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Frymann aber war ganz verblüfft; der Junge hatte gerade gesagt, was ihm selbst hätte einfallen sollen, statt sich mit den Jesuiten herumzuschlagen. Auch er gab Karl freundschaftlich die Hand und dankte ihm für die Hilfe in der Not. Zuletzt trat der alte Hediger zu seinem Sohne, nahm ebenfalls seine Hand, richtete scharf und fest sein Auge auf ihn und sagte: »Sohn! Eine schöne, aber gefährliche Gabe hast du verraten! Pflege sie, baue sie, mit Treue, mit Pflichtgefühl, mit Bescheidenheit! Nie leihe sie dem Unechten und Ungerechten, dem Eiteln und dem Nichtigen; denn sie kann wie ein Schwert werden in deiner Hand, das sich gegen dich selbst kehrt oder gegen das Gute, wie gegen das Schlechte! Sie kann auch eine bloße Narrenpritsche werden. Darum gradaus gesehen, bescheiden, lernbegierig, aber fest, unentwegt! Wie du uns heute Ehre gemacht hast, so denke stets daran, deinen Mitbürgern, deinem Vaterland Ehre zu machen, Freude zu machen; an dies denke, und du wirst am sichersten vor falscher Ehrsucht bewahrt bleiben! Unentwegt! Glaube nicht immer sprechen zu müssen, laß manche Gelegenheit vorbeigehen und sprich nie um deinetwillen, sondern immer einer erheblichen Sache wegen! Studiere die Menschen, nicht um sie zu überlisten und auszubeuten, sondern um das Gute in ihnen aufzuwecken und in Bewegung zu setzen, und glaube mir: viele, die dir zuhören, werden oft besser und klüger sein, als du, der da spricht. Wirke nie mit Trugschlüssen und kleinlichen Spitzfindigkeiten, mit denen man nur die Spreuer bewegt; den Kern des Volkes rührst du nur mit der vollen Wucht der Wahrheit um. Darum buhle nicht um den Beifall der Lärmenden und Unruhigen, sondern sieh auf die Gelassenen und Festen, unentwegt!«
Kaum hatte er diese Rede geendigt und Karls Hand losgelassen, so ergriff sie schnell Frymann und sagte: »Gleichmäßig bilde deine Kenntnisse aus und bereichere deine Grundlagen, daß du nicht in leere Worte verfallest! Nach diesem ersten Anlaufe laß nun eine geraume Zeit verstreichen, ohne an dergleichen zu denken! Wenn du einen glücklichen Gedanken hast, so sprich nicht, nur um diesen anzubringen, sondern lege ihn zurück; die Gelegenheit kommt immer wieder, wo du ihn reifer und besser verwenden kannst. Nimmt dir aber ein anderer diesen Gedanken weg, so freue dich darüber, statt dich zu ärgern, denn es ist ein Beweis, daß du das Allgemeine gefühlt und gedacht hast. Bilde deinen Geist und überwache deine Gemütsart und studiere an anderen Rednern den Unterschied zwischen einem bloßen Maulhelden und zwischen einem wahrhaftigen und gemütreichen Manne! Reise nicht im Land herum und laufe nicht auf allen Gassen, sondern gewöhne dich, von der Feste deines Hauses aus und inmitten bewährter Freunde den Weltlauf zu verstehen; dann wirst du mit mehr Weisheit zur Zeit des Handelns auftreten, als die Jagdhunde und Landläufer. Wenn du sprichst, so sprich weder wie ein witziger Hausknecht, noch wie ein tragischer Schauspieler, sondern halte dein gutes natürliches Wesen rein und dann sprich immer aus diesem heraus. Ziere dich nicht, wirf dich nicht in Positur, blick, bevor du beginnst, nicht herum wie ein Feldmarschall oder gar die Versammlung belauernd! Sag nicht, du seist nicht vorbereitet, wenn du es bist; denn man wird deine Weise kennen und es sogleich merken! Und wenn du gesprochen hast, so geh nicht herum, Beifall einzusammeln, strahle nicht von Selbstzufriedenheit, sondern setze dich still an deinen Platz und horche aufmerksam dem folgenden Redner. Die Grobheit spare wie Gold, damit wenn du sie in gerechter Entrüstung einmal hervorkehrst, es ein Ereignis sei und den Gegner wie ein unvorhergesehener Blitzstrahl treffe! Wenn du aber denkst, je wieder mit einem Gegner zusammenzugehen und gemeinsam mit ihm zu wirken, so hüte dich davor, ihm im Zorne das Äußerste zu sagen, damit das Volk nicht rufe: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!«
Also sprach Frymann, und der arme Karl saß ob all den Reden erstaunt und verdonnert und wußte nicht, sollte er lachen oder sich aufblasen. Aber Syfrig der Schmied rief: »Da seht nun diese zwei, die nicht für uns sprechen wollten und nun wieder reden wie die Bücher!«
»So ist es!« sagte Bürgi, »aber wir haben dadurch neuen Zuwachs bekommen, einen kräftigen jungen Schößling getrieben! Ich beantrage, daß der Junge in unseren Kreis der Alten aufgenommen werde und fortan unseren Sitzungen beiwohne!«
»Also sei es!« riefen alle und stießen mit Karl an; der leerte etwas unbesonnen sein volles Glas, was ihm jedoch die Alten in Betracht der aufgeregten Stunde hingehen ließen, ohne zu murren.
Nachdem die Gesellschaft sich durch das Frühstück hinlänglich von ihrem Abenteuer erholt, zerstreute sie sich. Die einen gingen, ein paar Schüsse zu probieren, die andern, den Gabensaal und die übrigen Einrichtungen zu besehen, und Frymann ging, seine Tochter und die Frauen zu holen, bei denen sie zu Gast war; denn zum Mittagessen wollten sich alle wieder an dem Tische finden, der ziemlich in der Mitte der Halle und im Bereich der Tribüne gelegen war. Sie merkten sich die Nummer und gingen höchst wohlgemut und aller Sorgen ledig auseinander.
Genau um zwölf Uhr saß die Tischgesellschaft von einigen tausend Köpfen, welche jeden Tag andere waren, am gedeckten Tische. Landleute und Städter, Männer und Weiber, Alte und Junge, Gelehrte und Ungelehrte, alle saßen fröhlich durcheinander und harrten auf die Suppe, indem sie die Flaschen entkorkten und das Brot anschnitten. Nirgends blickte ein hämisches Gesicht, nirgends ließ sich ein Aufschrei oder ein kreischendes Gelächter hören, sondern nur gleichmäßig verbreitet das hundertfach verstärkte Gesumme einer frohen Hochzeit, der gemäßigte Wellenschlag einer in sich vergnügten See. Hier ein langer Tisch voll Schützen, dort eine blühende Doppelreihe von Landmädchen, am dritten Tisch eine Zusammenkunft sogenannter alter Häuser aus allen Teilen des Landes, die das Examen endlich überstanden hatten, und am vierten ein ganzes ausgewandertes Städtlein, Männer und Frauen durcheinander. Doch diese sitzenden Heerscharen bildeten nur die Hälfte der Versammlung; ein ununterbrochener Menschenzug, ebenso zahlreich, strömte als Zuschauer durch die Gänge und Zwischenräume und umkränzte, ewig wandelnd, die Essenden. Es waren, Gott sei Preis und Dank, die Vorsichtigen und Sparsamen, die sich die Sache berechnet und anderswo für noch weniger Geld gesättigt hatten, die Nationalhälfte, welche alles billiger und enthaltsamer bewerkstelligt, während die andere so schrecklich über die Schnur haut; ferner die Allzuvornehmen, die der Küche nicht trauten und denen die Gabeln zu schlecht waren, und endlich die Armen und die Kinder, welche unfreiwillig zuschauten. Aber jene machten keine schlechten Bemerkungen, und diese zeigten weder zerrissene Kleider noch böse Blicke; sondern die Vorsichtigen freuten sich über die Unvorsichtigen, der Vornehmling, welchem die Schüsseln voll grüner Erbsen im Juli zu lächerlich waren, ging ebenso wohlgesinnt einher, wie der Arme, dem sie verführerisch in die Nase dufteten. Hie und da freilich zeigte sich ein sträflicher Eigennutz, indem es etwa einem filzigen Bäuerlein gelang, unbesehens einen verlassenen Platz einzunehmen und frischweg mit zu essen, ohne bezahlt zu haben; und was noch schlimmer war für ordnungsliebende Augen, es entstand deswegen nicht einmal ein Wortwechsel und ein Hinauswerfen.
Der oberste Festwirt stand vor dem weiten Küchentor und blies auf einem Jägerhörnchen das Zeichen zum Auftragen eines Gerichtes, worauf eine Kompanie Aufwärter hervorbrach und sich mit künstlich eingeübter Schwenkung rechts, links und geradeaus zerstreute. Einer derselben fand seinen Weg zu dem Tische, an welchem die Aufrechten und Festen saßen, unter ihnen Karl, Hermine und ihre Freundinnen, Basen oder was sie sein mochten. Die Alten horchten eben eifrig auf einen Hauptredner, der die Tribüne bestiegen, nachdem der Tambour einen kräftigen Wirbel geschlagen. Ernst und gesammelt saßen sie, mit weggelegter Gabel, steif und aufrecht, alle sieben Köpfe nach der Tribüne gewendet. Aber sie erröteten wie junge Mädchen und sahen einander an, als der Redner mit einer Wendung aus Karls Rede begann, die Erscheinung der sieben Greise erzählte und hieran seine eigene Rede knüpfte und ausführte. Nur Karl hörte nichts, denn er scherzte leise mit den Frauen, bis ihn sein Vater anstieß und seine Mißbilligung ausdrückte. Als der Redner unter großem Beifall geendigt, sahen sich die Alten abermals an; sie hatten schon vielen Versammlungen beigewohnt, aber zum erstenmal waren sie selbst der Gegenstand einer Rede geworden, und sie wagten nicht, sich umzuschauen, so verschämt waren sie, wenn auch überglücklich. Aber wie es der Weltlauf ist, ihre Nachbaren ringsum kannten sie nicht und ahnten nicht, was sich für Propheten in ihrer Nähe befanden, und so wurde ihre Bescheidenheit nicht beleidigt. Um so zufriedener drückten sie einander die Hände, nachdem sie jeder sachte für sich gerieben, und ihre Augen sagten: Nur unentwegt! Das ist der süße Lohn für Tugend und andauernde Vortrefflichkeit!
Worauf Kuser rief: »Nun, diesen Spaß haben wir unserm Meister Karl zu verdanken! Ich glaube doch, wir werden ihm schließlich Bürgis Himmelbett zusprechen und ihm eine gewisse Puppe dreinlegen müssen. Was meinst du, Daniel Frymann?« – »Ich fürchte auch,« sagte Pfister, »daß er mir mein Schweizerblut abkaufen muß und seine Wette verliert.«
Doch Frymann runzelte plötzlich die Stirn und sprach: »Ein gutes Mundwerk wird nicht gleich mit einem Weibe bezahlt! Wenigstens in meinem Hause gehört noch eine gute Hand dazu! Laßt uns, ihr Freunde, den Scherz nicht auf ungehörige Dinge ausdehnen!«
Karl und Hermine waren rot geworden und schauten verlegen in das Volk hinaus. Da ertönte der Kanonenschuß, der den Wiederbeginn des Schießens verkündigte und auf den eine lange Reihe von Schützen, die Büchse in der Hand, gewartet hatte. Augenblicklich knallte es wieder auf der ganzen Linie; Karl erhob sich vom Tische, sagte, nun wolle er sein Glück auch versuchen, und begab sich nach dem Schießstande. »Und ich will ihm wenigstens zusehen, wenn ich ihn auch nicht bekommen soll!« rief Hermine scherzend und ging ihm nach, begleitet von den Freundinnen.
Doch geschah es, daß die Frauenzimmer sich in der Menge aus den Augen gerieten und Hermine zuletzt mit Karl allein blieb und getreulich mit ihm zog von Scheibe zu Scheibe. Er begann am äußersten Ende, wo kein Gedränge war, und schoß ohne sonderlichen Ernst zwei oder drei Treffer gleich hintereinander. Nach Herminen sich umwendend, die hinter ihm stand, sagte er lachend: »Ei, das geht ja gut!« Sie lachte auch, aber nur mit den Augen, mit dem Munde sagte sie ernsthaft: »Du mußt einen Becher gewinnen.« – »Das geht nicht,« antwortete Karl, »um fünfundzwanzig Nummern zu schießen, müßte ich wenigstens fünfzig Schüsse tun, und ich habe gerade nur fünfundzwanzig bei mir« – »Ei,« sagte sie, »es gibt ja genug Pulver und Blei hier zu kaufen!«
»Das will ich aber nicht, da käme mir der Becher mit dem Schußgeld teuer zu stehen! Manche verpuffen allerdings mehr Geld, als der Gewinn beträgt, aber ein solcher Narr bin ich nicht.«
»Du bist ja hübsch grundsätzlich und haushälterisch,« sagte sie beinahe zärtlich, »das gefällt mir! Aber das ist erst recht gut, wenn man mit wenigem so viel ausrichtet, wie andere mit ihren weitläufigen Anstalten und ihren schrecklichen Anstrengungen! Darum nimm dich zusammen und mach es mit den fünfundzwanzig Kugeln! Wenn ich ein Schütz wäre, so wollt' ich es schon zwingen!«
»Nie, es kommt gar nicht vor, du Närrin!«
»Drum seid ihr eben Sonntagsschützen! Aber so fange nur endlich wieder an und probier's!«
Er tat einen weiteren Schuß und hatte wieder eine Nummer und dann noch eine. Wieder sah er Herminen an, und sie lachte noch mehr mit den Augen und sagte noch ernsthafter: »Siehst du? Es geht doch, jetzt fahre fort.« – Unverwandt sah er sie an und konnte den Blick kaum wegwenden, denn noch nie hatte er ihre Augen so gesehen; es glühte etwas Herbes und Tyrannisches mitten in der lachenden Süßigkeit ihres Blickes, zwei Geister sprachen beredt aus seinem Glanze: der befehlende Wille, aber mit ihm verschmolzen die Verheißung des Lohnes, und aus der Verschmelzung entstand ein neues geheimnisvolles Wesen. »Tu mir den Willen, ich habe dir mehr zu geben, als du ahnst!« sagten diese Augen, und Karl schaute fragend und neugierig hinein, bis sie sich verstanden mitten im Geräusch und Gebrause des Festes. Als er seine Augen in diesem Glanze gesättigt, wandte er sich wieder, zielte ruhig und traf abermals. Jetzt fing es ihm selbst an möglich zu scheinen; doch weil sich Leute um ihn zu sammeln begannen, ging er weg und suchte einen ruhigeren und einsameren Stand, und Hermine folgte ihm. Dort schoß er wiederum einige Treffer, ohne einen Schuß vergeblich zu tun; und so fing er an, die Kugeln bedächtlich wie Goldstücke zu behandeln, und jede begleitete Hermine mit geizigen leuchtenden Blicken, eh' sie im Laufe verschwand; Karl aber, eh' er zielte, ohne Hast noch Unruhe, schaute jedesmal dem schönen Wesen ins Gesicht. So oft sein Glück auffiel und die Leute sich um ihn sammelten, ging er weiter vor eine andere Scheibe; auch steckte er die erhaltenen Zettel nicht auf den Hut, sondern gab sie seiner Begleiterin zum Aufbewahren; die hielt das ganze Büschel, und nie hatte ein Schütz einen schöneren Nummernhalter besessen. So erfüllte er in der Tat ihren Wunsch und brachte nach und nach die fünfundzwanzig Schüsse so glücklich an, daß nicht einer außerhalb des vorgeschriebenen Kreises einschlug.
Sie überzählten die Karten und fanden das seltene Glück bestätigt. »Das habe ich einmal gekonnt und werde es in meinem Leben nie wieder machen!« sagte Karl; »item, das hast du mit deinen Augen bewirkt. Es nimmt mich nur wunder, was du noch alles damit durchzusetzen gedenkst!«
»Das mußt du abwarten,« erwiderte sie und lachte jetzt auch mit dem Munde. »Geh jetzt zu den Alten,« sagte er, »und bitte sie, sie möchten mich aus dem Gabensaal abholen, damit ich ein Geleit habe, da sonst niemand bei mir ist, oder willst du mit mir marschieren?« – »Ich hätte fast Lust,« sagte sie, ging aber doch eilig davon.