Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Ungeschickte Lehrer, schlimme Schüler

Um wieder zu jener Schulzeit zurückzukehren, so kann ich nicht bekennen, daß dieselbe hell und glücklich gewesen sei. Der Kreis des zu Erfahrenden hatte sich nun erweitert, die Ansprüche waren ernster geworden, ich hatte ein dunkles Gefühl, daß es sich um Wichtiges und Schönes handle, und auch einen gewissen Drang, diesem Gefühle zu genügen. Aber die Übergänge von einer Stufe zur anderen waren mir nie klar und gingen mir öfter verloren. Das Übel lag aber hauptsächlich in den Übergangszuständen der Schule selbst, da die Lehrerschaft noch aus alten Teilen, nämlich unbeschäftigten Theologen der Landeskirche, die aus Liebhaberei oder Bedürfnis alle möglichen Lehrfächer zu übernehmen gewöhnt waren, und aus neuen durchgebildeten Fachlehrern bestand und daher keine gleichmäßige und ineinandergreifende Lehrweise hervorbrachte. Jene Theologen verfuhren nach alten Gewohnheiten und persönlichen Launen, sprangen von den Gegenständen ab, wenn es ihnen beliebte, und behandelten alles mehr als Dilettanten, während die weltlichen Berufslehrer wiederum ganz verschiedene Manieren und Methoden handhabten, die ihrerseits auch noch nicht erprobt waren. Hieraus ergab sich als Hauptübel überdies eine ungleiche und unsichere Behandlung der Jugend und die Möglichkeit jener wunderlichen Katastrophen und Abenteuer, deren Opfer bald der Lehrer, bald der Schüler wurde.

Es lehrte an unserer Schule ein Mann, welcher mit gutem Willen und ehrlichem Sinn eine große Unerfahrenheit, mit der Jugend umzugehen, und ein schwächliches und seltsames Äußeres verband. Er hatte in dem Kampfe, welcher den Umschwung der Dinge und besonders das erneute Schulwesen herbeiführte, tapfer mitgewirkt und war in der altgesinnten Stadt als ein leidenschaftlicher Liberaler verschrien. Wir Knaben waren allzumal gute Aristokraten, mit Ausnahme derer, die vom Lande kamen. Auch ich, obgleich meines Ursprunges halber auch ein Landmann, aber in der Stadt geboren, heulte mit den Wölfen und dünkte mich in kindischem Unverstande glücklich, auch ein städtischer Aristokrat zu heißen. Meine Mutter politisierte nicht, und sonst hatte ich kein nahestehendes Vorbild, welches meine unmaßgeblichen Meinungen hätte bestimmen können. Ich wußte nur, daß die neue radikale Regierung einige alte Türme und Mauerlöcher vertilgt hatte, welche Gegenstand unserer besonderen Zuneigung gewesen, und daß sie aus verhaßten Landleuten und Emporkömmlingen bestand. Hätte mein Vater, der zu diesen gehörte, noch gelebt, so wäre ich ohne Zweifel ein ganz liberales Männlein gewesen.

Gleich beim Beginne der neuen Schulen, als der ungeschickte Lehrer seine Tätigkeit mit vieler Gemütlichkeit antrat, brachte ein Schüler, der Sohn eines fanatischen Stadtbürgers, mit wichtigen Worten die Nachricht unter uns, wie der Lehrer geschworen hätte, uns Aristokratenkinder mit eiserner Rute zu bändigen. Er war nämlich in einer Gesellschaft aufmerksam gemacht worden, wie er es teilweise mit einer durch altes Herkommen übermütigen und ausgelassenen Stadtjugend zu tun haben würde, worauf er antwortete, er werde mit den Bürschlein schon fertig zu werden wissen. Auf obige Weise dargestellt, wurde diese Rede nun, wahrscheinlich nicht ohne Zutun der Alten, unter unsere verstandlose Masse geworfen, und sie begann sogleich zu wirken. Wir nahmen den Handschuh auf; die Verwegensten eröffneten einen geordneten Widerstand und ein leichtes Geplänkel des Unfuges. Schon dies verwirrte ihn, und anstatt mit Sarkasmen und ruhiger, überlegener Entschiedenheit die Angreifer zurückzuwerfen, rückte er sogleich mit seiner Hauptmacht und dem schweren Geschütze vor, indem er jeden kleinen Mutwillen, auch jede unabsichtliche Tat blindlings mit den schwersten und einflußreichsten Strafen belegte, die ihm zu Gebote standen und welche sonst nur in seltenen Fällen angewandt wurden. Dadurch entzog er sich in unsern Augen den guten Rechtsboden, da wir in der Abschätzung des Verhältnisses zwischen Strafe und Vergehen eine große Übung besaßen. Seine Strafen wurden bald wertlos und zuletzt eine Ehrensache, ein Martyrium. Es entstand offener Lärm in den Stunden, welcher sich auch in die anderen Säle verbreitete, wo der Gehetzte zu erscheinen hatte. Nun beging er einen neuen Fehlgriff; statt die Bewegung in sich selbst zerfallen zu lassen und eine Zeitlang ihr zu stehen, fing er an, jeden Schüler aus der Stube zu jagen, der das geringste verübte. Eine unschuldig gestellte Frage an ihn, das absichtliche oder unabsichtliche Fallenlassen eines Gegenstandes reichte hin, ins Freie befördert zu werden. Wir merkten uns dies und bald hielt er regelmäßig nur mit zwei oder drei Frommen seinen Unterricht, während der helle Haufen vor der Türe sich auf seine Kosten belustigte. Das Einschreiten oberer Behörden oder auch seine eigene Energie, wenn er, trotz des Verbotes, die Schüler zu schlagen, einige ein einziges Mal bei den Köpfen genommen und tüchtig durchgebleut hätte, würden hingereicht haben, die Ruhe herzustellen. Zu letzterem besaß er nicht die geeignete Persönlichkeit; das erstere unterblieb, da die unmittelbar folgende Instanz aus Pflegern bestand, welche dem Verfolgten abgeneigt waren und so lange als möglich die Vorfälle nicht zu bemerken schienen. Die Schüler erzählten in ihren Familien mit Ruhmredigkeit ihre Taten, wobei sie nicht unterließen, den Lehrer als den schreckbarsten Popanz darzustellen. Die behäbigen Bürger, sich mit Wohlgefallen ihrer eigenen Knabenstreiche erinnernd und in der Erfahrung der alten Zeit aufgewachsen, daß die Schule nur eine Art Unterkommen bilde, bis das würdige Bürgerkind, ohne sich den Kopf zerbrechen zu müssen, in das behagliche Privilegien- und Zunftwesen der guten alten Stadt aufgenommen würde, bestärkten ihre Söhnlein durch unverhohlenes Lächeln, wo nicht durch direkte Aufreizung, in ihrem Treiben. Obgleich die Sache längst Aufsehen gemacht hatte, wurde sie nach oben hin stets so geschildert, als ob alle Schuld an dem Verfolgten läge; es kam etwa ein Herr in die Stunde, um selbst zu sehen; dann hüteten wir uns aber wohl, etwas zu beginnen, so wie wir auch in den Stunden der übrigen Lehrer uns doppelt ruhig verhielten. Der Unglückliche war ein Ableiter für allen bösen Stoff, welcher in der Schule steckte. So schleppte er sich beinahe ein Jahr lang hin, bis er endlich für eine Zeitlang suspendiert wurde. Er wäre so gerne ganz weggeblieben, indem er Schaden an seiner Gesundheit litt und ganz abmagerte; aber eine zahlreiche Familie schrie nach Brot, und er war auf diesen Beruf angewiesen. So trat er eines Tages seinen Leidensweg wieder an, so versöhnlich und bescheiden als möglich; allein er fand keine Barmherzigkeit; ein wilder Jubel brach los, das alte Unwesen wiederholte sich, und er mußte nach wenigen Tagen gänzlich entlassen werden.

Ich hatte mich lange Zeit ziemlich ruhig verhalten und nur den zahlreichen Auftritten behaglich zugesehen. Gegen den Mann selbst verging ich mich nicht ein einzig Mal, da es mir widerstrebte, einem Erwachsenen gegenüber aufzutreten. Erst als das Hinausschieben der ganzen Klasse begann, suchte ich auch teilzunehmen und bewerkstelligte dies durch kleine Streiche oder wischte auch so mit hinaus; denn erstens ging es sehr lustig her draußen, und zweitens hätte ich um keinen Preis bei den wenigen verpönten Gerechten bleiben mögen, welche in der Stube saßen. Desto lauter wurde ich, wenn ich einmal draußen war, half Aufzüge und Umgänge anordnen und überließ mich, nach langer Zurückgezogenheit, einer so wilden Freude, daß mir das Herz heftig klopfte und mein Blut ganz in Wallung war, wenn wir bei dem folgenden Lehrer wieder an unseren Plätzen saßen. Ich kann mir fest gestehen, daß ich mich damals über die Freude selbst freute und keinerlei Bosheit in mir trug. Vielmehr empfand ich ein heimliches Mitleid mit dem Armen, welches ich zu äußern aber unterließ, um nicht lächerlich zu werden. Einst traf ich ihn ganz allein auf einem Feldwege; er schien einen Erholungsgang zu machen; unwillkürlich zog ich ehrerbietig meine Mütze, was ihn so freute, daß er mir zuvorkommend dankte und mich dabei so märterlich ansah, als ob er um Barmherzigkeit flehte. Ich wurde gerührt und dachte, daß es anders werden müsse. Gleich am nächsten Tage trat ich zu einer Gruppe der wildesten Mitschüler, um geradezu am rechten Flecke anzugreifen und ein Wort des Mitgefühls, des Nachdenkens unter sie zu werfen; ich hatte den richtigen Instinkt, daß dieses gewiß, wenn auch nicht augenblicklich, weiter wirken und die Laune der Menge anziehen würde. Sie sprachen eben von dem Lehrer, hatten eben einen neuen Spitznamen erfunden, der so komisch klang, daß alles bester Laune war und auflachte; die vorbedachten Worte verdrehten sich mir auf der Zunge, und anstatt meine Pflicht zu tun, verriet ich ihn und mein besseres Selbst, indem ich das gestrige Abenteuer auf eine Weise vortrug, die der gegenwärtigen Stimmung vollkommen entsprach und dieselbe erhöhte!


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