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Ansorge

Eine Geschichte aus Altenroda

Wie Ansorge mit dem Vornamen hieß, wußte in Altenroda kaum ein Mensch. Etwa bis zum vierzehnten Jahre wurde er »Ansorgerle« gerufen; vom vierzehnten bis dreißigsten Lebensjahre hieß er »der junge Ansorge«, von da an schlechtweg »Ansorge« – und über das fünfundfünfzigste Lebensjahr hinaus »Vater Ansorge«.

»Ansorge« ist ein unvollkommener Name. Man weiß nicht, ob der Mann, der ihn trägt, reich oder arm »an Sorge« ist. Ist er reich daran, dann ist er natürlich arm; ist er arm daran, so ist er gewöhnlich reich. Eine nur scheinbar verzwickte Geschichte, deren Richtigkeit jeder leicht einsehen wird. Vielleicht kann »Ansorge« auch ohne Sorge heißen, wie kluge Sprachler behaupten, aber das trifft auf unseren Mann nicht zu.

Mit diesem Ansorge war die Sache überhaupt nicht so einfach wie mit den Ansorges insgemein; er war nämlich reich an Geldmitteln und trotzdem auch reich an Sorgen. Und die Angelegenheit gestaltet sich noch seltsamer, wenn man hört, daß Ansorge persönliche Sorgen nur viermal im Leben hatte: Einmal in seinem dreiundzwanzigsten Lebensjahre eine ungetreue Liebste, einmal im siebenunddreißigsten Lebensjahre eine falsch behandelte Zahnfistel, einmal in seinem dreiundvierzigsten Lebensjahre die Kündigung seines Prokuristen und einmal im siebzigsten Lebensjahre die Sorge um die Gesundheit seines Trauergefolges.

Ansorges Sorgen galten immer anderen Menschen. Weil er sich selber nicht wichtig vorkam, hatte er auch um sich selbst keine Sorgen; aber weil ihm die Schicksale anderer am Herzen lagen, kam er sein Lebtag aus dem Kummer nicht heraus.

Als Knabe machte sich Ansorgerle Schmerzen darüber, daß Paul Distelfink keinen Springkreisel besaß, da er doch wußte, wie sehr sich der Junge ein solches Spielzeug wünschte. Da bot er freundlich dem Knaben seinen eigenen Kreisel an. Distelfink aber war ein Ruppsack, sagte, er sei kein Betteljunge, und mochte den Kreisel nicht.

Das war eine der fremden Sorgen, von denen Ansorge sehr früh erkannte, es sei gar nicht so leicht, ihnen abzuhelfen.

*

Eine schlimme Sache war das mit der verunglückten Liebe. Ansorge hatte Emma Rillek von seinem siebzehnten Jahre an geliebt und sich mit ihr in seinem zwanzigsten Jahre heimlich verlobt. Emmas Mutter, die Witwe war, durfte nichts wissen. Sie ahnte auch wirklich dann noch nichts, diese strenge Frau, als der junge Ansorge ihrer Tochter zum Geburtstag eine Wäscheaussteuer schenkte und zum Weihnachtsfest noch andere nützliche Gegenstände. Die Witwe Rillek war arm. Wie soll eine arme Frau auch gleich auf den Gedanken kommen, ein junger Mann habe mit der Tochter etwas vor, wenn er ihr einmal einige Sachen schenkt? Ansorge freute sich unbändig, daß die Frau so ahnungslos war, und schenkte Kleider, Küchengeräte, eine goldene Uhr und solche Dinge mehr. Die Mutter blieb immer gleich ahnungslos.

Am 6. Mai wollte Ansorge um Emma anhalten. Dann war er fast dreiundzwanzig und sie eben sechsundzwanzig geworden. Das rechte Alter und Verhältnis zum Heiraten.

Am 3. Mai traf sich Ansorge mit Emma im Eulenwald. Er hatte immer Angst, die strenge Mutter könne hinter diese heimlichen Stelldicheine kommen. Wie schrecklich, wenn sie ihm dann die paar Geschenke, die er Emma gemacht hatte, zurückschickte!

An diesem 3. Mai merkte Ansorge seiner Emma eine gewisse Beklemmung an. Er redete ihr liebevoll zu, sich doch keine Sorgen zu machen und ihm alles anzuvertrauen, was sie drücke. Da brachte Emma endlich heraus:

»Ansorge, du könntest mir einmal einen Gefallen tun.«

Er sagte, daß er sich gern gefällig zeigen werde.

»Aber es ist ein großer, schwerer Gefallen!«

»Das tut nichts«, sagte Ansorge und lachte sie aufmunternd an. Da schluckte sie ein paarmal, wurde rot und sagte dann stockend: »Ich möchte – daß du einwilligst – daß ich den Paul Distelfink heirate.«

Erst verstand er sie nicht.

»Wie?« sagte er. »Bitte, sage es noch einmal.«

Da ergoß sich eine Flut von Worten über ihn. Es sei ja bloß deshalb so gekommen, weil sie doch eben Nachbarskinder gewesen seien, der Distelfink und sie, beide – wie er ja wohl wisse – in der Gerbergasse aufgewachsen. Da kommt halt so was. Und dann, er solle ihr doch den Gefallen tun und einwilligen – es ging überhaupt nicht mehr anders. Er schritt ganz still neben ihr her. Eine große Sorge, ein schwerer Herzenskummer war plötzlich über sein eigenes Leben gekommen. Sie redete immer weiter, weinte, sagte, daß sie todunglücklich würde, wenn er nicht nachgebe.

Da gab er nach. Beim Abschied war er freundlich, er tröstete sie und wollte ihr sogar – wie immer – etwas Geld für »kleine Ausgaben« schenken. Aber stolz, wie ehedem der Knabe Distelfink den Kreisel, schlug sie das Geld aus.

Doch in derselben Nacht wurde der junge Ansorge sehr krank. Doktor Schicketanz betreute ihn. Schicketanz hatte in Prima gesessen, als Ansorge in der Untertertia sitzen blieb, hatte es aber nicht verschmäht, sich von dem reichlichen Taschengeld des so tief unter ihm stehenden Mitschülers damals immer das Tabaksgeld zu leihen, das er bis heutigen Tages nicht wiedergegeben hatte. Nun war Schicketanz Arzt in Altenroda, Ansorge der Besitzer der von seinen früh verstorbenen Eltern ererbten Fabrik, und nun saß Doktor Schicketanz an dem Krankenlager des Ansorge.

»Lieber Herr Ansorge«, sagte Doktor Schicketanz nach achttägiger Behandlung, »organisch sind Sie gesund. Ihr ganzes Übelbefinden – daß Sie nicht essen und schlafen können, daß Sie natürlich dadurch abmagern und schlaff werden, sich elend fühlen – beruht auf nervöser Grundlage. Zunächst müssen Sie mal erst etwas zu Kräften kommen, dann schicken wir Sie auf Reisen.«

Er ist ein guter Arzt, dachte Ansorge. Was der Grund zu den nervösen Grundlagen seines Krankseins war, erzählte er dem Doktor nicht. Das war auch nicht nötig. Ganz Altenroda wußte Bescheid.

In dieser sorgenvollen Zeit seines Lebens quälte sich der junge Ansorge besonders mit der einen Sorge: ob sie mir wohl meine Geschenke zurückschicken werden?

Die Geschenke kamen nicht zurück. Da freute sich Ansorge und sagte zu sich selber: es sind doch rücksichtsvolle Menschen. Das tun sie mir nicht an.

Auch an Distelfink dachte er nun freundlicher. Damals mit der Abweisung des Kreisels hatte ihn Distelfink gekränkt. Und nun nahm er – was ihm gewiß schwer wurde – die mancherlei Sachen, die er Emma verehrt hatte, an. Das war nett von dem Distelfink. Überhaupt – alles hätte er haben können, nur gerade die Emma hätte er ihm nicht nehmen sollen.

Über die Bitternis dieses Gedankens kam Ansorge wochenlang nicht hinweg, und Dr. Schicketanz hatte zu tun, ihn aufrecht zu erhalten. Dann ging der junge Ansorge zwei Jahre auf Reisen.

Als er gesund und kräftig zurückgekommen war, erschien eines Tages Paul Distelfink in seinem Privatkontor und sagte:

»Alter Freund, ich komme mit einer Bitte. Emma und ich haben gestern das dritte Kind bekommen. Es ist unser erster Junge. Nun wollten wir dich herzlich bitten, Pate zu sein. Es soll ja Glück bedeuten und eine Ehre sein, wenn man bei einem ersten Jungen aus einer Ehe Pate ist. Nun, Ehre und Glück hast du ja wohl nicht nötig, aber uns nähmst du halt eine Sorge ab, wenn du Pate wärst.«

Ansorge sah den Bittsteller mit seinen stillen Augen an. Er überlegte. Er überlegte lange. Dann sagte er sich: warum soll ein kleiner unschuldiger Junge keinen Paten haben? Und er sagte zu.

Zwei Tage nach der Taufe kam die Mutter Emmas, die Witwe Rillek, ins Privatkontor, flennte und sagte:

»Ach, Herr Ansorge, Sie sind gewiß der beste Mensch von der Welt. Meine Emma, meine Emma, nein, diese schreckliche Gans. Ich muß mich einmal aussprechen zu ihnen, Herr Ansorge, sonst drückt es mir noch das Herz ab. Ich denke immer, Sie könnten eine schlechte Meinung von mir haben. Aber ich war unschuldig, Herr Ansorge, ganz unschuldig. Ich habe schon, als Sie siebzehn Jahre alt waren und die Emma zwanzig, gemerkt, daß Sie wohl dem Mädel gewogen waren, und es war mein Stolz. Aber das dumme Ding, das vermaledeit dumme Ding, und der Kerl, der Distelfink, der keine drei Taler in der Tasche hat – o, Herr Ansorge, wenn Sie wüßten, wie oft ich dem Mädel zugeredet und ihr immer gesagt habe: daß du ja den Ansorge nimmst, der ein so anständiger Mensch ist und dir so noble Geschenke macht! Sie hat's nicht getan!«

Ansorge saß ganz still da. Das also war die gestrenge Mutter, vor der er sich gefürchtet hatte!

»Womit könnte ich Ihnen denn dienen, Frau Rillek?«

»Ach Gott, Herr Ansorge, sehen Sie mal, wie halt doch das Leben teuer ist, und dann die vielen Krankheiten. Die Älteste von der Emma, die Pauline, hat dreimal Zahnkrämpfe gehabt, die Zweite, die Meta, haben wir impfen lassen müssen, Distelfink war drei Wochen in Behandlung wegen eines Nackengeschwürs, und ich mußte auch ein paarmal zum Arzt wegen meines Reißens. So haben sich halt beim Dr. Schicketanz – er verteuert ja die Leute – 110 Mark angesammelt, und nun, wo wir schon wieder das dritte haben – die Hebamme, das unverschämte Weib, hat zwanzig Mark verlangt – wer soll nun die 110 Mark an Schicketanz bezahlen?«

»Die bezahle ich!« sagte Ansorge.

»Ich danke!« sagte Frau Rillek und flennte.

So war die Geschichte von Ansorges Liebe zu Ende und seine erste persönliche Sorge vorbei.

*

Die zweite persönliche Sorge hatte Ansorge im siebenunddreißigsten Lebensjahr durch ein Zahngeschwür. Er hatte einen Freund, der ein guter Zahnarzt war. Dr. Neumann hieß er. Als Ansorge aber eines Tages heftige Zahnschmerzen bekam, überlegte er tagelang, ob er zu Dr. Neumann gehen solle. Es wohnte nämlich an der nächsten Straßenecke ein Dentist, ein junger Anfänger, mit dem es nicht vorwärts ging und der Ansorge auf der Straße immer mit einem bittenden Blick ansah, aus dem deutlich zu lesen war: sei doch so gut, du reicher Mann, kriege einmal Zahnschmerzen und komme dann zu mir! Also, Dr. Neumann hatte eine große Praxis und war wohlhabend, der Dentist war ein armer Teufel. Vertrauen hatte Ansorge zu dem jungen Mann nicht, aber die Menschenliebe gebot ihm, den armen Anfänger zu unterstützen. Er ging mit seinen verschleppten Zahnschmerzen zu ihm.

Am dritten Tage, an dem der Dentist den sehr schwierig liegenden Fall Ansorges behandelte, geriet der Patient in Lebensgefahr. Es trat schwere Blutvergiftung ein. Dr. Neumann und eine eiligst aus der Hauptstadt herbeigerufene medizinische Größe hatten Mühe, das Leben Ansorges zu erhalten. Furchtbare Qualen hatte der Arme bereits ausgestanden; nun wurde ihm durch eine Operation der Kiefer zerstemmt, die Wange geschlitzt.

Wochenlang war Ansorge schwer krank. Als er genas und im Spiegel sein verunstaltetes Gesicht sah, das bisher immer so hübsch rund und so glatt rasiert war, beschloß er, sich einen Vollbart wachsen zu lassen. Er hatte sein Lebtag Vollbärte nicht ausstehen mögen, aber nun war es nötig, das Wundmal durch einen Bart zu verdecken, damit die Leute nicht immer an den Mißerfolg des Dentisten erinnert wurden und der arme Schlucker am Ende seine geringe Praxis ganz einbüßte.

Der Dentist aber war sowieso pleite. Kein Mensch suchte ihn mehr auf, denn ganz Altenroda sprach von dem schweren Unfall Ansorges. Da kam der Zahnheilkünstler eines Tages zu Ansorge und bat ihn ganz zerknirscht um Verzeihung.

»Ich bin selber halb gestorben vor Angst um Sie, Herr Ansorge. Ich habe mich zu zeitig selbständig gemacht, daran liegts. Ich hätte lieber, was die Zahnheilkunde betrifft, noch manches dazu lernen sollen.«

»Ja«, sagte Ansorge leise.

»Von Altenroda muß ich weg«, fuhr der Dentist betrübt fort. »Die Leute haben das Vertrauen zu mir verloren. In Magdeburg könnte ich eine Gehilfenstelle bekommen und vieles lernen. Aber ich habe Schulden. Wenn ich jetzt meine Instrumente verkaufe, kann ich später nicht mehr neu anfangen, denn diese Sachen werden von Tag zu Tag teurer.«

»Wieviel haben Sie denn Schulden?« fragte Ansorge nebenher.

»Tausend Mark«, sagte der Dentist und errötete.

»Und dann brauchen Sie ja wohl noch Geld für die Übersiedlung nach Magdeburg?«

Der Dentist nickte und seufzte.

»Ja, das ist schlimm«, sagte Ansorge und stand auf. Er setzte sich aufs Sofa, wo, wie immer, sein Dachshund lag, und kraulte in Gedanken dem Hunde die Kehle. Der knurrte nach dem Dentisten hinüber. Das sollte heißen: wenn du willst, beiße ich ihn hinaus!

Ansorge steckte dem Köter ein Stück Zucker ins Maul, das er für solche und ähnliche Zwecke immer in der Rocktasche hatte, trat ans Fenster und sah auf die Straße. Die Höllenqualen, die er ausgestanden hatte, fielen ihm ein, die schwere Operation, die Verunstaltung des Gesichts, der Vollbart, der spitz, lückig und unschön sproßte, schließlich auch die hohe Rechnung, die die medizinische Größe aus der Großstadt geschickt hatte. »Lieber Herr Dentist Hornriegel«, wollte er sagen, »ich trage Ihnen nichts nach. Für Magdeburg wünsche ich Ihnen viel Glück. Weiter aber kann ich nichts für Sie tun.«

Als er sich jedoch umwandte und das zerknirschte Gesicht des jungen Mannes sah, sagte sich Ansorge, es sei unrecht, in einem solchen Fall hartherzig zu sein. So sagte er etwas ganz anderes, als er sich vorgenommen hatte:

»Na, in Gottes Namen, Herr Hornriegel, da werde ich Ihnen halt 1500 Mark leihen; da wird's wohl reichen.«

Aus Hornriegels vielen, mit Tränen betauten Dankesworten blieb Ansorge nur die ständig wiederkehrende Beteuerung im Sinn:

»Sie werden sehen, Herr Ansorge, ich bin kein Unwürdiger. Ich bin strebsam; ich werde noch ein tüchtiger Dentist werden. Und Ihr Geld kriegen Sie wieder!«

Als Hornriegel mit den 1500 Mark abgezogen war, setzte sich Ansorge wieder zu seinem Dackel aufs Sofa. Das Vieh drehte ihm den Schwanz hin. Das war das schlimmste Zeichen seiner Verachtung. Nicht einmal ein Stück Zucker nahm der erzürnte Vierbeiner an.

*

Jahre vergingen. An seinem vierzigsten Geburtstag, als die Festgäste alle gegangen waren, saß Ansorge abermals bei seinem Dackel, der unterdes eine weiße Schnauze bekommen hatte.

»Dackel«, sagte er, »jetzt sind wir vierzig Jahre alt geworden. Ins Schwabenalter sind wir gekommen. Meinst du, daß wir jetzt weise werden?«

Der Hund schüttelte den Kopf, daß ihm die Ohren klatschten. Er will sagen, dachte Ansorge, ich war schon immer weise, du wirst es nie. Und in diesem Augenblick fiel ihm der Dentist ein, von dem er nie wieder etwas gehört hatte, von dem er gar nicht wußte, ob er überhaupt nach Magdeburg gezogen war.

Eine halbe Stunde der Träumerei verging. Der Hund knurrte und bellte leise im Schlaf. Vielleicht träumte ihm von dem Dentisten, den er einmal hatte hinausbeißen wollen, dieses aber damals nicht gedurft hatte. –

Am nächsten Tage bekam Ansorge einen Brief.

 

Verehrter Herr Ansorge!

Bitte um Verzeihung, daß ich mich nicht eher gemeldet habe. Mir ist es indes sehr unterschiedlich, meist recht schlecht ergangen. Aber nun habe ich es geschafft. Ich bin selbständiger Dentist in einer hannoverischen Mittelstadt, und mein Kundenkreis wächst von Woche zu Woche. Mißerfolge habe ich nicht mehr gehabt; ich habe in den Jahren viel gelernt. Seit einem Vierteljahr bin ich glücklich verheiratet. Die Neueinrichtung hat viel gekostet, sonst könnte ich Ihnen die 1500 Mark bald zurückzahlen, mit denen Sie mir aus bitterster Not geholfen haben. So muß ich Sie bitten, heute mit der ersten Ratenzahlung von 500 Mark zufrieden zu sein. Das andere und die aufgelaufenen Zinsen folgen binnen einem Jahre nach. Im Altenrodaer Stadtblatt, das ich immer noch mithalte, las ich, daß der so hochbeliebte Bürger der Stadt, Herr Ansorge, seinen vierzigsten Geburtstag feiert. Bitte nehmen Sie auch einen herzlichen Glückwunsch an von Ihrem fürs ganze Leben dankbaren

Hornriegel, Dentist.

 

Mit diesem Brief in der Hand stand Ansorge lange still da. Er sagte sich: Da war nun wieder einmal so etwas wie eine Sorge in mein Leben gekommen. Und nun ist sie zu nichts geworden; sie ist durch eine große Freude aufgewogen worden.

Dann schlug er den Dackel, der auf dem Sofa lag, auf den Buckel und sagte mit einem glücklichen Lachen:

»Ach, Dackel, was bist du doch für ein dummer Kerl!«

Der Hund brummte.

Er will sagen, dachte Ansorge, es hätte ja auch anders kommen können. Aber es blieb eine große Freude in ihm. Und seine zweite persönliche Sorge war aus.

*

Ansorge war ein tüchtiger Kaufmann. Er verstand es, mit seiner Arbeiterschaft und seiner Kundschaft ganz ausgezeichnet umzugehen, und wenn sich sein Reichtum trotz hoher Einnahmen nicht vermehrte, so lag das daran, daß die klugen Stadtväter von Altenroda Herrn Ansorge zum Armendirektor gewählt hatten. Die Stadtväter wußten genau, solange Ansorge Direktor war, brauchten sie den Armenetat nicht zu erhöhen, denn Ansorge leistete Riesenzuschüsse aus eigener Tasche. Dabei lebte er selbst äußerst bescheiden, ja, er schränkte sich ein. Als er aber einmal aus irgendeinem Anlaß eine gute Flasche Wein für drei Mark trank, drohte ihm der Stadtkämmerer mit dem Finger und sagte:

»Direktorchen, Direktorchen, leben Sie nicht über die Verhältnisse der Stadt!«

Am meisten kosteten Ansorge die Kinder, zumal zu Weihnachten. Dieses Fest plünderte seine Kasse meist vollständig aus. Vom fünfundfünfzigsten Lebensjahr an bekam der Wohltäter den Namen ›Vater Ansorge‹, den er, der nie eigene Kinder gehabt hatte, mit Stolz trug.

Der Apotheker, der manchmal gebildete Reden führte, sagte einmal im ›Goldenen Löwen‹, Ansorge sei der stärkste Altruist, der ihm begegnet sei. Alle Stammgäste nickten ihm Beifall, obwohl keiner wußte, was ein Altruist ist. Ansorge schüttelte den Kopf. Er sagte nichts, aber er dachte sich: wenn ihr nur wüßtet, was ich für ein Egoist bin. Wer etwas Gutes unterlassen hat, ist in schlechter Stimmung. Das Essen und die Zigarre schmecken ihm nicht, er ist unfroh und fühlt sich elend. Wie anders fühlt sich der Mensch nach einer guten Tat. Ganz herrlich ist das Hochgefühl, das er hat. Es ist, als ob die Seele ein Bad genommen und sich darauf an etwas ganz Gutem satt gegessen und satt getrunken hätte. Und dieses Wohlgefühl geht auf den Körper über. Wer Gutes tut, tut es in erster Linie sich selber. –

 

Ganz und gar unzufrieden mit Herrn Ansorges Wohlergehen und Wohltätigkeitssinn war der Prokurist seines Geschäftes, Herr Sperlich. Mit Ingrimm sah Sperlich, wie die Reinerträgnisse, die er, der langjährige treue Beamte, aus dem Unternehmen herauswirtschaftete, aus Ansorges allezeit offenen Händen verrannen. Man hätte die Anlage vergrößern, das Geschäft verdoppeln können, wenn eben nicht diese unselige Verschwendungssucht des Chefs gewesen wäre.

Der Ruf von Ansorges Wohltätigkeitssinn war inzwischen weit über die Grenzen von Altenroda hinausgedrungen. Von weither kamen Bittbriefe. Einmal kam ein solcher aus Hamburg. ›Dr. Meyer, Schriftsteller‹ war er unterzeichnet. Der Brief erschütterte Ansorge. Er gab das Bild einer menschlichen Lebenstragödie, herzbewegender, unverschuldeter Leiden, und endete in dem Hilferuf: ›Sie, edler Herr, sind meine letzte Hoffnung. Nächsten Freitag abend sechs Uhr schlägt meine Schicksalsstunde. Habe ich dann nicht sechshundert Mark in der Hand, so ist es aus mit mir. Es bleibt mir dann nichts übrig, als mich noch am selben Abend aufzuhängen. Einen Revolver besitze ich nicht, kann auch keinen kaufen. Meine arme unschuldige Familie muß ich dann ihrem Schicksal überlassen. Nun entscheiden Sie, was geschehen soll.‹

Dieses Schreiben zeigte Ansorge seinem Prokuristen. Sperlich pfiff leise durch die Zähne und legte den Brief auf den Schreibtisch.

»Nun?« fragte Ansorge.

Aber Sperlich war schon wieder in seine Arbeit vertieft, und Ansorge wollte ihn nicht stören. Also ging er leise hinaus. Er hatte ohnehin zu tun. Draußen vor der Stadt lebte eine Witwe, die sich durch Weißnähen ernährte. Sie hatte einen einzigen Sohn, einen hübschen intelligenten Bengel, an dem sie in abgöttischer Liebe hing. An was sollte auch das arme Weib, das nichts auf dieser Welt besaß als dieses Kind, sein Herz sonst hängen? Ansorge hatte dem Jungen eine gute Lehrlingsstelle bei einem Optiker verschafft. Was tat der Lumpazius? Bestahl seinen Chef um hundertfünfzig Mark. Da war er denn hinausgeworfen worden, und der empörte Optiker drohte außerdem mit Anzeige.

Der Fall hatte Eile. War der Anzeigebrief erst beim Gericht, so war nichts mehr zu wollen. Also hin zum Optiker! Dr. Meier in Hamburg mußte warten. Es war erst Montag, und Meiers Schicksalsstunde schlug erst Freitag abend um sechs. Hier galt es zunächst, dem Optiker die einhundertfünfzig Mark zu ersetzen, die der schreckliche Junge verlumpt hatte. Am besten wäre es natürlich, der Optiker nähme den Jungen, der bittere Reuetränen vergoß, wieder auf. Ein deutlicher Denkzettel würde dem Bürschlein genügen. War aber der Optiker harthörig, nun, so blieb Ansorge wohl nichts anderes übrig, als den jungen Fant zunächst im eigenen Betriebe zu beschäftigen und ihn im Auge zu behalten, natürlich, ohne sein ohnehin verletztes Ehrgefühl weiter zu kränken.

Gegen elf Uhr kam Ansorge nach Hause. Er war einhundertfünfzig Mark losgeworden und hatte den diebischen Jungen auf dem Halse. Etwas nervös trat er ins Büro.

»Wir wollen jetzt den Hamburger Brief erledigen«, sagte er.

»Ist schon erledigt«, brummte der Prokurist Sperlich.

»Ah, Sie haben die sechshundert Mark hingeschickt?«

»Nein, das nicht; ich habe was ganz anderes hingeschickt.«

»Was denn?«

»Einen Strick. Der Mann will sich ja doch aufhängen; da wollte ich ihm gefällig sein.«

»Herr Sperlich, Sie erlauben sich einen merkwürdigen Scherz!«

»Es ist kein Scherz, Herr Ansorge. Ich habe tatsächlich einen neuen hanfenen Strick an diesen Dr. Meier nach Hamburg geschickt. Und zwar als Eilpaket.«

»Herr – Herr Sperlich – wenn das wahr ist –«

»Es ist wahr!«

»Dann – dann sind Sie entlassen!«

»Wie sagten Herr Ansorge?«

»Wenn das wahr ist, daß Sie nach Hamburg den – den Strick gesandt haben, sind Sie entlassen.«

»Schön!« sagte der Prokurist. Er legte seine Schreibsachen pedantisch gerade, wischte die Feder sorgsam am Tintenputzer ab, stand dann langsam auf, rückte den Schreibtischstuhl zurecht, nahm seinen Hut vom Kleiderhaken, sagte: »Guten Tag, Herr Ansorge«, und ging nach Hause. Das geschah alles in so großer Gelassenheit, daß Ansorge wie in Betäubung dastand. Erst allmählich wachte er auf.

Ungeheuerliches war geschehen. Er hatte jemand gekündigt, nein, nicht gekündigt, sondern jemand Knall und Fall entlassen. Sperlich! war denn das möglich? Aber der Mann hatte ja ein Verbrechen begangen, hatte einem Verzweifelten den letzten Mut genommen, einen mit dem Tode des Ertrinkens Ringenden vollends unter Wasser getaucht. Und die Familie, die arme Familie des Dr. Meier!

Ein dringendes Telegramm wurde aufgesetzt. Tausend Mark gingen telegraphisch nach Hamburg, dazu die Bemerkung: Eilpaket bedauerlichstes Mißverständnis. Fassen Sie Mut, helfe Ihnen weiter. Ansorge.

 

Als Ansorge dieses Telegramm persönlich abgegeben und seine tausend Mark losgeworden war, fühlte er sich wohler. Gegen Sperlich hatte er großen Groll. Solche Gemütsroheit hätte er dem Manne nie und nimmer zugetraut. Sperlich war Vorsitzender des Tierschutzvereins. Wer konnte von einem solchen Manne auch nur eine Unzartheit erwarten? Und dieses Benehmen, dieses Absenden eines Strickes an einen Menschen, der in Verzweiflung war! Ein Rätsel, ein unerforschbares Rätsel! Außerdem war Sperlich ein schlechter Geschäftsmann. Mit sechshundert Mark wäre der Fall zu erledigen gewesen, nun, nach der furchtbaren Kränkung, die Doktor Meier erlitten hatte, mußte natürlich eine Art Sühnegeld gezahlt werden. Diesen Verlust von vierhundert Mark hatte er also Herrn Sperlich zu verdanken.

Eine unruhige Nacht verging. Am nächsten Morgen Punkt acht Uhr war Ansorge im Büro. Sperlichs Platz war leer. Sperlich war als der Gewissenhafteste aller Angestellten sonst schon immer um dreiviertel vor acht da. Also, da er um dreiviertelacht nicht gekommen war, kam er überhaupt nicht. Er hatte die Kündigung ernst genommen. Herrn Ansorge faßte eine leise Übelkeit an. Vierundzwanzig Jahre war Sperlich im Geschäft. Eine Perle von Ehrlichkeit und Tüchtigkeit! Dukatengold von Charakter! Nächstes Jahr sollte Sperlich sein fünfundzwanzigstes Geschäftsjubiläum feiern, und Ansorge zerbrach sich schon wochenlang den Kopf über das Festprogramm. Und nun? Kündigte ihm! Nein, warf ihn hinaus!

Ansorge war überzeugt, daß ihn ganz Altenroda als einen rohen, undankbaren Patron ansehen würde, wenn dieser Hinauswurf des allgemein geschätzten Herrn Sperlich bekannt wurde. Vielleicht würden die Arbeiter in einen Proteststreik treten. Dann – das nahm sich Ansorge vor – würde er unter jeder nur irgend annehmbaren Bedingung seine Fabrik verkaufen, seine Vaterstadt verlassen, um irgendwo auf der Welt einsam und fremd sein Leben zu beschließen.

So nervös geworden – schickte Ansorge einen Boten in Sperlichs Wohnung mit der Anfrage, ob etwa Herr Sperlich nicht wohl wäre, da er nicht im Geschäft sei.

Der Bote kam zurück und meldete:

»Herr Sperlich ist verreist.«

Das ganze Personal machte erstaunte Augen. Ansorge las aus diesem Erstaunen schweres Mißtrauen und heftige Vorwürfe gegen sich selbst. –

 

Zwei Tage später saß Ansorge entgeistert vor einem Brief.

 

Auskunftei Spürvogel, Hamburg.

Auf die von Ihrer Firma an uns gerichtete Anfrage erwidern wir ergebenst folgendes: ›Schriftsteller‹ Dr. Meier ist ein sogenanntes verbummeltes Genie. Er ist ein total verlumptes Individuum, das wegen Eigentumsvergehen und Schwindeleien aller Art schon oft mit dem Strafrichter Bekanntschaft gemacht hat. Neuerdings verlegt er sich auf die Herstellung wirksamer Bettelbriefe, die er an Personen verschickt, die als besonders wohltätig gelten. Meier erzielt durch seine Manipulationen oft größere Beträge. Er sucht in seinen Briefen immer besonderes Mitleid mit seiner bedrohten Familie zu erwecken. Meier aber hat keine Familie; er ist Junggeselle. Auch ist ein besonderer Trick Meiers, mit Selbstmord zu drohen, falls er bis zu einer gewissen Stunde die geforderte Summe nicht erhält. Es ist nicht weiter notwendig zu warnen, dem Schwindler auch nur die geringste Summe leih- oder geschenkweise zu überlassen.

 

Hab' einer tausend Mark abgeschickt und krieg' einer einen solchen Brief!

Ansorge las die Auskunft, die ja wohl Herr Sperlich von der Firma aus noch veranlaßt hatte, immer aufs neue.

So ein Lump! So ein Lump!

Dem hatte er tausend Mark geschickt!

Ansorge war kreideweiß. Er stand auf, zerriß den Brief der Auskunftei in hundert Fetzen und ging krank nach Hause.

In der Nacht bekam er Schüttelfrost. In einem fiebrigen Traum sah er Herrn Sperlich, seinen unersetzlichen Prokuristen, vor einem Hamburger Großhandelsherrn stehen, der ihm die Hand reichte und sagte: Also, Herr Sperlich, ich engagiere Sie! Wir hier in Hamburg wissen um Doktor Meier Bescheid.

*

Wie eine weiße angeschossene Taube war Ansorges Seele. Rund um seine reine Menschenliebe sah er die wilden Jäger roher Selbstsucht lauern.

Und da kam ihm ein Gottesgeschenk an Trost.

Ein kleines Mädelchen lebte in der Vorstadt, das Kind eines Eisenbahners, der in seinem Beruf zu Tode verunglückt war. Das Kind war vier Jahre alt, seine verwitwete Mutter fünfundzwanzig. Das Weib sah dem jäh dahingerafften Gatten in verzehrender Trauer nach. Ihr einziges Lebensglück war das vierjährige Mädchen. Das fiel beim Spielen in den durch ein Gewitter hochgeschwollenen Fluß. Und es wurde gerettet. Durch den einzigen fähigen Kerl, der zufällig in der Nähe war.

Und dieser einzige zu einer Lebensrettung fähige Kerl war der Sohn der Weißnäherin, der Lumpazius, der seinem Chef hundertfünfzig Mark gestohlen hatte und zur Zeit nur darum nicht weit weg in einer Besserungsanstalt war, weil ihn Ansorge davor bewahrt hatte.

Ansorge ging zu der Mutter des geretteten Kindes. Sie sagte zu ihm: »Ach, Herr Ansorge, wenn Ihr Lehrling, der junge Schmiedecke, nicht gewesen wäre, da wäre ja alles, alles dahin! Ich habe ihm meinen goldenen Fingerring angeboten, aber er hat ihn nicht gewollt.«

Ansorge ging in sein Geschäft, nahm sich den »Lumpazius« vor und führte folgende Unterhaltung mit ihm:

»Schmiedecke, du weißt, daß du einmal ein Lump gewesen bist.«

»Ja«, sagte Schmiedecke beklommen.

»Schmiedecke, ich sage dir, das mit der kleinen Trudel, das war eine Edeltat, und daß du den Ring nicht angenommen hast, war vielleicht noch mehr. Schmiedecke, ich hoffe, du wirst Karriere machen!«

Da fing der Junge so an zu weinen, daß Ansorge flink hinausging.

*

Es war abends neun Uhr. Ansorge saß an seinem Schreibtisch, hatte einen Briefbogen vor sich und grübelte.

Der Prokurist Sperlich!

Ansorge hatte sich überwunden, nochmals zu Frau Sperlich geschickt und sich nach ihrem Gatten erkundigen lassen. Er sei in einer Sommerfrische, es gehe ihm gut, ließ Frau Sperlich sagen, und sie danke für die freundliche Nachfrage.

Was tut der Chef eines Unternehmens mit einem Angestellten, der auf eigene Faust ohne Urlaub in die Sommerfrische geht, der sagen läßt, es ergehe ihm gut da und er danke für die freundliche Nachfrage? Entläßt ihn! Jawohl, aber das ging hier nicht an, denn Sperlich war schon entlassen. War bei Lichte besehen ein Mann, der von der Firma Ansorge aus tun und lassen konnte, was er wollte.

Was sollte er so einem Manne schreiben?

Ansorge saß drei Stunden vor dem leeren Briefbogen. Es war nicht der geschäftliche Verlust, der ihn bewegte. Einen neuen tüchtigen Prokuristen, der sich voraussichtlich rasch einarbeiten würde, hatte ihm ein Geschäftsfreund empfohlen. Er brauchte nur zuzugreifen. Aber er wollte den alten, treuen Menschen zurückhaben.

Um elf ging Ansorge schlafen. Um eins stand er wieder auf. Er schrieb auf den Briefbogen:

 

Lieber Herr Sperlich!

Was zwischen uns geschehen ist, geschah von mir aus im Affekt. Ich weigere mich nicht, über mein damaliges Verhalten mein Bedauern auszusprechen. In der Sache selbst hatten Sie nämlich recht. Wenn Sie die Kündigung als nicht geschehen ansehen und die alten für meine Firma wertvollen Beziehungen aufrecht erhalten wollen, so bitte ich um bezügliche Nachricht. Für den Fall Ihres Wiedereintritts in die Firma gebe ich Ihnen weiter drei Wochen Urlaub.

 

Dieser Brief ging am 3. August von Altenroda ab. Am 5. August, früh dreiviertel acht, saß der Prokurist Sperlich in seinem Büro und arbeitete, ohne vom Pult aufzusehen.

Drei Tage später sagte Ansorge zu Sperlich:

»Was meine Wohltätigkeitsbestrebungen anlangt, so mögen, Herr Sperlich, in Zukunft Sie die auswärtigen Angelegenheiten erledigen. Natürlich immer nach gerechter und wohlwollender Prüfung. Ich glaube, daß es in solchen Fällen gut ist, vorher vertrauenswürdige Erkundigungen einzuziehen.«

»Jawohl, Herr Ansorge«, sagte Sperlich, »ich werde alles gewissenhaft besorgen.«

Ein Mißtrauen aber blieb bei Ansorge doch. Der Strick – der Strick! Das war doch gar zu drastisch. Schließlich schickte Sperlich einem armen Mädel, das sich zu vergiften drohte, eine Schachtel ›Rattentod‹. Zuzumuten wäre es ihm – dem Rauhbein. Und so einer hieß Sperlich. Rabe müßte er heißen oder Uhu.

Schön aber war es, daß Sperlich wieder da war. Und seltsam war das folgende.

Sperlich kam eines Tages zu Ansorge und sagte:

»Herr Ansorge, ich habe ja wohl die Bearbeitung der Fälle für auswärtige Angelegenheiten übertragen bekommen; aber nun ist ein Fall da, wo ich doch um Ihr ganz spezielles Einverständnis bitten muß. In unserer Nachbarstadt Wilmershofen wird eine Heilanstalt für unbemittelte Lungenkranke errichtet. Die Firma ist angegangen worden, einen Betrag zu zeichnen. Wie hoch soll er sein?«

Ansorge trat ans Fenster. Das tat er immer, wenn er tief nachdenken wollte, obwohl es – so fiel ihm einmal ein – unlogisch ist, bei tiefem Nachdenken auf die Straße zu sehen.

Jetzt waren seine Gedankengänge so: ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren kriegt die Schwindsucht – Frau, zwei kleine Kinder – denkt sich: hätt' ich Rettung! Hätt' ich Rettung, daß ich bei euch bleiben könnte, ihr lieben drei! Hat keine Rettung. Dann eine junge Witwe – Mann an Schwindsucht gestorben – sie sich angesteckt – zwei Kinder – muß auch hinüber – die Kinder Waisen!

Also dreißigtausend Mark müßten es anstandshalber sein. Das letzte Jahr war schlechter als die vorigen; dreißigtausend Mark waren viel Geld für die Firma. Zudem: der ganze Umkreis, die Provinz, der Staat mußten mitwirken an dem unbedingt notwendigen Werk.

Die Hauptsache aber: Sperlich! Was würde Sperlich sagen, wenn er dreißigtausend Mark für eine Lungenheilanstalt verlangte, von ihm, der ehedem wegen sechshundert Mark einen Strick absandte?

Trotzdem: in so heiliger Liebeshilfe durfte keine Feigheit sein! Mochte schließlich selbst Herr Sperlich wieder ins Gebirge gehen. Ansorge wandte sich am Fenster um. Sein Gesicht war blaß, gefaßt, ja bestimmt.

»Herr Sperlich«, sagte er, »bei einem so dringenden Liebeswerk wird sich meine Firma mit einem ansehnlichen Betrage beteiligen. Ich werde die Zeichnung keineswegs unter – unter fünfzehntausend Mark halten.«

Sperlich saß auf seinem Stuhl, den Körper vornüber geneigt, die Hände zwischen die Knie geklemmt.

»Nun? Sind Sie mit der Summe einverstanden?«

»Nein«, sagte Herr Sperlich mit rauher Stimme.

Ansorge trat wieder ans Fenster. Was ihm die da unten reifentreibenden Kinder und der einen Prellstein beschnuppernde Hund sowie das eine Markttasche tragende Weib in seinen Fragen zu offenbaren hatten, wußte Ansorge nicht. Aber er sah immer, wenn er tief in Gedanken war, auf die Straße.

Also, mit den fünfzehntausend Mark war Sperlich nicht einverstanden. Was wollte der Knicker? Wie weit reichte eigentlich seine Menschlichkeit?

Abermals wandte sich Ansorge um. Sein Gesicht war noch um einen Schein blasser, gefaßter, bestimmter geworden.

»Herr Sperlich, wenn sich unsere Firma an dem Liebeswerk beteiligt, dann keineswegs unter zehntausend Mark.«

Sperlich erhob sich.

»Herr Ansorge, Ihrem Willen untersteht ja alles. Ich hätte mir bloß erlauben wollen, einen anderen Vorschlag zu machen.«

»Nun?«

»Ich – ich wollte – dreißigtausend Mark vorschlagen. Es wird auch manchen armen Schlucker aus unserem Betrieb geben, der drüben Zuflucht suchen muß.«

Ansorge trat abermals ans Fenster.

Der eine Junge hatte der Grünzeugmuttel den Reifen gegen den Bauch gefahren und dafür eine beträchtliche Ohrfeige in Empfang genommen.

Ansorges Gesicht erhellte sich, wie wenn die Sonne aufgeht über einer im Nebel schauernden Flur.

Das dritte Mal wandte er sich um.

»Na, Sperlich, ich hatte ja zuerst selber an dreißigtausend gedacht; ich hatte es doch nur aus Sorge vor Ihrem Widerspruch nicht aussprechen mögen.«

»Die Entscheidung liegt immer bei Ihnen, Herr Ansorge!«

Das war zwar nicht ganz tatrichtig, aber es war schön gesagt von Herrn Sperlich.

Ansorge und Sperlich waren für immer treu verbunden.

Und so war Ansorges dritte persönliche Sorge aus der Welt.

*

Es gibt viele Dichter und Philosophen, die behaupten, das rarste Pflänzlein auf der Erde sei die Dankbarkeit. Von Herrn Ansorge Leben läßt sich das nicht sagen. Er hat viele, auch ganz rührende Dankbarkeit erfahren. Seine weichen Schlapphüte hielten in der Krempe keinen Monat die Form, denn ganz Altenroda grüßte ihn. In der Schule hatte eine Lehrerin einmal gefragt, ob die Kinder ganz schlechte Menschen aufzuzählen wüßten. Da war folgende Liste herausgekommen: Kain, Judas, Herodes, Kaiser Nero, Napoleon und der Kutscher Niemitz aus Altenroda. (Niemitz hatte ein Pferd so mißhandelt, daß er auf die Anzeige Herrn Sperlichs, des Vorsitzenden des Tierschutzvereins, einen Monat Gefängnis bekam.) Und nun sollten die Kinder die besten Menschen nennen. Da sagte das eine Mädchen:

»Jesus Christus!«

»Vortrefflich!« lobte die Lehrerin, »er war zwar Gottes Sohn, aber er war doch auch ein Mensch wie wir! Der Beste von allen Menschen. Und nun nennt noch einen ganz guten Menschen.«

Da meldete sich die halbe Klasse.

»Herr Ansorge!«

Die Lehrerin war verblüfft. Aber sie war ein kluges Mädchen, und so erkannte sie: hier ist von Kindermund erst der Meister und dann ein Jünger genannt worden. Sie machte die wehmütige Erfahrung, daß die Kinder auf die Frage nach anderen, ganz guten Menschen sich mühsam den Kopf zerbrechen mußten, und hatte nichts dagegen, als ein Kind als dritten in der Reihe der ganz guten Menschen sagte: »Mein Vatel!«

Diese Schulgeschichte sprach sich herum. Ganz Altenroda freute sich – bis auf einen, dem sie außerordentlich peinlich war. Das war Herr Ansorge selbst. Niemand durfte ihm von dieser Geschichte sprechen, selbst seine besten Freunde nicht.

Der, der sich am meisten über diese – so drückte er sich aus – Abstimmung über gute und böse Geister aufregte, war Dr. Schicketanz. Im ›Löwen‹, als Ansorge am Stammtisch fehlte, äußerte sich Schicketanz also:

»Die Frage nach guten und schlechten Menschen ist im Grunde genommen Unsinn, überhaupt Kindern gegenüber, die keine Lebenserfahrung haben. Aber die Sache mit dem Ansorge, die ist doch bedeutsam. Da ist doch etwas ins Volksbewußtsein gedrungen, etwas ins Vertrauensvolle, Gläubige gewachsen. Ich habe lange den Ansorge für einen Narren gehalten; ich weiß jetzt, daß er ein Weiser ist, der viel mehr inneres, wahres Glück hat, als wir alle. Und was die Lehrerin anlangt, die die an sich unsinnigen Fragen gestellt hat, so will ich in der Stadtverordnetenversammlung beantragen, daß sie die Leitung der Mädchenschule bekommt. Meine eigenen Enkelkinder lasse ich sowieso seit jenem Tage von ihr unterrichten.«

Drei Tage später, bei einer ganz unpassenden Gelegenheit, machte Dr. Schicketanz mit Ansorge Bruderschaft. Ansorge, der in Untertertia sitzen geblieben war, als Schicketanz schon nach Oberprima kam, fühlte sich aufrichtig geehrt. Er war damals dreiundsechzig, Schicketanz achtundsechzig Jahre alt. –

Da starb in Altenroda ein betagtes Weib, das eine so einsame Seele gewesen war, daß sie keinerlei Verwandte hinterließ.

Die Hinterlassenschaft umfaßte etliches wurmstichiges Möbelzeug, alte Weiberkleider, einen geringen Bestand an Wäsche und ein Sparkassenbuch über achtzehnhundertsechsundzwanzig Mark fünfundsechzig Pfennig. Obwohl nun die Erbschaft nicht bedeutend genannt werden konnte, hatte die alte Frau ein Testament gemacht. Unter dem Kopfkissen, auf dem sie ihre müden Augen geschlossen hatte, wurde ein Zettel gefunden, darauf stand handschriftlich:

 

Von dem, was ich habe, soll ein ganz einfaches Begräbnis bezahlt werden. Was übrig bleibt, vermache ich alles Herrn Ansorge in Altenroda.

Altenroda, den 25. Mai 1910.
Anna Lüdke.

 

Es war kein Zweifel, das Testament war rechtsgültig. Ein paar alberne Spötter wollten Witze machen, aber sie verstummten bald. Alle Leute fühlten, daß hier eine dankbare Seele ihren letzten Willen kundgetan hatte. Alle Leute aber waren auch neugierig, wie sich Herr Ansorge zu der an ihn gefallenen Erbschaft verhalten werde.

Nun, das Begräbnis der Frau Anna Lüdke wurde wirklich ganz einfach gehalten, so wie sie es bestimmt hatte. Es kostete alles in allem zweihundertachtzig Mark. Einige Weiber in Altenroda rechneten nun damit, daß Ansorge den Rest der Erbschaft unter sie verteilen werde. Aber sie verrechneten sich. Ansorge ließ alles Mobiliar und alle anderen Gegenstände in sein Haus bringen, wo er ein eigenes Zimmer damit ausstattete und ein Bild der Anna Lüdke aufhängen ließ. Er saß öfters in diesem Zimmer, arbeitete auch manchmal dort. Das Sparkassengeld hob er für seine eigene Kasse ab. Er achtete die Erbschaft, er trat sie an. Der Anna Lüdke ließ er ein Denkmal setzen. Es war nach Meinung der Leute lange nicht das ›schönste‹ auf dem Friedhof von Altenroda; aber es war das wertvollste, auch bei weitem das teuerste. Ein wirklicher Künstler hatte es geschaffen.

*

Auch der reinste Tag geht zu Ende. Als Ansorge siebzig Jahre alt war, kam das Sterben an ihn heran. Das Sterben gilt ja für die Menschen alle als die letzte Not. Auch an Ansorge trat die letzte Not, die letzte Sorge heran.

Es wäre auch alles milde und in Frieden verlaufen, wenn Dr. Schicketanz nicht gewesen wäre. Der war schuld, daß Ansorge seine vierte und letzte Sorge schwer wurde. Nicht nur, daß er mit allen medizinischen Künsten und Listen Ansorge das Sterben von Woche zu Woche vereitelte, er griff auch zu absonderlichen Mitteln aller Art.

Da saß der alte Eisbart an Ansorges Krankenlager und sagte:

»Also, sterben möchtest du, Freundchen? Möchte dir wohl passen! So gar nichts mehr tun als immerfort auf dem Rücken liegen und die Augen zuhaben. Das gibt's aber nicht! Du bist siebzig, ich bin fünfundsiebzig. Du bist in Untertertia kleben geblieben, als ich nach Oberprima versetzt wurde. Nachtragen will ich dir das ja heute nicht mehr; der Fall ist schließlich verjährt, und du hast ja doch die Schule durchgemacht. Aber erst die Prima, dann die Tertia! Erst ich, dann du! Ich mache mit meinen fünfundsiebzig Jahren noch die Leute gesund, im Hause für 2,50 Mark und in der Sprechstunde für eine Mark. Und du willst einfach so losgehen? Nein! Erst wird von mir gestorben, dann von dir! Verstanden? Du bist erst fünf Jahre nach mir an der Reihe. Vordrängeln gilt nicht!«

Ansorge lächelte auf seinem Krankenlager und dachte: er ist ein guter Arzt. Dann sagte er matt:

»Ja, lieber Freund, der Herrgott hat wohl für seine Versetzungen einen anderen Modus als die Oberlehrer. Du wirst es schon nicht ändern können, daß ich das große Abitur vor dir mache.«

»Das werde ich ändern!« zürnte Schicketanz, »das gebe ich nicht zu!«

Am nächsten Tage sah Schicketanz, daß an Ansorges Schicksal kaum noch etwas zu ändern war. Und er pflanzte die vierte, die letzte Sorge in Ansorges Leben.

Es war im April und es herrschte ständig wechselndes, meist böses Wetter. Da sagte Dr. Schicketanz zu seinem Patienten:

»Guck zum Fenster hinaus! Kannst du es verantworten, bei solchem Wetter zu sterben? Was würde dann geschehen? Ganz Altenroda würde mit dir zu Grabe gehen. Du weißt, daß der letzte Teil des Weges zum Friedhof ungepflastert ist. Ich habe mir ihn gestern in deinem Interesse angesehen. Ein Sumpf – sage ich dir! Na also, was geschieht, wenn du jetzt stirbst? Ganz Altenroda geht mit zu Grabe, und halb Altenroda wird krank. Erkältet sich auf den Tod. Wieviel – glaubst du – werden allein an Lungenentzündung deines Begräbnisses wegen sterben?«

Und Ansorge fiel wirklich auf die Praktik dieses geistigen Dr. Eisenbart hinein. Er sagte sich: es ist richtig, wenn ich jetzt sterbe, ist es ein Unglück oder doch für viele ein schweres Ungemach und für manche eine Gefahr. Wenn ich auch noch letztwillig wünschte, es möge niemand mit mir zu Grabe gehen, es würde nichts nützen. Unheil gäbe es sicher.

So war Ansorges letzte persönliche Sorge die um die Gesundheit seines Leichengefolges.

Doch die Lösung kam.

Schon am nächsten Tage erschien Dr. Schicketanz nicht mehr. Er war an einem Herzschlag verschieden.

»Erst die Prima – dann die Untertertia«, murmelte Ansorge unter Tränen.

Ansorge lebte noch fünf Tage. Er beobachtete immer das Wetter. Ein Barometer wurde auf seinen Befehl an seinem Bett aufgehängt. Er sah oft nach dem schwarzen Zeiger, ob er vorrücke. Der Zeiger blieb stehen.

Endlos spritzte der Regen, hart stieß der Nordwind ans Haus.

Vier Tage nach Dr. Schicketanz' Ende fing der schwarze Zeiger an Ansorges Barometer langsam an, auf ›Schön Wetter‹ zu gehen. Ansorge sah es mit wehmütiger Befriedigung.

Bald stand der schwarze Zeiger auf ›Beständig‹.

In der Morgenstunde ging die Frühlingssonne auf. Auf der goldenen Straße ihrer Strahlen ging Ansorges Seele heim.

Seine letzte persönliche Sorge und alle anderen Sorgen seines Lebens waren vorbei.


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