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Acht Jahre lang ist Sabbatai Zewi jetzt schon auf Reisen, nirgends haftend, überall von seinem Zweck besessen und auf Wirkung ausgehend, ein Sämann, von dem man noch nicht weiß, ob er gutes Korn oder Unkraut hinter sich aufwachsen läßt. Aber für das eine wie das andere braucht er einen Boden, der zur Aufnahme bereit ist. Und zwar ist es in der Geschichte der Gläubigkeiten immer der gute Ackerboden, nie der trockene Acker, der sich darbietet. Und während Sabbatai Zewi reist, liegen rings um ihn die von der Pflugschar der Ereignisse aufgerissenen Felder. Nach einer Ruhepause von knapp fünf Jahren hat in Polen der zweite Akt der Tragödie begonnen. Chmelnicky, mit seinen Erfolgen unzufrieden und wegen seiner Niederlage auf Rache bedacht, hat in dem Zaren Alexej Michailowitsch einen Bundesgenossen gefunden. Der meldet bei der polnischen Krone Ansprüche auf die seinem Reich benachbarten Teile von Weißrußland und Litauen an. Zur Bekräftigung des Anspruches dringen im Sommer 1654 die vereinigten Heere der Moskowiter und der Kosaken in Polen ein. Entsprechend den veränderten politischen Bedingungen hat sich die Parole gewandelt. »Für Russentum und Rechtgläubigkeit!« Aber das Ergebnis ist für die Juden das gleiche. Sie werden auch von dieser Parole getroffen, weil sie nicht rechtgläubig sind. So entsteht ein neuer Katalog von verwüsteten Städten und vernichteten Gemeinden: Smolensk, Mstislawl, Bychow, Homel, und vielen anderen. Genau wie bei dem ersten Sturm metzeln die Kosaken schlechthin, während die Bundesgenossen sich auf die Vertreibung oder die Gefangennahme beschränken. Im Herbst 1655 werden in Mohilew, 94 Witebsk und Wilna alle Juden niedergemacht, soweit sie nicht geflohen sind, oder der zwangsweisen Taufe verfallen. An diesen Massenmorden haben die griechischen Popen einen entscheidenden und verursachenden Anteil. Das gut befestigte und verteidigte Lemberg entging auch diesesmal der Einnahme. Vergeblich verlangte Chmelnicky von der Stadt Auslieferung der Juden mit der Begründung: »Die Juden müssen uns als Feinde Christi und der ganzen Christenheit mitsamt ihrem Vermögen, ihren Weibern und Kindern ausgeliefert werden.« Für den Mißerfolg hielt er sich in Lublin schadlos. Seine Kosaken dringen am Vorabend des Laubhüttenfestes in die Stadt ein, rauben sie aus, treiben die Juden in die Synagoge und stecken sie von allen Seiten in Brand. Wer dort nicht umkommt, wird von den Kosaken, die wie irrsinnige Bluthunde durch die Straßen rennen, in einer so grauenhaften Weise niedergemacht, daß darauf verzichtet werden muß, die Berichte von Augenzeugen zu zitieren.
Als sei es damit nicht genug, werden die Juden noch in einen anderen Konflikt einbezogen, der sie gleichfalls nichts anging. Im Herbst 1655 bricht Karl X. Gustav von Schweden in Polen ein und besetzt fast ungehindert ganz Groß- und Kleinpolen. Er betrachtet die Juden nicht als Kriegsbeute und behandelt sie folglich mit Schonung. Wie sollten sie es ihm anders vergelten als durch eine loyale Haltung? Aber diese Haltung wurde ihnen verdacht. Während in der anderen Ecke des Reiches ihre Brüder ermordet wurden, mutete man ihnen hier eine patriotische Haltung zu. Wie der Befreiungskampf der Polen unter ihrem nationalen »Erlöser« Stephan Czarniecky einsetzt, werden die Juden das Opfer einer Rachsucht, 95 vor deren Formen selbst die Bestialität eines Chmelnicky zu einem bescheidenen Anflug von Grausamkeit wird. Brest-Kujawsk, Gnesen, Lissa, Plozk, Lenczyka, Kalisch, Sandomierz, Opatow, Chmjelnik, Woidislaw und viele andere Orte ergeben die Stichworte eines Martyriologiums, das in der Geschichte nicht seinesgleichen hat. Selbst polnische und deutsche Chronisten bezeichnen das Verhalten der Polen als »barbarisch und durchaus unchristlich.« Eine genaue Feststellung der Zahl der Opfer aus diesem vielfachen Gemetzel ist nicht möglich. Schätzungen der Zeit gehen bis zu einer halben Million. Jedenfalls sind es mehr, als den Kreuzzügen und den Wirren der schwarzen Pest insgesamt erlegen sind. Bei Anlegung der neuen Steuerrollen ergibt sich, daß etwa siebenhundert Gemeinden verschwunden sind, oder nur noch in geringen Resten bestehen, daß in der östlichen Ukraine kein einziger Jude mehr lebt und in Wolhynien und Podolien etwa noch ein Zehntel der Juden am Leben ist.
Bei dem ersten Überfall konnten die Juden noch schreien, sich empören, eine Literatur des Martyriums schaffen. Jetzt sind sie stumm geworden. Die schriftlichen Aufzeichnungen sind fast ausschließlich Kataloge von Orten und Menschen. Sie hocken stumm, hoffnungslos und in abgründiger Verzweiflung über den Resten. Sie ziehen schattenhaft und ohne Willen jede Straße, die sich ihnen zur Flucht und zum Ausweichen bietet. Sie beleben die großen Heerstraßen. Schiffstransporte bringen an die dreitausend litauischer Juden nach Texel in den Niederlanden. Ungezählte Tausende strömen nach Deutschland, Mähren, Böhmen, Österreich, Ungarn, Italien und nach den türkischen Provinzen. Sie 96 erscheinen überall nicht nur als die Träger eines nationalen Elends, das nach einer Erlösung dringend verlangt. Sondern sie bereiten, wie sie hier und dort Fuß fassen und sich als Händler, Lehrer und Rabbiner niederlassen, die Zeit noch in ihrem besonderen Sinne für eine messianische Idee im kabbalistischen Geiste vor; und wo sie nicht das tun, durchsetzen sie doch die westeuropäische Judenheit mit ihrer Gelehrsamkeit und ihrer intensiven Beschäftigung mit Talmud und Kabbala. Sie vertiefen damit eine Bedeutung, die sie schon früher hatten. Da sie, im Sinne jüdischer Gelehrsamkeit, wirklich die Auslese der Klugheit darstellten, bezogen die westeuropäischen Juden ihre Lehrkräfte mit Vorliebe aus dem polnischen Sammelbecken. Man muß anerkennen, daß in ihrer Heimat ihre Klugheit ihnen nicht zum Vorteil gereichte, weil sie daraus leicht zu einer überheblichen Haltung gegenüber ihrer nichtjüdischen Umgebung neigten. Aber während es Völker gibt, die nicht einmal für ein Kapitalverbrechen einstehen müssen, gibt es andere, die schon die Tatsache ihrer Unbeliebtheit mit dem Leben bezahlen.
So haben diese polnischen Ereignisse nicht nur das Bewußtsein der übrigen Juden von ihrem erlösungsbedürftigen Schicksal vertieft, sondern ihnen auch Not und Hoffnung zugleich an lebendigen Beispielen in ihrer Nähe vergegenwärtigt und ihre geistige Haltung erneut aus Talmud und Kabbala her orientiert. Gut oder nicht: es förderte ihre Isolierung; es verschloß sie gegen die Lockungen einer Welt, in der ein Descartes und ein Spinoza versuchten, den Menschen größere Freiheit und Selbsterkenntnis zu vermitteln; es verwies sie erneut auf sich selbst und ihre Sehnsüchte. Indem sie ihr Geschick streng historisch 97 auffaßten, bezeichneten sie die polnische Katastrophe als den dritten Churban, das heißt: als die dritte Zerstörung des Tempels.
Während sich die Juden so auf den mystischen Weg begeben, auf dem ein erregtes Gemüt den Messias begreift, müssen sie die sonderbare und befriedigende Feststellung machen, daß sie von einer reichen Gesellschaft von Gläubigen umgeben sind, die nicht Juden sind. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts an treten unter den Christen in Deutschland, Frankreich, Holland, England und Polen immer wieder Messiasgestalten auf. Man wird schon die Wiedertäufer zu Münster dahin rechnen können. Karl V. läßt 1534 einen Spanier namens Salomon Malcho verbrennen, der sich als Christus und Messias bezeichnet. 1550 tritt in Polen Jakob Melstinski auf, behauptet, er sei Christus, und wählt sich zwölf Apostel. Wenige Jahre später predigen, ebenfalls in Polen, zwei Männer das gleiche Thema. In Delft ruft sich 1556 David Jorries als den rechten Christus aus. Drei Jahre nach seinem Tode ereilt ihn die Strafe. Er wird exhumiert und verbrannt. 1614 ernennt sich in Langensalza Ezechiel Meth zum Großfürsten Gottes, zum Erzengel Michael. Ein Jahr später verkündet Jesajas Stieffel: »Ich bin Christus. Ich bin das lebendige Wort Gottes.« 1624 prophezeit zu Oppenheim in der Pfalz der Sekretär Philippus Ziegler, daß in Holland ein Messias aus dem Stamme David geboren werden würde. Hans Keyl von Gerlingen erklärt 1648, ihm sei ein Engel des Herrn erschienen und habe ihm die Verwüstung des Landes Württemberg durch das Schwert des Türken, durch Pestilenz und Seuchen angezeigt. In Stuttgart prophezeit Christina Regina Buderin. 1654 tritt in England eine Gestalt von 98 seltsamer Eindringlichkeit auf den Plan, der Quäker Jakob Naylor. Während er hinter dem Pfluge hergeht, ruft ihn eine Stimme mit den Worten an, die nach dem biblischen Bericht an Abraham ergingen: »Gehe du aus deinem Land, aus deinem Geschlecht und aus deines Vaters Hause . . .« So fühlt er sich als Messias berufen und kommt im Oktober 1657 nach Bristol, schon von Jüngern umgeben, während zwei Frauen sein Pferd führen. Sie singen die alte jüdische Anrufung »Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der Gott Israels.« –
Das Verhör, das die Behörden dann mit ihm anstellen, ist mit historischer Reminiszenz bis an den Rand geladen. »Bist du der König von Israel?« – »Du sagst es. Ich habe kein Königreich in der Welt; aber ich herrsche in meinem Vater.« – »Bist du das Lamm Gottes, in welchem die Hoffnung Israels steht?« – »So ich nicht das Lamm wäre, würde ich nicht gesucht werden, damit man mich verschlingt. Und die Hoffnung Israels steht in der Gerechtigkeit des Vaters; sie mag auch gefunden werden, von wem sie will.«
Hier scheint die messianische Begabung eines erregten Menschen schon angerufen zu sein von den Kraftströmungen, die aus dem Bezirk des Judentums der Zeit kommen. Darum erstaunt es nicht zu hören, daß bald darauf der Skandinavier Oliger Pauli auf Grund einer Vision, die ihm geworden ist, sich zum König der Juden kraft göttlichen Gebotes ausruft. Auch in Frankreich wollen Sympathieerklärungen für einen jüdischen Messianismus laut werden, aber Richelieu, Rationalist aus Angst vor dem Mystizismus, läßt solche Verkünder schnell und rücksichtslos beseitigen. Aber wie die Luft von solchen Vorstellungen 99 gefüllt war, erhellt daraus, daß zu jener Zeit, da tatsächlich noch nichts geschehen war, aus Augsburg mit dem Datum des 24. September 1642 der nachfolgende Brief verbreitet werden konnte: »Von Konstantinopel berichtet der dort residierende Ambassadeur, daß ein neuer Messias von einer Jüdin in der Türkei zu Ossa geboren ist. Er hat viele Städte und Schlösser an sich gebracht, auch das ganze Land Ägypten und die untersyrischen Provinzen. Dem Don Sebe, König von Persien, hat er einen Säbel zuschicken lassen, andeutend, er müsse abtreten und ihm sein Reich gutwillig übergeben. Ebenso hat er es mit dem Sultan gemacht, indem er ihn aufforderte, Jerusalem und Damaskus abzutreten. Der Sultan hat Angst bekommen und seine Residenz von Konstantinopel nach Mekka verlegt. Er nennt sich Jesus Eli Messias, ein allmächtiger Gott Himmels und der Erde. Er ist geboren 1641, den 24. September, bei Bassiliske in einem Dorfe Ossa, von einer Jüdin Gamaritta, so eine schöne, jedoch gemeine Person sein soll. Bei der Beschneidung nach acht Tagen fing er gleich an zu reden, Wunder zu tun und sich als Messias zu verkünden. Am Himmel sind am Tage seiner Geburt schreckliche Zeichen gesehen worden. Die Sonne ist mittags acht Stunden verfinstert gewesen; eine Stimme ertönte, auf hundert Meilen hörbar: »Bekehret euch! Heute ist der wahre Messias geboren!« – Man hat feurige Drachen in der Luft gesehen und viele Teufel. Er sieht jetzt schon aus wie einer von 24 oder 25 Jahren. Seinen Vater kennt man nicht. Er ist gut von Hals, mit spitzigem Kopf, türkischem Angesicht, gerunzelter Stirne, erschrecklichen Augen, langen Ohren, großen Mannes gespitzten Zähnen . . .« und so fort. 100
Solche Berichte, obgleich in ihrer phantastischen Form vereinzelt, sind doch nichts als Ausläufer des allgemeinen Interesses, das die Zeit in vielen ihrer geistigen Vertreter wenn nicht den Juden selbst, so doch der Idee des Judentums und seiner endlichen Erlösung entgegenbringt. Von England und seinen Puritanern ist schon gesprochen worden. In London gab Edward Nicholas 1648 ein Werk heraus, das er dem englischen Parlament widmen konnte: »Apology for the honorable nation of the Yews.« Er will mit diesem Buche nicht nur den Papisten einen Hieb versetzen, sondern in allem Ernst den Nachweis führen, daß das Wohl und Wehe der Völker von der Art abhänge, wie sie die Juden behandeln. Denn offensichtlich habe Gott sie in allen Katastrophen für einen geheimen Zweck existent erhalten. An ihrer glorreichen Zukunft könne somit kein Zweifel sein. – In Frankreich gibt Isaac de Peyrère, ein Hugenotte, der im Dienste des Herzogs von Condé steht, ein Buch heraus: Von der Heimkehr der Juden. Er ist überzeugt, daß für die Juden das Ende der Zerstreuung gekommen sei. Sie würden jetzt in das heilige Land zurückkehren, und da der König von Frankreich der älteste Sohn der Kirche sei, müsse er es übernehmen, das älteste Kind Gottes, das Volk Israel, in seine Heimat zurückzubringen. – Da ist weiter Abraham von Frankenberg, ein Edelmann aus Schlesien, ein Jünger des Jakob Böhme, mit seinem abschließenden Urteil: »Das wahre Licht wird von den Juden kommen. Ihre Zeit ist nicht mehr ferne.« – In Danzig sitzt Johannes Mochinger, ein Mann aus altem Tiroler Adelsgeschlecht, Führer eines geistigen Kreises, der die Heimkehr und Erneuerung des jüdischen Volkes mit in seine mystischen Erwartungen aufgenommen hatte 101 und ihnen beredten Ausdruck gab. Der Holländer Heinrich Jesse veröffentlicht sein Buch »Von dem baldigen Ruhm Judas und Israels«. Der böhmische Mystiker Paulus Felgenhauer erkennt zwar einen weltlichen Messias nicht an, vermittelt aber seine religiösen Ideen den Juden in einer Schrift, die den Inhalt im Titel trägt: »Frohe Botschaft für Israel vom Messias, daß nämlich die Erlösung Israels von allen seinen Nöten, seine Befreiung aus der Gefangenschaft und die ruhmreiche Ankunft des Messias nahe sei, zum Troste für Israel aus den heiligen Schriften von einem Christen, welcher ihn mit den Juden erwartet.«
Es sind überhaupt in der Zeit eine ganze Anzahl von Theologen, Philologen und Historikern für das jüdische Problem interessiert. Zum Teil war es eine Folge der Mode, Polyhistor zu sein und sich mit den drei klassischen Sprachen griechisch, lateinisch und hebräisch zu beschäftigen. Das vermittelte immerhin intimere Kenntnisse des Talmud und der rabbinischen Literatur, und damit die Befugnis, zu den jüdischen Problemen Stellung zu nehmen. Da sind der holländische protestantische Theologe Joseph Scaliger, der »König der Philologen«, Johannes Buxtorf der Ältere, aus Basel, ein ungewöhnlich befähigter Hebraist, ferner Hugo Grotius und Johannes Selden, endlich Christine von Schweden, die Tochter Gustav Adolfs, die nicht nur exzentrisch, sondern auch klug war. Für alle diese Menschen erfordert das Interesse an der Zeit, sich mit dem Judentum zu beschäftigen, und neben allen religiösen und mystischen Gründen lag noch ein politischer Grund von besonderer Aktualität vor: die Wiederzulassung der Juden nach England. 102 Politische, wirtschaftliche und religiöse Motive machten dieses Bemühen besonders interessant. Die Initiative dazu war von Manasse ben Israel ergriffen worden. Er war einer der Rabbiner der Amsterdamer Gemeinde, ein sehr belesener, rühriger und enthusiastischer Mann, ein geschickter Kompilator, der unter den nichtjüdischen Gelehrten großes Ansehen genoß und von ihnen als Repräsentant des geistigen Judentums der Zeit angenommen wurde. In den Diskussionen mit seinen gelehrten Freunden tritt ihm immer wieder das Argument entgegen, daß zwar die Wiederherstellung des jüdischen Reiches unzweifelhaft erfolgen werde, daß es aber bislang noch an zwei Voraussetzungen fehle, die sich aus dem biblischen Schrifttum ergäben: an dem Wiedererscheinen der von Salmanassar in Gefangenschaft geführten zehn Stämme aus dem Reiche Israel, und sodann an dem Auftreten eines Messias, der das Signal zur Rückkehr zu geben habe.
Das Schicksal der zehn Stämme hatte in der Tat die Vorstellungen der Juden nicht weniger beschäftigt als die Erwartung eines Messias. Es ist ja auch ein erregender Gedanke, daß von einem Volke, dessen Signum die Unvertilgbarkeit zu sein scheint, der größte Teil eines Tages verschleppt wird und so spurlos verschwindet, daß nirgends mehr mit einiger Sicherheit Nachweise für seinen Verbleib zu finden sind. Ein solches Vakuum erträgt die Phantasie eines Volkes auf die Dauer nicht. Indem ihre Phantasie den schwachen Spuren nachging, erfanden sie den geheimnisvollen Fluß Sabbation, der in einer unbekannten Gegend, irgendwo hinter Arabien, mit großer Gewalt daherströmt. Jenseits dieses Flusses lassen sie die verlorenen zehn Stämme wohnen. Unter ihnen 103 befindet sich ihr großer Führer Mosche, der von den Toten wieder auferstanden ist. Er und das Volk warten dort auf den Tag, an welchem der Messias erscheinen wird. Bis dahin bleiben sie im Verborgenen, aber bis dahin kann auch kein Sterblicher zu ihnen kommen. Denn der Sabbation ist ein Fluß von eigenartiger Gewalt. Sechs Tage in der Woche schäumt er mit riesenhaften Wellen daher und wirbelt große Felsstücke mit sich, die jeden Übergang unmöglich machen. Nur am siebenten Tage der Woche, am Sabbath, ruht der Fluß und liegt weit und still. Und wenn es dann einem Menschen gelingt, über das Wasser zu kommen, stehen am anderen Ufer braune, dunkelhaarige Menschen mit Pfeil und Bogen, die den Unberufenen ohne Gnade töten. Wenn aber zu ihnen die Nachricht vom Erscheinen des Messias kommt, ziehen sie über den Fluß, in Stämmen geordnet, jeder mit einer Fahne, die das Symbol des Stammes trägt, weit mehr als hunderttausend schwer bewaffnete Krieger, die sich und ihrem Gott die ganze Welt unterwerfen. Es wird eine unblutige Unterwerfung sein, denn die Völker werden ihre göttliche Sendung anerkennen. Nur – und hier bricht der Widerhall übermäßigen Erduldens grell in die friedfertige Phantasie des Volkes ein – gegen Deutschland werden sie einen wirklichen Krieg führen. Der Gedanke an diese zehn Stämme bekommt jetzt, über die theoretische Diskussion der Gelehrten hinaus, neue Nahrung aus Gerüchten, unverbürgten Briefen und Reiseberichten. Urplötzlich sind Menschen da, die etwas von den verlorenen Stämmen gesehen oder gehört haben, als verdichte sich in ihnen zu Bild und Vorstellung, was in den Herzen eines Volkes als Unbewußtes schwingt. Da heißt es, daß hinter 104 Marokko ein Heer von 800.000 Juden aufgetaucht sei, und sie zögen, eine gewaltige Kolonne, in Richtung auf Arabien. Briefe aus Livorno wissen, gemäß Nachrichten aus Kairo, daß die Stämme Reuben, Gad und der halbe Stamm Manasse im Anmarsch auf Gaza sind und die Stadt beinahe erreicht haben. Präziser aber, sich als Augenzeuge bekennend und die Wahrheit des Mitgeteilten mit seinem Eide erhärtend, berichtet im Jahre 1644 ein Marrane Antonio de Montezinos, der sich nach seiner Rückkehr zum Judentum Aaron Levi nennt, an Manasse ben Israel. Er erklärt, daß er auf seinen Reisen bis nach Südamerika gekommen sei. Dort habe er Bekanntschaft mit einem indianischen Mestizen namens Francisco del Castillo geschlossen und von ihm das Geheimnis erfahren, daß er um den Aufenthalt der zehn Stämme wisse, jedenfalls aber um die Anwesenheit von Juden in einer verborgenen und unzugänglichen Gegend des Landes. Auf sein Bitten habe del Castillo ihn tatsächlich zu eingeborenen Juden geführt, die ihm, Montezinos, erklärten, daß sie aus dem Stamme Reuben seien. Ihre Vorfahren seien schon vor den Indianern hier im Lande gewesen, und sie wüßten auch noch von der Existenz zweier Stämme Joseph auf einer Insel in der Nähe.
Es versteht sich, daß eine Legende sich leichter verbreiten läßt als ein exakter Bericht, weil jene nur der Gläubigkeit und nicht der Kritik untersteht. Aber Montezinos steht gegen alle Angriffe zu seinem Bericht. Er geht noch ein zweites Mal nach Südamerika, bestätigt und vervollständigt seinen Bericht und legt noch auf dem Sterbebette einen Eid auf die Wahrheit seiner Mitteilungen ab.
Nun ist also für Manasse ben Israel und seine 105 Freunde an dem Faktum nicht mehr zu zweifeln. Er kann es getrost als Argument in seiner Schrift Esperança de Israel verwenden, die er 1650 in Amsterdam erscheinen läßt, und die er an Oliver Cromwell zur Begründung seiner Bitte auf Zulassung der Juden in England richtet. Das Zusammentreffen der verschiedenen Berichte und Heilserwartungen ergibt, neben anderen Argumenten, eine einzigartige Begründung: die zehn Stämme sind nach der Theorie, die Manasse selbst aufstellt, bis in die Tatarei und bis nach China hin verstreut worden. Von dort her werden einzelne Gruppen oder Stämme den Weg nach dem amerikanischen Kontinent gefunden haben. Immerhin sind die überhaupt noch vorhandenen Reste jetzt als aufgefunden zu betrachten und ihre Rückkehr demnach möglich. Ist das aber der Fall, so wird auch der gesamte Erlösungsgedanke in den Bereich der Verwirklichung gerückt. Wenn England jetzt also die Juden wieder zuläßt, so übernimmt es damit kein großes Risiko, denn mit Rücksicht auf die Nähe der messianischen Zeit werden die Juden doch nur für kurze Zeit dorthin kommen. Andererseits – und das ist dem frommen Cromwell gegenüber ein gewichtiges Argument – kann die Erlösung erst kommen, wenn die Zerstreuung der Juden vollständig ist. Sie ist es nicht, solange in England keine Juden wohnen. Und folglich würde England sich schuldig machen, wenn es sich durch eine Weigerung dem göttlichen Heilsplane widersetzte und das Ende der Diaspora verhinderte.
Manasse hat den Erfolg seiner Bemühungen nicht mehr erlebt. Es waren in England noch zu viele Widerstände zu überwinden. Aber sicher ist, daß Cromwell, um wenigstens vor seinem Gewissen 106 entlastet zu sein, inoffiziell die langsame Infiltration von Juden nach England duldete und begünstigte. So konnte ihm niemand mehr den Vorwurf machen, die Erlösung der Juden verhindert zu haben.
So kommen dem Erwarten der jüdischen Welt unausgesetzt öffentliche Diskussionen der christlichen Umwelt zur Hilfe. Diese Diskussionen haben das Erscheinen eines jüdischen Messias zur unbezweifelten Voraussetzung. Unklarheit und Streit herrscht nur über die Natur dieses Messias. Die an das Tausendjährige Reich glauben, sehen in der Heimkehr der Juden und dem Erscheinen ihres Messias nur eine Zwischenlösung. Für die Dauer dieses Reiches sollen die Juden Gelegenheit haben, sich zum wahren Messias, nämlich Christus zu bekennen, der ebenfalls in der fünften Monarchie wieder erscheinen werde. Andere, die solcher Bekehrung der Juden weniger sicher sind, hoffen auf einen Ausgleich zwischen dem jüdischen und dem christlichen Messias. Cromwell, der praktische Heilige, erwartet, daß während der fünften Monarchie die Juden massenweise zum Christentum übertreten würden.
Manasse ben Israel hält allen diesen einschränkenden Erwägungen in seiner Schrift »Der edle Stein« den jüdischen Standpunkt entgegen: die vier Reiche, die den vier Tieren in der johanneischen Offenbarung entsprechen, sind schon dagewesen und haben sich schon erledigt, nämlich das babylonische, das persische, das griechische und das römische Reich. Folglich wird das fünfte Reich das der Juden sein.
Von solchen Erwägungen und Diskussionen dringt immer noch genug in das Bewußtsein der breiten Masse ein, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, daß ihre religiöse Erwartung das Licht des Tages nicht 107 mehr zu scheuen habe. Während in einer fremden und wesentlich feindlichen Umgebung sonst jede ihrer Regungen und Äußerungen auf mißgünstige Ablehnung stieß, stehen sie mit einem Male vor dem Wunder, daß man ihnen zustimmt, sie ermuntert und geistig fördert. Der Anteil der Nichtjuden an der Empfänglichkeit der jüdischen Welt für die geschehenden und kommenden Dinge ist wahrlich nicht gering einzuschätzen. Ohne solche Mitwirkung sind die nachfolgenden Ereignisse in der Tiefe ihrer Auswirkung nicht voll zu begreifen, jedenfalls nicht, soweit die abendländische Judenheit in Frage kommt.
Hier gab es zudem eine Aktualität, die seit 150 Jahren in Permanenz erklärt war, an die man schon im Begriff war, sich zu gewöhnen, die man aber jetzt sehr folgerichtig in die allgemeine Richtung der Dinge einbezog : die spanische Inquisition und das Marranentum, das sie im Gefolge hatte. Die Auffassung, die der spanische Katholizismus über die Ausbreitung und Durchsetzung des wahren Glaubens hatte, war im Grunde schlicht, man könnte sagen: primitiv. Sie unterschied sich von der Art, in der etwa die mohammedanischen Vorgänger der Spanier ihren Glauben ausbreiteten, eigentlich nur in der Komplikation des Verfahrens, während sie es in der Grausamkeit der Ausführung wesentlich übertraf. Die Inquisition, auch wenn man sie historisch betrachtet, bleibt ein psychisches Phänomen. Da wird das Gebot »Du sollst nicht töten« und der schlichte Gedanke der Nächstenliebe mit allem Bombast kirchlicher und dogmatischer Jurisprudenz zur Verächtlichmachung und Tötung des Andersgläubigen benutzt. Die Propagierung des Glaubens geschieht, indem man dem Opfer die Wahl läßt zwischen dem Wasser der Taufe 108 und dem Feuer des Scheiterhaufens. Als Zwischenglied ist ein raffiniertes System geistiger und körperlicher Folter ausgebildet. Die Juden, die sich in Spanien, ihrem einstmals so blühenden Zentrum, als Opfer dieses Verfahrens und dieser geistig-seelischen Einstellung darboten, setzten dem einen psychologischen Phänomen nun ein anderes entgegen: soweit sie nicht vertrieben wurden oder flüchteten oder unter Foltern oder auf dem Scheiterhaufen verendeten, lebten sie nach der freiwilligen oder erzwungenen Taufe nach außen streng und peinlich in den Formen der neuen Religion (nicht des neuen Glaubens), während sie innerlich mit unerschütterlicher Treue am Judentum festhielten. Sie führten eine Scheinexistenz, immer bewacht von dem Argwohn der Inquisitoren, bei der geheimen Ausübung ihrer traditionellen Religionsbräuche und der unterirdischen Feier ihrer nationalen Feste stündlich von Entlarvung und Tod bedroht. Sie geben ihrer unterirdischen Existenz eine solche Intensität und Bluthaftigkeit, daß diese Haltung über ihr eigenes Leben hinaus für Generationen ausreicht, daß Kinder, Enkel und Urenkel noch in sich diese Zweiteilung des Lebens tragen und wie gefangene Tiere am Spalt des Gitters lauern, um beim ersten unbewachten Augenblick in die Freiheit des Auslandes auszubrechen und dort, mit der Last eines Jahrhunderts auf dem Herzen, sich erlöst und glücklich zum Erbteil in ihrem Blute wieder zu bekennen. Immer wieder, und noch in dieser Zeit, sind die Gerichtssäle der Inquisition mit Bänken von Angeklagten besetzt, die des Marranentums, der heimlichen Ausübung des jüdischen Glaubens, angeklagt und überführt werden. Immer wieder flammen die Scheiterhaufen und fressen Juden, deren 109 Taufe keinen Wandel der Gesinnung zur Folge hatte. Feierliche Autodafés verbrennen Marranen in Cuenca, Granada, San Jago de Compostella, Cordoba, Lissabon, Valladolid, Lima. Eine verzweifelte Unsicherheit hat sich der spanischen Inquisition bemächtigt angesichts des Umstandes, daß jetzt noch, in der Mitte des 17. Jahrhunderts, längst konvertierte Judenabkömmlinge aus der neuen Religion wieder ausbrechen. Eine zeitgenössische Quelle umreißt die Situation sehr deutlich: »In Spanien und Portugal sind Mönchs- und Nonnenklöster voll von Juden. Nicht wenige bergen das Judentum im Herzen und heucheln wegen weltlicher Güter den Christenglauben. Von diesen empfinden einige Gewissensbisse und entfliehen, wenn sie können. In Amsterdam und in mehreren anderen Gegenden haben wir Mönche, Augustiner, Franziskaner, Jesuiten, Dominikaner. Es gibt in Spanien Bischöfe und feierlich ernste Mönche, deren Eltern und Verwandte hier und in andern Städten wohnen, um das Judentum bekennen zu dürfen.«
Die Nachrichten von der Verbrennung von Marranen, eben der Juden-Katholiken, findet zu der Zeit einen schnellen Weg und eine schnelle Verbreitung durch die vielfachen persönlichen und kaufmännischen Beziehungen zwischen der Iberischen Halbinsel und den Niederlanden. Hier, in diesem Lande ungewöhnlicher innerer und äußerer Freiheit, haben die Juden schon mit dem Beginn der allgemeinen Austreibung aus Spanien (1492, im Jahre, da die Welt durch die Entdeckung Amerikas erweitert wurde) eine Heimstätte gefunden. Nach hierhin fliehen die meisten Marranen, die aus dem seelischen Kerker ausgebrochen sind. Hier machen die Heimgekehrten den 110 schüchternen oder ernsten oder ekstatischen Versuch, wieder in die alten Glaubensformen und in die alte, heimatliche Sprache des Hebräischen einzudringen. Hier wird gleichwohl mit einer Treue, die weit über dem Begriff der Assimilation steht, in spanischer Sprache geschrieben, gedichtet und geklagt, so vielfach und so ernsthaft, daß innerhalb der spanisch-portugiesischen Judengemeinde von Amsterdam so etwas wie eine spanische Dichterakademie entstehen konnte. In solchem Milieu, in dem so viele Menschen für sich persönlich unter ungewöhnlichen Opfern und Gefahren das Problem der Rückkehr und Befreiung gelöst hatten, war verständlicherweise für die Gesamtidee einer jüdischen Erlösung ein besonders günstiger Boden bereitet. Die Rückwirkung solcher Grundhaltung und des persönlichen Geschickes der Marranen auf die übrige Judenheit war beträchtlich. Hier fand man, wie bei den Juden in Polen, ein Leben und ein Sterben um der Heiligung des Namens willen, und immer neue spanische Prozesse lieferten der Phantasie und der Erwartung ständig neue Nahrung.
Noch 1632 hatten unter Philipp IV. bedeutende Inquisitionsprozesse stattgefunden, besonders in Valladolid. 1639 standen in Lima 63 Marranen unter Anklage, von denen 17 verbrannt wurden. Unter ihnen war der Arzt Franzisco Maldonadda Silva, dessen Schicksal die Gemüter besonders erregte. Er hatte die Kühnheit, sich öffentlich zum Judentum zu bekennen und es sogar zu predigen. Er nannte sich Eli Nazareno und lebte, wie früher die Essäer gelebt haben. Man kerkerte ihn ein, 14 Jahre lang, veranstaltete immer wieder Disputationen mit ihm, um ihn mürbe oder vernünftig zu machen. Dann brach man die Bemühungen ab, indem man ihn verbrannte. 111
Ein noch größeres Interesse fand das Schicksal von Isaak de Castro-Tartas, eines jungen Marranen, der mit seinen Eltern nach Amsterdam entkommen war und dort den Entschluß faßte, unter den Marranen eine allgemeine Bewegung zur Rückkehr in das Judentum zu entfachen. Auf der Fahrt nach Brasilien, die er zu diesem Zwecke unternahm, wurde er in Bahia erkannt, festgenommen, nach Lissabon verschleppt, vor das Inquisitionsgericht gestellt, verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Noch aus den Flammen schrie er das Bekenntnis »Höre, Israel!« in die Welt hinaus. Und die Welt erblaßte und zitterte. Selbst Nichtjuden erschütterte eine solche Haltung der Treue. Es ist die Geschichte des Don Lope de Vera y Alarcon überliefert, eines jungen Spaniers aus altadligem Geschlecht, den das Studium der hebräischen Sprache und die Vorbilder in seiner Umgebung dazu veranlaßten, zum Judentum überzutreten. Man kerkerte ihn ein, und bis zu seinem Tode auf dem Scheiterhaufen mußte man ihm einen Knebel in den Mund stecken, weil man die Hartnäckigkeit nicht ertrug, mit der er den Namen des jüdischen Gottes immer wieder anrief.
Alle diese Dinge zusammen: äußeres und inneres Geschick, seelische Disposition und zeitliches Ereignen, Notwendigkeiten und Zufälligkeiten, Latentes und Aktuelles in ihrer Gemeinsamkeit und Wechselwirkung machten die Juden bereit und aufnahmefähig für eine Erscheinung, die sich mit genügender Selbstüberzeugung als der Vollender ihres Schicksals anbot. Eine Zeit und ein Mensch begannen für einander reif zu werden.