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Rosa hatte geglaubt, die Rückkehr in ihre Heimatstadt würde sie ergreifen. Als sie jedoch bei einbrechender Dunkelheit durch die wohlbekannten Straßen fuhr, fühlte sie keinerlei Erregung. Alles war unverändert. Ein jedes stand auf seinem alten Platz, und Rosa schaute ruhig darauf hin, als wäre sie nie fort gewesen.
In der Herzschen Wohnung war eine dumpfe, heiße Luft eingeschlossen. Der Lehnstuhl am Tisch stand ein wenig schief, als hätte jemand ihn eben verlassen, auf dem Fensterbrett lag ein Taschentuch. Nur eins war ungewöhnlich. Im Flur und im Wohnzimmer lagen Tannennadeln über den Fußboden verstreut. Agnes hatte vergessen, sie nach der Leichenfeier fortzukehren, nun verbreiteten sie einen scharfen Duft, der Rosa mit Unbehagen erfüllte. Sie ging in ihr Zimmer hinüber. Auf dem Tisch, dem Bett, dem Rosenstock am Fenster lag Staub; der traute Raum schaute sie heute so tot und nichtssagend an und machte sie traurig; es war jedoch keine Traurigkeit, die uns weinen läßt, sondern ein mißmutiges, ödes sich in sich selbst Verkriechen. Agnes war viel gerührter. Mit feuchten Augen sah sie Rosa an und klagte: »Ach Kind, wenn ich denke, daß du wieder hier bist und daß dein Papa das nicht mehr erlebt! Wie hübsch hätten wir drei wieder beieinander gelebt. Nun ist alles aus!«
»Ach ja!« erwiderte Rosa, aber der Schmerz um ein anderes Gut war noch zu mächtig in ihr, als daß sie um die stillen Tage der Vergangenheit trauern konnte.
Denselben Abend noch schrieb Rosa an Fräulein Schank und bat sie, ihr beizustehen. Fräulein Schank antwortete, sie wolle sich nach etwas Passendem umschauen und es Rosa dann melden.
Rosa wartete geduldig mehrere Tage. Eines Abends ging sie zum Friedhof hinaus, um das Grab ihres Vaters zu besuchen. Die Stadt hatte das bunte, lustige Aussehen der Sommerabende. In der Lindenallee, die zum Friedhof führte, begegnete Rosa vielen Menschen, die langsam mit bestaubten Schuhen, die Hände voller Feldblumen, heimzogen. Auch das Ehepaar Toddels ging an Rosa vorüber. Sally trug ein helles Sommerkleid und einen rosaseidnen Hut. Sie schielte zu Rosa hinüber und drängte sich schüchtern an ihren Mann heran, als fürchtete sie sich. Dieser wußte nicht recht, was er tun sollte, und küßte flüchtig und linkisch den rosaseidnen Hut.
Auf dem Friedhof war es so still, daß man die Schritte der wenigen Besucher deutlich auf dem Kies knirschen hörte. Über dem Grabe des Ballettänzers erhob sich ein schwarzes Kreuz, und viele Astern blühten dort. Nachdenklich stand Rosa davor. Endlich kniete sie nieder und betete; sie konnte aber nicht weinen, und das mißfiel ihr. Hatte sie denn ihren Vater nicht geliebt? Wie sie jedoch so vor dem Grabhügel kniete, ergriff sie ein tiefes Mitleid ihrer selbst, sie beugte ihre Stirn in die Astern hinein und weinte bitterlich über sich selbst. –
Endlich eines Tages beschied Fräulein Schank Rosa zu sich. Rosa fand sich pünktlich ein. Fräulein Schank hatte soeben zu Mittag gegessen und eilte ihrer früheren Schülerin mit roter Nase und gerötetem Kinn entgegen.
»Guten Tag. Komm, bitte, hier herein«, sagte sie hastig und aufgeregt und führte Rosa in das Wohnzimmer.
In einer Ecke dieses Zimmers saß auf einem geräumigen Lehnsessel Fräulein Schanks Mutter, eine sehr alte, gelähmte Frau. Mit trüben gelben Augen starrte sie vor sich hin und verzog die Unterlippe, was ihrem Gesicht einen bösen, höhnischen Ausdruck verlieh.
»Rosa Herz, Mutter«, meldete Fräulein Schank. »Nimm Platz, Rosa«, fuhr sie in strengem Gouvernantenton fort, ihre gelblichen Wangen wurden jedoch ganz rot, und sie wollte die Unterredung durch eine zwecklose Geschäftigkeit noch hinausschieben. Das Erscheinen ihrer früheren Schülerin machte sie verlegen. Statt der durchtriebenen Rosa stand eine Frau vor ihr, die weder zerknirscht noch demütig aussah, sondern nur ernst und sehr schön, mit ihrer vollen Gestalt im schwarzen Kleide, mit den leuchtendroten Lippen im bleichen Gesicht und den feuchten großen Augen, die tiefer in das Leben hineingeschaut hatten als Fräulein Schank – trotz ihrer dreißig Jahre keuscher Schulweisheit.
»So – so! Du sitzt schon? Ich bin auch da«, sagte sie und setzte sich gerade auf ihrem Stuhl; dabei versuchte sie die betrübte, mißbilligende Miene anzunehmen, die sie aufzusetzen pflegte, wenn eine Schülerin »wieder nicht präpariert« war; sie gelang ihr jedoch nicht. Mit ihren spitzen roten Bäckchen sah Fräulein Schank so befangen und hilflos aus, daß Rosa sich fragte: Was hat sie nur?
»Du siehst angegriffen aus«, begann Fräulein Schank und strich sich ihr Bandeau glatt. »Nicht wahr, Mutter, die Rosa sieht angegriffen aus?«
»Ja – ja«, erwiderte die Alte, »das ist die Streber.«
»Rosa Herz, Mutter – Herz –« verbesserte Fräulein Schank, die wieder ihre scharfe Art fand.
»Gute Tochter«, entgegnete die Alte und verzog höhnisch die Unterlippe, »ich weiß ja, daß der Streber weglief. Als ob ich das nicht wüßte!«
Fräulein Schank zuckte die Achseln, sie wollte ihre Mutter lieber gar nicht beachten.
»Um auf unser Geschäft zu kommen«, wandte sie sich an Rosa, »so habe ich eine Stelle für dich. Sie ist aber weit von hier – in Moskau, und du müßtest gleich abreisen.«
»Ja – Fräulein Schank, ich danke Ihnen sehr.«
»Und der Streber schreibt gar nicht mehr?« warf die Alte ein und neigte ihr schiefes, höhnisches Gesicht auf die Schulter.
»Die Bedingungen sind gut«, fuhr Fräulein Schank fort. »500 Rubel Gehalt und das Reisegeld. Zwei Kinder sind da. Ein vornehmes, reiches Haus. Ich glaube, es dürfte dir konvenieren?«
»Gewiß! Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Wird denn der Kerl bis nach Rußland gelaufen sein?« rief die alte Schank dazwischen.
»Ich hoffe«, schloß Fräulein Schank mit klagender Stimme, »du wirst dich dort einleben.« Tränen traten ihr in die Augen, und sie umarmte Rosa. »Gott behüte dich! Ich habe getan, was ich konnte.«
Als Rosa der alten Schank die Hand küssen wollte, hielt diese sie fest. »Adieu, liebe Streber, machen Sie sich nichts daraus, daß er Ihnen durchgegangen ist. Die Rosalie ließ auch so einer sitzen. Wir warten auf den Kerl heute noch. Wie heißt er doch – Rosalie? – Deiner? Du mußt das wissen.«
»Mutter!« fuhr Fräulein Schank gereizt auf, »Rosa Herz ist's – Rosa Herz.«
»Ach Gute! Ich weiß wohl, was ich sage. Ich kenne eure schmutzigen Geschichten ganz genau, nur der Name ist mir entfallen. Du hast aber deine Heimlichkeiten; das kenn ich schon!«
Somit war es entschieden, Rosa reiste ab. Weinend packte Agnes die Koffer. Um den Zug zu erreichen, mußte Rosa um neun Uhr abends die Stadt verlassen. Der Postwagen hielt vor der Türe, und der Hausknecht band die Koffer auf. Agnes nahm Rosa noch einmal in die Arme und flüsterte ihr gute Lehren ins Ohr: »– und dann, Kind, nimm dich in acht. Die Russen sind gottlose Leute, und du weißt, wie hübsch du bist. Warte, bis einer dich recht lieb hat und bis du ihn auch liebhaben kannst, dann heirate ihn. Aber warte; glaube mir, Kind, das ist besser.«
»Ja, Agnes, das ist besser.«
Der Gedanke, sie könnte noch einmal jemand recht liebhaben, machte dieses liebesdurstige Frauenherz für einen Augenblick ganz warm, und Rosa lächelte.
Als sie aber im Wagen saß und durch die Stadt fuhr, weinte sie doch. Sie beugte sich vor, um noch einen Blick auf das Stück Leben zu werfen, mit dem sie nun vollends abschloß.
Über dem Rathaus hing der Mond. Der Marktplatz war so hell beschienen, daß man die Pflastersteine hätte zählen können. An den Häusern entlang trippelte eine zierliche Gestalt mit einem breitrandigen gelben Strohhut. Sie machte einige Schritte und schaute sich um, ging weiter und schaute sich wieder um. War das nicht Marianne Schulz? Ja! Und ihr auf dem Fuß folgte breitschultrig und behäbig Herweg Kollhardt.