Gottfried Keller
Der grüne Heinrich
Gottfried Keller

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Nachdem wir uns erkannt, erzählte ich das Vorgefallene in einem Tone, der ihn erraten ließ, wo ich hinauswollte. Lys, der ein ausdauernder Trinker war, aber alle Betrunkenheit schon an Männern verabscheute, empfand einen tiefen Verdruß und benutzte denselben überdies, weitere Vorwürfe oder unliebe Bemerkungen abzuschneiden. »Das ist eine saubere Geschichte!« rief er, »sind das nun eure Heldentaten, ein unerfahrenes Mädchen berauscht zu machen? Wahrhaftig, ich habe das arme Kind guten Händen übergeben!«

»Übergeben!« erwiderte ich gereizt, »verlassen, verraten willst du sagen!« und ich übergoß ihn mit einer Flut von Vorwürfen, die über meine Berechtigung weit hinausgingen. »Ist es denn so schwer«, schloß ich vorläufig, »seinen Neigungen einen festen Halt zu geben und sich mit einiger dankbaren Treue an einer so reichen Gabe Gottes genügen zu lassen? Muß denn die ganze Welt durcheinander rennen und sich überall selbst im Lichte stehen und sich betrüben?«

Lys hatte sich indessen von den Dornen losgewickelt. Da er sah, daß er mich nicht einschüchtern konnte, ergab er sich und sagte ruhig, indem wir einer hinter dem andren weitergingen: »Laß mich zufrieden, du verstehst das nicht!«

Aufbrausend antwortete ich: »Lange genug habe ich mir eingebildet, daß in deiner Sinnesart etwas liege, was ich mit meiner Erfahrung nicht übersehen und beurteilen könne! Jetzt aber gewahre ich nur zu deutlich, daß es die trivialste Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit ist, welche dich beherrscht, so leicht erkennbar als verabscheuungswert. O wenn du wüßtest, wie tief dich diese Art entstellt und deinen Freunden weh tut, du würdest schon aus der gleichen Eigenliebe dich ändern und den häßlichen Makel von dir tun!«

»Ich sage noch einmal«, erwiderte Lys, sich halb nach mir umwendend, »du verstehst das nicht! Und das ist in meinen Augen die beste Entschuldigung für deine unziemlichen Reden. Nun, du Tugendheld! hast du jemals etwas anderes getan, als was du nicht lassen konntest? Du tust es jetzt nicht, und wirst es noch weniger tun, wenn du erst einmal etwas erlebst!«

»Ich hoffe wenigstens, daß ich zu jeder Zeit das lassen kann, was schlecht und verwerflich ist, sobald ich es nur als solches erkenne!«

»Du wirst jederzeit«, sagte Lys hierauf kaltblütig, indem er sich wieder vorwärts wandte, »du wirst jederzeit das lassen, was dir nicht angenehm ist!«

Ungeduldig wollte ich ihn nochmals unterbrechen; allein er übertönte mich und fuhr fort: »Gerätst du einst zwischen zwei Weiber, so wirst du wahrscheinlich beiden nachlaufen, wenn dir beide angenehm sind, das ist einfacher, als sich für eine zu entschließen! Und vielleicht wirst du recht haben! Was mich betrifft, so wisse: das Auge ist der Urheber und der Erhalter oder Vernichter der Liebe; ich kann mir vornehmen, treu zu sein, das Auge nimmt sich nichts vor, das gehorcht der Kette der ewigen Naturgesetze. Luther hat nur als Normalmensch gesprochen, wenn er sagte, er könne kein Weib ansehen, ohne ihrer zu begehren! Erst durch ein Weib von solcher Reinheit von allem eigensinnigen, kränklichen und absonderlichen Beiwerke, durch ein Weib von so unverwüstlicher Gesundheit, Heiterkeit, Güte und Klugheit wie diese Rosalie könnte ich für immer gefesselt werden. Wie beschämt sehe ich nun ein, welch eine vergängliche Spezialität ich in jener Agnes mir zu verbinden im Begriffe war! Du aber schäme dich ebenfalls, als ein leeres Schema in der Welt herumzulaufen, wie ein Schatten ohne Körper! Suche, daß du endlich einen Inhalt, eine ausfüllende Leidenschaft bekommst, anstatt andern mit deinem Wortgeklingel beschwerlich zu fallen!«

Mehrfach beleidigt schwieg ich einige Minuten. Ohne es zu wissen, hatte Lys mit den zwei Weibern, die er mir in Aussicht stellte, etwas Wahres getroffen, insofern ich ja noch als halbes Kind schon auf ähnlichen Wegen geirrt war. Und doch wollte ich mich nicht mit ihm vergleichen lassen; der genossene Wein, die mehr als vierundzwanzigstündige mannigfache Aufregung taten auch das Ihrige, meine Streitlust zu entflammen, und ich begann daher wieder mit entschiedener Stimme: »Nach deiner vorhinnigen Äußerung zu urteilen, bist du also nicht sehr willens, dem Mädchen die Hoffnungen, die du ihr leichtsinnigerweise erregt, zu erfüllen?«

»Ich habe keine Hoffnungen gemacht«, sagte Lys, »ich bin frei und Herr meines Willens, gegen jedes Frauenzimmer sowohl wie gegen alle Welt! Wenn ich übrigens für das gute Kind etwas tun kann, so werde ich ihr ein wahrer und uneigennütziger Freund sein, ohne Ziererei und ohne Phrasen! Und zum letztenmal gesagt: Kümmere dich nicht um meine Liebschaften oder Nichtliebschaften, ich weise es durchaus ab!«

»Ich werde mich aber darum kümmern!« rief ich, »entweder sollst du einmal Treu und Ehre halten, oder ich will es dir in die Seele hinein beweisen, daß du unrecht tust! Das kommt aber nur von dem trostlosen Atheismus! Wo kein Gott ist, da ist kein Salz und kein Halt!«

Lys lachte laut auf, da er antwortete: »Nun, dein Gott sei gelobt! Dacht ich doch, daß du schließlich noch in diesen Hafen der Glückseligkeit einlaufen würdest! Ich bitte dich aber jetzt, grüner Heinrich, laß den lieben Gott aus dem Spiele, der hat hier ganz und gar nichts zu schaffen! Ich versichere dich, ich würde mit ihm wie ohne ihn ganz der gleiche sein! Das hängt nicht von meinem Glauben, sondern von meinen Augen, von meinem Hirn, von meinem ganzen körperlichen Wesen ab!«

»Jedenfalls von deinem Herzen!« rief ich zornig und außer mir, »ja, sagen wir es nur heraus, nicht dein Kopf, sondern dein Herz kennt keinen Gott! Dein Glauben oder vielmehr Nichtglauben ist dein Charakter!«

»Nun hab ich genug!« donnerte Lys mit starker Stimme und kehrte sich stehenbleibend gegen mich, »obgleich es ein Unsinn ist, den du sprichst, der an sich nicht beschimpfen kann, so weiß ich, wie du es meinst; denn ich kenne diese unverschämte Sprache der Hirnspinner und Fanatiker, die ich dir nie zugetraut hätte! Sogleich nimm zurück, was du gesagt hast! Ich lasse nicht ungestraft meinen Charakter antasten!«

»Nichts nehm ich zurück! Nun wollen wir sehen, wie weit deine gottlose Tollheit dich führt!« Dies sagte ich mit wilder Streitlust; Lys aber antwortete mit bitterer, verdrußvoller Stimme: »Genug des Scheltens! Du bist von mir gefordert! Und zwar mit Tagesanbruch halte dich bereit, einmal mit der Waffe in der Hand für deinen Gott einzustehen, für den du so weidlich zu schimpfen weißt. Sorge für deinen Beistand, der meinige wird in zwei Stunden da und da zu finden sein, um alles übrige zu besorgen.« Er bezeichnete einen Ort, wo voraussichtlich die ganze Nacht der Verkehr des Festes mit seinen Nachklängen fortdauerte. Dann wandte er sich und ging mit raschen Schritten vorwärts, da der Weg besser geworden. Ich selber sprang auf die Straße hinüber, die während unseres Streites längst leer und still geworden. Das war nun das Ende des schönen Festes! Der Mond warf meinen eigenen Schatten vor mir her, als ich mitten auf der Straße ging, und ich sah die Zipfel meiner Narrenkappe deutlich auf derselben abgezeichnet. Allein das half nichts; das Licht der Vernunft war erloschen; ich eilte meines Weges, um für den Zweikampf meine Helfershelfer zu suchen.

Schon vor wenigstens sechs Jahren hatte ich von einem Polen, der in unserm Hause ein kleines Zimmer bewohnte, etwas fechten gelernt. Es war einer jener stattlichen, hochgewachsenen Militärs, wie sie aus der Revolution von 1831 als Flüchtlinge bekannt geworden und seither ziemlich aus der Welt oder wenigstens aus der Emigration verschwunden sind. Von vornehmer Geburt und ein gewesener Reiteroffizier, brachte er sich geschickt und redlich durch und fügte sich in die bescheidenste Lebensart, in jede Arbeit, war immer heiter und liebenswürdig, ausgenommen, wenn er von den Schlachten und dem Unglücke seines Vaterlandes, von seinem Hasse gegen Rußland sprach. Obgleich gut katholisch erzogen, rief er dann jedesmal voll Bitterkeit, es sei kein Gott im Himmel, sonst hätte er die Polen nicht in die Hand des Russen gegeben. Der mochte mich wohl leiden, und um mir irgendeine Freundlichkeit oder Wohltat zu erweisen und weil er gerade nichts anderes hatte, ruhte er nicht, bis er mir einigen Unterricht in der Fechtkunst geben konnte. Aus eigener Tasche kaufte er zwei Stoßrapiere oder Floretts, Drahtmasken und anderen Zubehör und ging mit mir täglich eine Stunde auf den großen Estrich unter dem Dache, wo er mich dazu brachte, eine erste Schule notdürftig durchzumachen, und er tat es mit solcher Liebe und Ausdauer, als ob es sich um das Goldmachen handelte, bis ihn eine Schicksalswendung aus unserer Gegend hinwegführte. In der Stadt, wo ich jetzt lebte, hatte ich bei studierenden Landsleuten, mit denen ich zuweilen verkehrte und die sich Fechtapparate auf dem Zimmer hielten, manchmal wieder den einen oder anderen Gang versucht, ohne an etwas anderes als an einen vorübergehenden Zeitvertreib zu denken. Einen oder zwei der jungen Leute dachte ich jetzt sicher noch an ihrem gewohnten Versammlungsorte zu treffen, um ihren Beistand in Anspruch zu nehmen, und fand sie auch in der verwegenen Stimmung, welche der späten Stunde und meinen Wünschen entsprach. Sie begaben sich sofort dahin, wo die Vertrauten meines Gegners sie erwarteten.

Bald kamen sie mit der Verabredung zurück, daß der Duellhandel morgens um sechs Uhr in Lysens Wohnung vor sich gehen solle. Lys habe hervorgehoben, daß er ganz allein darin hause und also keine Zeugen zu befürchten seien; ferner könne er, wenn er verwundet werde, sich gleich in sein eigenes Bett legen und in der Stille geheilt werden oder sterben, der Gegner aber mit aller Sicherheit und Muße abreisen. Treffe es aber mich, so könne ich dort an seiner Stelle mich zunächst hinlegen, indessen er sich aus dem Staube mache.

Für einen Arzt, hieß es, sei auch schon gesorgt, ebenso für die Waffen, als welche ich Stoßdegen oder sogenannte Pariser, die einzigen, die ich etwas zu führen verstand, vorgeschlagen hatte, zumal ich wußte, daß auch Lys damit umgehen konnte.

Wie er den kurzen Rest der Nacht verbracht, habe ich nicht erfahren; was mich betrifft, so blieb ich mit meinen Ratgebern sitzen, da wir fanden, das gefährliche Abenteuer sei besser als Schluß der ganzen Feststrapaze zu bestehen, mit der es sozusagen in einem hinginge, als wenn ich nach unzureichender Ruhe, aus tiefem Schlafe geweckt und ohne Zusammenhang der Gedanken fechten müßte. So kam ich nicht einmal dazu, den Anzug zu wechseln, und wenn mich das Geschick getroffen hätte, so wäre ich in der Gestalt eines erstochenen Narren weggetragen worden.

Trotzdem überfiel mich die Müdigkeit; ich schlummerte ein und lag zuletzt mit dem Kopfe schlafend auf dem Tische, während die andern mit ab- und zugehenden Nachzüglern und Spätlingen eine Bowle heißen Punsch tranken. Auch ich stürzte noch ein Glas hinunter, als ich mit dem Morgengrauen aufgerüttelt wurde, mich aber durch den kurzen Schlaf keineswegs erquickt oder ernüchtert fand. Doch erinnere ich mich wie aus einem Traume, daß ich gleich den zweien, die mit mir kamen, mit tiefem Ernst durch die Straßen ging und in Lysens stille Wohnung trat, wo er mit zwei oder drei jungen Männern ebenso ernst und kalt uns erwartete.

Wir standen alle in dem geräumigsten seiner Zimmer, vor dem Bilde mit den Spöttern; die Morgendämmerung ließ die aus dem Dunkel hervorleuchtenden Figuren wie belebt erscheinen, als ob sie der Dinge gewärtig wären, die da kommen sollten.

Nun wurden aus einem langen Kistchen zwei glänzend polierte dreieckige und nadelspitze Klingen, zwei mit Silberdraht übersponnene Griffe und zwei vergoldete halbkugelförmige Glocken zum Schutze der Hand ausgepackt und ineinander geschraubt. Nachdem gefragt worden, ob keine Versöhnung oder anderweitige Verständigung möglich sei, und keiner von uns beiden sich gerührt hatte, gab man uns die Waffen in die Hand und wies jedem seinen Platz an. Ich warf einen Blick auf Lys; er sah ebenso blaß und überwacht aus wie ich selbst. Jeder Zug von Wohlwollen oder freundschaftlicher Gesinnung war aus unsern Gesichtern verschwunden, während auch der ursprüngliche Zorn verraucht war und nur die erstarrte Menschentorheit auf den Lippen saß. Da stand ich nun mit dem Eisen in der Hand, bereit, das Blut eines Freundes zu vergießen, um ihm die Wahrheit meines Gottesglaubens zu beweisen, und der Freund bedurfte meines Blutes zur Verteidigung der moralischen Ehre seiner Weltanschauung, und jeder hatte sich sonst für die Vernunft, Freiheit und Menschlichkeit selbst gehalten. Eine unglückliche Sekunde, und der gleißende Stahl war in ein warmes Herz geglitten!

Aber zu einer heilsamen Überlegung war keine Zeit mehr. Das Zeichen wurde gegeben, wir machten mit den Degen den üblichen Gruß und setzten uns in Positur, aber nicht wie geübte Duellanten, sondern mehr wie etwas unsichere Schüler. Unsere Hände zitterten fast gleichmäßig, als wir die Degenspitzen sich umeinander drehen ließen, um den Anfang zu finden, und der erste Stoß, den ich tat, war auch richtig der erste Schulstoß, wie er der Nummer nach auf dem Fechtsaale gezeigt wird. Lys parierte ihn ebenso schulmäßig, da er ihn von weitem kommen sah; er erwiderte den Ausfall, und ich wies ihn etwas schwerfälliger, aber noch gerade zeitig genug ab. Der liebe Gott, um den wir uns schlugen, mochte wissen, wie ein Paar so friedlicher Fechter in eine so gefährliche Lage geraten waren. Allein, gefährlich war sie nichtsdestoweniger; denn mit dem Geräusch der gleitenden Klingen wurde das Gefecht belebter und rascher, so daß schon wegen der Notwehr die Stöße zahlreicher und fester wurden. Da blitzten plötzlich Stahl und Glocken unserer Waffen mit einem rötlichen Schimmer auf, und gleichzeitig begann das Bild im Hintergrunde des Zimmers sachte zu leuchten, beides vom Glühen einer Wolke, die im Widerscheine der anbrechenden Morgenröte stand. Lys warf unwillkürlich einen Blick seitwärts auf sein Bild und sah die Blicke seiner Sachverständigen, wie er sie nannte, auf uns gerichtet. Er ließ seinen Degen sinken, und mir, der ich eben wieder auszufallen im Begriffe war, wurde ein »Halt!« zugerufen. Lys, der im übrigen vollkommen nüchtern geblieben, war der Nichtigkeit unseres Tuns durch den Anblick zuerst inne geworden.

»Ich nehme meine Herausforderung zurück«, erklärte er mit ernstem, aber ruhigem Tone, »und will das Vorgefallene vergessen, ohne daß Blut fließen soll!«

Er trat mir einen Schritt entgegen und bot mir die Hand. »Laß uns schlafen gehen, Heinrich Lee!« sagte er, »und zugleich leb wohl! Da ich einmal zur Abreise gerüstet bin, so will ich heute für einige Zeit fort.«

Damit ging er, nachdem er die Anwesenden gegrüßt, nach seinem Schlafzimmer, und wir verließen uns trotz der unerwarteten Aussöhnung ohne Freundlichkeit, weil wir uns eigentlich selbst beleidigt hatten und zur Stunde keiner mit sich im reinen war. Die Zeugen und der Arzt, welche in den Verlauf der Streitigkeit überhaupt keinen klaren Einblick hatten, verabschiedeten sich vor dem Hause stillschweigend, und jeder ging seines Weges, ich überdies mit einem Gefühle, wie wenn ich von der moralischen Überlegenheit eines Gegners, den ich hatte schulmeistern wollen, heimgeschickt worden wäre.

Als ich meine Wohnung betrat, wurde ich von den Wirtsleuten, die an ihrem Frühstücke saßen, als ein ausdauernder Lustigmacher begrüßt. Obschon ich erschöpft und müde war, konnte ich beinahe nicht einschlafen, und als es geschah, träumte mir, ich hätte den Freund totgestochen, blutete aber statt seiner selbst und werde von meiner weinenden Mutter verbunden. Indessen würgte ich an einem geträumten Schluchzen herum, über welchem ich erwachte. Ich fand die Augen und das Kissen zwar trocken, dachte aber über die möglich gewesenen Folgen nach, bis ich endlich fester einschlief.


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