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Amalie Remder war bisher eine begeisterte Anhängerin der socialdemokratischen Lehren gewesen. So meinte sie wenigstens. Wenn sie, ihre Musik am Arm, von Haus zu Haus ging, um Clavier-Unterricht zu ertheilen; wenn sie zu Hause ihre karge Wirthschaft besorgte; das spärliche Geld zusammenscharrte, um die Gläubiger ihres Vaters zu befriedigen, dann dachte sie gern an die große Rolle, welche sie im socialen Staate zu spielen berufen sein würde. Die Lehre von der Gleichberechtigung der Geschlechter hatte sie zuerst der Partei nahe gebracht. Als sie dann mit der Redaktion der »Zukunft« zu verkehren begann, selbst Artikel schrieb und Versammlungen besuchte, da fühlte sie, wie sie ihr mühevolles Leben leichter und getroster zu tragen im Stande war. Das ernste und bittere Mädchen konnte jetzt sogar heiter und glücklich sein. Was die Hingabe an eine große Idee nicht alles für Wunder wirkt, sagte sie sich.
Seit jenem nächtlichen Gespräch mit Klumpf jedoch hatte die Idee viel von ihrer Macht eingebüßt. Keine Zukunftshoffnung half ihr jetzt darüber hinweg, daß sie viele Stunden des Tages neben talentlosen oder mißmuthigen Schülerinnen sitzen und mit der Hand auf dem Knie den Takt zu einer Mozart'schen Sonate schlagen mußte – oder – daß sie die Wäscherin bitten sollte, noch auf das Geld zu warten. Sie hätte vor Ekel und Widerwillen weinen mögen. Was half ihr jetzt die große Sache – oder der Zukunftsstaat? Sie dachte nicht mehr an sie, sie dachte nur an Einen – an Klumpf. In ihm hatten sich ihre Zukunftshoffnungen, ihre Ueberzeugung und ihr Glaube verkörpert. Nun sie ihn verloren, waren Hoffnung und Ueberzeugung hin. Seit jener Nacht war aus Lassalle's ein wenig hochmüthig und zukunftssicherer Jüngerin wieder eine gedrückte, verbitterte Clavierlehrerin geworden.
Als das Unglück über ihre Freunde von der »Zukunft« hereinbrach, Alle von ihnen abfielen und das große Werk, an dem sie gearbeitet, ein klägliches Ende zu nehmen drohte, da war es Amaliens erster Gedanke: – jetzt – unglücklich, enttäuscht und verlassen, würde Klumpf vielleicht zu ihr zurückkehren. Sollte sie zu ihm gehen und ihn trösten? Doch – wie in all' solchen armen, einsamen Mädchen, die ihr lebelang haben abseits stehen müssen, hatte sich auch in Amalie ein starrer, überreizter Stolz herausgebildet. Zu Klumpf konnte sie nicht gehen. Aber sie mußte etwas für ihn thun, mußte ihm zeigen, welches Herz er verschmäht hatte. Sie wollte sich – ihr Leben für ihn opfern, oder – was ihr viel schwerer dünkte, für ihn in die Panigelgasse gehen. Dieser Entschluß gab wenigstens ihrem trostlosen Leben einen schmerzlichen Schwung.
So stieg sie denn, mit dem gehobenen Gefühl, etwas Unerhörtes zu beginnen, die Stiege zum ersten Halbstock des Hauses Nr. 10 der Panigelgasse hinan und schellte an der hübschpolirten Thüre der Frau Rosenthal – »Logenschließerin«.
Frau Rosenthal öffnete; eine kleine Frau mit spitzem, welkem Gesicht, eine schwarze Haube mit rothen Bändern auf dem kleinen Kopf.
»Ist Fräulein Marie Hempel zu Hause?« fragte Amalie mit rauher Stimme.
»Ja,« meinte die Frau und ihr Köpfchen zur Seite neigend, blinzelte sie den Besuch mißtrauisch an. »Z'hause ist die Fräulein schon; aber – wen kann ich melden?«
»Nicht nöthig,« meinte Amalie, ging an der kleinen Frau entschieden und hochmüthig vorüber, klopfte flüchtig an die zunächstliegende Thüre und trat ein, ohne ein »Herein« abzuwarten.
Mietzi's blonde Gestalt lag in einem rothen Lehnsessel vor dem Kamin. Angethan mit ihrem rothen Unterrock, die Füße in blauen Seidenstrümpfen – schlief sie.
Bei Amaliens Eintreten fuhr sie auf und schaute sich erstaunt, wie ein erwachendes Kind, um. Sie verstand nicht, wie diese große, bleiche Dame mit dem Herrenhut hierher kam. Doch dann erkannte sie sie. Das war ja die Clavierlehrerin vom dritten Stock. Was wollte die denn hier?
Amalie lehnte ihre Musikmappe gegen die Wand, schlug ihren Schleier zurück und versuchte zu lächeln, ihr schiefes, böses Lächeln. »Guten Tag, Fräulein,« sagte sie mit einer Stimme, die vor Aufregung tiefer wurde. »Entschuldigen Sie, daß ich – so ohne weiteres – bei Ihnen eingedrungen bin. Sie kennen mich vielleicht schon; wir waren Hausgenossen. Amalie Remder. Ich habe Ihnen eine wichtige Mittheilung zu machen – – – daher.«
»O ja, freilich,« entgegnete Mietzi leise. Sie erröthete und deutliche Zeichen von Furcht zeigten sich auf ihrem Gesicht.
»Dann erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen setze,« fuhr Amalie fort. Sie setzte sich, holte tief Athem, zog die Augenbrauen zusammen, daß sie wie ein gerader, schwarzer Strich über den Augen standen. Jetzt, da sie sprechen sollte, fiel es ihr schwerer, als sie es geglaubt hatte.
»Es ist ein befremdlicher Auftrag,« begann sie mühsam, »dessen ich mich hier entledigen soll. Aber vielleicht erscheint er Ihnen nicht so seltsam. Sie kennen, mein Fräulein, ohne Zweifel den Dr. Klumpf von der Redaktion auf unserer Stiege?« Sie hielt inne und blickte Mietzi gespannt und böse an.
Ueber Mietzi's Züge aber glitt ein lustiges Zucken. Sie nickte eifrig. »Freilich! Den schönen Herrn Doctor mit dem schwarzen Bart. Er brachte dem Vater zuweilen etwas zum Abschreiben.«
»Derselbe,« unterbrach Amalie sie streng. »Nun, dann werden Sie es wohl auch schon wissen, daß er sich für Sie interessirt.«
»Wie – dieser Herr Doctor?«
– »Ja – wohl – er.«
»Aber ich kenne ihn gar nicht. Er hat nie mit mir gesprochen.« Mietzi's Verlegenheit war fort. Sie kicherte. »Hat er's Ihnen gesagt?« Sie beugte sich zu Amalie hinüber, um in dem heimlichen Ton sprechen zu können, den Mädchen anschlagen, wenn es sich um »Herren« handelt.
Amalie blieb ernst und steif. »Er kennt Sie, wie gesagt. Ich bitte mich einen Augenblick ruhig anzuhören, mein Fräulein. Ich bemerkte bereits, daß mein Auftrag vielleicht – ungewöhnlich scheinen könnte. Wenn Sie mir erlauben, mich klar auszusprechen, kommen wir am Schnellsten zum Schluß.«
Da wurde Mietzi auch ernst. Ja – sie fühlte sich von den hochmüthigen Manieren dieser Dame verletzt. Die Arme über der Brust kreuzend, lehnte sie sich in den Sessel zurück.
»Er hat es mir allerdings gesagt,« fuhr Amalie fort, »er liebt Sie.« Sie bemühte sich, dieses möglichst ruhig und rund heraus zu sagen.
Mietzi zog bei dieser Mittheilung nur ein wenig die Augenbrauen empor.
»Die letzten Ereignisse haben ihn für Sie besorgt gemacht. Er sehnt sich danach, Sie beschützen zu dürfen. Kurz, er bietet Ihnen seine Hand an.«
»Seine Hand? So will er mich also heirathen?« Mietzi konnte sich nicht enthalten, wieder kindischlustig zu kichern.
»Ich weiß nicht, liebes Kind,« versetzte Amalie, »ob Sie es fühlen, es ganz verstehen, was es heißt, von einem solchen Manne, von diesem Manne geliebt zu werden?« –
»Ich kenn' ihn gar nicht,« wiederholte Mietzi.
»Wenn Sie ihn auch nur zuweilen gesehen haben, müssen Sie die Ueberzeugung gewonnen haben, daß Sie Ihr Loos in keine bessere Hand legen können.«
»Ich hab' aber kein Wort mit ihm gesprochen.«
»Und Sie werden zugeben, liebes Kind, daß dieses Loos in diesem Augenblick – ein – ein sehr gefährdetes ist, und daß es ein un... unbegreifliches Glück ist für ein junges Mädchen in Ihrer Lage, wenn ein geachteter, großer Mann mit seinem glänzenden Namen Alles – Fehlerhafte zu bedecken bereit ist.«
Die Worte waren nicht mehr so kühl gesprochen; eine gewisse Bitterkeit erregte sie. Amalie erhob sich und begann mit großen Schritten auf- und abzugehen.
Mietzi schwieg. Sie drückte sich fester in ihren Sessel hinein und schaute weinerlich die dunkle Gestalt mit dem strengen, bleichen Gesichte an. Sie fürchtete sich. Sollte sie Frau Rosenthal rufen?
»Nun?« fragte Amalie endlich und blieb stehen.
»Was denn?« fragte Mietzi und sah scheu auf.
»Welchen Bescheid geben Sie?«
– »Aber ich kenn' ihn ja nicht.«
Amalien's Lippen verzogen sich ein wenig. »Ich wundere mich, daß Sie die Antwort so schwer finden. Ich setze voraus, daß ein Mädchen in Ihrer Lage unbedenklich die günstige Gelegenheit ergreifen würde – um« – – Amalie besann sich einen Augenblick – »um wieder in die Reihe der regelrechten Existenz zu treten. Das ist für Sie ja natürlich das einzig bestimmende Motiv.«
Mietzi verstand das nicht ganz, doch es klang ihr hart und verächtlich, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. »Ich weiß nicht Fräulein, was Sie von mir wollen. Ich kann doch nicht jeden Herrn, der mir auf der Stiege begegnet, gleich heirathen. Mag er kommen, – oder – ich weiß nicht. Aber so...«
Amalie lachte ein bitteres Lachen. Ein rother Schimmer färbte ihre Wangen. »Sie fassen die Lage wohl nicht recht, mein Fräulein.« Sie stieß die Worte so wunderlich gepreßt hervor, daß Mietzi dachte: »Soll ich davon laufen? Sie thut mir was.« – »Nicht recht« – wiederholte Amalie. »Wenn ein Mann das Unglück hat, ein Mädchen lieben zu müssen, welches sich in Ihrer Lage befindet, so ist dieses für das Mädchen ein unverdientes Glück. Aber um dieses Mädchen erst zu werben, dazu darf er sich nicht verstehen. Diese Mädchen haben das Recht, – unser Recht – daß ein Mann um sie wirbt, verscherzt. Solche werden genommen oder nicht genommen.« Amalie sprach nun geläufig, sprudelte heftig all' ihre Verachtung und ihren Groll hervor. – »Oder sind Sie nicht mehr im Stande, zu verstehen und zu fühlen, was der Mann thut, der mit seinem reinen, ehrlichen und großen Namen Sie bedecken will.«
Das war zu viel. Wie Peitschenhiebe trafen diese Worte Mietzi; sie zitterte und weinte vor Zorn und Furcht. »Nein – nein!« sagte sie. »Ich mag ihn nicht – Ihren Doctor. Geh'n Sie, bitte, sonst ruf' ich Frau Rosenthal.«
Amalie jedoch war noch nicht zu Ende. »Ja – solche flache Herzen verstehen nicht einmal, wie tief der Mann zu ihnen herabsteigen muß, der das Unglück hat, sie zu lieben, sie begreifen die eigne Schande nicht mehr.«
Mietzi lief nach der Thüre, griff nach der Klinke, das Gesicht von Thränen überströmt. »Geh'n Sie, bitte. Wenn ich ein flaches Herz haben will, wenn ich Ihren Doctor nicht mag, wer kann mich zwingen. Heirathen Sie ihn doch selbst – – ich mag ihn nicht.« Und die Thüre öffnend, rief sie: »Frau von Rosenthal! Kommen Sie doch! Diese Dame...«
Amalie war plötzlich ruhig geworden; sie nahm ihre Musikmappe auf und meinte hochmüthig: »O! Sie können ruhig sein, ich gehe. Wir haben uns wohl nichts mehr zu sagen.« Sie schritt an Mietzi vorüber, ohne sie anzusehen und stieg die Treppe hinab.
Im Flur standen Frau Rosenthal und Toni, Mietzi's Schwester. Sie stürzten neugierig auf Mietzi zu. »Sag', wer war das?« fragte Toni. »Was wollte die von Dir? Aber wie schaust Du denn aus? Geschwind, tummle Dich. Dein Graf wird gleich hier sein; ich hab' ihn die Hauptstraße herabkommen sehen. Und so darf er Dich doch nicht finden.«
Mietzi aber schlug die Thüre vor ihrer Schwester zu und rief: »Nein – er soll wieder gehen. Ich mag ihn heute nicht.« Und sie ging, sich in ihrem Sessel zusammen zu kauern; das Gesicht auf die emporgezogenen Knieen gestützt – weinte sie – – – – – – – – – – – –
Amalie ging langsam und in gehobener Stimmung ihrer Wohnung zu. Es hatte ihr wohlgethan, ihren Haß und ihre Verachtung jenem Mädchen in das Gesicht zu schleudern. – Zwischen Klumpf und diesem Mädchen mußte es nun aus sein, und ihre Gedanken weilten wieder mit warmer, mitleidiger Liebe bei dem armen, großen Mann. Jetzt, da Alles um ihn zusammenbrach, jetzt bedurfte er einer starken, aufopfernden Liebe, das mußte er fühlen...
Da, an der Ecke der Wiedner-Hauptstraße, stand er vor ihr. Er sah krank aus. Die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt, schritt er langsam und in tiefen Gedanken dahin.
»Grüß Gott!« rief Amalie.
Er schaute auf, lächelte zerstreut und blieb stehen. »Grüß Gott, liebe Freundin.« Dann lüftete er seinen Hut und wollte weiter gehen.
»Doctor,« sagte Amalie, »ich hab' Ihnen etwas mitzutheilen.«
»Was ist's, liebe Freundin? So begleite ich Sie ein Stück.«
– »Ich bin – dort – gewesen.«
– »O!«
– »Nun, Doctor – hier ist etwas, das Sie aus Ihren Gedanken fortlöschen müssen. Was im Sumpfe wächst, will dort bleiben, es weigert sich, auf den Berg verpflanzt zurück werden.« Als sie das gesagt hatte, bereute sie es. Dieses Bild erschien ihr hier geschmacklos und platt. Kleinlauter fuhr sie fort: »Sie will bleiben, wo und was sie ist. Glauben Sie mir, zu retten ist hier Nichts mehr.«
Nicht ein Zucken in Klumpf's kummervollem Gesichte verrieth, daß das Gehörte ihn beeindruckte. Nachdenklich und schweigend schritt er neben Amalie hin.
»Doctor,« begann diese wieder. »Hab' ich Ihnen weh' gethan? Sind Sie mir böse?«
»Wie sollte ich Ihnen böse sein?« freundlich schaute er Amalie an. »Sie haben mir viel Güte bewiesen. Und dann... es ist mir so viel – – Alles genommen worden. So rechne ich nicht mehr mit dem, was schmerzt. Ihnen danke ich.« Er blieb stehen, reichte Amalie die Hand, hielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen, und wie Amalie ihre Augen zu ihm aufschlug, erröthete sie und ihr herbes Gesicht nahm einen glücklichen und erwartungsvollen Ausdruck an.
»Wir werden uns wohl nicht mehr sehen,« fuhr Klumpf fort. »Ich reise ab. Hier ist meine Rolle ausgespielt. Leben Sie wohl, liebe Freundin.« Er ließ ihre Hand fallen, grüßte und entfernte sich.
Amalie stand noch eine Weile da, regungslos und weiß wie ein Tuch. Die Vorübergehenden schauten sich nach ihr um. »Der Dame ist nicht gut –« sagte eine Frau. Da fuhr sie auf. Nein! Die Leute sollten es nicht sehen. Niemand – Niemand sollte es wissen! Und mit großen Schritten eilte sie nach Hause.