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Im Februar des Jahres 1666, währen die Winterstürme das Meer aufjagen, fahren die kleinen Segelschiffe mühsam die Küste hinauf, von Ismir kreuzend in Richtung auf den Bosporus. Es sind die kleinen Kauffahrteischiffe, die keiner Beachtung wert sind. Der große Handelsweg, den die frachtschweren, wertbeladenen Schiffe fahren, geht anderen Weg.
Es ist aber unter diesen kleinen Seglern ein Schiff, das, wenn die Strömung der Seele meßbare Körperkraft hätte, vom Schwung, der anstößt, und vom Widerstand, der zurückreißt, bis in die letzte Fuge der Planken erbeben würde. Dieses Schiff trägt den Messias Sabbatai Zewi.
Er hockt auf dem Deck, gegen den Sturm durch Zeltlaken geschützt, und es ist zu ermessen, daß er nicht nach vorne blickt und nicht nach rückwärts. Er würde rückwärts blicken, wenn er wüßte, daß da hinter ihm eine geschlossene, in ihrer Dichte und Gläubigkeit erschütternde Masse stände, eine lebendige Mauer, die je und je, Pulsschlag auf Pulsschlag, Kraft gegen ihn und für ihn aussendete. Er weiß, daß dem nicht so ist. Seine Anhänger sind zahllos, aber wer unter seinen Gegnern ist, verfügt über die gefährliche Waffe des Geistes und der Beharrung. Wie die Zeit dahinläuft, und wie kleine, zuckende Handlungen, Bekenntnisse und Worte aus Sabbatai sich bekunden, geht ein Zug zur Entscheidung und Sonderung durch das Volk. Da sind viele, die gerne an ihn glauben möchten. Aber sie ertragen es nicht, daß man ihre Tradition antastet. Sie haben seit je mit dem überkommenen Gut des Glaubens gelebt. Mehr noch: sie haben rund über die ganze Erde eine 250 übermenschliche Form gefunden , dafür zu sterben. Leid bindet, macht ehrfürchtig und demütig. Blut, nach außen vergossen oder nach innen schmerzhaft aufgewallt, gibt eine fanatische Verkettung zum Gestern, da einem doch das Morgen in jedem Augenblick aus der Hand geschlagen werden kann. Wenn sie zu wählen haben zwischen dem traurigen Gedenktag von gestern und dem verzückten Freudentag von morgen, so wählen sie das Gedenken als das Gewisse, Seiende, oft und tief Durchlebte. Sie mißtrauen dem Morgen und der Freude, weil beide für sie noch kein endgültiges Erlebnis geworden sind. Es müßte denn ein Bekenntnis, eine Verheißung, eine Offenbarung kommen, die mit letzter Eindeutigkeit den leidvollen Wandel ihres Daseins abschließt.
Nichts dergleichen ist geschehen. Sabbatai hat ihre Gesetze und ihre Gedenktage, diese Augenblicke der fruchtbaren Trauer, mit einem Federstrich aufgehoben. Er hat sie angewiesen, sich zu freuen. Freude untersteht keinem Gebot. Die Stimme, die hinter diesem Gebot steht, zwingt nicht. Sie hat nicht den Klang des Absoluten, des Unausweichlichen. Darum hat er immer noch Gegner.
Andere hingegen denken mehr an die Wirklichkeiten des Alltags. Sie haben sich alle, von Generationen her, an den Gedanken gewöhnt, daß sie auf einem Vulkan leben. Zum Teil leben sie recht gut dabei. Aber sie vergessen darüber nicht, daß es unklug ist, den Spaten des Wollens zu tief in dieses trügerische Erdreich zu stoßen und der Lava einen Weg über ihre eigenen Häuser zu bahnen. Sie leben in einem Lande, unter einer Religion, einer Herrschaft, die ihnen aus dem Glauben her und wegen ihres Glaubens zutiefst feindlich sind. Es gilt nichts, daß sie auf Raum 251 und Dasein und Erde seit Jahrtausenden ein angestammtes Recht haben. Über ihnen steht fremde Macht. Gott hat sie ihren Feinden überliefert. Und so lange dem so ist, ist es Vermessenheit und Torheit, den Feind zu reizen. Das aber geschieht in diesem Augenblick. Da hat sich einer auf die Fahrt begeben, der aus dem Zweck der Reise keinen Hehl gemacht hat: er will den Sultan, den Beherrscher des Reiches, in dem sie leben, von seinem Thron stürzen. Göttliche Sendung und die Erfüllung göttlichen Anrufes sind recht und gut. Aber zunächst einmal ist das, was hier geplant ist, Hochverrat. Möglich, daß das Unternehmen gelingt. Wer würde sich nicht freuen, wenn das gelänge, was aus tiefem Glauben Inhalt ihres Betens ist, Inhalt auch ihres Lebens, da sie noch nicht gelernt haben, nur mit den Lippen zu beten. Möglich also, daß dieser es vollbringt, den Anbruch des neuen Reiches wirklich zu machen. Aber wahrscheinlich ist, daß es mißlingt. Zweifeln jene an der Wucht und Unentrinnbarkeit der göttlichen Stimme, so bezweifeln diese die Gewichtigkeit der realen Dinge, der Macht und Möglichkeit, den Sultan zu entthronen. Und wenn dieses Unternehmen mißlingt, so wird daraus eine Katastrophe für alle Juden, die im türkischen Reich wohnen. Ein altes Gesetz, in dem sich der Widerstand einer starken gegen eine schwache Gruppe auslebt, verläuft so: die Tat des einen, falls sie als böse betrachtet wird, geht zu Lasten aller. Die Tat des einen, wenn sie gut ist, wird nur ihm alleine angerechnet. Mißlingt die Tat des Sabbatai, so sind im gleichen Augenblick alle Juden des Landes Hochverräter. Eine neue Kette des Leidens wird da für sie geschmiedet. Und darum sind sie seine Gegner. 252
Sabbatai weiß das. Darum kann er nicht rückwärts blicken und aus der Masse der Anhänger das Gefühl letzter Sicherheit schöpfen. Aber es ist auch unersprießlich, vorauszublicken und die Vorstellung an dem zu berauschen, was als Tat und Entschließung vor ihm steht. Denn auch das versagt sich an Bildhaftigkeit und Eindringlichkeit. Er weiß doch nicht, was er in Konstantinopel tun wird. Alle Tat und Entschließung haben sich zu eben dieser Reise verdichtet. Aber damit haben sie sich auch erschöpft. Er fährt: ja. Er nähert sich dem Ort und Boden, auf dem das Geschehen, der Erfüllung zu, sich weiter ausladen muß: ja. Aber er kann nicht begreifen, nicht bestimmen, nicht voraussagen, was da sein wird, was er dort tun wird. Er schwimmt im Strom, er treibt mit dem Wind. Es wird sich schon etwas ereignen, das ihm den Weg weist, das Wort eingibt, die Waffe in die Hand legt.
Was tut nun ein Mensch, der so in den Winterstürmen des Februar auf einem kleinen Segelschiff sich selber ausgeliefert ist, und der nach gestern und morgen, nach rückwärts und nach vorne hin ohne festen Ausgang und ohne festes Ziel ist? Er wird die geheimnisvolle Mittelebene zu erspähen trachten, auf der nichts wirklich ist, und auf der doch alles geschieht, da, wo Märchen, Legende, Dichtung ihr Zwischenreich aufgeschlagen haben, und von wo sie doch eines Tages mit aller Gewalt der Wirklichkeit in das Leben hineinstoßen: Traumland.
Er träumt auf dieser Fahrt, und er kommt, wenn er hin und wieder vor dem übermächtigen Sturm nachtüber einen kleinen Hafen anlaufen muß, wohl zur festen Erde, aber nicht zur festen Wirklichkeit. Der Wind steht dauernd gegen ihn und will ihn von 253 seinem Ziel abdrängen. Das ist ein schlechtes Zeichen, und seine Begleiter, vier Gelehrte aus seiner engsten Umgebung, neigen dazu, ihm die Fortsetzung der Fahrt abzuraten. Aber in den kleinen Zufluchtshäfen erfährt er Dinge, die ihm eine Rückkehr unmöglich machen. Legenden sind ihm längst voran gelaufen. Da weiß man, daß Sabbatai das Fahrzeug nicht mit vier Gelehrten betreten hat, sondern mit einer Schar von 400 Propheten. Kein Matrose und kein Kapitän befinden sich auf dem Schiffe. Es hat die Segel gespreizt und sich auf die Fahrt gemacht. Eine Wolke oder eine Feuersäule ist daher gekommen und hat es eingehüllt. Aber da ist der Sturm aufgestanden und wollte das Schiff zum Bersten bringen. Da hat Sabbatai sich erhoben und hat den Fuß gegen den Mast gesetzt, und in einem Nu ist das Schiff in Konstantinopel gewesen.
Es beruhigt Sabbatai, daß die Menschen das glauben, denn er hat, im Vertrauen auf eine Macht, die sich ihm bisher nicht versagt hat, seine Ankunft in Konstantinopel auf den Tag genau vorhergesagt. Man wird nicht zur Kenntnis nehmen oder es bald vergessen, daß der Wind ihm einen Strich durch seine selbstherrliche Rechnung gemacht hat. Und daß er jetzt gezwungen ist, mit seiner Nußschale immer wieder Zuflucht zu suchen, ist längst von der Gutgläubigkeit seiner Freunde erklärt worden: um die schnelle Fahrt zu mindern, hat der Messias befohlen, Häfen anzulaufen, da er nicht vor dem 21. Januar in Konstantinopel sein will.
Aber er erfährt bei seinen Landungen auch eine Tatsache, die jede Rückkehr ausschließt: auf die Nachricht hin, daß der Messias die Fahrt nach Konstantinopel angetreten habe, sind viele Juden spontan 254 aufgebrochen und wandern jetzt von allen Richtungen her der Hauptstadt zu, um Zeugen der großen Dinge zu sein, die sich dort ereignen werden. Das befestigt auch seinen Mut. Er wird dann in dieser Stadt, die für ihn voll Gefahren sein kann, nicht ganz verlassen und ohne Freunde sein. Im übrigen hat er vorgesorgt und einen getreuen Anhänger, den Rabbi Bune, nach Konstantinopel vorausgeschickt, um dort die für seine Ankunft und seinen Empfang nötigen Vorbereitungen zu treffen.
Also fährt er weiter und träumt er weiter.
In dieser Traumebene gibt es Haltepunkte von merkwürdiger Eindringlichkeit. Vom Kreis um Sabbatai gehen nicht nur Gerüchte und Legenden aus; sie landen auch dort. Und gerade jetzt kommt aus den Niederlanden, von Seeleuten weiter getragen, ein seltsamer Bericht. Im Norden von Schottland ist ein Schiff erschienen. Es hatte seidene Segel und seidenes Tauwerk. Es war mit Seeleuten bemannt, die alle hebräisch sprachen. Eine große Flagge wehte vom Fock. Darauf stand geschrieben: die zwölf Stämme Israels.
Über solche Wunder und Erscheinungen, über solche Wirklichkeiten, an denen kein Gläubiger zweifeln kann, läßt sich gut träumen und der langsame, mühselige Ablauf der Fahrt verkürzen. Es werden damit auch kleine Kraftreserven geschaffen für den Zusammenstoß mit der Wirklichkeit, der unfehlbar erfolgen muß.
Sabbatais Gegner haben dafür gesorgt, daß dieser Zusammenstoß von allem Anfang an erfolgt. Sie haben das Für und Wider, das Mögliche und das Wahrscheinliche gegeneinander abgewogen und sind zu der Erkenntnis gekommen, daß hier nichts an 255 Hoffnung, aber alles an Gefahr zu finden ist. Die Notwendigkeit, diese Gefahr von der Gemeinschaft abzuwenden, ist gebieterisch. Sie müssen sich rechtzeitig vor jedem Verdacht schützen, daß sie an diesem geplanten Hochverrat beteiligt sind. Darum, noch ehe das Schiff die Dardanellen erreicht, begeben sich die Repräsentanten der Gemeinde Konstantinopel zu dem Großvezir Achmed Köprili und erklären: »Es wird in aller Bälde, von Ismir kommend, ein Schiff eintreffen. Auf diesem Schiff wird ein Mann sein, der sich als der Messias des jüdischen Volkes ausgibt. Er will dem Sultan die Krone vom Haupt nehmen und sie sich selber aufsetzen. Wir glauben nicht, daß er der Messias ist. Wir glauben, daß er ein Geblendeter oder ein Betrüger sei.« Nachdem sie diese Pflicht erfüllt haben, gehen sie fort. Vielleicht tragen sie sich im Stillen mit dem Gedanken: wenn er doch der Messias ist, so wird Gott ihm schon helfen. Bist du Gottes Sohn, so hilf dir selber.
Es hätte dieser Denunziation nicht unbedingt bedurft, denn schon einige Wochen vorher ist bei Köprili der Bericht des Kadi von Ismir eingegangen, in dem er um Verhaltungsmaßregeln gegen den Führer der neuen religiösen Bewegung bittet. Dem Köprili wird von einem Kenner, dem französischen Gesandten an der Pforte de la Croix, das Zeugnis ausgestellt, daß er nicht gerade blutdürstig sei. Aber er gilt als großer Politiker, der die Lehren der jüngsten Vergangenheit erfaßt hat und von der Pforte schonungslos jeden entfernt, der ihm auch nur verdächtig ist. Sonst ist er in seiner Justiz unparteiisch und unbestechlich.
Auf den Bericht des Kadi hin hat er eine Maßregel angeordnet, die unschädlich ist und doch eine 256 gewisse Sicherheit gewährt: Verhaftung des Sabbatai Zewi. Aber ehe es noch zur Ausführung kommt, wird ihm zugetragen, daß der neue Messias sich schon auf den Weg gemacht hat, um seine Drohung auszuführen. Die Juden hier bestätigen es ihm. Da muß also gegenüber dieser unmittelbaren Gefahr kräftiger zugegriffen werden. Mag Sabbatai Zewi sein, wer er will: seine Absicht stempelt ihn zum Hochverräter. Also muß man ihn beseitigen, ehe er auch nur Unruhen stiften kann. Köprili, zugleich selbstherrlicher Richter des Reiches, verurteilt Sabbatai Zewi noch vor seiner Ankunft zum Tode durch den Pfahl. Das Urteil wird einem Kaimakam zur weiteren Veranlassung übergeben. Der Tod, der Sabbatai so vielfach zugedacht wird, steht wieder vor ihm, ohne daß er es weiß. Er fährt und träumt. Das Schiff ist etwa vierzig Tage unterwegs, eine selbst für die Winterzeit unmäßig lange Fahrt. Aber schon wie es sich der Küste nähert, sind die Häscher des Kaimakam unterwegs, um die Insassen mit dem Augenblick der Landung festzunehmen. Sabbatai weiß, was er zu gewärtigen hat, und vielleicht wird er aus diesem Grunde versuchen, an einer leeren, unbeachteten Stelle der Dardanellen zu landen, um dann unversehens in Konstantinopel aufzutauchen. Das soll um der Ruhe in der Stadt willen verhindert werden. Darum streifen die Wachen die Küste entlang.
Sie sehen endlich ein Schiff, das mit den Stürmen so hart zu kämpfen hat, daß es sich in flügellahmer Fahrt und schutzsuchend der Küste nähert. Über die ausgeworfenen Stege schwanken Menschen auf das feste Land. Offensichtlich sind es Juden. Der Anführer der Wache fragt nach Namen, Ausgang und Ziel. Er hört: Sabbatai Zewi – Ismir – Konstantinopel. 257 Er nickt. Es schließt sich ein Ring von Bewaffneten um die kleine Gruppe, alles still und gewaltlos und ohne Erklärung.
Ohne Widerstreben besteigen Sabbatai und die Seinen die Pferde, die man ihnen anbietet. Sie reiten bis zum Abend, bis sie nach Chekmese Rutschuk, einem Ort in der Nähe von Konstantinopel kommen. Dort wird bis zum übernächsten Tag gerastet, denn es wird Sabbath, und der Kaimakam achtet den Wunsch der Gefangenen, diesen Tag nicht durch eine Reise zu entweihen.
Aber inzwischen hat irgend einer von diesen Vorgängen erfahren. Er oder seine Nachricht sind schneller als die Pferde. Schon am Freitag Abend sind Anhänger Sabbatais da. Sie kommen zu Fuß, auf Wagen, zu Pferde. Sie liegen die Nacht über auf dem Pflaster vor dem Gebäude, in das man den Messias gesperrt hat, damit sie ihn gleich am anderen Morgen sehen können. Wie sie endlich zu ihm gelassen werden, erheben sie ein großes Jammern über sein Schicksal und klagen: wie einer sie befreien könne, wenn er selber gefesselt sei. Aber Sabbatai ist völlig ruhig und überlegen. Er bedeutet ihnen, daß sie ihn nicht frei sehen könnten, wenn sie ihn nicht zuvor gefesselt gesehen hätten. Auch Joseph sei als Gefangener nach Ägypten geführt worden und sei dann doch zur Macht aufstiegen. Es sei alles ein Geheimnis Gottes, das sie nicht verständen.
Vielleicht beruhigen sich die Gläubigen dabei. Sie tun jedenfalls im Augenblick alles, was möglich ist, um seine Lage zu erleichtern und sie seiner würdig zu gestalten. Der Kaimakam bekommt Geld in die Hand gedrückt. Dafür werden den Gefangenen die Fesseln abgenommen. Die Juden errichten für den 258 Messias einen erhöhten Sitz, der einem Throne gleicht, setzen ihm die Rabbinen zur Seite und feiern mit ihm bedrückt und erregt zugleich den Sabbath.
Inzwischen ist ganz Konstantinopel von der Nachricht erfüllt: der Messias der Juden kommt! Die Türken begreifen die Tragweite dieser Nachricht nicht ganz, aber es liegt etwas Unheimliches, Bedrohliches, Aufreizendes darin, das zu Widerstand und Abwehr herausfordert. Ehe sie noch um den Sinn ihres Tuns wissen, haben sie sich zu Haufen und Scharen auf den Weg gemacht, ziehen dem fremden Messias entgegen und wollen ihn erledigen. Aber die Behörden wünschen keine Unruhe und kein Aufsehen. Der Transport mit den Gefangenen wird auf Nebenwege geleitet, verbirgt sich bei Tage in einem Zollhaus in der Nähe des Meeres und trifft auf Schleichpfaden bei Nacht und Nebel in der Stadt ein. Der Messias wird in dem Gefängnis für Schuldner abgeliefert und dort verwahrt. Er hat seinen Einzug in die Hauptstadt gehalten. Anders, als er ihn sich gedacht hat. Wieder nehmen die Ereignisse ihn an die Hand und führen ihn.
Obgleich weder er noch einer der Seinigen ein Wort zu einem der Anhänger hat sprechen können, obgleich zwischen Landung und Verwahrsam geringste Spanne Zeit lag und nichts an Lärm und Aufsehen dabei entstand, weiß dennoch schon am gleichen Tage die ganze Stadt: der Messias ist angekommen. Der Messias ist im Gefängnis.
Es geht ein stilles bedrücktes Atemholen durch Gläubige und Gegner. Auf den Gassen sorgen sich die einen und spotten die andern. Gheldi mi? Kommt er? rufen die Mohammedaner höhnisch und verjagen die Juden mit einem Hagel von Steinen. Aber die 259 Verjagten kommen wieder. Es drängen sich die Massen vor dem Gefängnis. Sie warten auf ein Geschehen oder auch nur auf den Anblick dessen, der, Betrüger oder nicht, die Welt, ihre Welt erregt. Aber sie warten vergebens. Nicht einmal die Behörden wissen, was ist und was sein wird, denn noch ist Sabbatai nicht vernommen worden. Erst nach zwei Tagen findet die Vernehmung statt, und sie spielt sich in einer Szene ab, die das Volk zu Sabbatais Lebzeiten nicht erfährt: Es erscheint ein Unterpascha des Achmed Köprili, beileibe nicht er selbst. Das würde der Sache zu viel Ehre antun und ihr zu große Wichtigkeit beimessen, wenn er selbst erscheinen würde. Gleichwohl weiß der Unterpascha genau, um was es sich handelt. Wenn er es nicht aus der Anweisung des Großvezirs weiß, so muß er es aus dem Gerede wissen, das durch Land und Leute geht; die Juden erwarten einen Messias. Das läßt auch einen Anhänger Muhammeds nicht gleichgültig. Alle Gläubigkeiten verankern sich in dem Einstmals, in der endgültigen Beschließung, in dem trostreichen Ende einer Zukunft, die ihnen ein Messias herbeibringt, damit endlich einmal die ewige Kette von Zeugung und Wiederkehr zur Ruhe und Beschließung komme. Und immer in Abständen entstehen Aussagen über das Nahen eines solchen Messias, und es kann keiner sagen, woher. So wie keiner den Wind kennt, der ein Samenkorn auf den schmalen Streifen Erde im Felsen warf.
Also ergeht die Frage an Sabbatai Zewi: »Wer eigentlich bist du? Bist du der Messias der Juden?« Es ist wie ein untergründiges Anklingen an die Frage, die Jahrhunderte zuvor der Gouverneur von Judäa stellte. Aber jener fragte unlustig, unbeteiligt und nur mit dem unbehaglichen Nebengedanken, daß der 260 Beschuldigte und die, die Anklage erhoben, ihm Ungelegenheiten bereiten könnten, weil auf Capri ein gichtiger, mißtrauischer Greis sitzt, der bereit ist, ihn für jede Unruhe verantwortlich zu machen. Hier aber fragt einer mit weniger Verantwortung, dennoch mit mehr Teilnahme und Erwartung.
Die Antworten aber, so verschieden sie auch ausfallen, haben eines gemeinsam: sie tragen nicht den großen Freimut des Bekennens. Es mag einer vor sich und in der Stille und vor seinem Gott wieder und wieder das Ja aussprechen, das ihn in sich und seinem Glauben an die Berufung bestätigt. Vor dem Anruf des Unbeteiligten, vor der verärgerten oder teilnehmenden Neugier, die nicht fragt, um glauben zu können, sondern die prüft, um urteilen zu können, reckt sich das Gefühl der Unwiderruflichkeit zu einer schweren, stumpfen Wand des Hindernisses auf. So rettet der Messias aus Galiläa sich in die zweideutige Formel hinein, mit der er bekennt und mit der er doch die Entscheidung in die Hände des Schicksals überliefert: »Du sagst es.« Aber der Messias von Ismir greift mit beiden Händen nach einem Anker, der Sicherheit für sein Schicksal bedeuten kann. Er leugnet. Er sagt: »Ich bin ein Gelehrter aus Jerusalem, ausgesandt, um für die Armen Palästinas Spenden einzusammeln.«
Er leugnet. Er ist keine trotzige Natur. Wie er vor dem Bann der Rabbiner von Ismir und der Drohung der Rabbiner von Saloniki das Feld geräumt hat, ohne sich zur Wehr zu setzen, weicht er auch jetzt einer Gewalt aus, die ihn greifen will und die ihm gefährlich werden kann. Er kannte aber doch seine Gegnerschaft und mußte folglich mit der Möglichkeit rechnen, daß solcher Angriff auf ihn erfolgen werde. Sich 261 darauf einzustellen, Zug und Gegenzug zu überlegen, hatte er Zeit genug gehabt. Aber so wie sich ihm immer von neuem die erfüllende Wirklichkeit versagt, so versagt er selbst vor der Wirklichkeit, wenn sie sich ihm darbietet. Er kann seinen Glauben an sich und seine Sendung nur umsetzen, wenn etwas außer ihm ihn trägt. Tritt etwas ihm entgegen, und er hat nicht die Gewalt klar auf seiner Seite, dann weicht er zurück.
So begibt er sich auch hier auf die kleine menschliche Ebene des Leugnens, und aus dem kleinen menschlichen Bezirk her reagiert der Unterpascha auf diese Antwort: er holt zu einer mächtigen Ohrfeige gegen Sabbatai aus. Gegen Sabbatai, nicht gegen den Messias. Es ist die ausstrahlende, befreiende Reflexbewegung, mit der sich einer die Erlösung von einer dumpfen Angst triebhaft bestätigt. Ansonsten ist er von dem Augenblick an mit einer gewissen Zuneigung für Sabbatai erfüllt, für diesen Menschen, den er nicht mehr zu fürchten braucht, da er doch nicht der Messias ist, der nur mit seltener Geistesgegenwart ein fremdes, viel gepredigtes und nie befolgtes Gebot erfüllt: der dem Türken gutwillig und mit anspruchsloser Demut auch noch die andere Wange hinhält. Und das rührt den Unterpascha. Er äußert späterhin in Gesprächen, es hätten die Juden offenbar den Sabbatai gegen seinen Willen zum Messias proklamiert. Und der Schlag, den er dem Sabbatai versetzte, habe den Juden gegolten, die ihn in diese Stelle gedrängt hätten.
Nach dieser kurzen Befragung geschieht nichts mehr. Es ist kein Anlaß, etwas zu unternehmen, denn wenn einer selbst so mit dürren Worten seinen wahren Beruf bekennt, ist kein Grund vorhanden, sich weiter 262 zu beunruhigen. Aber immerhin ist er ein Mensch, an dem die Unruhe und die Erregung von vielen Tausenden sich entzündet. Darum ist es geboten, ihn im Gefängnis zu lassen und zu verhindern, daß er hierhin und dorthin treibt und eine Messiasbewegung wachsen läßt, die doch keinen Messias hat. Und das wieder ist ein Grund, ihn nicht mit der Härte zu behandeln, mit der man gefangene Missetäter behandelt. Er ist ja nur das Werkzeug einer Missetat, nicht Urheber.
Ein anderer Vorgang aber dringt nach außen, ein Bericht, der weitergegeben wird, und der, als sei es in unseren Tagen geschehen, mit der Würde des amtlichen Dokumentes in die Welt gesandt wird. Ein kühler diplomatischer Kopf, der »Bailo« Giambattista Ballarino, Großkanzler der Venetianischen Botschaft an der Pforte, hat ihn am 18. März 1666, sechs Wochen nach der Gefangennahme des Messias, von Pera aus an seine Regierung geschickt. Der Bericht ist unpathetisch und ist doch in dem, was er sagt, mit den Unwahrscheinlichkeiten angefüllt, die das ständige Kolorit dieser ungleichmäßig schimmernden Gestalt abgeben. Der Gesandte fühlt das und bricht dem Einwand des Märchens die Spitze ab: »Chiudo quest humilissima lettera con racconto forse nell'apparenza vano e sovverchio, da me perció pretermesso nei passati dispacci, ma altrettanto essentiale nel riflesso a vantaggi che van ricavando questi Barbari da qualunque nuovo emergente.«
Er weiß alsdann zu berichten, woher die Bewegung kommt, wohin sie zielt und wie sie die Menschen durcheinander wirft, die sich ihr hingeben. Ihm ist auch bekannt, daß schon vor Sabbatais Landung der Stab über den Messias gebrochen und das 263 Todesurteil gegen ihn verhängt worden ist. Und nun erhebt sich die Frage: warum ist das Urteil nicht vollstreckt worden? Alle zeitgenössischen Berichte bestätigen doch, und Köprilis Politik für die Sicherheit der Pforte macht es wahrscheinlich, daß mit gefährlichen, bedrohlichen oder auch nur verdächtigen Menschen wenig Aufhebens gemacht wurde. Man beseitigte sie und war eine Sorge los. Was war geschehen, daß man Sabbatai Zewi nichts tat?
Nichts war geschehen, als daß Sabbatai Zewi eine Audienz bei Achmed Köprili nachgesucht und erhalten hatte. Er hatte eingesetzt, was er einzusetzen hatte: seine Erscheinung, seine Stimme, seine erstaunliche Beherrschung der arabischen Sprache, die Suggestibilität seines ganzen Wesens. Und der Großvezir ließ ihn am Leben, vollstreckte ein fertiges Urteil nicht, ließ es bei der Freiheitsbeschränkung bewenden und machte außerdem eine Ehrenhaft daraus. Aber seltsam, daß nichts über den Inhalt dieser Unterredung verlautbart wird. Hat Sabbatai um sein Leben gebettelt? Erwies er sich als so harmlos, daß es nicht nötig schien, das Urteil zu vollstrecken? Hat er den Großvezir überredet oder überzeugt? Ein Zeitgenosse vermerkt: »Was Sevy dar proponiret, will ich nicht berühren, weil es sehr ungewiß . . .«
Ballarino weist einen Ausweg, um das Unwahrscheinliche dieses Ausgangs glaubhaft zu machen. Er sagt: die türkischen Staatsmänner haben die Bewegung letztlich geduldet, um von den Anhängern eben dieser Bewegung Geld zu erpressen. Gewiß, sie haben sich an der Bewegung bereichert. An welcher Bewegung oder an welcher Bewegungslosigkeit vogelfreier Menschen hätte sich der Machthabende nicht bereichert? Es zeigt aber hier der weitere Lauf der Dinge, daß im 264 Anfang die Sorglosigkeit und im weiteren Verlauf die Furcht ihre Hände nachlässig und dann unsicher machte. Aber vielleicht liegt die ganze Lösung des Rätsels nur in persönlichen Dingen, die sich zwischen dem Vezir und Sabbatai Zewi abspielten. Indiskrete Quellen verraten ausdrücklich Achmed Köprilis Vorliebe für schöne Männer.
So sitzt also Sabbatai im Gefängnis von Konstantinopel. Es werden ihm viele Vergünstigungen eingeräumt. Er wird nicht in Ketten gelegt. Er wird in einen Raum gebracht, der wohnlich ist und mehr nach Ehrenhaft als nach Zelle aussieht. Sein Freund und Sekretär Primo erhält einen Nebenraum angewiesen. Sabbatai darf bestimmen, wen noch aus dem engeren Kreise seiner Freunde er ständig neben sich zu haben wünscht. Bis auf die mangelnde Freiheit mangelt ihm nichts. Es ist vielmehr so, daß er in dieser erzwungenen Ruhe, in der Isolierung wider Willen die Kraft findet, sich zu einem neuen, gewaltigen Vorstoß zum Kampf mit Gott zu rüsten. Er verbringt seine Zeit mit härtesten Kasteiungen. Gebete wechseln ab mit Fasten, immer erneut, oft bis zu drei Tagen ausgedehnt. Er stemmt sich, wieder einmal tief gläubig, gegen die Stunde der Erlösung und will sie mit Gewalt heraufführen. Und immerhin gelingt es ihm, die Vorboten zu erzwingen. Feurige Erscheinungen lösen je und je die Verzückung oder die Verkrampfung seines Bußwerkes. Neben ihm steht Primo, begabt mit scharfen Augen für jede Wandlung in der Haltung und im Ausdruck des Messias, begabt mit beredten Worten, um sogleich den Menschen, die draußen warten, zu berichten, wie die Bereitschaft des Himmels sich unerschöpflich in neuen Wunderzeichen geäußert habe. 265
Zum Bußwerk, wie es die praktische Kabbala vorschreibt, gehört das Tauchbad. Sabbatai erbittet von den Behörden die Erlaubnis, täglich an den Strand des Meeres zu gehen und dort, vor den Augen seiner Anhänger, die rituelle Handlung zu vollziehen. Seiner Bitte wird nachgegeben. Und nun beginnt ein seltsames Schauspiel. Vom Gefängnis aus setzt sich ein kleiner Zug Menschen in Bewegung: Sabbatai und seine engsten Freunde. Aber der Zug wächst mit der Länge der Straßen. Gläubige jubeln hinter ihm her, Ungläubige fluchen hinter ihm drein, die Gasse wirft Spott und Hohn und Beleidigung auf beide. Ein Tumult wälzt sich täglich bis an das Meer. Aber unbeirrt von allen Vorgängen steigt Sabbatai zu langem, atemraubendem Tauchen in das winterlich kalte Wasser, jetzt ganz Mensch, der um der Wirkung willen und weil Tausende ihm zusehen, ausführt, was der wieder aufbrechende Fanatismus seines Willens sich vorgesetzt hat. Aber die Tumulte steigern sich. Die Leidenschaften werden bei diesem Zug an das Meer gegeneinander ausgetragen. Die Ideen gleichen sich in Prügeleien aus. Da gehen Sabbatais Anhänger zu Achmed Köprili und bitten um militärischen Schutz für die tägliche Prozession.
Der Großvezir ist bereit, diesen Schutz zu gewähren. Allerdings beträgt der Preis dafür 60 000 Realen.
Aber welche Rolle spielt das Geld in diesem Zustand der Gemüter? Es sind doch im eigenen Lande, ganz abgesehen von Auslande, überreichlich Menschen, die ihr Hab und Gut verkauft haben, da sie es bei der Rückkehr in das heilige Land nicht mit sich schleppen können. Und nichts ist selbstverständlicher und beglückender, als das erlöste Geld dem zu opfern, der sie auf der entscheidenden Wanderung führen wird. 266 Die 60 000 Realen werden sofort bezahlt, und fortan begleiten die Soldaten des Sultans schützend den Mann, der auf eben diesen Wegen sich für die göttliche Mission stärkt, die Macht von diesem Sultan abzunehmen und sie auf sich zu übertragen.
Da es den Menschen nicht mehr genügt, ihren Messias nur auf der Straße und im Tumult zu sehen, gehen sie von neuem zu Achmed Köprili und erkaufen gegen Zahlung von weiteren 40 000 Realen das Recht des Sabbatai, jederzeit jedermann als Besucher zu empfangen. Sogleich drängen sich die Gläubigen und die Neugierigen, Juden und Mohammedaner, und wollen den Messias sehen. Sabbatai weist niemanden ab. Mit der Sekunde, in der die Menschen vor ihn hin treten und willens sind, aufzunehmen, was er sagt, zu glauben, was er verheißt und anzuerkennen, was er sich an Bedeutung und Würde zumißt, ist der gelehrte Spendensammler aus Jerusalem endgültig versunken, steht wieder da der Auserwählte, den es aus dem Übermaß zwang, den heiligen Namen auszusprechen, um sich zu bekennen. Auch ohne die äußere Freiheit, und schon, weil er für den nächsten Augenblick keine unmittelbare Gefahr drohen sieht, kehrt ihm die alte Sicherheit zurück, geht von ihm das Bezwingende aus, das ihm Anhänger verschafft: die schattenhafte Tiefe seiner Auslegungen und Erklärungen, das Tönende der Stimme, das Fluidum aus Haltung und Ausdruck des Gesichtes und dem verschwärmten Glanz dunkler Augen. Und was nicht aus ihm kommt, wird in ihn hineingetragen: Berichte von Wundern, die keiner gesehen hat, die aber jeder bezeugt, da er sie aus sicherer und gewisser Quelle erfahren hat. Wären es kleine Wunder, so möchte sich wohl der Zweifel regen. Da es aber die 267 großen, erstaunlichen, unfaßbaren und darum untrüglichen Wunder sind, kann man sie nicht bezweifeln, man müßte sie denn widerlegen können. Es widerlegt sie niemand. Es nehmen sie vielmehr auch die Nichtjuden gläubig hin, und da sie doch keinen Anlaß haben, einen fremden Messias sehr zu lieben, zumal sie auf einen eigenen Messias hoffen, ist um so mehr zu beachten und als Wahrheit hinzunehmen, was sie selbst darüber berichten. Es sind teils sehr konfuse Dinge, aber sie haben alle einen Kern, der das Zentrum ihrer Phantasie trifft: die Tempelmauer, die aus der Erde wächst, die Hunderttausende der verlorenen Stämme, die aus dem Nichts wieder auftauchen, die feurigen Säulen, die Stimmen aus den Gräbern, das Lallen und Prophezeien von Kindern. Und schon längst sind die Vorgänge bei der Verhaftung Sabbatais in den Bezirk des Wunderbaren eingegangen. Sabbatai ist nicht verhaftet worden. Er ist nach Konstantinopel gekommen und hat dem Sultan durch den Großvezir mitteilen lassen, er wünsche Audienz bei ihm. Der Sultan hat den Vezir statt einer Gewährung angewiesen, Sabbatai Zewi festnehmen zu lassen. Ein Aga mit 50 Janitscharen erscheint zu diesem Zweck, aber wie er den Messias sieht, wagt er nicht, ihn zu berühren. Er kommt zum Großvezir zurück, klagend, das sei kein Mensch, das sei ein Engel, dessen Anblick er nicht ertrage. Selbst bei Verlust seines Lebens könne er den Auftrag nicht ausführen. Der Vezir sendet einen anderen Aga und läßt ihn von 200 Janitscharen begleiten. Dem geht es nicht besser als dem ersten. Da begibt sich Sabbatai, nachdem er diese Probe seiner Macht abgelegt hat, freiwillig in die Gefangenschaft. Die Juden ziehen von diesen Berichten ab, was ihnen 268 Ergebnis der Angst und Erschütterung bei den Andersgläubigen erscheint. Denn sie sehen schon ein wenig hochmütig und überlegen auf die anderen herab, die durch sie und durch ihren Messias der Erlösung teilhaftig werden sollen. Und wenn ihnen einer entgegnet, daß er noch keines der Wunder gesehen habe, das vom Messias ausgegangen sei, so haben sie ein Argument, dem jeder Vernünftige zustimmen muß: »Ist es nicht schon ein Wunder, daß Sabbatai noch lebt? Daß man ihn nicht kurzerhand beseitigt hat? Der Sultan ist sonst nicht zaghaft, wenn es sich um die Entfernung bedenklicher Menschen handelt.« Darauf ist nur zu erwidern, daß Sabbatai dann wohl dem Sultan nicht als Messias bekannt sein müsse. Aber gegen diesen Einwand steht die Gewichtigkeit von Tatsachen. Es ist nicht mehr zu übersehen, weder in der Massenhaftigkeit noch dem Sinne nach, daß der Andrang von Menschen zu Sabbatai Zewi unheimlich wächst und was er zu bedeuten hat. Möglich, daß Sabbatai, zum andren Male befragt, auch heute noch antworten würde: »Ich bin ein Sammler von Spenden.« Das ändert nichts daran, daß die Bewegung um ihn und zu ihm hin wächst, daß er nichts tut, sie einzuschränken, daß er alles tut, sie am Leben zu erhalten. Sein Verhalten widerruft und widerlegt seine Erklärung. Ist er aber doch der Messias, dann haftet an ihm die Prophezeiung des Nathan Ghazati, der er nie widersprochen hat: er werde dem Sultan die Krone vom Haupte nehmen und sie sich selber aufsetzen.
Wenn man ihm dennoch nichts tut, so heißt das, daß man nicht wagt, ihm etwas zu tun. Man legt nicht Hand an einen Menschen, der vielleicht doch der Messias ist. Das Beispiel der Vielen, die ihren 269 Glauben an ihn bekunden, macht unsicher und schwankend. Es kommen, um den Messias zu sehen, selbst die ganz Armen, die ihr letztes Stückchen Habe verkaufen müssen, um nur den Zehrpfennig für die Reise zu haben. Sabbatai gibt ihnen gnädig Trost und sagt ihnen voraus, daß sie für diese Tat einmal besonderen Reichtum erwerben würden. Es kommen angesehene Juden zu ihm ins Gefängnis, stehen da einen ganzen Tag lang vor ihm, den Kopf gebeugt, die Arme über der Brust gefaltet, ohne ein Wort zu sagen, ohne sich zu rühren, unbeweglich in der Andacht. Und Sabbatai nimmt das an. Er läßt das geschehen. Er erträgt das, weil es ihm zukommt. Schon fangen in der Stadt Menschen gleich denen in Ismir an, in Verzückungen zu geraten und vom Messias Sabbatai Zewi zu künden. In der einstmals feindlichen Stadt neigt sich unwiderstehlich alles ihm zu. Bis in den Alltag hinein lassen sie den Messias und seinen Einfluß wirken. Da sind viele, die sich der Buße hingeben und ihre Geschäfte im Stich lassen. Darunter leiden manche Handelsbeziehungen; darunter leiden vor allem viele englische Kaufleute, die mit den Juden Geschäfte treiben. Sie können ihr Geld nicht bekommen, weil die Läden geschlossen sind und nichts verkauft wird. Da wenden sie sich in ihrer Not an den, dem sie Einfluß und Autorität zuschreiben: an den gefangenen Messias. Er sieht die Berechtigung ihrer Klagen ein. Er beweist ihnen, über welche Macht er verfügt. Sogleich läßt er durch Primo ein Rundschreiben verfassen und verbreiten:
»Euch von dem Geschlechte Israels, die Ihr die Zukunft des Messias und das Heil Israels erwartet, sei ewiger Friede! – Ich habe in Erfahrung gebracht, daß Ihr noch einigen Engländern Geld schuldig seid. So 270 erachte ich es für billig, Euch hiermit zu befehlen, diese Schulden abzutragen. Weigert Ihr Euch, solches zu tun und meinem Befehl nachzukommen, so wisset, daß Ihr nicht in unsere Freude und in unser Reich eingehen werdet.«
Solchem Befehl widersetzt sich keiner. Sie zahlen ihre Schulden.
Daß ein Mensch, obgleich er im Gefängnis sitzt, noch solche Macht entfalten kann, gibt ein unbehagliches Gefühl. Vielleicht ist es doch geraten, ihn zu beseitigen. Vielleicht ist es gefährlich. Es ist nicht abzusehen. Darum entschließt sich Köprili nur zu einer ausweichenden, Schwäche und Unsicherheit verratenden Maßnahme: er läßt Sabbatai in eine Festung, in das Schloss Abydos auf Gallipoli, überführen. Dort, hofft er, wird man ihn besser überwachen und leichter von dem wachsenden Strom der Besucher und Anhänger abschließen können.
Er hat vor allem, wenn es hier einer Rechtfertigung bedarf, einen äußeren Grund für diese Maßnahme. Er ist im Begriff, zum Kandiotischen Krieg auszuziehen, wird einige Zeit fernbleiben und fürchtet, die wachsende Unruhe unter den Juden möchte inzwischen die Sicherheit der Stadt gefährden.
Es hätte noch eine andere Möglichkeit gegeben, beinahe eine endgültige, die ganze Problematik mit einem Schlage aufzulösen. Die Juden selbst haben sie Köprili angeboten. Sie haben weitere 100.000 Realen aufgetrieben und bieten sie dem Großvezir an für die Enthaftung Sabbatais. Köprili ist einverstanden. Aber Sabbatai ist nicht einverstanden. Mit einer großen Gebärde stemmt er sich gegen diesen Plan. Er will nicht, daß auch nur ein Heller für seine Befreiung ausgegeben werde. Er weiß und verkündet, daß 271 es nur noch wenige Tage bis zum Eintritt großer, offenbarer Wunder sei. Er verkündet und die Menschen glauben noch inniger. Er spielt einen großen Trumpf aus und überdenkt um der augenblicklichen Wirkung willen nicht, ob es nicht doch die allerletzte Karte sei, die er in diesem Spiel mit der weltlichen Macht zu vergeben habe. Er gewinnt Anhänger und verliert die letzte Chance seines Lebens, wenn auch zunächst alles ihn zu bestätigen scheint. Am Rüsttag des Passahfestes, am 14. Nissan, wird er nach Abydos gebracht, am Vorabend des Festes, an dem die Befreiung aus Ägypten gefeiert wird.
Auch der Großvezier muß einsehen lernen, daß zum mindestens für ihn und für die Interessen, die er zu wahren hat, mit der Verschickung nach Abydos nichts gewonnen ist. Auch nach Gallipoli hin finden die Anhänger des Sabbatai ihren Weg. Sie finden ihn sogar leichter und weit zahlreicher, denn sie haben jetzt ein Hindernis zu überwinden. Mag auch ein Messias vor dem drohenden Gesicht der Tatsachen immer wieder ausweichen und später erneut vorstoßen: eine gläubige Masse von Menschen kennt diese Pendelbewegung der Kraft nicht. Der Richtungssinn ihres Wollens, vom Gefühl übermäßig genährt, ist eindeutig. Er ist auf das Ziel als das letzte erlösende Erlebnis gerichtet. Widerstände schwächen nicht, sondern fallen der seelischen Energie als Ansporn und Nahrung zu. So wird auch dieses Hindernis spielend überwunden. Es muß doch im Plan Gottes beschlossen liegen, daß der Feind jetzt erneut seine Hand an den Messias legt. Im großen Zusammenhang aber ist alle Demütigung nur dazu gegeben, um den Aufstieg hernach um so großartiger erscheinen zu lassen. So wie Gott das Herz des Pharaonen in Ägypten immer 272 wieder und immer grausamer verhärtete, um dann die endliche Befreiung zum äußersten Triumph des göttlichen Willens zu steigern. Darum wird, was heute Festung und Gefängnis ist, morgen schon eine Burg sein, in der der Messias residiert und die Huldigungen einer Welt entgegennimmt; eine Burg, in der er seine Macht offenbart. Und so sagen die Gläubigen nicht mehr Abydos, sondern Migdal Os, Machtburg. Was sie so in dem Glauben und aus der bildnerischen Vorstellung vorwegnehmen, findet von einem Tage zum anderen in der Wirklichkeit seine erschütternde Bestätigung. Es setzt ein Strom von Besuchern ein, den Gallipoli nie zuvor und hernach gesehen hat. Der Ort der Isolierung wird ein Pilgerort. Der Kommandant der Festung, erst fassungslos vor diesem Andrang fremder und seltsamer Menschen, findet recht schnell die Form, sich damit abzufinden: er gestattet, um gerecht zu sein, jedem Besucher gegen einen bestimmten Geldbetrag den Eintritt zu Sabbatai. Er nimmt acht bis zehn Taler von jedem Besucher; zum Teil auch mehr. Er wird dabei ein reicher Mann und hat nichts zu bereuen. Die Einwohner von Gallipoli sehen die vielen Besucher gerne, denn sie bringen Geld in den Ort und beleben Handel und Handwerk. Die Dardanellenstraße weist eine ungewöhnliche Frequenz auf. Die Schiffahrtspreise erhöhen sich täglich. Konjunktur . . .
Denn es kommen nicht nur die armen und gedrückten Juden aus Konstantinopel und den anderen Städten der Türkei. Eine Welt hat sich in Bewegung gesetzt und hat ihre Boten zu Sabbatai Zewi gesandt. Tagtäglich kommen Reisende zu Lande von weither. Tagtäglich kommen Schiffe, von Venedig, Livorno, Hamburg, Amsterdam. Es kommen mit den Worten und 273 Grüßen demütiger Huldigung zugleich die Gaben, die man dem Auserwählten des Volkes schuldet. Geld in überreicher Fülle wird nach Gallipoli gebracht. Es langen Ladungen von Tischen, Stühlen, vergoldeten Sesseln, Teppichen erlesenster Art, Gewandungen, Schmuckstücken und Gefäßen an. Die kahlen Räume der Festung beleben sich feierlich und prunkvoll zu fürstlichen Gemächern. Aus den Gefangenenwärtern wird eine Ehrengarde. Alle Räume dienen nur noch dazu, Sabbatai Zewi und seinen Freunden und seinem Anhang als Residenz zu dienen. Nichts wagen die türkischen Behörden gegen diese Vorgänge zu unternehmen. Es vollzieht sich alles zu unwahrscheinlich, zu großartig, zu pomphaft und zu plötzlich. Über dem Staunen und über der ängstlichen Befangenheit lassen sie die Dinge treiben und gewähren. Die Juden frohlocken: man hat den Messias in eine Grube werfen wollen. Statt dessen wurde ihm ein Thron bereitet.
Und so wird über Nacht und gegen alle vernünftige Voraussicht dicht neben der Residenz des Sultans eine andere errichtet, aus dem Glauben, nicht aus der Macht her, und die nahenden Wochen und Monate müssen entscheiden, wie ihre Kraft zu einander steht und sich auswirkt.