopfkissen, ein Kleiderhaken unter dem Leintuch, mein Reisetintenfaß und ein naßgemachter Waschlappen im Bett usw. Alles zur Strafe, weil ich nicht nach Harzburg gegangen war.

 

19. Juli. Regentag. Man liegt im Bett, und das laute Klopfen des Regens auf das Dach der Hütte ist so, als ginge es gegen die eigene Brust. Auf der Kante des vorspringenden Daches erscheinen die Tropfen mechanisch wie Lichter, die eine Straßenzeile entlang angezündet werden. Dann fallen sie. Wie ein wildes Tier jagt plötzlich ein Greis über die Wiese und nimmt ein Regenbad. Das Schlagen der Tropfen in der Nacht. Man sitzt wie in einem Violinkasten. Am Morgen das Laufen, die weiche Erde unter sich.

 

20. Juli. Vormittag mit Dr. Sch. im Wald. Der rote Boden und das von ihm aus sich verbreitende Licht. Das Sichaufschwingen der Stämme. Die schwebenden breiten, flachbelaubten Äste der Buchen.

Nachmittag Ankunft einer Maskerade aus Stapelburg. Der Riese mit dem tanzenden, als Bären verkleideten Mann. Das Schwingen seiner Schenkel und des Rückens. Das Marschieren durch den Garten hinter der Musik. Das Laufen der Zuschauer über die Rasen, durch die Gebüsche. Der kleine Hans Eppe, wie er sie erblickt. Walter Eppe auf dem Briefkasten. Die mit Gardinen ganz verschleierten, als Frauen verkleideten Männer. Der unanständige Anblick, wenn sie mit dem Küchenmädchen tanzen und diese dem scheinbar unbekannten Verkleideten sich hingeben.

Vormittag Dr. Sch. das erste Kapitel der ›Education‹ vorgelesen. Nachmittag Spaziergang mit ihm. Erzählungen von seiner Freundin. Er ist ein Freund von Morgenstern, Baluschek, Brandenburg, Poppenberg. Sein schreckliches Jammern abends in der Hütte in Kleidern auf dem Bett. Erstes Gespräch mit Fräulein Pollinger, sie weiß aber schon alles Wissenswerte über mich. Prag kennt sie aus den ›Zwölf aus der Steiermark‹. Weißblond, zweiundzwanzigjährig. Aussehen einer Siebzehnjährigen, immer in Sorge um ihre schwerhörige Mutter; verlobt und kokett.

Mittags Abreise jener lederriemenartigen schwedischen Witwe, Frau von W. Über ihre gewöhnliche Kleidung nur ein graues Jäckchen, ein graues Hütchen mit kleinem Schleier. In dieser Umrahmung wird ihr braunes Gesicht sehr zart, über den Eindruck regelmäßiger Gesichter entscheidet nur Entfernung und Einhüllung. Ihr Gepäck ist ein kleiner Rucksack, viel mehr als ein Nachthemd ist nicht drin. So reist sie unaufhörlich, kam aus Ägypten, geht nach München.

Heute nachmittag als ich im Bett war, machten mir die Menschen hier heiß, so interessieren mich manche. – Ein Lied des Herrn von Gillhausen heißt: ›Weißt du, Mamalein, du bist so lieb.‹

Abends Tanz in Stapelburg. Das Fest dauert vier Tage, es wird kaum gearbeitet. Wir sehn den neuen Schützenkönig und lesen auf seinem Rücken die Namen der Schützenkönige aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ab. Beide Tanzböden voll. Rund um den Saal steht Paar hinter Paar. Jedes kommt nur alle Viertelstunden zu einem kurzen Tanz, Die meisten sind stumm, nicht aus Verlegenheit oder sonst einem besondern Grund, sondern einfach stumm. Ein Betrunkener steht am Rand, kennt alle Mädchen, greift sie an oder streckt wenigstens den Arm zur Umarmung aus. Die betreffenden Tänzer rühren sich nicht. Lärm ist genug durch die Musik und das Schreien der unten bei den Tischen Sitzenden und der beim Ausschank Stehenden. Wir gehn lange nutzlos herum (ich und Dr. Sch.). Ich bin es, der ein Mädchen anspricht. Sie ist mir schon draußen aufgefallen, als sie und zwei Freundinnen Halberstädter Würstchen mit Senf gegessen haben. Sie hat eine weiße Bluse mit blumengeschmückter Einlage, die über Arme und Schultern geht. Das Gesicht hat sie lieb und trübsinnig geneigt, wodurch sie den Oberkörper ein wenig gedrückt und die Bluse aufgebauscht hat. Die kleine aufgestülpte Nase vermehrt bei dieser geneigten Haltung die Trauer. Wahlloses Rotbraun über das ganze Gesicht hin. Ich spreche sie gerade an, als sie die zwei Stufen vom Tanzboden heruntersteigt. Wie wir Brust an Brust stehn und sie umkehrt. Wir tanzen. Sie heißt Auguste A., ist aus Wolfenbüttel und ist in der Wirtschaft eines gewissen Klaude in Appenroda seit eineinhalb Jahren beschäftigt. Meine Eigentümlichkeit, Eigennamen selbst bei mehrfachem Vorsagen nicht zu verstehn und dann auch nicht zu behalten. Sie ist Waise und wird am 1. Oktober in ein Kloster eintreten. Ihren Freundinnen hat sie es noch nicht gesagt. Sie wollte schon im April, aber ihre Herrschaft wollte sie nicht lassen. Sie geht ins Kloster wegen der schlechten Erfahrungen, die sie gemacht hat. Erzählen kann sie sie nicht. Wir gehn vor dem Tanzsaal im Mondschein auf und ab, meine kleinen Freundinnen von letzthin verfolgen mich und meine »Braut«. Trotz ihrer Trauer tanzt sie aber sehr gern, wie sich besonders zeigt, als ich sie später dem Dr. Sch. borge. Sie ist Feldarbeiterin. Um zehn Uhr mußte sie nach Hause fahren.

 

22. Juli. Fräulein G., Lehrerin, eulenähnliches junges, frisches Gesicht, voll lebhafter, gespannter Züge. Der Körper ist nachlässiger. Herr Eppe, Privatschulleiter aus Braunschweig. Ein Mensch, dem ich unterliege. Beherrschendes, wenn notwendig feuriges, durchdachtes, musikalisches, auch zum Schein schwankendes Sprechen. Zartes Gesicht, zarter, aber das ganze Gesicht überwachsender Backen- und Spitzbart. Zimperlicher Gang. Ich saß ihm schräg gegenüber, als er gleichzeitig mit mir zum erstenmal sich zum gemeinsamen Tische setzte. Eine still kauende Gesellschaft. Er warf Worte hin und her. Blieb es doch still, so blieb es eben still. Sagte aber ein Entfernter ein Wort, so hielt er ihn schon, aber nicht mit Überanstrengung, sondern er sprach zu sich, als sei er angeredet und werde angehört, und schaute dabei auf die Tomate, die er schälte. Alle wurden aufmerksam, außer jenen, die sich gedemütigt fühlten und trotzten wie ich. Niemanden lachte er aus, sondern ließ jedes Meinung auf seinen Worten schaukeln. Rührte sich nichts, so sang er leise beim Nüsseknacken oder den vielen Handreichungen, die bei Rohkost nötig sind. (Der Tisch ist voll von Schüsseln, und man mischt nach Belieben.) Schließlich beteiligte er alle an seinen Angelegenheiten, indem er vorgab, alle Speisen notieren und das Verzeichnis seiner Frau schicken zu müssen. Nachdem er einige Tage uns mit seiner Frau entzückt hatte, fingen neue Geschichten von ihr an. Sie sei gemütskrank, müsse in ein Sanatorium in Goslar, werde nur aufgenommen, wenn sie sich für acht Wochen verpflichtete, eine Wärterin mitbringe usw., das ganze werde, wie er ausgerechnet hat und wie er wiederum bei Tisch vorrechnet, über eintausendachthundert Mark kosten. Aber keine Ahnung einer Absicht, Mitleid zu erregen. Aber immerhin will eine so teure Sache überlegt werden, alle überlegen. Ein paar Tage später hören wir, daß die Frau kommen wird, vielleicht genügt ihr dieses Sanatorium. Während des Essens bekommt er die Nachricht, daß die Frau mit ihren zwei Jungen eben angekommen ist und ihn erwartet. Er freut sich, ißt aber ruhig bis zu Ende, obwohl es bei diesem Essen ein Ende nicht gibt, da alle Speisen gleichzeitig auf dem Tisch stehn. Die Frau ist jung, dick, mit nur in der Kleidung angedeuteter Taille, klugen blauen Augen, hochfrisiertem blondem Haar, versteht das Kochen, die Marktverhältnisse usw. ganz genau. Beim Frühstück – seine Familie war noch nicht bei Tisch – erzählt er während des Nüsseknackens Fräulein G. und mir: Seine Frau ist gemütskrank, hat die Nieren angegriffen, ihre Verdauung ist schlecht, sie leidet an Platzangst, schläft erst gegen fünf Uhr in der Nacht ein, wird sie dann früh um acht geweckt, »ärgert sie sich natürlich wüst« und wird »fuchswild«. Ihr Herz ist in größter Unordnung, sie hat ein schweres Asthma. Ihr Vater ist im Irrenhaus gestorben.


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