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Der Sieg.

Die ganze Frühlingspracht war über den Schulgarten ausgegossen. Waldmeister träumte noch im schattigen Winkel, und heimlich kam seine Braut um die Ecke, ihn zu küssen – Waldmeisters Braut, die junge Rebe, schlich vom weißen, sonnigen Giebel in den stillen, dunklen Winkel zu ihrem Vertrauten. Es war alles Liebe und Leben. Kein Käferlein war einsam, kein Schmetterling allein, und wenn einer auf der Tulpe saß und einer auf der Hyazinthe, dann neigten die Blüten sich zusammen, daß die jungen Falter nicht so weit voneinander seien.

Fliedertrauben, weiße, rote und blaue, hingen schwer über die Gartengänge herab; Maiglöckchen am Zaune neigten ihre Köpfe zu letztem, verklingendem Geläut; Ehrenpreis und Vergißmeinnicht standen schwesterlich zusammen, wie es sein soll, und die junge Rose am Strauche strahlte über all diese Morgenschönheit wie die ausgehende Sonne, die uns ein unendlich höheres Maß an Glanz und Pracht für die Zukunft verspricht.

Und durch all diese zauberische Pracht schritt ein unglücklicher Mensch. Lange ging er seinen stummen, einsamen Gang. Dann blieb er stehen und schaute um sich. Da war ihm all das, was er selbst gepflanzt und gehegt hatte, fremd. Fremd der Glanz, denn er ging in schwarzen Kleidern, fremd die Liebe, denn er war verlassen, fremd die zukunftsfreudige Rosenpredigt, denn er hatte keine Hoffnung.

Ach, kein Frühling um uns her bändigt ja den Winter im Herzen!

»Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual –.«

Das fällt dem Einsamen ein. Er erschrickt und will ins Haus gehen. Ins dunkle, einsame, tote Schulhaus! Aber da faßt ihn ein Schauern, und er bleibt doch lieber hier im Sonnenlicht. Er fürchtet sich allein dort drin.

Aber er ist müde. So geht er in den stillsten, dunkelsten Winkel und sinkt auf eine Bank. Was er denkt, weiß kein Chronist, auch ich nicht. Aber ich kenne sein Schicksal, und so will ich's erzählen, das erzählen, woran er wohl sicher denken mag.

* * *

Der Lehrer Friedrich Wendel war kein Glückskind. Durch die Vorbereitungsjahre hatte er sich hindurchhungern müssen, und als er endlich am Ziele war, zehrten soviel arme Verwandte mit von seinem kleinen Einkommen, daß das Hungern von vorn anfing.

Da brach plötzlich die Sonne an seinem Lebenshimmel durch mit vollem Schein. Die bessere Stelle, die er bekam, hatte nicht soviel zu bedeuten, denn auch von dem besten Gehalt, das er erhielt, wären nicht alle Verwandten, die sich an ihn klammerten, ganz zufriedenzustellen gewesen; aber es ward ihm ein Weib, das all seiner Not und Vereinsamung ein Ende machte.

Sie brachte ihm Liebe. Die kannte er nicht. Vater und Mutter waren arme Leute, so von der Not des Lebens geplagt, so stumpf gemacht durch Staub und Hitze und Kampf des Daseins, daß sie sanfter und zarter Gefühlsäußerungen nicht fähig waren. Es gibt solche Leute. Sie sind nicht roh, sie sind nur unglücklich. Und es gibt andere, die auch keine Liebkosungen für ihre Kinder haben (die ganz kleinen etwa ausgenommen), und die nicht die Not am Brote plagt, sondern die Not am Gemüte. Die sind noch unglücklicher. In beiden Fällen aber sind die Kinder arm. Kinder brauchen Küsse, Liebkosungen, sanfte, freigebige Hände, freundliche Worte, die schelmisch sein und jammern können, liebe Augen, denn das sind die Blumen ihres Frühlings. Und von all diesen Blumen hatte Friedrich Wendels Jugend nicht eine gehabt.

Wenn über einen Glückgewöhnten ein neues Glück kommt, dann lacht er und jubelt laut, wie wenn ein alter, lieber Freund aus der Fremde heimkehrte, zu der er unbegreiflicherweise auf kurze Zeit gezogen war. Aber den Armen am Glücke erschreckt der seltene, vornehme Gast. Sein Jubel wird gedämpft durch die Scheu, und seine Freude flüchtet in den untersten Winkel des Herzens und in das letzte, stillste, heimlichste Leuchten des Auges.

So einer war Friedrich Wendel. Er blieb ein stiller Mensch auch nach seiner Verheiratung, aber er trug seine heimliche Glückseligkeit immer in sich. Es kam oft vor, daß er seiner Frau vom Garten aus zusah, wenn sie in der Küche schaffte oder sorgsam den Tisch deckte. Dann wunderte er sich oft, wie ihn das auf einmal so glücklich betroffen. Sonst waren seine Mahlzeiten karg, unregelmäßig, oft nahm er sie ein, ohne auch nur den Tisch zu decken. Jetzt war alles anders. Alles so schmackhaft, so reizend hergerichtet, so wohltuend sauber. Es war nicht bloß, daß sie ein schönes Vermögen mitgebracht hatte, das der Not ein Ende machte, nein, als die Hauptsache erschien ihm, daß sie eine so vortreffliche Hausfrau war.

In solchen Augenblicken war es ihm oft, als fasse ihn ein Schwindel, als habe ihn tausendfacher Blütenduft auf Augenblicke betäubt.

Damals war ein wunderbarer Frühling, und an den warmen Sommerabenden, die darauf kamen, saß er mit ihr auf derselben heimlichen Gartenbank. Alles, was öde und frostig in seinem Leben gewesen, war vergessen. Er war meist schweigsam, aber sie sprach immer von ihrer Liebe. – Und manchmal sprachen sie heimlich und in süßer, heiliger Scheu von dem Kinde. –

Das Kind wurde in einer bangen Winternacht geboren. – Zwei Tage darauf trieb der Totengräber den Spaten ins harte, gefrorene Erdreich zu einer tiefen Grube. – Darein legten sie mit Singen und Beten die junge Mutter. –

Wohl, Friedrich Wendel denkt jetzt daran, denkt mitten im Frühlingsgarten an den trüben Wintertag, da der Schnee fiel auf seines Weibes Sarg in weißen Flocken.

Und der Einsame streckt beide Arme aus. Fest klammern sich die Hände an die hölzerne Bank, die Füße strecken sich weit aus, das Haupt sinkt nach vorn, das Gesicht verzieht sich, und die Augen stieren.

So muß ein Mensch aussehen, der an ein Kreuz genagelt ist.

* * *

Und doch: ein gar so treuloses Weib war das Glück nicht gewesen. Es war nicht gleisnerisch und scheinheilig gekommen zu Friedrich Wendel, hatte seine Wunden geheilt, seine Stirn gekühlt und ihm tausend holde Wunder offenbart, um bald darauf hohnlachend weiterzuziehen und den Unglücklichen in doppelter Qual und Vereinsamung zurückzulassen.

Nein! Das Kind war ihm ja geblieben. Ein süßes Mädchen, das den Namen der Mutter trug. Alle die Blumen eines Kinderfrühlings: Liebe, Zärtlichkeit, Heiterkeit, unbesorgter Frohsinn, Teilnahme an den kleinsten Leiden, alle diese Blumen, die seiner eigenen Jugend gefehlt hatten, schüttete er nun in verschwenderischem Maße über seinen Liebling aus. Und die Folge war die ganz natürliche, die kleine Helene war ein freundliches, süßes, kluges Kind.

Da kam erst der Friede wieder zu ihm und dann ganz sacht – ganz sacht – auch das Glück.

Zu schildern sind solche Wonnen ja nicht. Dem fernstehenden Zuschauer werden sie immer klein und gering erscheinen, den, den's angeht aber, treffen sie mitten ins Herz.

Jetzt war der Frühling wieder voll, wenn er in den Schulgarten kam, und wenn Friedrich Wendel bei seinen Blumen stand und das freudige Kind in den Gartengängen spielte, dann meinte er manchmal, dieses holde Jauchzen müsse bis in den Himmel dringen und auch mitten im Allelujagesang der Engel dem Ohre der Einen vernehmbar sein.

* * *

So war es noch vor ganz kurzer Zeit, noch vor drei oder vier Wochen. Da war ein Apriltag, trübe und regnerisch, ein Tag, an dem die Wolken über den Himmel peitschten und nur das Feuer im Ofen die Stube heimlich machen konnte. Erst am späten Nachmittag wurde es heller.

Eben wollte Friedrich Wendel mit der kleinen Helene, die jetzt fünf Jahre alt war, doch noch ein bißchen ins Freie gehen, da bekam er Besuch.

Die Frau eines Bauern kam in die Stube herein mit allen Zeichen großer Erregung.

»Herr Lehrer, ach, unser Hans … es ist ja viel schlimmer mit ihm geworden, … er klagt so über den Kopf und den Hals –«

»Ja, Frau Glöckner, haben sie nicht nach dem Arzt geschickt?«

»Wir dachten ja, es sei bloß die Influenza, und die alte Rieseln sagt's auch, aber der Junge hat so Hitze, und er verlangt so nach Ihnen.«

»Nach mir?«

»Ja, er hängt doch so an Ihnen, wenn Sie wollten so gut sein – ich bin ja so in Angst –«

»Natürlich, Frau Glöckner, ich komme bald mit.«

Er nahm seinen Hut, küßte die kleine Helene, die ein weinerliches Gesichtlein machte, und ging mit der Frau eilig davon.

Der kleine Hans Glöckner lag in hohem Fieber. Der Lehrer erkundigte sich nach den einzelnen Krankheitserscheinungen, dann ließ er einen Löffel und ein Licht bringen und sah dem kleinen Patienten in den Hals. Da erschrak er heftig.

»Fahren Sie bald nach dem Arzt, Herr Glöckner; ich fürchte, das ist Diphtherie.«

Ein furchtbares Geschrei erhob sich. Ganz fassungslos waren die Leute, und der Lehrer sollte durchaus bis zum Eintreffen des Arztes dableiben. Die Frau klammerte sich an ihn wie eine Rasende. Aber er machte sich frei. Eine große Sorge überkam ihn.

Ich kann nicht, – ich darf nicht, Frau Glöckner, – denken Sie, wenn ich eines von den Schulkindern anstecke, – ich kann ja auch gar nichts helfen –«

»Bleiben Sie, Herr Lehrer, bleiben Sie bei uns! Verlassen Sie uns nicht!«

Er gibt alle Verhaltungsmaßregeln, die er weiß, aber dann eilt er hinaus.

Auf der Dorfstraße fällt ihm seine Helene ein. Da packt ihn plötzlich eine wahnsinnige Angst. Wenn er, – wenn das Kind – – aber nein, nein – er wird sich sofort gänzlich umkleiden, – er wird sich sorgfältig waschen, – gar so schlimm wird's ja nicht sein, – die Ärzte müssen ja doch auch zu den Kranken, – er ist gewiß viel zu ängstlich – aber vorsichtig will er sein, eher übertrieben vorsichtig, als ein Unglück stiften, das nicht auszudenken ist.

Rasch geht er die Straße hinab. Er beschließt, nicht erst in die Wohnstube zu gehen, sondern sich in einer Bodenkammer umzukleiden. Da fällt ihm ein, daß ja die Frau Glöckner schon mit seinem Kinde zusammengewesen ist. Und wieder faßt ihn eine Angst, die ihm den Schweiß auf die Stirn treibt.

So kommt er ans Schulhaus. Vorsichtig öffnet er die Haustür. Da umklammern unvermutet und blitzschnell ein Paar Kinderarme seine Kniee.

»Papa, lieber Papa, bist du wieder da!«

»Helene! Zurück! Wirst du wohl weggehen, gleich! Sofort! Ich geb' dir eine Ohrfeige, wenn du nicht gleich weggehst!«

Entsetzt starrt das Kind den Vater an. Dann fängt es fürchterlich an zu weinen.

»Ich hab' ja bloß – – ich hab' ja bloß – so – so auf dich gewartet, Papa!«

Der Vater steht schon auf der Treppe.

»Marie!«

Die Haushälterin kommt verwundert aus der Küche.

»Marie, kleiden Sie sofort Helene gänzlich um! Und baden Sie das Kind! Hören Sie? – Aber sofort! Bei Glöckner ist Diphtherie! Und die Wohnstube lüften! Ich bin sofort wieder unten!«

Er springt nach dem Boden, wäscht sich sorgfältig und kleidet sich um. Von Zeit zu Zeit lauscht er hinab. Da hört er die Marie sprechen und die kleine Helene immer noch weinen.

Dann geht er hinab. Unterwegs fällt ihm ein, er sei wohl ein rechter Angstmeier. Er hat eine gar zu übertriebene Bazillenfurcht. Herr Gott, da müßten ja alle Kranken abgesperrt werden wie bei den Orientalen die Aussätzigen!

Ja, aber es handelt sich um Helene! Er hat nur dieses eine Herz auf der ganzen Welt, das ihm das Leben lieb macht. So freut er sich, daß die Marie mit dem Baden bereits fertig ist und die Helene eben frisch anzieht. In der Wohnstube nebenan stehen sämtliche Fenster offen und auch die Tür. Die Marie ist gewissenhaft.

Die kleine Helene hat sich immer noch nicht getröstet. Das erstemal in ihrem ganzen Leben ist sie von ihrem Vater so rauh angefahren worden. Und sie hatte doch nichts Böses getan. Sie hatte sich nur gefreut, daß der Vater nach Hause kam.

Mit zärtlicher Liebe drückt Friedrich Wendel sein Kind an sich.

»Du mußt nicht mehr weinen, Helene! Ich bin ja nicht böse auf dich! Siehst du, der kleine Glöckner-Hans ist sehr krank. Ich war bei ihm, und ich will doch nicht, daß du auch krank wirst.«

Das Kind schluchzt noch ein paarmal.

»Ich will nicht krank werden, Papa, – ich will auch so artig sein!«

Fest schließt der Vater die Arme um sein liebes Mädchen. Draußen bedeckt ein fahles Abendrot den Himmel, und der Wind erhebt sich wieder. Da fängt Friedrich Wendel heftig an zu zittern.

* * *

Nach einer Woche war die kleine Helene tot. Gestorben an Diphtherie!

Keine ärztliche Kunst, kein Beten, keine Verzweiflung hatte ihr das Leben erhalten.

Den ganzen Tag hatte der Todeskampf gedauert. O dieses furchtbare Ringen um Luft, diese entsetzliche Angst! Wie sie fieberte, wie sie rang, wie sie ihre großen, schönen Augen erbarmungswürdig auf den Vater richtete und ihm die kleinen Hände flehend um Hilfe entgegenstreckte! Und nicht helfen, nicht für das Kind sterben, ihm nicht einmal ein paar Atemzüge leihen zu können! So machtlos zusehen müssen, wie das geliebteste Wesen auf der Welt in Angst und Qual verscheidet!

Was er gelitten, gebetet, gerungen, getan, – alles das weiß Friedrich Wendel nicht mehr.

Eines noch weiß er: als es Nacht war, ist er zu Helene gegangen. Sie lag schon im Sarge. Er hat mit ihr gesprochen, sie geliebkost, wie sonst, wenn sie im Bettchen schlief. Dann ist er niedergekniet und hat sich leidenschaftlich wild selbst angeklagt: »Ich, – ich, Helene, ich hab' dir den Tod gebracht, ich hab' dich erwürgt! Klage mich an dort oben; sag's deiner Mutter!«

Dann ist er müde ans Fenster getreten und hat es geöffnet. Es war die erste warme Mainacht. Lau und lind wehte die Luft um seine Stirn. Da hat ihn ein Gefühl gepackt, für das der Name Schmerz nicht mehr paßt.

»Milliarden Kubikmeilen Luft sind dort draußen. Und für mein Kind langte es nicht auf ein paar Atemzüge. Es mußte ersticken!« –

Wie der einsame Mann im Frühlingsgarten jetzt aussieht! Die Arme, die über die Lehne der Gartenbank ausgebreitet liegen, sind schlaff, der Oberkörper fällt in sich zusammen, kraftlos hängt das Haupt auf die Brust, das Gesicht ist leblos grau.

So muß ein Mensch aussehen, der sich an einem Kreuze verblutet hat.

* * *

Die Gartentür geht. Eine schwarzgekleidete Frau kommt, die führt einen Knaben. Wie die Tür geöffnet ist, verbirgt das Kind sein Gesicht in den Kleiderfalten der Mutter, und auch das Weib bleibt furchtsam stehen.

»Da ist er, Hans, da ist er! Komm, wir müssen –«

»Mutter, ich fürchte mich!«

»Sei doch still, Hans, sei doch still!«

»Mutter, er wird mich totmachen!«

Das hat der Knabe laut geschrieen. Da schnellt Friedrich Wendel empor. Er erblickt die beiden. Eine jähe Röte fliegt ihm in die Stirn, seine Fäuste ballen sich, und mit heiserer Stimme schreit er:

»Was wollt Ihr? Was wollt Ihr hier? Macht Euch hinaus! Macht Euch fort von mir!«

Aber die Frau eilt auf ihn zu und kniet vor ihm in den Sand.

»Herr Lehrer, guter Herr Lehrer –«

»Schweigen Sie! Weil ich gut war, bin ich jetzt elend! Wenn ich Sie damals bald rausgeworfen hätte, wär's millionenmal besser!«

Er hält sich an einen Baum an, das Weib fängt furchtbar an zu weinen.

»Ach, Herr Lehrer, ich wußte ja nicht, – ich wußte ja gar nicht –«

»Sie wußten nicht? Sie mußten das wissen, Sie mußten das verstehen! Das muß jedes Weib wissen, sonst ist sie eine Gans und nicht wert, daß sie Mutter ist! Aber Sie, Sie stecken sich hinter eine verrückte Quacksalberin, und dann – anstatt zum Arzt zu gehen, – laufen Sie zu anderen Leuten, die selber Kinder haben, und schleppen die Pest ins Haus. Das ist ein Verbrechen! Hören Sie, ein Verbrechen! Was ging mich denn Ihr Junge an?! Sein Lehrer war ich, aber nicht sein Arzt!«

»Herr Lehrer, erbarmen Sie sich doch, – ich find' keine Ruhe, wenn Sie mir nicht verzeihen, Tag und Nacht seh' ich Ihr totes Kind, – ich – ich – o Gott, ich komm' um den Verstand! Erbarmen Sie sich, Herr Lehrer, – verzeihen Sie mir und meinem Kinde!«

Unbeweglich, mit eisig-kaltem Gesichte steht er vor ihr. Mit ruhiger, aber schneidender Stimme sagt er:

»Gehen Sie auf den Kirchhof hinüber und bringen Sie mir meine Helene wieder. Dann will ich Ihnen verzeihen, und dann sollen Sie Ruhe haben. Sonst nicht!«

Damit wendet er sich um und geht. Das Weib ruft ihm verzweifelt nach, er hört es nicht. Da endlich rafft sie sich müde auf. Ihr Gesicht ist totenbleich.

»Komm, Hans!«

Und sie verläßt den Garten.

Friedrich Wendel schaut ihr nach. Keine Fiber zuckt in seinem Gesicht. Er hat sie verurteilt, … verstoßen. Er hat kein Erbarmen gehabt. Das war ganz recht. Mit ihm hatte auch niemand Erbarmen. Niemand! Auch Gott nicht? Deshalb hatte er auch kein Wort mehr gebetet seit Helenens Tod und ging nie wieder in eine Kirche. Nie wieder!

Die andere mochte gehen, wohin sie wollte. Ihm war alles gleich.

* * *

Die Sonntagsglocken klingen übers Feld vom Nachbardorfe herüber. Ein paar Dorfleute kommen am Schulgarten vorbei mit Gebetbüchern in den Händen. Sie grüßen, und Friedrich Wendel dankt ihnen mürrisch. Ein Vöglein flattert durch den Holunderstrauch, es trägt seinen Kleinen Futter ins Nest. Helene hat noch zugesehen, wie dieses Nest gebaut wurde.

Friedrich Wendel geht immer im Garten auf und ab. Es ist etwas Neues in ihm – ein fremdes Moment. Wenn er sich auf Sekunden setzt, er muß immer wieder aufstehen. Und wenn er an Helene denken will, kommt er zu keiner geschlossenen Gedankenreihe. Er ist unruhig.

Was denkt er immer an jenes Weib? Sie geht ihn nichts an. Er hat abgerechnet mit ihr. Und es war ganz richtig so. Sie darf nicht ruhig und glücklich sein, wo er so maßlos leidet.

Nein! Er ist ein Narr. Das blöde, gute Herz ist's, das gute Herz, das ihn zugrunde gerichtet hat! Hart muß es werden, hart wie Stahl! Das ist Rettung!

Schließlich geht er durch die hintere Tür hinaus ins Feld. Er will sich nicht so von den Kirchgängern angaffen lassen.

Die Saat ist schon hoch, und die Feldraine blühen. Er steigt eine kleine Anhöhe hinan und setzt sich oben ins Gras. Rund um ihn her stehen viele gelbe Maiblumen. Als Helene noch lebte, hat er ihr gesagt, daß die kleinen Engel im Frühling ihre Kronen auf die Erde legen. Das eben seien jene goldenen Blüten. Im Herbste holen sie die Kronen wieder ab, denn wenn auf Erden der Winter anfängt, beginnt im Himmel der Frühling.

Damals – ja damals glaubte er noch an Engel. Er hatte ja einen bei sich.

Er sitzt sehr lange so dort oben. Manchmal schaut er gleichgültig nach der Kirche des Nachbardorfes hinunter, die er sehen kann. Auch als es dort zur Wandlung läutet, rührt er sich nicht.

Und ein paarmal schaut er nach dem Glöcknerhofe hin. Da liegt, ohne daß er's weiß, in seinem Blick eine Frage. Was sie nur tun mag – die Frau?

Gegen 11 Uhr geht er heim. Im dunklen Hausflur stößt er mit dem Fuße an etwas an. Er bückt sich und hebt es auf.

Es ist ein Strick!

Erschreckt schleudert er den Strang von sich auf die Fliesen. Da liegt er vor ihm wie eine graue, geringelte Schlange.

Rasch tritt er ins Wohnzimmer. Der Tisch ist schon gedeckt. Aber Helenens Stuhl ist nicht da, Helenens Stuhl, der auch nach dem Tode des Kindes immer am Tische stehen mußte.

Er ruft nach Marie. Wie der Strick ins Haus gekommen sei? Sie kann keine genaue Auskunft geben, sie, die ordnungsliebende Marie. Wo Helenens Stuhl sei, fragt er weiter. Den habe sie waschen wollen, da sei ein Bein zerbrochen. Sie habe ihn schon zum Tischler geschafft.

So sitzt er zum erstenmal völlig allein am Tische. Er fühlt eine entsetzliche Leere neben sich. Nun erst ist sie wohl ganz fort!

Von den Speisen rührt er kaum etwas an. Nach dem Essen wirft er sich aufs Sofa. Ja, er ist ein anderer, als er heute früh noch war. Er ist so furchtbar unruhig. Und er kann nicht ordentlich an sein Weib und an Helene denken. Wenn er die Augen schließt und sich die beiden vorstellt, schauen sie ihn nicht wie sonst an in inniger Liebe, sondern mit bangen, vorwurfsvollen Augen.

Da springt er auf und schreitet im Zimmer auf und ab – stundenlang. Immer wieder denkt er an den heutigen Morgen, immer an die Frau Glöckner. Hundert Entschuldigungsgründe für sie fallen ihm ein; er versucht, sie alle abzuweisen, sie alle zunichte zu machen. Aber sie kommen immer wieder.

Gegen drei Uhr entladet sich ein furchtbares Gewitter. Er achtet kaum darauf. Was kann ihm Schlimmes passieren? Aber die Marie in der Küche hört er laut beten. Die fürchtet sich vor dem Tode. Er fürchtet sich nicht. So eine helle Blitzesbahn ist der eiligste Weg nach Hause.

Er tritt ans Fenster und sieht in das zuckende Feuer. Wenn ihn einer träfe, – einer erlöste, – einer heimführte – zu ihnen! – –

Und da plötzlich taumelt er bis in die Mitte des Zimmers. Ein Gedanke ist ihm glühend ins Herz geschlagen wie ein Blitz. Drüben auf dem Kirchhof, auf dem Leichensteine seines Weibes steht eine goldene Schrift: »Ich gehe hin, um euch eine Wohnung zu bereiten.« Damals hat er selbst diesen Spruch gewählt, hat ihn gewählt mit Bezug auf Helene und sich selbst. Und nun? Das Kind hat schon von dieser Wohnung Besitz genommen, es wohnt bei der Mutter. Ja, so muß es sein, daran ist kein Zweifel möglich: es muß eine solche goldene Wohnung geben, wo anders hin könnte sein reines, liebes Kind gekommen sein?

Aber er – er? Wenn er jetzt hinaufkäme und mit bleicher, bebender Hand an das Haus der Seinen klopfte. Würde er die Tür finden? Kann zwischen diesen in der Liebe Verklärten und seiner haß- und flucherfüllten Seele eine Gemeinschaft sein? Entsetzt streckt er die Hände aus gegen die Blitze. Dann rafft er sich auf mit plötzlichem Entschluß.

Er reißt den Mantel vom Nagel und den Hut. Marie kommt gestürzt und will ihn aufhalten. Er geht, geht eilig im tosenden Gewittersturm die Dorfstraße hinab.

Unter der Haustür im Glöcknerhofe trifft er eine Magd. Wo der Herr sei? Der sei im Stalle beim Vieh, wenn etwa ein Unglück passiere. Und die Frau? Die sei in der Stube.

Da atmet er tief auf und öffnet die Tür. Die Frau ist allein und sitzt mit stieren Augen hinter dem Tische. Wie sie ihn sieht, schreit sie entsetzt auf und verhüllt mit der Schürze ihr Gesicht.

»Fürchten Sie sich nicht, Frau Glöckner, – ich bin ja so froh, daß Sie noch leben.«

Da blickt sie ihn scheu an, – scheu und unheimlich.

»Woher wußten Sie denn, daß ich – daß ich –«

»Um Gottes willen, so wollten Sie wirklich?«

»Das Gewitter – das Gewitter – das hat mir so rasend Angst davor gemacht – sonst –«

»Frau Glöckner, Sie dürfen nicht, Sie dürfen nicht! Ich verzeihe Ihnen alles. Hören Sie mich? Hören Sie mich? Alles, alles!«

»Das – das kann doch nicht wahr sein, – heute früh, – Ihr Kind, – ich hab' keine Ruhe, – keine frohe Stunde mehr, – ich hab's auf dem Gewissen –«

Da faßt er die arbeitsharten Hände der Unglücklichen, und nun spricht er, spricht mit flammender Menschenliebe. Er müsse um Verzeihung bitten, denn er sei unsäglich roh gewesen heute. Die einzige Entschuldigung, die er habe, sei der große Schmerz, der seine Sinne umnachtet habe. Sie aber sei unschuldig. Die Mutterliebe, die unendliche Angst um das Leben des Kindes hätte sie zu ihm getrieben um Hilfe und Rettung. Er verstehe das jetzt. Er selbst würde ja ein Königsschloß erstürmt haben, wenn er dort für sein Kind Hilfe und Gesundung gehofft hätte. Und er, er hätte ja selber die Wahrheit ahnen können, ehe er mitging. Er, der klardenkende Mann, mußte sie leichter finden als die geängstigte Mutter. Und dann das letzte. Alle Vorsichtsmaßregeln habe er angewandt. Sein Kind hätte sterben können ohne Ansteckung, wie ja der kleine Hans auch ohne Ansteckung erkrankt sei. Wer wisse da den Grund?!

Das Weib hört ihm zu mit leuchtenden Augen. Immer schneller atmet sie, immer leichter. Eine furchtbare, zermalmende Last gleitet langsam von ihrer Seele. Zuletzt sinkt sie mit ihren Lippen und ihren Augen auf des Lehrers Hände herab und weint heiße, erlösende Tränen. Und da weint auch Friedrich Wendel das erstemal nach seines Kindes Tode. –

Das Gewitter vergrollt, der Bauer tritt mit seinem Knaben in die Stube. Ein paar Worte klären ihn auf. Da sagt er:

»Herr Lehrer, ich glaub's gern, daß Sie den Jungen nicht mehr sehen können. Es ist mein Einziger, aber ich werd' ihn zu meiner Schwester schicken, daß er dort in die Schule geht.«

Friedrich Wendel zieht den Knaben zu sich empor und küßt ihn auf die Stirn.

»Der bleibt hier! Dem will ich Lehrer sein! Gelt ja, mein lieber Hans.«

Das siebenjährige Büblein schaut dankbar zu ihm empor. Da ist es Friedrich Wendel, als habe ihn ein sanfter Blick getroffen aus Helenens Augen.


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