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Eine Serie kleiner Bilder.
Unterm festen Eise, tief im Schlamme, lag ein Frosch und schlief.
Er träumte von einem schönen Laubfrosch-Fräulein, das er geliebt, aber das seine Liebe verschmäht hatte.
Er träumte von einer fetten Fliege, die er gar gern gefressen, aber die ihm immer davongeflogen war, und von den armseligen Mücklein, mit denen er sich hatte begnügen müssen.
Er träumte von einem Uhu, der ihn dreimal mit dem Tode bedrohte, als er sang.
Er träumte von einem jungen Menschenkinde, das zur Herbstzeit gemeinsam mit ihm ins Wasser sprang, nachdem es zu sich selbst gesagt hatte: »Ich kann nicht mehr weiterleben!« – – – – – – – – –
Er träumte von einem neuen Frühling, zu dem er auftauchen würde, er … der Frosch!
Der Arzt war in der Nacht dagewesen und noch einmal am Vormittag; aber seine Mühe war verloren, denn Fifi war gestorben.
Vergiftet, – vergiftet durch meuchlerische Hand!
Ein unbändiger Zorn faßte die Rentnerin Karoline Berber. Sie trocknete ihre Tränen und raste hinab zur Schule. Den Lehrer, den sie aus der Schulstube herausklopfte, überschüttete sie mit einem Schwall von Worten. Sie erzählte, schimpfte, drohte, heulte.
Der Fifi sei das herrlichste Hündchen der ganzen Welt gewesen und ihr, der kinderlosen, einsamen Witwe einziger Trost, ihre ganze Freude. Nun sei er vergiftet. Mit was? Mit Rattengift! Und niemand anders sei es gewesen als der Franz.
Der Franz war ein armer Junge, der einmal den Fifi, als er mit grämlicher, altväterischer Miene vor der Türe saß, einen häßlichen, fetten Mops geschimpft und ihm eines mit einer Haselgerte übergezogen hatte. Er hatte damals diese Ehrenbeleidigung und Körperverletzung in der Schule abgebüßt, aber es war erklärlich, daß sich nun der Verdacht des Mordes auf ihn lenkte.
Doch Franz wies sein Alibi nach. Darüber vermehrte sich der Zorn und der Schmerz der Frau Karoline Berber auf ungefähr das Doppelte, und sie verließ die Schule mit der sehr ernst gemeinten Drohung, nie wieder etwas zum Kinderfeste und zur Weihnachtseinbescherung beisteuern zu wollen.
Dann ging sie zum Tischler und bestellte einen Sarg. Der Tischler, ein langsamer Kopf, war über die Maßen erstaunt, für einen Hund einen Sarg machen zu sollen, aber schließlich versprach er, für 15 Mk. seine hölzerne Kunst im Interesse des toten Fifi auszuüben. Zum Unglück erschien aber des Tischlers Frau und hörte von dem spekulativ-humanen Vorhaben ihres Mannes. Die Meisterin, ein robustes Weib, hieß darauf den Tischler kurzer Hand einen alten Schafskopf und bedeutete der Frau Berber, solange sie, die Frau Meisterin, ein ehrlicher Christenmensch sei und dahier in der Werkstatt ein bescheidenes Wörtlein mitzureden habe, würde ihr Mann für einen Hund keinen Sarg machen dürfen. So was sei einfach verrückt und obendrein ganz lästerlich.
Es ist klar, daß sich Frau Berber mit einem so »ordinären Weibe« nicht weiter einlassen konnte. Sie kündigte also dem Meister für ewige Zeiten ihre Arbeit auf und schwankte nach ihrer Behausung zurück, wo sie ihren Gram und Zorn bei dem toten »Fifi« ausweinte. Die Menschen sind heimtückisch, schlecht, herzlos, gemein … alle! Am Nachmittag hielt sich Frau Berber eine Fuhre und holte einen Sarg aus der Stadt. – –
Zu der Witwe kam alle Tage die kleine Franziska, um ihr das Eßgeschirr abzuwaschen und die Stube auszufegen. Dafür bekam Franziska täglich eine Brotstulle nebst einem Töpfchen Kaffee, sowie jeden Sonntag zehn Pfennige. Die Franziska war ein bildschönes Kind mit einem regen Geiste und einem frommen Herzen. Als reicher Leute Kind wäre sie wohl wie ein Engel gehalten worden. Aber Vater und Mutter waren tot, und die Tante, bei der sie lebte, war selbst arm und hatte fünf Kinder.
Franziska war die einzige, die bei dem Begräbnis des toten Fifi außer Frau Berber zugegen war. Fifi lag in dem Sarge aus der Stadt, mit einer kleinen Steppdecke zugedeckt, als es Frau Berber endlich über sich brachte, von ihm Abschied zu nehmen.
Im Garten hatte sie ihm das Grab gegraben und die letzten schönen Herbstblumen hingestreut. Sie setzte auch den Sarg selbst in die Grube.
Dann stand sie in tiefem Schmerz versunken da.
»Nun bin ich ganz einsam, nun habe ich niemanden, niemanden, den ich liebe!«
Aber auch in die großen, schwarzen Augensterne des Kindes stiegen die Tränen herauf. Der Jammer des Verlassenseins faßte die junge Seele, eine heiße, heiße Sehnsucht nach Liebe. Und sie hatte niemanden, der sie liebte!
Da stürzte sie plötzlich zu der Frau. Sie wußte nicht, was sie tat, sie wußte nicht, daß sie Liebe suchte, ein Mutterherz suchte, sie klammerte sich nur fest an ihren Arm und schluchzte laut auf:
»O, Frau Berber, … o liebe Frau Berber!«
Die sah auf, ganz erstaunt und fast erschrocken.
»Was hast du, Franziska, was ist dir?«
Doch bald dämmerte ihr ein Verständnis nach ihrer Weise. Sehr freundlich sagte sie:
»Du bist ein gutes Kind! Gelt, es tut dir halt auch so sehr leid um unseren guten Fifi?« – – – –
Nun war der Schimmel abgeschirrt und der Wagen verkauft.
Der alte Gottfried stand vor der Siedekiste im Stalle und hielt die Mütze in der Hand. Und als ob die alte Kiste ein Altar wäre, vor dem er stünde, – so fing der Gottfried an zu beten.
Alte Leute weinen leicht vor Rührung. Auch der Gottfried weinte, als er so in seinem kleinen Stalle Lebensrechnung hielt mit seinem Herrgott und dabei fand, daß er ihm gar viel zu danken habe. Am meisten wegen des Schimmels.
Als aber der Gottfried im Gebete auf den Schimmel zu reden kam, sagte er nur noch ein paar Sätze und machte ein rasches »Amen«, denn er mußte sich umsehen, wie's dem Alten schmeckte.
Es schmeckte ihm ganz gut. Er bekam gequetschten Hafer, weil er schon schlechte Zähne hatte, und obendrein Tränke von Kleie. Die mochte er besonders gern.
Ging der Gottfried näher an den Schimmel heran. Er wollte ihn nicht stören, er wollte ihn nur einmal ganz leise auf den Hinterschenkel klopfen. Aber dem Schimmel war die zärtliche Berührung ebenso lieb wie der Hafer. Er wandte sich um und schaute seinen Herrn an mit seinen großen, trüben, treuen Augen.
Da konnte sich der Gottfried nicht halten; er eilte zwei Schritte vor, umfaßte den Hals des Pferdes mit beiden Händen und drückte seinen Kopf daran, dessen Haare noch weißer waren als die des Schimmels.
»Hons, lieber guder Hons, nu sein mer ausgesponnt! Nu honn mer Feierobend fer immer!«
Das Pferd fuhr mit dem Maule liebkosend nach Gottfrieds Schulter, und in der Stellung blieben beide eine kleine Weile. Dann ermannte sich Gottfried.
»Frieß, guder Hons, frieß! Du hust dir's verdient, du ales, treues Tier du!«
Und der Schimmel wandte sich der Krippe wieder zu, während Gottfried zur Siedekiste zurückging. Jetzt setzte er sich darauf und stützte den Kopf auf beide Hände.
Wenn ich sage, daß er an sein Leben dachte, spreche ich die Wahrheit. Alte Leute lieben die Reminiscenzen, und Gottfried hatte Grund zu Erinnerungen, mehr als ein anderer.
Das war im Frühjahr gewesen, zur Zeit des Eisgangs. Einundzwanzig Jahre war's jetzt her. Da hatte er den kleinen Melzer-Johannes aus dem Flusse gezogen und dabei sich und dem Knaben zu knapper Not das Leben gerettet.
Der Johannes war damals ein hübscher Junge von zwölf Jahren, der Stolz seines Vaters, und noch mehr der Stolz seines Großvaters, des alten Baumert. Da waren der Melzer-Bauer und der alte Baumert sehr freundlich zum Gottfried gewesen, der ihnen den Einzigen erhalten hatte. Freundlich jawohl, nach langer Zeit wieder einmal freundlich.
Das rotgelbe Licht der Stalllaterne ist stark genug, um die Wolke zu zeigen, die sich über das Gesicht des alten Mannes legt. An den Tag denkt er, da ihn der alte Baumert vom Hofe trieb, weil er, der Knecht, des Bauern Tochter liebte und sie ihn, an den anderen Tag, da sie die Frau des jungen Melzer wurde; und auch an die ferne Stunde, da sie begraben ward, als der kleine Johannes gerade sechs Tage alt war.
Und zwölf Jahre später rettete er demselben Johannes das Leben. Der alte Baumert reichte ihm die Hand.
»Na, Gottfried, sein mer halt wieder gude Leute! Wos verbei ies, ies verbei! Ich bien amol grob zu dir gewast, aber du hust's o dernoch getrieba. Dos ies nu olls lange verbei. Der Johanns – nee, nee, nee, inser Johanns!«
Und er bot dem Gottfried 100 Taler an, wozu der junge Melzer noch bemerkte:
»Du willst ja schun lange a selbständiges Fuhrwerk, Gottfried, und sporst druf. Do nient dir halt 's beste Fard aus mem Stolle, a vierjähriga Schimmel, a ies deine! Der Johannes ies mei Eenziger, und 'n Kleenigkeet wor's nich!«
Minutenlang ist's dem Gottfried damals gewesen, als solle er dem alten Baumert das Geld vor die Füße werfen und dem Melzer ins Gesicht sagen, er brauche seinen Schimmel nicht. Aber er nahm beides – das Geld und das Pferd. Später ist's ihm dann manchmal angekommen wie Scham. Aber er überwand's immer. Auch bald, als er mit dem Pferde am Zügel damals nach Hause zog. Es war schon finster, und er kam am Kirchhof vorbei.
Da blieb er eine kleine Weile halten und sagte hinüber:
»Sei ni biese, Therese! Wenn du gelabt hätt'st – do – do – hätt' ich nischt gemucht – nee, wahrhoftig nich – do – hätt' ich dir's zuliebe geton, – aber die – die sein Fremde – olle – o der Junge!«
So wurde der Gottfried ein Fuhrmann. Er holte für die Leute das Holz aus dem Walde und die Kohlen von den Gruben. Damit verdiente er eine Kleinigkeit mehr, als er und der Schimmel zum Leben brauchten. Also machte er Ersparnisse.
Jetzt spricht er wieder mit dem Schimmel.
»Nu gieht's gor nimmeh ei a Pusch, ni uff a Berg und ni uff de Lahne! Ich bien alt, und du bist alt. Mer dermacha's nimmeh! Mer sein ausgesponnt! Aber schien wor's eim Pusche, Schimmel, gelt, 's wor schien? 's ging ju meestens siehr schwer. Und wenn's glitschig wor, wor's gefährlich. Aber wos ies denn possiert? A poarmal biste lohm gewast, und dreimal hob ich a Orm und zweemol 's Been gebrocha. Wetter nischt! Und a su stille wor's immer eim Pusche, immer a su schien stille.«
Als ob auch ihn der Abschied schmerze, läßt der Schimmel den Kopf hängen. Aber das kann der Gottfried nicht sehen. Er geht hin und klopft dem Pferde auf den Hals.
»Luß gutt sein! Kimmt's Frühjohr, do gieh'n mer spozier'n. Ei a Pusch gieh'n mer. Fer wetter goar nischt! Bluß eenzig, doß mer halt eim Pusche sein! Freiste dich nich, Hons?«
Nein, der Schimmel freute sich nicht, sondern ließ den Kopf weiter hängen. Da lächelte der Gottfried pfiffig.
»Aha, du denkst om Ende, mer honn eim Winter nischt zu frassa – mir beede – wenn mir ni arbeita. Oho, Schimmel, doß de dich ni täuscht! Poß amol uf! Jitzt kimmt die Hauptsache!«
Und der Alte ging zu seiner Siedekiste, griff tief hinein in die Häcksel und zog einen großen wollenen Strumpf heraus, der mit Geld gefüllt war. Gottfried hob den Strumpf mit beiden Händen in die Höhe, schüttelte ihn, daß es klimperte, und sprach zum Schimmel, wie zu einem, dem man eine maßlose Überraschung bereiten will.
»Na, was meenste nu? Gelt, do guckste aber? Dos ies inser, Schimmel, olls, olls, olls inser! Dos ganze viele Geld do! Fein gesport honn mer und doch keene Nut gehobt. Willst's amol sahn? Nu natirlich willst's sahn, 's intressiert dich schun, du hust's ju o mit verdient.«
Und Gottfried schüttete das sämtliche Geld in sein Futtersieb, hielt es dem Schimmel hin und leuchtete mit der Laterne dazu.
»Na, do sieh! Dos ies a Heffa, gelt? Die gelba, dos sein Guldstückla. Fer a grußes krieg' ich zwee Sack vull Hober und fer a kleenes enn! Nu, du freist dich wull gor ni? Verstiehste nischt dervo? Tu ock ni asu stupide, du bist doch sunst bale a su klug wie a Mensch. Nu, wenn du weg guckst, do sack ich's halt wieder ei!«
Und Gottfried füllte das Geld wieder in den Strumpf und steckte ihn in die Häcksel. Dann kam er abermals zum Schimmel.
»Hober keef ich, und Siede und Hei und Struh und Kleia und – kumm amol mit'm Uhre a wing runder – uff a por Stückla Zucker monchmol reecht's o!« – –
Nach einer Weile fing Gottfried an vorzurechnen:
»Dreißig Mark brauchst du a Monat und ich – ich kumme mit fünfzehn Mark gutt aus. Macht mitnander fünfundvierzig Mark! Wieviel eim Strumpe ies, weeß ich ni, Schimmel, ich mag o ni zähl'n. Es tat mer leed, wenn's uff zu wing Monate langte. Wägen dir, Hons!«
Da sah ihn der Schimmel wieder an mit seinen großen, trüben, treuen Augen. Und Gottfried zog seinen Kopf näher heran und küßte ihn.
»Schlof gesund, Hons, schlof gesund!«
Dann ging er langsam zum Stalle hinaus. Am Himmel glänzten die Sterne. Dankbar schaute Gottfried hinauf.
»Jemanda hob ich gehobt eim Laba, dar wor mir treu, dar hot mit mir gearbeit', dam is mit mir gutt und biese erganga, dar wor immer bei mir und hot mir nischt zuleede geton, – dos wor der Schimmel. Nu honn mer Feierabend, nu war'n mir's gutt honn – olle beede!«
Und er wandte sich noch einmal zurück.
»Schlof gesund, Hons, schlof gesund!«
* * *
Als Gottfried am anderen Morgen in den Stall kam, war der Schimmel tot. Entsetzt, – lallend, stöhnend vor Jammer stand Gottfried. Dann taumelte er näher und befühlte das erkaltete Tier.
»Hons! Hons!«
Und er brach ohnmächtig zusammen. Das erste Wort, als er erwachte, sprach er zu der Nachbarin, die an seinem Bette stand.
»A ies bluß gesturba, … weil a mich … ni pankrot frassa wullde …«
Und nach einer Weile:
»Päselten, … sie sein orm; … eim Stolle, … ei der Siedekiste … hot's 'n Strümp mit Gelde; … wos übrig ies noch meim Begräbnisse … dos vermach' ich Ihn …«
Die arme ehrliche Frau erschrak. Und Gottfried fuhr fort:
»Nee, nee, Päselten, … Sie kriega's ju ni imsunste, … ich verlang' an gruße Gefälligkeet vo Ihn … bata Sie, Päselten, doß bale olle ward mit mir, … bata Sie!«
Ein Maikäfer und ein junger Engerling trafen sich am Waldrande. Sie waren verwandt miteinander und plauderten ein Stündchen.
»Du bist ein Staatskerl!« sagte der Engerling mit einem Blicke unverhohlener Bewunderung.
»Ja, mein Junge,« sagte der Käfer, »wer's erst so weit gebracht hat, wie ich –«
Und er flog auf einen niedrigen Eichenast und fraß ein Blatt an.
»Kannst du das auch?« fragte er von oben herab.
Nein, das könnte er nicht, mußte der Engerling eingestehen, wobei ihm das Wasser im Maule zusammenlief. Und er ärgerte sich ein bißchen über den Käfer.
»Äh,« machte der hochmütig und kam wieder herab, »übrigens ein ganz miserabeles Futter das da oben! Zu alt, weißt du, zu hart und zu ledern!«
»Aber erlaube mal, es sind doch Eichenblätter!« fiel der Engerling mit leichtem Vorwurf ein.
»Ja, das verstehst du nicht, Kleiner,« antwortete in überlegenem Tone der Käfer. »Eichenblätter sind es wohl, nur nicht der rechte Jahrgang. Fünfhundert Jahre zu alt, hähä! Da müßtest du mal mit hinüber nach der Chaussee kommen, da stehen ganz junge Eichen, ah, Junge, ich sage dir –«
Und er machte die lüstern-vergnügte Miene des Gourmands.
»Nach der Chaussee ist es drei Tagereisen,« sagte der Engerling.
»Ja, für euch Kriecher,« bemerkte der Käfer; »ich bin in fünf Minuten drüben. Brr, ihr führt doch ein fürchterliches Leben: so unbeholfen, so häßlich, so immer im Finsteren, immer im Schmutze.«
»Aber du warst auch einmal hier unten,« wagte der Engerling einzuwenden. Das Gesicht des schönen Käfers verfinsterte sich; er mochte nicht gern an seine obskure Vergangenheit erinnert werden.
»Weißt du,« sagte er, »die Hauptsache ist, daß man überhaupt einmal herauskommt aus dem Elend. Nur selten erreicht einer das Licht; die meisten frißt der schwarze Maulwurf oder ein Bauer zertritt sie. Ach, und die Freiheit ist so schön, der Glanz, der Duft, das Licht und nirgend eine Schranke und überall ein Vergnügen!«
»Habt ihr keine Feinde?«
Der Käfer machte ein bedenkliches Gesicht.
»O ja! Brummen hat eine Henne gefressen und Schnurren hat ein Junge in eine Streichholzschachtel gesperrt. Aber die Gefahr erhöht nur den Reiz. Ich hätt's hier außen im Walde ganz leidlich, aber ich fliege alle Tage einmal hinein ins Dorf. Einem jungen Mädel hab' ich mich auf den Nacken gesetzt, daß sie schrie, und dem Amtmann bin ich mitten ins Gesicht geflogen, daß er erschrak. Du siehst, ich wage mich an das Höchste.«
Der Engerling sah den Käfer ehrfürchtig an. Dem Amtmann flog er ins Gesicht! Und er selbst zitterte vor jedem Gänsemädel.
»Ach,« seufzte er, »wäre ich doch auch so weit wie du.«
Das gefiel dem Käfer.
»Hab nur Geduld, alles hat seine Zeit, laß dich nicht von anderen auffressen, bücke dich nicht unter eine Stiefelsohle! Wer das nicht tut, kommt von selbst ans Licht, wenn seine Art danach ist! Und nun adieu, Kleiner, grüß unten schön, ich muß fort, ich habe Hunger!«
Der Engerling sah ihm traurig nach. Zwei Jahre sollte es noch dauern, ehe er so weit war wie jener.
Und er kroch betrübt in die Erde.
* * *
Fünf Wochen später, als der junge Engerling einmal spazieren ging, fand er einen Meter tief in der Erde ein Häuflein kleiner, gelber Eier und einen Schritt weg davon den Maikäfer. Er war tot.
Tieferschrocken stand der junge Engerling an der Leiche des einst so gefeierten Käfers und konnte nicht begreifen, wie er da herunterkomme und warum er gestorben sei.
Ein sehr weiser Engerlingsgreis, der schon drei Jahre alt war und die Welt genau kannte, klärte den Jüngling auf und sprach:
»O, mein Sohn, es ist eine herrliche Sache, fliegen zu können; aber der es gelernt hat, muß bald darauf sterben.«
Der Schulze hatte weit und breit den stärksten »Bremmer«, soll heißen den stärksten Ochsen, und das ganze Dorf respektierte ihn … den Ochsen. Unter den umwohnenden Fleischern kursierten Gerüchte über die riesige Schwere des Tieres, die Schuljungen schwatzten über die fabelhafte Stärke des Bremmers, und unter den alten Weibern wurden schaurige Geschichten erzählt von den grauenhaften Unglücksfällen, die durch den Ochsen beinahe passiert wären.
Wieviel Wahres an den Gerüchten war, weiß ich nicht, aber das steht fest, daß der Schulze und seine Leute ihnen nicht widersprachen und daß der Bremmer prämiiert und der einzige Dekorierte im ganzen Dorfe war.
Ein paarmal ging die Kunde durchs Dorf, der Bremmer sei verkauft, aber die Nachricht wurde immer schnell dementiert. Hin und wieder hatte sich ja ein besonders mutiger Fleischer von der Schenke aus aufgemacht, um den Schulzen nach dem Preise des Tieres zu fragen, war aber immer in niedergeschlagener, zorniger Stimmung zurückgekehrt.
»Der ›Bremmer‹ ist das schönste Tier auf der Welt, aber der Schulze ist leider nicht ganz gescheit um den Kopf,« so lautete schließlich die allgemeine Meinung unter den Fleischern, der anzuschließen sich die Dorfbewohner nicht ungeneigt zeigten.
Es gab deshalb geradezu einen Aufruhr im Dorfe, als am 28. August 1898, nachmittags gegen 4¾ Uhr, ein barfüßiger Junge schier atemlos, als wenn er Feuer zu melden hätte, die Dorfstraße herabgerannt kam und mit der letzten Kraft seiner Lungen schrie:
»Er ist verkauft! Der Bremmer ist verkauft!«
Leichtgläubige und leichtentzündliche Naturen gerieten sofort in Aufregung, und die geizige Krügerin spendete dem Eilboten sogar zwei madige Äpfel über den Gartenzaun, aber die besonneneren Leute schüttelten skeptisch die Köpfe und meinten mit feinem Lächeln, man kenne das schon, woher sollte denn gerade der armselige Junge etwas so Wichtiges zuerst wissen.
Aber die Sensationsnachricht bestätigte sich. Immer mehr Leute, welche die Kunde von angeblich wohlunterrichteter Seite hatten, kamen die Dorfstraße herab, und als sich schließlich sogar des Schulzen Großmagd am Teiche einem Interviewer gegenüber bejahend ausgesprochen und als tatsächlichen Beweis zwei Taler »Schwanzgeld« vorgezeigt hatte, war die Nachricht einfach als offiziell zu betrachten und kein Zweifel mehr möglich.
Am Abend dieses denkwürdigen 28. August wurden sämtliche Männer des Dorfes nach der Schenke beurlaubt, um Einzelheiten über das aufregende Vorkommnis einzusammeln.
* * *
Wenn es einen Menschen im Dorfe gab, der an diesem Abend an etwas anderes öfter dachte als an den »Bremmer«, so war es Heinrich, des Schulzen ältester Sohn, der dereinstige Besitzer der Erbscholtisei.
Heinrich war Pessimist, wenigstens heute. Dazu kam hochgradige Nervosität. Er hatte die letzte Nacht eine geschlagene halbe Stunde im Bette gelegen, ohne zu schlafen, und zu Mittag nur fünf Klöße gegessen. Daraufhin hatte ihm die Mutter Tee gekocht, aber es hatte rein gar nichts geholfen; zwei Stullen übers Brot zur Vesper waren alles gewesen.
Der freundliche Leser hat sich als scharfsinnig erwiesen, wenn er irgend einen Liebeshandel als Ursache von Heinrichs Niedergeschlagenheit und Appetitlosigkeit bereits erraten hat.
Ja, Heinrich hatte sich mit der Anna gestern abend endgültig verfeindet. Endgültig, das stand fest, und er hatte es ihr auch gesagt! Was aus ihr wurde, war ihm ganz egal. Er würde lieber bei lebendigem Leibe verhungern, als nachgeben.
Am meisten kümmerte sich die alte Susanne um ihn. Sie hatte als Kindermädchen schon den Schulzen herumgeschleppt, dann nach knapp fünfundzwanzig Jahren den Heinrich als Kinderfrau gepflegt und hoffte sich so in ihrem Fache von Generation zu Generation weiter fortzuerben.
Die Susanne konnte – wie die meisten alten Weiber – prophezeien und prophezeite mit Vorliebe Unglücksfälle. Heute glaubte sie sich zu den schwärzesten Voraussagungen berechtigt; denn der Verkauf des besten Stück Viehes an einem Freitag und die fast ebenso wichtige Verfeindung des Erbsohnes mit seiner Braut am Tage vorher, so was konnte unmöglich glatt abgehen; das mußte ein Laie einsehen, dazu bedurfte es gar nicht der Erfahrung der Susanne.
Die asthmatische Schulzin riskierte einen lebensgefährlichen Seufzer, als die Suse so redete, und Heinrich stierte finster vor sich hin. Er aß dann etwa 2½ Liter Milchsuppe und begab sich schließlich mit hungrigem Herzen und ebensolchem Magen zur Ruhe.
* * *
Es war Tatsache: er war fortgeholt worden – der Bremmer. Die Fleischer waren erschienen, hatten ihm eine Blende über die Augen gebunden, einen Ring in seine Nase gezogen, und dann hatte das edle Tier die Schwelle des heimatlichen Stalles das letzte Mal überschritten – mit dem linken Fuße zuerst, wie die Susanne vom Küchenfenster aus konstatierte.
Der ganze Hof hatte dem Bremmer nachgeschaut, die Kinder, die eben aus der Schule kamen, hatten mit klopfendem Herzen Spalier gebildet, und alle Fenster und Zäune des Dorfes waren mit Menschen besetzt gewesen.
»So ein Ochse kommt nie wieder ins Dorf,« dachte so mancher mit Traurigkeit.
Nach einer Stunde ging der Barbier die Dorfstraße hinauf. Er war sonst ein Flausenmichel, aber heute war sein Gesicht blaß und ernst, und es zuckte und wetterleuchtete darin.
Der Susanne, die am Fenster stand und noch immer an das kommende Unglück dachte, fiel er auch gleich auf.
»Barbier, wie siehst du denn aus? Was ist geschehen?«
»Oh – oh – oh,« stammelte der Barbier – »die Anna! – die Anna ist –«
»Was ist sie, Barbier?«
»Ins Wasser gegangen ist sie!«
»Die Anna! – Ins Wasser! – Meine Anna!« Der Heinrich schrie's, der just im Obstgarten nebenan beim Birnbaum gewesen war.
Und der starke Bursche stieß einen Schrei aus und jagte wie rasend die Dorfstraße hinab.
* * *
Und er fand seine Anna – – – – – – –
Im Garten stand sie und hing Wäsche auf. – –
»Oh dieser Schwindler!«
Eine Wut faßt ihn, und in der Wut springt er über den Zaun, kriegt die Anna am Genick und küßt sie wie toll.
Dann stehen sie sich verlegen gegenüber, sie wegen des gestrigen Streites, er, weil er überhaupt nicht weiß, was er sich denken soll.
Sie ist die geistig Gewandtere und bricht das Schweigen.
»Nun ist ja euer Bremmer fort,« sagt sie.
»Ja,« sagt er.
»Ich stand am Wegrande, dicht am Graben und wollt' ihn noch einmal sehen, und gerade wie er ganz nahe war, da wollte er nicht geradeaus gehen, er kam 'rüber an den Rand gerade auf mich zu, und da sprang ich vor Schreck in den Graben.«
»Er ist nicht tief,« seufzte Heinrich schwer auf.
»Nein, das Wasser ging mir bloß an die Knie; aber er war doch sehr böse, euer Bremmer.«
»Ja,« sagte Heinrich, »sehr!«
Und er seufzte nochmals
* * *
Er war ein Dackel, und er war echt. Denn seine Beine konnten unmöglich krümmer sein, und das Blödsinnige seines Gesichtsausdruckes wäre jedenfalls auch keiner Steigerung fähig gewesen.
Aber er hieß Box.
Sein Herr hatte ihn so genannt, und der war ein alter Junggeselle und hatte folglich seine unmotivierten Schrullen. Er hatte den Box als ganz kleines Kerlchen gekauft und ihn ans Zimmer und aus dem Zimmer gewöhnt. Man weiß, das macht Mühe, aber Herr Florian war ein unverdrossener Mann.
Er hatte von Anfang an herausgefunden, daß Box in seiner Art ein Problem sei, und da Herr Florian ein Freund alles Rätselhaften und Komplizierten war, beschloß er, Boxen genauer zu studieren, und legte ein besonderes Heftchen an, auf dessen Etikette er mit deutlichen Buchstaben schrieb: »Box. Beiträge zur Hundepsychologie.«
Aus diesem wissenschaftlichen Werke gestatte ich mir einige Auszüge hier mitzuteilen.
* * *
Er frißt! Er frißt vom Morgen bis zum Abend und hat beständig Hunger. Dabei ist er so dürr wie eine Spindel. Ich wollte mich immer im Tierschutzverein anmelden, aber wenn man diesen Hund sieht, verweigert man mir die Aufnahme. O Box, wenn ich dich betrachte, geht mir's wie einem kleinen Jungen, der neugierig ist auf das geheimnisvolle Innere seines Spielzeugs. Ich möchte dich öffnen, um ein einziges Mal deinen rätselhaften Magen zu betrachten und die unergründlichen Kanäle, die von ihm ausgehen!
* * *
Er frißt nicht! Ich selbst habe es beobachtet, und die Katharine bestätigt es. Er mag kein Butterbrot und auch kein trockenes, er mag keine Semmel und keine Kartoffeln.
Er mag nicht einmal Wurstpellen!!!
O Box, Box, was ist dir widerfahren? Hast du dir den Magen verdorben oder bist du verliebt, hast du die Influenza oder –
Da kommt mir ein Gedanke. Er streikt! Jawohl, so ist es, er streikt! Er ist unzufrieden mit seinem Futter und verweigert so lange die Kauarbeit, bis seine Forderungen, die auf Höheres gerichtet sind, erfüllt werden. Daher auch seine trotzig-hochmütige Miene, sein ganzes impertinentes Wesen.
Oho, Herr Box, streiken Sie immerhin! Wir wollen sehen, wer das Einstellen des Freßgeschäfts länger aushält, ich, als Arbeitgeber, oder Sie, als Arbeitnehmer!
* * *
Nein, er hat nicht gestreikt! Er hat einfach der Katharine fast sämtliche Würste vom letzten Schlachten her aus der Speisekammer gestohlen, und die kurzsichtige Alte hat's erst heute bemerkt. Daher verzichtete er auf sein gewöhnliches vegetarisches Menu, denn er gehört zu denjenigen warmblütigen Geschöpfen, welche es vorziehen, die Wurst »ohne Brot und ohne alles« zu genießen. O Box, du tust mir leid, und ich tue mir leid, du, weil du ein schlechter Kerl ohne allen Charakter bist, und ich, weil ich auch sehr gern Leberwurst esse.
* * *
Jetzt übe ich ihn in den sieben freien Hundekünsten. Das Trivium bezieht sich auf die edle Ruhe und das Quadrivium auf die lebhafte oder graziöse Beweglichkeit. Demnach sind die sieben Künste folgende: Schönmachen, Totstellen, Schildwachestehen, Pfotegeben, Apportieren, über den Stock springen, ins Wasser gehen.
Ich glaube, Box ist sehr begabt, aber wie viele begabte Leute ist auch er sehr faul und leichtsinnig. Er schwänzt oft den Unterricht, ist unaufmerksam, unruhig, zerfahren, widersetzlich. Wenn er gar nicht parieren will, bekommt er Hiebe, und dann pariert er erst recht nicht.
* * *
Leider ist Box auf die unglückliche Idee verfallen, aus eigenem Antriebe Geographie zu studieren. Er hat also eine neue Landkarte von Deutschland, die (leider nicht zugebunden) in meiner Wohnstubenecke lehnte, umgeworfen und sie auf der Diele entrollt. Dann hat er aus der Ostsee die Insel Rügen und aus den Thüringischen Staaten das Herzogtum Gotha herausgefressen, hat einen Spaziergang von Memel nach Metz unternommen, wobei er mit seinen schmutzigen Pfoten, die kurz zuvor in einer Pfütze gesteckt haben müssen, noch den Umweg übers Mecklenburgische gemacht hat, und hat sich dann in der Rheingegend auf dem Rücken herumgewälzt. Die dunkelbraun gezeichneten Alpen hat der dumme Kerl in seiner bodenlosen Borniertheit jedenfalls für Ackererde angesehen, denn sie sind fürchterlich zerkratzt, und im böhmischen Talkessel – doch davon will ich schweigen. Ich will hier bloß noch berichten, daß er, als ich ihn antraf, mit der Ruhe des Biedermannes mitten im »zerrissenen Deutschland« lag und schlief.
* * *
Musikalisch ist der Box nicht. Ein sanftes »Notturno« läßt er ja schweigend über sich ergehen, aber sobald die Musik lebhafter wird, wird er unruhig, und sobald die ersten Wagnerschen Accorde kommen, fängt er an zu rasen. Den »Walkürenritt« begleitet er so unheimlich realistisch, daß ich ihn allemal hinauswerfen muß. Geh auf die Gasse, garstiger Gauch!
* * *
Nun ist mir das Vieh gar in die Schulstube geraten. Während der Freiviertelstunde! Zuerst hat er jedenfalls meinen Katheder erklommen, was aus der umgegossenen roten Tinte und einem fürchterlich zerzausten Stoß Hefte zu ersehen ist, dann hat er (leider für ihn vergeblich) einige Schultornister auf ihren etwaigen Inhalt nach Butterbroten durchforscht, hat aus Rache über seine ergebnislose Expedition drei Schiefertafeln zerschlagen, den Tafelschwamm dismembriert und auch dem Schulschrank einen Besuch abgestattet, wo er ein Pappkästchen zerbiß, das aber zu seiner schmerzlichen Überraschung Stahlfedern enthielt. Zuletzt hat sich Box auf die Mathematik und die Naturwissenschaften gestürzt. Er hat zunächst sechs oder sieben Kugeln der Rechenmaschine zerbissen, dann hat er vor einem Bilde des Hafen, das an der Wand hing, Aufstellung genommen und dabei ein so wüstes Gebell verführt, daß ich, nichts Gutes ahnend, nach der Schulstube eilen wollte. Doch da begegnete mir das Ungetüm schon vor der Haustüre, stolz erhobenen Hauptes, meinen Rohrstock in der Schnauze, und wanderte mit seiner Beute gravitätisch die Dorfstraße hinab.
Die Heiterkeit der lieben Schuljugend war ebenso unbeschreiblich wie meine Erstarrung. Seit dem Tage lassen meine durchtriebenen Bürschlein wie rein zufällig alle Tage die Schulstubentür ein Ritzlein offen, und ich sehe auch, wie der Box, der Haderlump, von den Kindern gefüttert wird.
Das ist der Triumph des Bösen!
* * *
Alles wollte ich dem Box verzeihen, nur das nicht, daß er lyrische Gefühle hat.
Er singt den Mond an!
»Blödsinniges Huhn,« hab' ich ihm gesagt, »was kümmert's den Mond, wenn ihn der Hund anbellt.« Aber das nützte nichts. Er muß eine platonische Liebe zum Monde haben, denn er bringt ihm jede Mondnacht sein Ständchen: Arien, Hymnen, Elegien, Schnadahüpfeln, alles im lieblichen Wechsel. Er hat ein kräftiges, umfangreiches Organ, der Box, und eine beachtenswerte Technik. Er singt ganze Läufer, verfügt über ein blendendes crescendo, bald schluchzt er, bald jubiliert er, ja ich glaube, er trillert manchmal. Wie der Mond die Sache auffaßt, weiß ich nicht; ich für meinen Teil verhalte mich ablehnend gegen die Kunstleistung.
Bei Tage schläft der Box dann stundenlang, am liebsten auf meinem Sofa. Und als ich ihm einmal handgreiflich klarmachte, daß das nicht der rechte Platz für ihn sei, fand ich ihn das nächste Mal – in meinem Bette. Er hatte meine Lektion kapiert.
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Von Zeit zu Zeit kommt der Box auf den wunderlichen Gedanken, seine Pflicht zu tun und das Haus zu bewachen. Dann legt er sich auf die Haustürschwelle und zeigt wie weiland sein berühmter Ahne Cerberus jedem die Zähne, der sich der Pforte nähert. Dabei vergißt er nicht, jeden vorüberfahrenden Wagen stürmisch zu begrüßen, den Radlern seine leidenschaftliche Anhänglichkeit zu bezeugen und ahnungslosen Gänsen, die vorüberwallen, eine sehr rasche Gangart zu suggerieren. Immer aber kehrt Box nach solchen kleinen Intermezzi auf seinen Posten zurück. Es ist wahr, er hat mir zwei unausstehliche Mütter, die wegen jeder Kleinigkeit in die Schule gelaufen kommen, schon einigemal heldenmütig vom Halse gehalten. Ich habe den schönen Erfolg nachträglich allerdings damit bezahlen müssen, daß ich jeder der beiden Damen einen neuen Kattunrock verehren mußte.
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»Ich glaube, wir werden ihn abschaffen müssen,« sagt die Katharine, »jetzt hat er schon vier Enten und sieben Hennen im Dorfe erbissen, er jagt den Hasen nach und was das schlimmste ist, er zerfrißt meine Filzschuhe.« Ich nickte melancholisch. Es ist ja möglich, daß an einem oder dem anderen Geflügelmorde, den ich habe büßen müssen, der Box unschuldig ist (auch Hunde können verleumdet werden), aber der Effekt ist für mich derselbe. Ich muß bezahlen und habe dafür jeden Sonntag mein Huhn im Topfe. Das schlimmste vom Box aber ist freilich nicht, daß er alle Filzschuhe der Katharine meuchlings um die Ecke bringt, obwohl ich den Schmerz der ehrwürdigen Matrone begreife, sondern daß er keinen Respekt vor der Obrigkeit hat. Am Dienstag ist der Schulinspektor gekommen, als Box zufällig mal wieder als Portier fungierte, und da ist das Unglück geschehen. Dem Box muß der fremde, daherkommende Mann unsympathisch und verdächtig erschienen sein, und da hat er ihm in seiner wenig liebenswürdigen Manier bedeutet, daß der Eintritt verboten sei. Der Herr Schulinspektor hat auf seinem guten Recht bestanden und der dickköpfige Box auch, und da ist es auf beiden Seiten zu Tätlichkeiten gekommen, die mit einem unbestreitbaren Siege des Köters geendet haben würden, wenn ich nicht rechtzeitig in den Kampf contra Box eingegriffen hätte. Trotzdem war der Revisor lange nicht so freundlich wie sonst. – O Box, Box, du bist ein Dachs unter den Dächsen wie eine Distel unter den Gewächsen! –
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Er ist verschwunden! Seit acht Tagen hat ihn niemand mehr gesehen. Alles Nachforschen, alles Suchen ist vergebens. Rätselhaft, wie er gelebt, scheint Box auch aus dem Leben geschieden zu sein. Oft in stiller Nacht, wenn ich nicht schlafen kann und der Mond durch mein Fenster scheint, denke ich an Box und grübele über sein Schicksal. Etwas Romantisches hat er immer gehabt. Vielleicht ist er wie ein Wilddieb gefallen auf stiller Heide, vielleicht haben ihn die Zigeuner, die durchs Dorf zogen, gefangen, und er muß sich jetzt für Geld in seinen sieben freien Hundekünsten produzieren. Wenn ich daran denke, daß ich ihn vielleicht noch einmal in einem großstädtischen Zirkus, umrauscht von dem Beifall der Menge, wiedersehe, überkommt mich die Rührung.
Er war doch ein liebes Tier, der Box.
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Nachtrag. Heute ist der Weber Heinisch zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Sieben Bauern im Dorfe hatten Klage gegen ihn erhoben, daß er ihnen die Hunde weggefangen, sie getötet und verspeist habe.
Zur Verhandlung war ich nicht.