Carl Karlweis
Wiener Kinder
Carl Karlweis

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Zwölftes Kapitel.

Der Einzige.

Loris Bitte wird erhört, Franz stirbt nicht. Aber auch mit der Genesung will es nicht recht vorwärts gehen. Zwei volle Wochen sind seit dem unseligen Abend seiner Verwundung verstrichen; langsam und trübselig schleichen die schier endlosen Tage hin, und noch immer ruht Franz bleich, mit eingefallenen Wangen in den weichen Kissen ihres Bettes, und noch immer vermag der Arzt nicht bestimmt zu sagen, wann er endlich wieder hergestellt sein wird. Eine ernstliche Gefahr für sein Leben ist, jeden Rückfall natürlich ausgeschlossen, nicht mehr vorhanden. Aber zur vollen Herstellung bedarf der Kranke der hingebendsten Pflege, kräftiger Kost und tiefer Ruhe.

Lori, welche den Aussprüchen des Arztes anfänglich mit angstvoller Spannung und angehaltenem Atem lauschte, hört jetzt seine stets gleichmäßigen Ermahnungen nur mehr mit halber Aufmerksamkeit an. Der bleiche Verwundete, der hinter dem Spitzenvorhang des Himmelbettes ruht und kaum zu lispeln, sich kaum zu bewegen vermag, flößt ihr noch immer das aufrichtigste Mitleid ein, aber die bedingungslose, ihr so ganz selbstverständlich erscheinende Opferfreudigkeit des ersten Abends ist doch von ihr gewichen. Damals hätte einer ihr Leben für das des Schwergetroffenen fordern können, sie hätte es ohne Überlegung hingegeben, ja, mehr noch, vielleicht sogar 340 hätte sie, – was ihr das entsetzlichste scheint, – eine lebende Spinne in die Hand genommen, würde ihr einer gesagt haben, daß sie Franz damit retten könne. Aber eben nur in jener Stunde, unter dem überwältigenden Eindrucke des entsetzlichen Anblickes. An jenem Abende hatte sie zum erstenmale die Sorge um ihr eigenes Wohl und Wehe vollständig vergessen; ihr Fühlen, Denken und Wollen war ganz und gar aufgegangen in der Angst um das unter ihren Händen verlöschende Leben. Hätte dieser erste Anlauf genügt, die guten, edlen Regungen wären vielleicht ihres Herzens mächtig geblieben. Allein er genügte eben nicht. Die schwere Probe folgte nun erst: die langen, öden Stunden und Tage mit ihrem ertötenden Einerlei kamen, und Lori sollte immerzu bei dem Fiebernden weilen, sollte ihn sogar hegen und pflegen, sollte das armselige Leben einer Krankenwärterin führen, allen Freuden, jeder Lustbarkeit plötzlich entsagen, – und für wen? Für einen Mann, der ihr nicht einmal danken konnte, da er zumeist ohne Besinnung, oder doch mit geschlossenen Augen dalag. Jenen stummen aber aus tiefstem Herzen kommenden Dank, der aus Sturms Blicken leuchtete, wenn er die schweren Lider einmal auf Sekunden zu heben vermochte, verstand sie nicht. Hätte er alles, was in diesen Blicken lag, in Worte kleiden und es ihr immerfort laut zurufen können, vielleicht würde ihre Eitelkeit dann den Lohn für die geforderte Entsagung besser vor Augen gehabt, vielleicht würde ihr Opfermut sich standhafter erwiesen haben. – Vielleicht! . . .

Dazu kommt die Einwirkung ihrer Umgebung, welche dem energischen Entschlusse Loris anfänglich keinen Widerstand entgegen zu setzen wagte, mit dem Wanken ihres Mutes aber zusehends an Boden gewinnt. Zumal Frau Schober findet das Vorgehen ihrer Tochter geradezu unerklärlich.

»Ein Mensch, der nichts ist und nichts hat,« erklärt sie wiederholt erbittert, »kommt da auf einmal her, fangt in einer 341 fremden Wohnung zu raufen an, und die Lori legt ihn dann noch in ihr eigenes Bett, als ob er ein verwunschener Prinz wär'! Was hat er denn gesucht bei uns? Recht ist ihm g'schehn! Und wenn die Lori mich g'fragt hätt', wär' er ganz einfach ins Spital g'wandert wie andere Leut', denen es auch nichts g'schad't hat!« . . .

Trotzdem ist nicht sie es, welche den keimenden Unmut Loris bis zur Ungeduld steigert. Diese Aufgabe hat Hanni, das stille Mädchen mit dem gesteiften Häubchen und der blütenweißen Schürze, übernommen. Obgleich Hanni sich anscheinend stets strenge in den Grenzen ihrer untergeordneten Stellung hält, ist sie doch, seit Fanny das Haus verließ, ganz sachte und unvermerkt an deren Platz gerückt. Nachdem sie einige Zeit hindurch die Aufträge Loris und des Doktors schweigend vollführt hat, läßt sie nun ab und zu ein Wort, eine Bemerkung fallen, welche Lori begierig auffängt, obgleich sie so thut, als finde sie dergleichen Einmischungen ungehörig. Allmählich weiß Hanni auch Frau Schober zu bestimmen, auf die Tochter vorsichtig einzuwirken.

Weshalb sich der »gnädige Herr« – so nennt das Mädchen mit pflichtschuldiger Hochachtung den jungen Wiesinger – schon seit drei Tagen nicht mehr habe blicken lassen? fragt sie eines Morgens die Mutter, da diese zu ihr in die Küche tritt. Ob er vielleicht auch krank sei? Frau Schober erschrickt, denn die Frage ist nur zu berechtigt. In der Aufregung der ersten Tage hat niemand das Fernbleiben Eduards beachtet. Nun fällt es ihr schwer aufs Herz. Wenn er von dem blutigen Ereignisse in Loris Wohnung erfahren hätte und sie deshalb verließe? Die Mutter erbleicht. Das fehlte gerade noch!

Beim Abendessen, da sie der Tochter allein gegenüber sitzt, bringt sie das Gespräch auf Eduard und giebt ihren 342 Befürchtungen jammernden Ausdruck. Allein sie erzielt damit keineswegs die erhoffte Wirkung. Lori zuckt nur verdrießlich die Achsel und erwidert wegwerfend:

»Meinethalben kann er ganz fortbleiben!«

Die Mutter hält im eifrigsten Kauen inne und reißt erstaunt den Mund auf.

»Aber Lori, wenn er wirklich nicht mehr käm'?«

»Das wär' freilich ein großes Unglück!« spottet die Tochter, deren trübe Stimmung durch die Angst der Mutter ein wenig erheitert wird.

Frau Schober würgt den letzten Bissen hinab und schüttelt den groben Kopf. Nun versteht sie ihr Kind nicht mehr. Der Mensch muß doch essen und trinken, wohnen und sich kleiden! Dazu gehört aber Geld, und wenn derjenige fern bleibt, der es geben soll . . . . . Glücklicherweise tritt jetzt Hanni ins Zimmer. Mit einem hilfesuchenden Blicke auf das Mädchen beginnt die Mutter von neuem:

»Was thun wir denn, wenn er wirklich nicht wieder kommt?«

Hanni lehnt mit einer bescheidenen Geberde die Beantwortung dieser schwierigen Frage ab und meint nur verwundert:

»So ist also noch Geld da, Frau Schober? Das ist gut, denn ich hab' keines mehr!« Dabei huscht ihr Blick über die jugendliche Herrin hin, welche schweigend vor sich hinstarrt. Die Mutter ist aufs äußerste betroffen.

»Ich hab' keinen einzigen Kreuzer!« erklärt sie zagend. »Und Du, Lori?«

Die Tochter sieht unmutig auf.

»Was weiß ich von Eueren Geldsachen!« erwidert sie verdrossen.

Allein Frau Schober läßt sich diesmal nicht abschrecken. Die Angst giebt ihr Mut.

»Du hast also auch kein Geld?« zittert sie.

343 »Nein! Und jetzt laß mich in Ruh'!«

Die Mutter schlägt die Hände zusammen.

»Auch kein Geld! Aber was fangen wir denn an, wenn der Herr Eduard wirklich nicht mehr kommt?«

Sie blickt verzweifelt auf Hanni, welche eine Weile schweigt und dann näher an den Tisch tritt.

»Wenn das Fräulein erlaubt, würde ich wohl einen Vorschlag machen können!« erklärt sie bescheiden.

Lori antwortet nicht, aber Frau Schober nickt um so eifriger.

»Nur heraus damit!« muntert sie das Mädchen auf. »Da nehmen S' sich einen Sessel und reden S'!«

Hanni dankt für die freundliche Einladung, meint aber, das würde sich nicht schicken. Und aufrecht neben dem Tische stehend, entwickelt sie ihren Plan. Die Beziehung zu Herrn Eduard müsse als abgethan betrachtet werden, denn eine Dame von den Qualitäten des »Fräuleins« brauche sich einem so rücksichtslosen und im Grunde doch wenig splendiden Verehrer nicht aufzudrängen. Komme er jetzt, so wäre ihm rundweg die Thüre zu weisen.

Frau Schober schneidet hier ein bedenkliches Gesicht, aber Lori, welche anfänglich gar nicht zuzuhören schien, hat sich allmählich der Sprecherin zugewendet und ihre Miene drückt vollste Zustimmung aus. Dadurch ermutigt, fährt Hanni entschiedener fort:

»Daß jetzt kein Geld im Hause ist und auch mein bißchen Erspartes schon verbraucht wurde, macht gar nichts. Wenn das Fräulein will, hat es noch heute so viel Geld als es nur wünscht, und eine viel schönere Wohnung, und –«

Die Mutter sperrt aufs neue Augen und Ohren auf.

»Ja, woher soll denn das alles kommen?« platzt sie erstaunt heraus.

Hanni lächelt selbstzufrieden.

344 »Ich weiß einen sehr feinen Herrn, der das alles gern bezahlen würde!« erklärt sie mit leiser Stimme, die rasch zu einem geheimnisvollen Flüstern herabsinkt. »Er hat mir erst vorgestern gesagt, daß er sich für das Fräulein ganz außerordentlich interessiert und es namentlich für das Theater ausbilden möchte. Er ist freilich nicht mehr jung, aber das Fräulein könnte ja sonst thun was es wollte, – wenn der alte Narr nur nichts merkt!« . . . .

Hanni bringt das im einschmeichelndsten Tone, wie etwas ganz Selbstverständliches, vor. Frau Schober blickt nachdenklich auf den Tisch und tippt mechanisch die Brosamen vom Tuche auf, sie ab und zu nach dem Munde führend. Auch Lori schweigt, aber bei den letzten Worten Hannis überläuft sie ein merkliches Zittern. Wie von einem jähen Ekel erfaßt, schüttelt sie sich, springt auf und sagt heftig:

»Nein, ich will nicht, mir . . mir graust!«

Hanni zuckt die Achsel und tritt wieder einen Schritt zurück. Die Mutter sieht auf und fragt beklommen:

»Aber zu etwas mußt Du Dich ja doch entschließen! Was willst denn eigentlich?«

Lori sinkt in den Stuhl zurück, schlägt dann mit den Händen auf den Tisch und legt schluchzend den Kopf auf den Arm.

»Ehrlich will ich wieder werden! Ehrlich!«

Während die Mutter aufspringt und auf Lori zueilt, sich mit zärtlichen Worten der Beruhigung über die Erschütterte beugend, läutet es draußen und Hanni verläßt das Zimmer.

»Hast ganz recht, Lori!« flüstert Frau Schober schmeichelnd. »Laß Dich von der unheimlichen Person nicht einfädeln. Wenn Du gesehen hätt'st, wie sie jetzt g'lacht hat! Die ist noch schlechter als die Fanny . . .! Aber nicht weinen, . . . geh, sei g'scheit, nicht weinen! . . .«

Mittlerweile hat Hanni einen stattlichen Herrn mit weißem 345 Kopfe und stark gerötetem, glatt rasiertem Gesichte die Wohnungsthüre geöffnet. Der Fremde fragt nur kurz, ob »eine gewisse Mamsell Lori, oder wie das Frauenzimmer heißt« hier wohne? Auf Hannis zögernde Bejahung tritt er hastig ein. Er blickt nicht sehr freundlich um sich und will, ohne den Hut abzunehmen, geradewegs auf die Zimmerthüre zugehen. Allein Hanni tritt ihm in den Weg.

»Wen darf ich melden?« fragt sie in ihrer feierlich ernsten Art.

Den alten Herrn scheint diese Frage geradehin zu empören.

»Was?« ruft er entrüstet. »Anmelden? Soll ich bei einer solchen Person vielleicht noch im Vorzimmer warten? Gehen Sie zum Teufel und melden Sie dort Ihr sauberes Fräulein an. Das wären mir ganz neue Faxen! . . . Anmelden! Ah!«

Damit schiebt er Hanni entrüstet zur Seite und reißt, ehe das Mädchen es verhindern kann, die Thüre auf.

Bei dem Anblicke des grimmig drein sehenden Fremden fährt Frau Schober erschrocken auf und flüchtet unwillkürlich hinter den Stuhl der Tochter. Wer kann das sein? Der alte Herr, von welchem Hanni sprach, ist es wohl nicht, der würde doch artiger eintreten! Wer aber sonst?

Lori blickt kaum auf. Die kurz und scharf gestellte Frage des Besuchers, ob sie Fräulein Lori sei, beantwortet sie nur mit einem Nicken.

Der Fremde sieht sich in dem Gemache um, runzelt die Stirne und deutet endlich mit dem Finger auf Frau Schober, welche verlegen an ihrer weiten Jacke zerrt und einen Knix versucht, der aber vollständig mißlingt.

»Und die dort ist wohl Ihre Mutter, wie?« fragt er mit tiefer, wie nahendes Unwetter grollender Stimme.

Nun glaubt Frau Schober plötzlich zu wissen, was den unheimlichen Gast herführt. »Er ist von der Polizei,« denkt sie bebend, »die Hausmeisterin hat geplaudert!« Ihr Atem 346 stockt und ihre Kniee zittern. Was soll nun kommen? In aller Eile und für alle Fälle flüstert sie ein Vaterunser.

Der Fremde setzt indessen seine grob herausgepolterten Fragen fort.

»Sie sind also die Geliebte des jungen Eduard Wiesinger, des Taugenichtses, der unserem Herrgott den Tag und seinem Vater das Geld stiehlt?«

Lori steht hier betroffen auf und versucht dem unverschämten Eindringlinge durch ihre Haltung zu imponieren. Das gelingt ihr zwar nicht, dennoch hält der alte Herr, der eben seine Frage noch derber wiederholen wollte, unwillkürlich inne und betrachtet das hochaufgerichtete junge Mädchen mit einem Blicke, der zu den finster zusammengezogenen buschigen Brauen und dem drohenden Wesen des sichtlich tief ergrimmten Mannes nicht mehr so recht passen will.

Langsam greift er nach seinem Hute und nimmt ihn ab. Der mächtige, auf einem kurzen, breiten Nacken sitzende Kopf mit seinen kurzgeschorenen weißen Haaren wird sichtbar.

»Ich setze voraus, mein Fräulein, daß Sie nicht wußten, woher der Thunichtgut das viele Geld nahm,« fährt er etwas milder fort, »denn Sie sehen ganz anders aus, als ich Sie mir gedacht habe. Gewöhnlich sollen junge Dummköpfe, wie dieser Eduard, von älteren Frauenzimmern gefangen und ausgeplündert werden. So hat man mir wenigstens gesagt; ich selbst weiß das nicht, denn ich habe mein Lebtag ehrlich arbeiten müssen und bin mit derartigen Frauenzimmern niemals in Berührung gekommen.«

Lori begreift noch immer nicht, was der seltsame Auftritt zu bedeuten habe. Ihr weiblicher Instinkt sagt ihr aber, daß sie von diesem Polterer nichts Ernstliches zu befürchten habe. Das giebt ihr Fassung und Mut. Frau Schober ist nicht wenig verblüfft, ihre Tochter auf den immer noch erschrecklich 347 zornig aussehenden Fremden ruhig zugehen zu sehen. Sie möchte sie um alle Welt zurückhalten, aber sie wagt sich nicht aus ihrem sicheren Verstecke hervor.

Lori ist wirklich an den Alten herangetreten und bleibt nun mit verschränkten Armen knapp vor ihm stehen. So sieht sie noch hübscher aus als vorhin.

»Was wollen Sie denn eigentlich hier, alter Herr?« fragt sie mit drolliger Ruhe. »Wer sind Sie? Ich kenn' Sie ja gar nicht!«

Das wirkt. Der Fremde tritt einen Schritt zurück und meint dann, sichtlich aus dem Konzept gebracht:

»Ja so, . . . das habe ich Ihnen noch nicht gesagt! Ich heiße Wiesinger, Eduard Wiesinger, just so wie mein sauberer Herr Sohn, der Ihretwegen – –«

Frau Schober knickt bei diesen Worten vollends zusammen.

»Der Vater! Jesus Maria!« murmelt sie verstört.

Herr Wiesinger hat diesen Stoßseufzer gehört und wendet sich rasch der Mutter zu.

»Ja wohl, der Vater!« wiederholt er mit jener wuchtigen Strenge, mit welcher er seine ersten Fragen gestellt hatte. »Und Sie, die Mutter dieses Fräuleins, haben wirklich auch allen Grund, sich dort so ängstlich in dem Winkel zu verstecken! Aber ich werde Sie schon hervorziehen, ich werde Sie und Ihre Tochter –«

Seltsam! So wie die Tochter in Frage kommt, fehlt es dem würdigen Baumeister an Sicherheit.

Lori zuckt gleichmütig die Achsel, bei welcher Bewegung das Negligée ein wenig über die Schulter herabgleitet.

»Ich weiß noch immer nicht, was der ganze Lärm eigentlich vorstellen soll?« fragt sie langsam.

Herr Wiesinger will heftig antworten. Aber er bringt es nicht zuwege.

348 »Was das vorstellen soll?« erwidert er endlich schwerfällig. »Ich hab' meinen Eduard erwischt, als er just ein Paket Zehnernoten – tausend bare Gulden! – aus meiner Kasse verschwinden lassen wollte, die ich einen Augenblick unversperrt gelassen hatte . . . Mein leiblicher Sohn hat mich bestehlen wollen, . . . nein, er hat mich schon früher bestohlen! Meiner Seel', wenn nicht seine Mutter dazwischen gekommen wär', ich hätt' ihn auf dem Fleck erschlagen. So ist er mit einem Denkzettel davongekommen. Seit drei Tagen liegt er und heute hat er mir gestanden, daß er das Geld für Sie hat nehmen wollen, . . . für Sie, – seine Geliebte! Und deswegen bin ich jetzt bei Ihnen! Ich . . . ich hab' zuerst ganz anders mit Ihnen reden wollen, . . . aber es ist vielleicht besser, wir machen die Sache in Ruhe ab; am Ende ist mein Eduard doch mehr schuldig als Sie, denn Sie haben ja ganz gewiß nicht gewußt, woher er das viele Geld nimmt, – nicht wahr?«

Es liegt fast eine Bitte in diesem letzten »nicht wahr?« Die Angst, Lori könne doch darum gewußt haben, schimmert merklich durch.

Ehe Lori etwas erwidern kann, hat sich aber Frau Schober vorgewagt und antwortet für sie. Jetzt fürchtet auch sie den grimmigen Vater nicht mehr.

»Oh, Herr von Wiesinger, was glauben Sie denn von uns?« erklärt sie mit Würde. »Die Lori hat mit dem Herrn Eduard niemals von Geldsachen geredet. Was er gegeben hat, hat er gegeben, und just gar zu viel war es auch nicht, denn jetzt, wo er drei Tag nicht da war, haben wir schon keinen Kreuzer mehr im Haus . . .«

»Mutter!«

Lori stößt dieses einzige Wort zwischen den zornig zusammengepreßten Zähnen hervor.

Frau Schober blickt sie erstaunt an.

349 »Ist's vielleicht nicht wahr?« fragt sie erregt. »Haben wir nicht grad', bevor der Herr Wiesinger gekommen ist, davon g'red't? Die Hanni kann's doch bezeugen, die war ja auch dabei!«

»Aber Mutter!« fährt Lori noch heftiger auf. . . . »Ich bitt' Sie, gehen Sie hinaus, – ich will mit dem Herrn ein Wort allein reden.«

Kopfschüttelnd und nicht ohne leises Murren fügt sich Frau Schober der so bestimmt ausgesprochenen Anordnung. Lori wendet sich, sobald die Mutter die Thüre hinter sich ins Schloß gezogen hat, dem Baumeister zu, der sie jedoch vorerst nicht zu Worte kommen läßt.

»Ich zweifle gar nicht mehr, daß Sie nicht wußten, woher Eduard das Geld nahm!« sagt er leise. »Und ich begreife auch, daß Sie glauben konnten, das würde immer so fort gehen. Jetzt muß es aber aus sein – ganz aus. Das sehen Sie doch selbst ein?!«

Lori nickt.

»Natürlich!« meint sie ruhig. »Ich bin froh.«

Herr Wiesinger sieht sie immer verdutzter an.

»Froh? Sie sind froh? Aber Sie sind, oder Sie waren doch –«

»Seine Geliebte? Nun ja, man sagt halt Geliebte und Geliebter oder Freund, aber deswegen ist man noch lang nicht verliebt in einander! Der Eduard war's auch nicht in mich. Ich hab's zu Haus' nicht mehr ausg'halten und bin fortg'laufen, er hat eine Geliebte haben wollen wie seine Freund', . . . und so sind wir zusamm'gebracht worden, das war die ganze G'schicht'. Ich hab' sie jetzt satt und bin froh, wenn ich den Eduard nicht mehr sehen muß!«

Lori sagt das ganz einfach und ohne jede Erregung. Wieder betrachtet der Baumeister sie eine Weile, dann betastet er seine Brusttasche.

350 »Sie sind im Augenblick in Geldverlegenheit, wie Ihre Mutter sagt!« meint er langsam. »Daran bin ich . . . daran ist Eduard zum Teil schuld. Sie sollen keinen Schaden haben. Ich bin bereit –«

Er zieht eine mächtige, stark abgegriffene Brieftasche hervor und öffnet sie umständlich.

Lori errötet und tritt an den Tisch zurück.

»Behalten Sie Ihr Geld!« ruft sie hastig. »Die Mutter weiß nicht, was sie redet. Wir brauchen nichts.«

Herr Wiesinger stutzt einen Augenblick und fragt dann gedehnt:

»Ah, Sie haben wohl schon einen andern Geliebten?«

Lori trommelt ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte.

»Ich hab' keinen Geliebten, – und ich will auch keinen!« schnaubt sie zornig. »Fürchten Sie sich doch nicht, daß ich Ihrem Eduard am End' noch nachlauf'! Ich sag' Ihnen ja, daß ich froh bin, wenn ich nichts mehr von ihm hör'! Ich hab' ihn nie ausstehen können, den faden, ungebildeten Kleiderstock! So, jetzt wissen Sie 's, sagen Sie 's ihm und – gute Nacht!«

Damit dreht sie dem alten Manne vollends den Rücken. Dennoch geht Herr Wiesinger nicht. Ihm ist ganz seltsam zu Mute. Die Schönheit des jungen, blühenden Mädchens verwirrt ihn. Er hat die Wahrheit gesprochen, als er sagte, daß er noch niemals zu verführerischen Frauen in Beziehung stand. Seit er vor mehr als dreißig Jahren aus seinem oberösterreichischen Heimatsdorfe als armer Tagelöhner nach Wien kam, war sein Sinn stets nur auf Arbeit und Erwerb gerichtet. Er hat hier »sein Glück gemacht«, wie die Leute sagen, denn vom Handlanger brachte er es allmählich zum Maurer, zum Polier und endlich zum reichen Baumeister 351 und Häuserspekulanten. Der kräftige, gedrungene Körper, die schwieligen Hände mit den kurzen, plumpen Fingern, das glatte, stark gefärbte Gesicht mit den großen, groben Zügen verraten noch heute auf den ersten Blick den Tagewerkerssohn aus dem »Mostlande«. Die Frau, die er in jungen Jahren nahm, war niemals schön oder auch nur liebenswürdig, geschweige denn verführerisch. Sie war jederzeit eine brave, wenn auch manchmal etwas mißlaunige Gefährtin, eine unermüdliche Arbeiterin in Haus und Wirtschaft, und ist durch die in schwerer, mühevoller Haussorge verbrachten Jugendjahre frühzeitig alt geworden. Nun lebt er mit ihr und Eduard in einer zwar streng ehrbaren, aber engen und recht spießbürgerlich langweiligen Häuslichkeit. Der berückende Zauber eines jungen, üppig schönen Weibes, der ihm hier zum erstenmale entgegentritt, überwältigt ihn darum auch als ein neues, bisher unbekanntes, auf den ersten Ansturm. Die Luft, die der schlichte, ehemalige Arbeiter in dem wunderlich ausstaffierten Heim der Geliebten seines Sohnes einatmet, berauscht ihn. Seine Pulse beginnen rascher zu schlagen, eine seltsame Unruhe zuckt und prickelt bis in seine Fingerspitzen; er vermag den Blick nicht abzuwenden von dem Mädchen, das ihn doch kaum mehr zu bemerken scheint und unverwandt durchs Fenster in die dunkle Nacht starrt. Gegen seinen Willen spricht er allerlei tolles, albernes Zeug zu ihr; es soll dem wundersamen Gefühle Ausdruck geben, das ihn überkommen hat. In ihrem losen Zusammenhange müssen die hervorgestotterten Worte wohl eine Liebeserklärung bedeuten, denn Lori wendet ihm plötzlich wieder das schöne Gesicht zu, das jetzt aber ein unfreundlicher, fast boshafter Zug entstellt.

»Fangen Sie am End' auch noch an, alter Herr?« fragt sie, die beiden letzten Worte mit schneidendem Hohne betonend. »Ich bitt' Sie, bleiben S' mir mit dem Unsinn vom Hals'. 352 Ich will Ruh' haben, hören Sie? Ruh' will ich haben, – von Ihrem Herrn Sohn und von Ihnen auch! Adieu!«

»Aber –«! will der Baumeister einwenden. Doch Lori stampft mit dem Fuße auf und geht zur Schlafzimmerthüre. Herr Wiesinger muß sich völlig verwirrt zurückziehen. Er stößt im Vorzimmer auf Frau Schober, welche an der Thür gehorcht hat. Eine flüchtige, verlegene Entschuldigung und er stolpert aus der Wohnung. Auf der Treppe erst wird er gewahr, daß er seinen Hut noch immer in der Hand hält und stülpt ihn mit einem halblauten Fluche auf den weißen Kopf. – –

Lori legt die Hand auf die hochklopfende Brust und atmet befreit auf.

»Der alte Narr!« grollt sie dem Baumeister nach, muß aber gleich darauf lächeln. Er sah gar zu komisch aus, als er so vollständig fassungslos die Thüre suchte! . . . Gar zu komisch! Und sie lacht ihm aus vollem Halse nach.

In dieser fröhlichen Stimmung tritt sie in das stille, nur durch eine herabgedrehte Lampe beleuchtete Schlafzimmer und schleicht vorsichtig an das Bett, auf welchem Franz mit geschlossenen Augen liegt. Hier kauert sie neben dem Lager auf einem Tabouret nieder und betrachtet den bleichen Kranken mit aufmerksamen Blicken. Ihre Züge nehmen einen völlig veränderten ernsten Ausdruck an. Plötzlich sagt sie laut:

»Er war doch der Einzige!« und zuckt dann zusammen, vor dem Klange der eigenen Stimme erschreckend.

Franz schlägt die Augen auf; er erkennt Lori und lächelt ihr zu.

»Geht's besser?« fragt Lori beklommen.

»Ich glaube, ja!« erwidert er mit Anstrengung. Und erregt fügt er hinzu: »Ich hab' einen schönen Traum gehabt!«

»Ah! Was denn?«

353 »Ich war wieder gesund und bin mit Dir nach Amerika fort. Dort war's so schön. –!«

Lori senkt die Augen.

»Nach Amerika?« flüstert sie betreten.

»Ja, . . . und dort haben wir geheiratet!«

Eine tiefe Pause. Jolly kriecht unter dem Bette hervor und versucht an Lori hinanzuspringen. Sie bemerkt es nicht, und so nistet er sich auf ihrer weißen Schleppe ein. Nach einer Weile sagt Franz wieder leise:

»Du . . . Lori!«

»Franz?«

»Möchtest Du mit mir nach Amerika gehn?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Warum denn so weit?« fragt sie zurück.

»Weil . . ., Du weißt ja, wie die Leute sind. Drüben aber kennt uns kein Mensch und wir könnten dort so glücklich werden, so glücklich . . .!«

Sie antwortet lange nicht. Dann sagt sie plötzlich leise.

»Ja so!«

Seine ausgestreckte, magere Hand sucht die ihre.

»Wenn ich nur einmal gesund wär'!« seufzt er.

Sie steht hastig auf, wobei Jolly quiekend in eine Ecke des Zimmers fliegt.

Franz sieht sie ängstlich fragend an.

»Mir scheint, der Doktor kommt!« stottert sie.

Der Arzt tritt auch wirklich ein. Er bleibt nicht lange bei dem Kranken. Lori, die bei seinem Eintritte verschwunden ist, erwartet ihn im Speisezimmer. Frau Schober und Hanni haben sich dort neben ihr eingefunden und stehen ihr schweigend zur Seite.

»Nun?« fragt sie erwartungsvoll, da der Doktor herauskommt.

354 »Immer noch derselbe Zustand. Nicht schlimmer, aber auch nicht merklich besser. Das Fieber hat wieder ein wenig zugenommen. Ist dem Patienten vielleicht eine aufregende Nachricht zugekommen?«

»Nein, o nein! . . . Aber wird er denn nicht bald ganz gesund werden?«

»Nur Geduld, meine Liebe, im Handumdrehen geht das nicht. Ein paar Wochen der Ruhe, dann macht sich's wohl wieder.«

Der Arzt schärft aufs neue die genaueste Befolgung seiner Verordnungen ein, empfiehlt sich hierauf ruhig und geht. Hanni begleitet ihn bis an die Thüre. Da sie zurück kommt, findet sie Mutter und Tochter im Streite.

»Etwas muß aber doch g'schehn!« eifert Frau Schober. »Geld ist keines mehr im Haus, die Hanni kann auch nichts mehr hergeben, wovon sollen wir morgen leben?«

Lori schweigt trotzig und Frau Schober wendet sich an das eintretende Mädchen.

»Hab' ich nicht recht, muß nicht etwas g'schehn?«

Hanni glättet ihre weiße Schürze.

»Das hab' ich ja auch gesagt!« meint sie mit jenem Lächeln, das Frau Schober so unheimlich findet. »Aber das Fräulein will nichts wissen von –«

Die Poliersgattin hat plötzlich einen erlösenden Einfall.

»Einstweilen könnt' man vielleicht etwas von Deinem Schmuck versetzen!« ruft sie mit einem fragenden Blick auf die Tochter. »Es sind teure Sachen drunter, für die man schon ein schönes Stück Geld bekommen muß!«

Lori nickt zerstreut.

»Thu was Du willst, nur quäl mich nicht immer!« entgegnet sie ungeduldig.

Frau Schober geht nun mit Hanni ins Schlafzimmer, 355 um dort die betreffenden Gegenstände auszusuchen und das nähere für die am nächsten Morgen in Scene zu setzende Finanzoperation zu besprechen. Nach einer Weile erscheint sie wieder in der halbgeöffneten Thüre.

»Lori! Der Sturm will mit Dir reden!«

Lori kauert in sich versunken in einem Fauteuil.

»Er soll jetzt schlafen!« antwortet sie über die Achsel hin mit harter Stimme. »Der Doktor sagt ja, daß er Ruhe braucht!«

Das neuerliche Ausweichen des Arztes, da sie einen bestimmten Genesungstermin erfahren wollte, reizt ihre Mißstimmung bis zu ohnmächtiger Verzweiflung. Just heute hat sie zweimal tapfer dem Versucher widerstanden; just heute hat sie dem Kranken da drinnen doch wahrlich keine geringen Opfer gebracht. Dafür müßte er sich aber auch dankbar erweisen und endlich einmal gesund werden! Das scheint ihr eine ganz ernst zu nehmende und nur billige Forderung. Daß nun noch immer keine bestimmte Aussicht auf Genesung vorhanden ist, rechnet sie Franz geradezu als schwarzen Undank an. Dabei fühlt sie denn doch, daß sie dem Verwundeten unrecht thue mit ihren Vorwürfen, aber irgend eine Ableitung für die Mißstimmung, welche die getäuschte Hoffnung in ihr erzeugt hat, muß sie nun einmal finden, und so schmollt sie denn mit der unschuldigen Ursache ihrer Enttäuschung.

Franz hat Loris Antwort gehört und sich ächzend im Bette bewegt. Am nächsten Morgen steht es wieder schlimmer um ihn, das Fieber hat neuerlich zugenommen, seine Stirne glüht und die Augen starren verglast.

Nun ist Lori wieder voll ernster Besorgnis und unruhiger Geschäftigkeit. Sie trippelt unablässig vom Nebenzimmer an sein Lager und wieder zurück, rückt die Kissen zurecht, betastet seine kalten Hände und überwindet sogar ihre Scheu vor seinem stieren Fieberblicke. Stundenlang bleibt sie neben seinem 356 Bette sitzen, reicht ihm ab und zu den kühlenden Trank, den der Arzt verschrieben hat, und da sich der Zustand des Verwundeten allmählich ein wenig bessert, freut sie sich ebenso übermäßig, als sie früher niedergeschmettert schien, und spricht immerzu nur von seiner Genesung, die ja nun vor der Thüre stehe.

»Morgen, übermorgen, überübermorgen . . .!« – Sie zählt die Tage an ihren kleinen, unruhig zuckenden Fingern ab. – »Am Sonntag fahren wir vielleicht schon zum erstenmal aus, – ja? Ist's Dir recht?«

Ob es ihm recht ist! Sie beugt sich ja dabei so tief über ihn, daß ihr Atem seine Stirne fächelt! Er nickt freundlich, wobei er allerdings noch heftige Schmerzen verspürt, aber Lori ist doch überglücklich; sie tändelt so süß, plaudert so lieblich von all den Tollheiten, die ihr Köpfchen durchblitzen. . . .

Mit dem Gedanken einer Übersiedlung nach Amerika hat sie sich bereits vollständig vertraut gemacht. Fühlt sich Franz besonders wohl, dann schleppt sie sogar einen großen Koffer herbei und beginnt ihre besten Kleider in denselben zu stopfen.

»Damit wir gleich abfahren können, wenn Du ganz gesund bist!« erklärt sie mit der Ernsthaftigkeit eines Kindes, das »Reisen« spielt. Dabei hält sie Stück um Stück gegen das Fenster und erzählt mit lachendem Eifer die Geschichte jedes einzelnen Champagnerfleckes, der sich auf den faltenreichen Schleppen findet. Daß Franz von Inhalt und Ton dieser kurzen Erzählungen gleich peinlich berührt werden muß, bedenkt sie nicht. Wie jener Prinzessin in der Fabel die Frösche, so springen ihr die derben Spässe und Zoten, die sie gedankenlos nachplaudert, aus dem Munde. Dazwischen klingt ab und zu ein überlustiges Glucksen, wohl auch der Anfang eines Operettenrefrains von ihren Lippen. Dadurch erinnert sie sich ihrer Gesangsstunden und ihrer Hoffnungen auf eine glänzende Theaterlaufbahn. Sie wird plötzlich ernst, setzt sich zu Franz 357 aufs Bett und fragt ihn, die niedere Stirne in krause, allerliebste Falten ziehend:

»Drüben in Deinem Amerika giebt's doch auch Theater, nicht wahr? Dort kann man ebenso gut wie hier sein Glück machen? Vielleicht noch viel mehr? Was?! – O es wird schön werden! Wenn mir erst recht, recht viel Geld haben, kommen wir zurück und fahren alle Tag' in den Prater, – ja? Weißt Du, dann legen wir uns breit im Wagen zurück und die Räder spritzen die Leut' an, die zu Fuß daneben laufen.«

Sie stützt sich neben Franz auf die Kissen und ahmt das nachlässige Sitzen vornehmer Damen in ihren Equipagen nach. Franz muß nun doch lächeln, und Lori hüpft beglückt wieder an den Koffer zurück, in dem sie eifrig kramt.

Aber nicht alle Tage bringen so fröhliche Stimmungen. Loris Ungeduld und Mißmut bricht immer wieder mit erneuerter Kraft durch. Sie schmollt dann mit Franz, mit sich selbst, mit der ganzen Welt, will jetzt alles im Stiche lassen und davonlaufen, vermag im nächsten Augenblicke aber kaum die Hand zu bewegen, so elend und gebrochen fühlt sie sich. Franz leidet unter diesem Wechsel in Loris Laune um so mehr, als ihre Umgebung ihn ohnedies von Tag zu Tag mürrischer und unfreundlicher behandelt. Insbesondere Frau Schober läßt ihn bei jeder Gelegenheit fühlen, wie sehr ihr seine lange Krankheit zur Last fällt.

»Mir scheint, Sie wollen gar nimmer gesund werden!« sagt sie mit einem giftigen Blicke, wenn sie ihm mittags oder abends die Suppe reicht. »Natürlich, Ihnen g'fallt das, so ruhig daliegen, nichts arbeiten und andere Leut' für sich sorgen lassen!«

Selbst Lori gegenüber wagt die Mutter jetzt ab und zu solche Äußerungen, denn es steht in der That nicht gut um die kleine Wirtschaft. Das Geld, das der 358 Pfandleiher auf Loris Schmuck borgte, ist aufgezehrt, nun müssen neue Gegenstände daran. Wanduhren, Bilder und Wäsche, auch manches schöne Kleid wandert in den dunklen Laden des Herrn Moses Lichtblau, den Hanni als einen besonders ehrlichen Mann bezeichnet hat. Aber der geringe Erlös will niemals lange vorhalten. Frau Schober schlürft immer wieder durch die halbgeleerten Zimmer und späht nach neuen Wertgegenständen.

Mit Hanni verträgt sie sich jetzt bereits ausgezeichnet, ja beide scheinen sogar nach einem gemeinschaftlichen Plane vorzugehen.

»Er ist doch ein komischer Mensch!« beginnt die Mutter eines Mittags plötzlich, da sie mit der Tochter bei Tische sitzt.

»Wer?« fragt Lori zerstreut.

Frau Schober tauscht einen raschen Blick mit Hanni, die wie stets in ihrer tadellos weißen Schürze und dem gesteiften Häubchen an der Kredenz steht.

»Nun, der Baumeister!« erwidert die Mutter rasch und beobachtet dabei lauernd die Tochter, die verwundert aufsieht.

»Der Baumeister? Wer ist das?«

»Aber stell Dich doch nicht so! Der Baumeister Wiesinger!«

»Der!«

Lori verfällt wieder in ihr Sinnen.

»Ja – der!« eifert nun Frau Schober. »Alle Tag' paßt er der Hanni oder mir auf und fragt, wie's Dir geht und ob Du noch keinen . . . Freund hast? Er hätt' eine prachtvolle Wohnung für Dich, sagt er, viel schöner als diese hier ist, und einen Wagen könntest Du auch haben, . . . und einen Bedienten drauf, – meiner Seel', einen Bedienten! Hat er's nicht g'sagt, Hanni?«

Die Angerufene bestätigt es feierlich.

»Und zwei Lehrer zum Singen will er Dir halten, hat 359 er g'sagt, wenn Du durchaus zum Theater gehn willst, – zwei! Nicht wahr, Hanni?«

Abermals bekräftigt das Mädchen die Aussage der Alten.

Lori steht auf und erwidert nichts. Da die Mutter nochmals beginnen will, winkt sie ihr ungeduldig.

»Es ist schon gut!« sagt sie verdrießlich. »Es ist schon gut!« Damit geht sie ins Schlafzimmer und schließt hinter sich die Thüre.

Frau Schober und Hanni sehen einander betroffen an. Die Mutter hat sich die Verwirrung im Hause auch darin zu Nutzen gemacht, daß sie die beengenden neuen Kleider abgelegt hat und wieder in ihrer weiten Jacke und den schiefgetretenen Schuhen einher humpelt. Damit ist sie selbst auch völlig verwandelt; sie jammert, klagt und fühlt sich wieder so unzufrieden wie früher auf dem Korridore im Freihause. Die Erinnerung an jene Zeit, die ihr nun plötzlich in einem geradezu verführerischen Lichte erscheint, überkommt sie manchmal übermächtig und erpreßt ihr Thränen der Sehnsucht. So auch jetzt, da Lori sich ihren so gut gemeinten Vorschlägen ganz und gar unzugänglich zeigt. Hanni beruhigt sie.

»Lassen Sie's gut sein, Frau Schober!« sagt das Mädchen mit überlegener Sicherheit. »Es kommt alles in Ordnung. Ich hab' ja mein ganzes Geld zu fordern und bin trotzdem ganz ruhig. Nur warten, nur nichts überstürzen wollen! Ich hab' meinem alten Herrn rund herausgesagt, daß es hier nichts ist, weil ich jetzt bestimmt weiß, daß nur der Baumeister für uns alle der rechte Mann ist! Er schaut nur ganz danach aus, als ob er unser Fräulein nicht mehr auslassen könnt'. So ein Alter, der auf einmal jung sein möcht', ist halt doch immer der Sicherste!«

Nach dieser philosophischen Betrachtung wendet sie sich langsam und feierlich dem Tische zu, um die Speisenreste, insoweit Frau Schober welche zurückließ, abzutragen.

360 Die Mutter klagt trotz dieser Beruhigung noch eine Weile fort und bejammert sich als eine »arme, alte, kränkliche Frau, die das unruhige Leben nicht mehr lang aushalten kann!« Mitten in ihrer Klagemelodie unterbricht sie sich aber und schlürft auf das Fenster zu.

»Die Spitzenvorhäng' sind am End' doch ganz überflüssig!« meint sie mit einem gierigen Blicke. »Die könnten wir zum Juden tragen, – glauben S' nicht, Hanni?«

Das Mädchen hat nichts dagegen einzuwenden, und beide machen sich sofort daran, die Vorhänge abzunehmen. –

Die dritte Woche seit Sturms Verwundung geht endlich vorüber. Die kleine Wohnung in der Schwindgasse sieht arg geplündert aus und Frau Schober sinnt täglich länger und niedergeschlagener darüber nach, was sie noch zu Herrn Lichtblau tragen könnte. Loris Koffer ist bereits vollständig geleert, die schönen Kleider für die Amerikareise sind samt ihren Champagnerflecken hinüber gewandert, sogar der Koffer selbst ist ihnen bereits gefolgt. Was nun? fragt sich die Mutter, in banger Sorge den letzten vorhandenen Brotrest in den Mund schiebend. Lori muß endlich eine Entscheidung treffen!

Aber Lori ist wieder einmal die Beute ihrer bösen Stimmung. Sie kauert, wie stets, wenn die üble Laune sie übermannt, in einem Fauteuil des kahlen Speisezimmers und hängt ihren trüben Gedanken nach. Nickend zieht sich Frau Schober zurück und flüstert draußen mit Hanni.

Allmählich dunkelt es. Der Spätsommerabend bricht früh herein. Da öffnet sich nach einem schüchternen Pochen, das Lori überhört, leise die Thüre, und der alte Baumeister tritt ein. Hinter ihm lugen Frau Schober und Hanni durch den Thürspalt, bleiben aber vorsichtig lauschend im Vorzimmer zurück. . . . .

Franz, der mit dem sinkenden Tage immer unruhiger 361 wurde, erhebt sich indessen schwerfällig von seinem Lager. Nach einem stärkenden Schlummer fühlt er sich überraschend kräftig und beabsichtigt nun, einen lang gehegten Plan endlich auszuführen. Er will heimlich aufstehen und Lori überraschen.

Wie wird sie sich freuen! denkt er, und eine tiefe Röte überfliegt seine eingefallenen Wangen. Aber die Ausführung ist doch weit schwieriger als er dachte. Sobald er die Füße auf den Boden setzen und aufrecht stehen will, versagen die Kniee und er sinkt auf das Bett zurück. Immer wieder versucht er es. Endlich gelingt es ihm doch, bis an den Stuhl zu gelangen, auf welchem seine Kleider wirr durcheinander geworfen liegen. Hier muß er abermals eine geraume Weile ruhen. Dann beginnt das mühselige Geschäft des Ankleidens. Hilflos wie ein Kind starrt er ab und zu vor sich hin und meint, er könne damit nicht mehr zustande kommen. Allein sein fester Wille siegt auch hier. Nun erhebt er sich von neuem und schwankt, schon ein wenig gestärkt, der Thüre zu. Im Halbdunkel tappt er nach der Klinke.

Wer spricht da so eifrig mit Lori? Die Stimme klingt ihm fremd. Er horcht, doch vermag er kein Wort zu verstehen, nur ein Summen dringt bis zu ihm, ein Murmeln, aus dem ab und zu eine einzelne Silbe emporschnellt. Entschlossen faßt er endlich den Drücker mit beiden schwachen Händen und öffnet leise die Thüre. Dort lehnt Lori halb abgewendet am Fenster, durch das der scheidende Lichtgruß des Tages hereinflutet, ihren feinen Kopf mit einem goldigen Schimmer umwebend.

Lori! . . . Wie schön sie ist!

Aber wer ist der fremde Mann mit dem immerzu nickenden weißen Kopfe, der in leicht gebückter Stellung vor ihr steht und so eifrig zu ihr spricht? Wie er sie anstarrt! Wie seine Blicke sie umfangen! Jetzt streckt er den Arm nach ihr 362 aus und sie legt, wenn auch zögernd, ihre kleine weiche Hand in seine plumpen groben Finger, die sich wie nach einem gelungenen Raube hastig schließen.

»Was Sie nur wünschen, sollen Sie haben!« zittert es von den Lippen des Alten. »Und mehr noch, weit mehr! Für mich selbst hat das Geld ja keinen Wert. Jeden Gedanken will ich Ihnen erfüllen, – Sie müssen mich aber dafür auch ein wenig lieb haben, sich mir dankbar erweisen! Wollen Sie das?«

Franz fühlt sein Blut stürmisch zum Herzen drängen.

»Lori!« ruft er mit versagender Stimme.

Das junge Mädchen reißt sich heftig los und stößt den Alten zurück.

»Fort, fort!« kreischt sie. »Ich will nichts hören! . . . Gehen Sie!«

Und sie eilt auf Franz zu, der sich mit schwindender Kraft an die Thüre klammert. Der Lärm lockt Hanni und Frau Schober herbei, welche eilends eintreten. Herr Wiesinger will noch etwas erwidern, aber Lori hört nicht mehr auf ihn, sie blickt unverwandt in das erdfahle Gesicht des Bauführers. Wie ein Sterbender steht Franz vor ihr; seine Brust hebt und senkt sich schwer, sein Atem geht röchelnd.

Was zuckt durch Loris Köpfchen? Was spricht aus dem starren, schier feindseligen Blicke, den sie auf den Schwankenden heftet? Ein Sterbender! . . . Ein Sterbender! Eisiger Schauer überläuft sie. Dahin alle Pläne, alle Hoffnungen auf eine ehrliche Zukunft! Vorbei, vorbei! Sie hat den Arm ausgestreckt, um ihn zu stützen, ihn aufrecht zu halten, aber die Hand sinkt schlaff herab, der Kopf neigt sich vor, und die kleinen weißen Zähne drücken sich mit ihrer scharfen Schneide tief in die schwellenden Lippen.

»Lori!« wiederholt Franz klagend. Sein Blick trübt 363 sich, er vermag nichts mehr um sich her zu unterscheiden. Tiefe Stille antwortet seinem Rufe.

Der fremde alte Mann hat sich längst zurückgezogen, aber auch Lori ist nicht mehr da. Franz sucht vergebens, sie mit dem unsicher tappenden Arme zu erreichen. Er läßt die Klinke fahren und sinkt kraftlos neben der Thüre zu Boden.

Nach einer Weile fühlt er sich emporgehoben und zur Causeuse geschleppt.

»Da setzen Sie sich nieder und schauen Sie, daß einmal ein End' wird mit Ihnen, so oder so!« sagt die Stimme der Frau Schober.

Er schlägt die Augen auf. Da steht die Mutter denn auch wirklich vor ihm und neben ihr Hanni, die mit dem gesteiften weißen Häubchen nachdrücklich nickt.

»Wo ist Lori?« fragt Franz mit schwacher Stimme.

»Fortg'laufen, unser Herrgott weiß wohin!« erwidert Frau Schober ärgerlich.

»Sie . . . sie kommt nicht wieder?«

»Hoffentlich ja, . . . aber dann dürfen Sie nicht mehr hier sein! Sie sind ja doch nur ihr Unglück!«

Franz blickt die keifende Alte fassungslos an.

»Ihr Unglück?« wiederholt er tonlos.

»Ja, das sind Sie! Zum zweitenmale hat sie heut' ihr Glück von der Hand gewiesen, – rein als ob sie verrückt g'worden wär'. Und das alles nur wegen Ihnen! . . . Sehen Sie denn nicht, daß wir schon seit Wochen alles versetzen müssen, damit wir nur etwas zu essen haben und Sie Ihre Suppe bekommen? Und ich bin doch auch nur eine arme alte Frau, die ein solches Leben –«

Franz will sie hastig unterbrechen, aber er vermag nur einige unzusammenhängende Laute zu stammeln.

Frau Schober fühlt nun doch ein wenig Mitleid mit ihm 364 und tritt schweigend einen Schritt zurück, damit er sich fassen könne. Aber Hanni setzt in ihrer stillen, kalten Weise hinzu:

»Es giebt doch Spitäler genug in Wien, wo man gesund werden kann. Andere Leut' müssen ja auch hingehen, wenn ihnen was zustoßt, – nicht wahr, Frau Schober?«

Franz sieht beide mit einem langen Blicke an. Die Mutter schlägt unwillkürlich die Augen nieder und zerrt an ihrer Jacke, aber Hanni hält ihm ruhig Stand.

Der Bauführer nickt.

»Sie haben ganz recht!« stottert er. »Ich muß fort . . . gleich fort!«

»Endlich!« ruft das Mädchen mit der weißen Haube und tritt auf ihn zu, um ihm aufzuhelfen. Auch Frau Schober will ihn unterstützen, aber er weist jede Berührung heftig zurück.

»Es wird schon gehen, . . . es muß gehen!« stöhnt er und faßt krampfhaft seinen Hut, der auf dem Stuhle liegt.

»Sagen Sie . . . ihr, ich bin gegangen, weil ich nicht ihr Unglück hab' sein wollen! . . . Ich laß' ihr auch danken, . . . vielmals, vielmals danken für alles –!« Seine Worte ersterben in einem unverständlichen Murmeln. Aber er gelangt doch aufrecht bis zur Thüre, durch die er langsam verschwindet, ohne einen einzigen Blick nach rückwärts zu werfen.

Frau Schober und Hanni bleiben schweigend im Zimmer zurück. Die letztere macht sich nach einer Weile still daran, das Schlafzimmer in Ordnung zu bringen und das Bett zu schließen.

Die Poliersgattin sieht ihr unthätig zu.

»Man sollt' doch nachschaun, ob er über die Stieg'n gekommen ist!« meint sie dann gedrückt. Hanni geht hinaus, kommt aber rasch zurück.

»Alles ist leer, – er muß fort sein!« berichtet sie. 365 »Da sieht man doch deutlich, daß er schon lang hätt' gehen können!«

»Gott sei Dank!« seufzt Frau Schober erleichtert, wobei es unklar bleibt, ob dieser Stoßseufzer der angeblichen Besserung des Vertriebenen oder seiner endlichen Entfernung aus dem Hause ihrer Tochter gilt.

Hanni hat in der That nicht gelogen; auf der Treppe ist Franz nicht hingesunken, auch vor dem Hause nicht. Obgleich seine Kniee zittern und die Beine den Dienst versagen wollen, hat er sich doch ins Freie geschleppt und ist bis an die Straßenecke gelangt. Eine langsame, mühevolle Reise! Seine Blicke haften am Boden und seine Hände betasten die Mauern. Die wenigen Vorübergehenden betrachten ihn kopfschüttelnd, eilen dann aber weiter. So schlürfte er langsam hin. Er denkt nicht an ein Ziel, nicht an die nächste Zukunft. Auch was ihn aus Loris Nähe fortgetrieben hat, liegt nur wie ein wüster Traum hinter ihm, ein Dunkel, aus dem kein einziger Lichtstrahl aufleuchtet.

»Ihr Unglück!« murmelt er immer wieder tonlos. »Nein, ihr Unglück will ich nicht sein!«

Plötzlich besinnt er sich, daß er schon eine geraume Weile an der Straßenecke lehnt, und will weiter gehen. Aber er vermag es nicht. Sein Entschluß ist kräftig und entschieden, das fühlt er, aber die Füße gehorchen nicht, er vermag sie nicht von der Stelle zu bewegen. Die Laterne über seinem Haupte brennt so düster, ein dichter Nebelschleier sinkt vom Himmel herab und trennt ihn von dem lauten Treiben, das er noch um sich vernimmt. Ein jähes Angstgefühl überkommt ihn, er will schreien, hört aber seine Stimme nicht mehr, auch der Lärm des Straßenlebens ist verstummt. Dennoch beängstigt ihn dies jetzt nicht, er empfindet nur noch, daß er müde ist und schlafen will. Dann fallen ihm die Augen 366 zu. Oh, eine süße Ruhe nach so schwerer Anstrengung! Ein rosiger Lichtschimmer erhellt den Nebel, ein süßer Hauch weht durch die Luft. »Lori!« flüstert der Hingesunkene. »Lori, so komm doch, ich bleib' ja bei Dir!« – – – – –

Ein Wachmann, der die zusammengekauerte Gestalt unter der Laterne findet, will sie mit einem starken Ruck empor richten. Das gelingt ihm aber erst unter Beihilfe einiger Passanten. Dann sehen sie dem Entschlafenen oder Berauschten, für den sie ihn halten, in das bleiche Gesicht.

»Wieder einmal so ein Vagabund!« sagt der Wachmann mit einem zornigen Fluche. Er blickt aber doch nachdenklicher auf den rasch wieder zusammensinkenden Unbekannten. »Na, der hat's wohl gar schon überstanden!« meint er plötzlich ruhiger. »Holt einen Wagen, damit wir ihn nach der Rettungsstation führen.«

Aber da der Wagen kommt, giebt er bereits ein anderes Ziel der Fahrt an. »Nach der Totenkammer!« ruft er laut und schwingt sich dann zum Kutscher hinauf. »Fertig! Vorwärts.«

Die Zurückgebliebenen sprechen noch eine Weile von dem kleinen Ereignisse, dann zerstreuen sie sich nach allen Richtungen. Ein Mensch weniger oder mehr auf der Welt, was das auch thut!

* * *

Eine Stunde später kehrt Lori heim. Ihre Wangen sind vom raschen Gehen gerötet, aus ihren Augen leuchtet ein guter Entschluß, der sie ersichtlich glücklich macht. Sie eilt hastig an der Mutter vorbei, die ein wenig ängstlich zurückweicht, und öffnet die Thüre des Schlafzimmers. Betroffen bleibt sie auf der Schwelle stehen. Hier ist alles dunkel und still.

»Franz!« ruft sie leise, und da keine Antwort folgt, mit erwachender Angst.

367 »Franz! Sei nicht bös, ich hab' den alten Narren ja fortgeschickt, . . . ich bleib' bei Die, wie's auch kommt . . . , immer . . . immer!«

Tiefes Schweigen. Sie stürzt an das Bett, schlägt die zugezogenen Vorhänge auseinander und betastet die Decke.

»Fort! Er ist fort!« schreit sie verzweifelt.

Die Mutter ist ihr schüchtern gefolgt.

»Lori!« sagt sie beklommen.

Die Tochter fährt auf.

»Ihr habt ihn fortgeschickt, – Ihr! Aber er ist ja zu schwach, . . . er überlebt es nicht!« Und sie wirft sich schluchzend auf das Lager.

»Franz!« wimmert sie. »Nicht sterben, Franz, – ich will ehrlich werden, ehrlich . . . ehrlich!«

Vergebens sucht die Mutter sie zu beruhigen.

Lori hört nicht. Plötzlich fährt sie auf.

»Wo ist er?«

Frau Schober zuckt die Achsel.

»Ich weiß es nicht!« erwidert sie eifrig. »Er ist fortgegangen, . . . er war viel stärker, als wir geglaubt haben!« Und ihren Arm um Loris Schulter legend, fügt sie begütigend hinzu:

»Sei g'scheit, Lori! Sei froh, daß er endlich einmal fort ist, er war ja doch nur Dein Unglück!«

Lori antwortet nicht, und die Mutter spricht nach einer Weile fort:

»Wo willst ihn jetzt suchen? Er wird in irgend ein Spital gegangen sein und dort besser auskuriert werden, als bei uns, wo er doch niemals ganz g'sund worden wär'. Für ihn ist's ein Glück und für Dich auch. – – Hast ihn vielleicht heiraten wollen? Aber wovon hätt's Ihr denn g'lebt, alle zwei? Er ist ein armer Teufel und seine Stell' wird er jetzt auch längst 368 verloren haben. – – Du hast Dich ja immer g'fürcht', ein armes Weib zu werden und arbeiten zu müssen wie die anderen!«

Im Nebenzimmer klappern Teller und Gläser, ein köstlicher Bratengeruch zieht durch die geöffnete Thüre herein.

Frau Schober schnuppert gierig.

»Wie das gut riecht!« flüstert sie. »Ich bin so hungrig! Wir haben den ganzen Tag noch keinen ordentlichen Bissen bekommen. Willst denn nicht auch einmal wieder gut essen, Lori?«

Sie zieht die Widerstandslose ins Nebenzimmer an den Tisch, den Hanni geschäftig ordnet.

»Komm Lori,« sagt sie ungeduldig. »Setz Dich nieder und lang zu, wie sich's g'hört, – Du schaust ja ohnehin so schlecht aus wie die sieben magern Jahr'!«

Damit hockt sie auch schon auf ihrem Stuhle und spießt ein mächtiges Stück Braten auf ihre Gabel.

Lori schaut verwundert auf den reich besetzten Tisch und auf Hanni, die eben unter Anstrengung eine Weinflasche entkorkt. Sie hat wirklich seit gestern abend nichts mehr zu sich genommen, nun fordern Jugend und Gesundheit ihr Recht. Mechanisch sitzt sie nieder und beginnt zu essen.

Plötzlich legt sie ihr Besteck nieder und fragt:

»Es war doch kein Geld mehr da, – wer hat Euch denn das alles geborgt?«

Hanni lächelt geheimnisvoll.

»Niemand!« erwidert sie, während sich Frau Schober tief errötend über ihren Teller beugt und mit vollen Backen kaut. »Das Souper ist eine kleine Aufmerksamkeit!«

»Eine Aufmerksamkeit? Von wem?«

»Von . . . , nun, einmal muß es das Fräulein ja doch erfahren, – vom Herrn Baumeister Wiesinger!«

Lori springt auf und blickt nach der Thüre.

369 »Nein, nein!« beruhigt Hanni kopfschüttelnd. »Er kommt heut' nicht mehr!«

Lori zögert eine Weile, dann setzt sie sich wieder an den Tisch.

Auf Frau Schobers Einladung zieht nun auch das Mädchen mit der weißen Haube einen Stuhl heran und füllt drei Gläser.

»Gott sei Dank! Jetzt kommen wir endlich wieder in die alte Ordnung!« sagt die Mutter laut schmatzend.

Lori schweigt. Noch einmal überläuft sie ein Schaudern. Dann rafft sie sich plötzlich auf, leert ihr Glas auf einen Zug und wirft es gegen die Wand, an der es klirrend in Scherben springt.

»So ist diese Dummheit auch überstanden!« ruft sie so laut, als wollte sie irgend wen überschreien. »Jetzt ist ja doch alles vorüber, so soll 's wenigstens lustig werden!«

Frau Schober und Hanni lassen ihre Gläser anklingen.

Ja, nun soll es wenigstens lustig werden! 370

 


 


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