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Italien

Wer von Italien ein lebenswahres Bild entwerfen will, muß, mehr als im Falle irgendeines Landes und Volks, die richtige Grundierung finden und darauf die fundamentalen Valeurs richtig verteilen. Denn nirgends in Europa entscheidet das Natürliche und Urtümliche so sehr.

Dies gilt zunächst im Sinn des Worts Alfieris, daß die Pflanze Mensch nirgends so gut gedeihe, wie auf Italiens Boden. Sie wächst dort tatsächlich pflanzenmäßig, wie unabhängig von der Geschichte. Italien ist ältestes Kulturland; es beherbergt Europas älteste historische Geschlechter. Und doch ist das Phänomen der Dekadenz dort, im großen und ganzen betrachtet, unbekannt. Mehr noch: die Träger ältester Namen, ja die persönlichen Verkörperer ältester Tradition erscheinen bis auf seltene wie Naturspiele wirkende Ausnahmen in jeder Generation erneut naturhaft neu: dementsprechend, als soziale Typen beurteilt, wie homines novi. Zunächst fallen einem hier Indien und China zum Vergleiche ein: jeder Chinese ist ja naturhaft gesund, und Indiens älteste Brahmanenfamilien sind trotzdem so vital, daß ein Entarten außerhalb möglicher Berechnung liegt. Doch der Vergleich geht nur bis genau zu diesem Punkte und nicht weiter. Denn für Italien ist, im Gegensatz zu Indien und China, charakteristisch, daß das Volk gerade wie die Vegetation von Lenz zu Lenz, also nicht als Kulturmonade immer wieder neu ersteht. Sein Grundcharakter ist unzweideutig primitiv. Manchen Italiener allerbesten Standes hielte der Fremde ohne weiteres für einen Wilden, wäre seine Natur nicht wesentlich human im Sinn des ursprünglichen, eben in Italien erwachsenen Humanismusbegriffs. Die italienische Gentilezza war schon zu Dantes Zeiten der Ausdruck gebildeter Urtümlichkeit.

Der zweite Grundzug Italiens hängt mit dem ersten unmittelbar zusammen. Ich meine die naturhafte Gebundenheit der Urformen seines Lebens, dank der sie wie überhistorischen, ja Ewigkeitscharakter zu tragen scheinen. Man versenke sich in den Geist eines etruskischen Grabes, sodann in den eines altrömischen Patrizierhauses und endlich in den einer modern-italienischen Casa von Tradition: es ist der gleiche. Überall eine ganz unvergleichliche, durch molekulare Kohäsion zusammengehaltene Abgeschlossenheit des Hauses. Selbst als Gast fühlt man sich darin wie in einer Auster leben. Für ihre eingeborenen Insassen gibt es überhaupt kein Entrinnen außer in Form richtiger Auswanderung. Ich gebrauchte den Ausdruck molekulare Kohäsion: daß der Zusammenhang dermaßen intim ist, hängt seinerseits am italienischen Matriarchalismus. Italien ist heute das europäische Land der am ausgesprochensten herrschenden Mutter und Schwiegermutter. Dort allein warten die jungen Frauen darauf, wie sonst nur in China, ihrerseits einmal als Sechzigerinnen herrschen zu können. So tritt in Italien am stärksten in Erscheinung, daß die Frau der konservative Teil der Menschheit ist. Überall, wo der erfinderische Mann nicht eingreift, führt die Frau die Küche ihrer Mutter ebenso selbstverständlich weiter, wie sie ihrerseits Menschen und nicht Tiere gebiert; so stilsicher, daß ich mich oft damit vergnügte, auf Grund des Tisches Stammbäume zu konstruieren. Da nun der Frau von sich aus nichts am Essen liegt, so verharrte die Menschheit, bei rein matriarchalischer Struktur, noch heute bei Mutter Evas Speisezettel. Beinahe so steht es mit Italien. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich aus den Funden von Cervetri, der Mutterstadt Roms, schließe, daß die Etrusker dieselbe pasta asciutta aßen und diese nicht anders zubereiteten wie die heutigen Italiener. Ferner will die Frau womöglich alle ihre Sprößlinge immer um sich haben, und auch von sonstigen Blutsverwandten sieht sie nicht leicht genug. Dementsprechend umschließt der molekulare Zusammenhang italienischer Häuser von Tradition ganze Sippen; nur der vorhandene äußere Raum und die vorhandene Anzahl der Familienglieder ziehen hier die Grenze. Wer in ein italienisches Haus hineinheiratet, heiratet sozusagen alle seine Glieder; ein Abgeschlossensein der Einzelfamilien, wie unter Germanen, ist da unbekannt. Und fühlt sich da trotzdem niemand belästigt, glaubt jedes Ehepaar für sich zu leben, und dies mit Recht, so liegt dies daran, daß dem Italiener, wie allen Mittelmeervölkern, das Bedürfnis nach äußerer Einsamkeit fehlt. Sie alle sind, wie die alten Griechen, »marktgeboren«. Weshalb sich denn hundert in einem Haus zusammenwohnende und dauernd miteinander verkehrende Italiener faktisch weniger stören als zwei nur benachbarte Deutsche, welche sich selten sehen. Das reibungslose soziale Zusammenleben – ich nenne es reibungslos trotz besonders häufigen Gezeters, denn das bedeutet dort nichts –, in Deutschland Problem oder höchstes Ideal, ist dort Naturform.

Solche Grundstruktur bedingt denn, wie es nicht anders sein kann, eine Stabilität ohnegleichen. Wo es überhaupt Traditionen gibt, sind sie festgefügt wie molekulare Zusammenhänge. So erscheint das italienische Volk mehr als irgendeines in Europa durch urgeschichtliche Gewohnheit gebunden. Es ist viel mehr gebunden als das spanische: denn ist das letztere kulturell älter, so besteht es andererseits, als Wüstenvolk, aus Einzelheiten, nicht Gemeinsamkeiten. Steuern werden in Italien bereitwilliger gezahlt als irgendwo, denn seit Römerzeiten war dies der Normalausdruck des Regiertwerdens. Das altrömische Klientenwesen lebt im Kreis des römischen Hochadels noch heute fort. Und so steht es, mutatis mutandis, mit allen Traditionen. Noch heute sind, trotz aller Verfassung, die Kommune und die Signoria die eigentlichen Organe italienischen Daseins, und ich zweifle sehr, daß es dem Fascismus gelingen wird, sie wirklich zu zerstören.

Dies führt uns denn zum dritten Grundzug Italiens. Die Struktur vorwiegend molekularen Zusammenhanges setzt von sich aus enge Schranken im Raum; ein über seine natürlichen Grenzen hinauswachsendes Molekül bricht auf. Dies erklärt, warum der Regionalismus von jeher die eigentliche Form italienischen Lebens war und noch heute ist. Gewiß lag Italiens demographische Zerklüftetheit einmal auch an der Vielfalt der Stämme, die es bewohnten. Die Ligurer waren ein ganz anderes als die Etrusker, die Venezianer von den Florentinern rassenmäßig geschieden. Der altrömische Typus ging zweifellos auf nordischen Bluteinschlag zurück, wie heute der lombardische. Süditalien ist vorwiegend griechischen, Sizilien maurischen und spanischen Bluts. Auch die Tatsache, daß sich Italien durch drei klimatische Zonen erstreckt, die gemäßigte, warme und subtropische, ist zu berücksichtigen. Doch nicht diese Momente entscheiden: dank seiner schon Jahrtausende währenden Spracheinheit wären sämtliche Bewohner Italiens längst zu einer Einheit zusammengewachsen, wie es die Bewohner Frankreichs getan haben, wenn nicht eben die Naturgebundenheit, und das heißt hier die jeweilige Landschaftsgebundenheit des italienischen Menschen, zusammen mit dem Molekülartigen seines sozialen Zusammenhangs, die regionale Einheit zum ausschlaggebenden Lebenszentrum gemacht hätte. Sie bestimmt noch heute in allen nichtäußerlichen Hinsichten, die in der modernen technisierten Welt allerdings zuerst in die Augen springen. Noch heute ist der Italiener, von seinem Lebensquell aus beurteilt, in erster Linie nicht Italiener, sondern Florentiner, Romagnole, Sizilianer usw.

Ebendieselbe Struktur gibt denn dem italienischen Universalismus seine Sonderart. Die neuitalienische Einheit, welche das Risorgimento meinte, vollendet erst der Fascismus. Aber wie? Nicht indem er nun alle Italiener uniformiert zusammenfaßte, sondern indem er eine neue, wiederum molekular zusammenhängende Einheit schafft, zu deren Wesen gehört, beherrschend zu umspannen. Nicht anders herrschte seinerzeit das alte Rom. Es blieb wesentlich eine Stadt unter anderen. Es hat nicht einmal Italien je wirklich romanisiert – sonst hätte der Römertypus des republikanischen Zeitalters länger fortgelebt. Rom hat ganz Italien und dann den Erdkreis nur als Stadt beherrscht; civis Romanus zu werden, bedeutete Ähnliches, nur Exklusiveres, schwerer zu Erlangendes, als heute die Mitgliedschaft der fascistischen Partei zu erwerben. Insofern hatte das alte Römertum beinahe mehr Ähnlichkeit mit der Camorra und der Maffia als mit dem, was man unter einer modernen Nation versteht. Sogar zu Italiens imperialen Zeiten war also die regionale Einheit das Entscheidende, weil eigentlich Lebendige.

Die nun hatte zum Zentrum jedesmal eine Stadt. Hierin liegt ein in Europa wiederum Einziges des Italienertums: seine Kultur war von jeher immer regionalistisch, aber zugleich urban. Sogar seine Aristokratie war städtisch. Deswegen ist auch das universalste Gebilde, das italienischer Geist erschuf, an eine Stadt gebunden: ich meine den Katholizismus. Der ist, vom italienischen Standpunkt, entweder römisch oder er ist nicht. Der Kirchenstaat war und ist, vom italienischen Standpunkt, keine Paradoxie. Von hier aus wird denn klar, inwiefern die römische Kirche und das altrömische Imperium eines Geistes sind. Die Kurie als solche war immer und ist noch heute rein italienisch; sie ist eine molekulare Einheit, wie nur je ein etruskisches Grab. Aber als solche beherrscht sie die Welt. So hielten auch die alten Römer außerhalb der Stadt nie eigentlich anderes als Legaten und Nuntiaturen. Deren Apparat war freilich römisch. Aber Römer konnte man, solange das Weltreich echt blieb, beinahe ebensowenig werden, wofern man es nicht war, wie man Jungfrau werden kann. Italien wurde nie römisch, es blieb italienisch; so stand es erst recht mit den fernerliegenden Provinzen. Ebendeshalb konnte der Sinn der Latinität späterhin so eigentümlich mißverstanden werden. Was man heute so heißt, ist nicht römische, sondern griechische Kulturabstammung. Es gibt nur diese aus dem sehr einfachen Grund, daß eine römische Kultur nie existiert hat; ihr bloßer Begriff enthält fast ebensolchen Widersinn, wie der neue einer fascistischen Kultur. In Rom war die res publica ein molekular zusammenhängendes Stadtgebilde unter anderen. Ist einmal molekularer Zusammenhang die Grundform, dann ist direkte Ausstrahlung ins Weite unmöglich. Nur die Herrschaftsformen als solche waren übertragbar; dies galt vom römischen Recht, der römischen Verwaltungsart; gleiches galt später vom Rahmen der Kirche. Aber der Inhalt dieses Rahmens war und ist überall ein anderer. Wir werden später sehen, ein wie anderes der Katholizismus Italienern, ja wohl der Kurie selbst bedeutet, als der außeritalienischen Katholikenwelt. Nur die formale Sprachabstammung rechtfertigt im übrigen den Latinitätsbegriff. Der Geist des Lateinischen wurde nie von Nichtrömern übernommen. In Spanien verkörperte sich iberischer, in Gallien gallischer Geist in seiner Form, in Rumänien dakisch-byzantinischer, in Italien der urtümlich italienische. Was haben die Überschwenglichkeit und der Esprit der späteren lateinischen Nationen mit der römischen Haltung, Konzision und Gravität gemein! Einzig die Spanier mögen eine gewisse Ähnlichkeit mit den Römern haben. Aber die hatten sie wohl von je; deshalb wohl wurden verhältnismäßig so viele Spanier Cäsaren. Und gerade die Spanier verleugnen charakteristischerweise den modernen Latinitätsbegriff: ihre heutige Renaissance fassen sie als ausschließlich iberische auf.

Nun bleiben uns noch ein vierter und ein fünfter italienischer Grundzug zu betrachten übrig, welches auf einmal geschehe. Insofern die Urformen dieses Lebens pflanzenhafte Naturhaftigkeit und molekularer Zusammenhang sind, ist klar, daß Italien als solches nicht zum Subjekt, sondern zum Objekt der Geschichte prädestiniert ist. Die fixierte Energie eines Moleküls ist äußerst schwer in freie umzusetzen. Andererseits aber hat jedes sein beherrschendes Zentrum, entstehen neue immer nur um neue Einzelzentren herum. Von außen her kann man solche Gebilde gar nicht zusammenfassen. Dies führt denn zum Verständnis des spezifischen italienischen Individualismus. Überall in der Gesellschaft »setzt« ein Typus, um hegelisch zu reden, recht eigentlich seinen Gegentyp; Jesus war Kontrastprodukt des Judentums, die weiche russische Masse setzt den Despoten à la Iwan der Schreckliche, Peter, Lenin, die Mediokrität der deutschen den einzigartig großen Geistesriesen. Ein molekular zusammenhängendes Gebilde ist nun unter Menschen ipso facto persönlich zusammenhängend. Dies gilt von jeder Familie, jeder echten Geistesgemeinschaft. Wo nun molekularer Zusammenhang die Grundform alles Gemeinschaftslebens ist, da folgt daraus extreme Betonung des persönlichen Momentes überhaupt; es geschieht nichts, außer irgend jemand zuliebe. Daher die so schöne, allen Volksschichten gleichmäßig eigene italienische Gentilezza, das reizende Verhältnis zu Kranken, die besondere Herzenshöflichkeit, die noch die meisten italienischen Betrüger und Räuber kennzeichnet. Diese selbstverständliche Anerkennung des Persönlichen als Wert ermöglicht zunächst jedem Einzelnen, sich als Monade zu fühlen. Sie ermöglicht aber auch dem überragenden Einzelnen, sich auf einzigartige Weise zur Geltung zu bringen. Auf geistigem Gebiete gab es in Italien eigentlich niemals Schulen und Schüler im deutschen Sinn; far da se war in Italien immer Leitmotiv. Wohl aber fand dort der bedeutende Einzelne von jeher einen persönlichen Anhang, wie er in sachlicher orientierten Völkergebilden nie zusammenkommt. Das seit Jahrhunderten größte Beispiel hierfür erleben wir Heutigen an Mussolini. Um ihn persönlich handelt es sich bei seiner Stellung, nicht den Fascismus; auf ihn persönlich bezieht sich der ganze Enthusiasmus; nichts konnte falscher sein, als hier die deutsche Kategorie des Sachlichen anzuwenden. Daß der Deutsche persönliches Sich-ausleben und persönliche Beziehung nicht in Funktion des Desinteressements denken kann, beweist nur seine besondere Beschränktheit. Als dergestalt persönlich sich Auslebende, persönlich Gefolgte bestimmten nun in Italien von jeher Einzelne. Die größte Zeit solcher Einzelner war die Renaissance. Sie konnte die größte sein, weil erstens die italienische Blutmischung gerade damals besondere Spannungen hervorbrachte, weil zweitens der Zeitgeist dem sich erstmalig emanzipierenden Individuum besonders hold war, und endlich, weil die Wiederanknüpfung an die Antike und ihre Erdenfreudigkeit langunterdrückte italienische Urenergien frei machte. Hiermit hielten wir denn die letzterforderliche Koordinate zur Bestimmung dessen, wie in Italien historische Bewegung möglich ist. Die Masse an sich ist schwerer als irgendwo in Bewegung zu setzen; von sich aus bliebe sie ewig wie sie war; sie ist prädestiniertes Herrschaftsobjekt. Das uritalienische Verschwörer- und Bravotum beweist seinerseits die Wahrheit dieses Satzes: ein wesentlich lichtscheuer Anarchismus ist nie die Keimzelle politischer Zukunft, er ist nur Sicherheitsventil für einen Zustand im ganzen akzeptierter Kompression. Doch ein überragender Einzelner kann in Italien leichter als irgendwo anders von sich aus einen neuen molekularen Zusammenhang schaffen. Und besteht die also entstandene noch so kleine Minorität aus schnellen, bewegten und energischen Elementen, so gelangen sie bald zu unverhältnismäßiger Macht. Solche Minorität stellten zuerst, soweit wir die Geschichte übersehen, die alten Römer dar. Gewiß waren sie »an sich« ein anderes als die übrigen Italiener, gehe dies nun mehr auf ihre Abstammung von Briganten oder auf nordischen Bluteinschlag zurück. Doch das Prestige, das sie erwarben – die Waffenübermacht tat's zu keiner Zeit allein –, beruhte auf der Grundstruktur des Volks. Je mehr nun diese Sondermenschenklasse ausstarb oder sich verbrauchte, desto mehr machte sich die typische Artung der Bevölkerung geltend. Und diese bedingte, daß auf den einzelnen Cäsar oder Condottiere alles ankam. So bedeutet Mussolini nichts Unerhörtes, geschweige denn Unnatürliches; er bedeutet viel mehr das für Italien Normale, sobald es auf seinem Boden überhaupt Geschichte gibt. Lebten keine »Mussolinis«, dann war Italiens Leben unhistorisch, wie das der Bauern. Demokratie im englischen oder französischen Verstande gab es dort nie. War niemand Überragendes da, dann lag die Macht bei den geheimen Gesellschaften, die wiederum auf ihre Art das Prinzip der Minoritätsherrschaft vertraten. In den letzten vorfascistischen Jahrzehnten herrschte de facto Giolitti; trat er ab und machte er scheinbar einem Gegner Platz, so bedeutete das einfach, daß er sich erholen oder irgendeinen Wind vorbeiblasen lassen wollte. Die demokratische Fassade war in Italien immer nur Fassade; war sie je mehr, dann ergab dies zwangsläufig Anarchie. Und von hier aus gewinnen wir einen weiteren Einblick in das wahre Wesen des römischen Katholizismus. Es muß ein »Übermensch« sein, aber eben ein Mensch, dem man Gefolgschaft leistet. Der herrscht dann kraft seiner persönlichen Autorität. Parlamentarismus und Demokratie sind wirklich, wie die Fascisten behaupten, unitalienisch. Der fascistische Kult für Ordnung und Disziplin hat mit dem preußischen im Geiste nichts gemein: Ordnung von außen her ist in Italien unhaltbar; dort kann sie nur bestehen, wo sie von persönlichem Enthusiasmus der Einzelnen getragen wird. Es ist die persönliche Leidenschaft für die res publica, die den Fascisten macht, genau wie den alten Römer. Insgleichen wirkt die Autorität in Italien immer nur durch das innere Zentrum der Persönlichkeit hindurch. So ist denn auch der Autoritätsbegriff der römischen Kirche von persönlichem Glauben an sie untrennbar. Eben weil nur die persönliche Zustimmung zur Autorität, und nicht deren Dasein an sich, den Katholiken macht, muß man zum Katholiken geboren sein. Deswegen steht diese Kirche dem Konvertiten, was immer sie vorgäbe, von Instinkts wegen mißtrauisch gegenüber.

 

Wenden wir uns nunmehr Speziellerem zu. Um diesem die richtige Beleuchtung zu geben, möchte ich als Hintergrund von Fall zu Fall bald Spanien, bald Rußland evozieren. Vom Spanier unterscheidet sich der Italiener beinahe mehr noch als vom Deutschen. Das spanische Fleisch ist durchweg fleischgewordener Geist und deshalb Ausdruck. Das italienische Gesicht ist, wie Rudolf Kassner richtig gesagt hat, im allgemeinen ausdruckslos. Der Spanier ist der Mann der Wirklichkeit, was immer er tut; auch wo er gegen Windmühlen ficht. Der Italiener ist, seiner Natur nach, sobald er aus den Beziehungen der Intimität heraustritt, innerhalb welcher er nüchterner als irgendeiner erscheint, typischerweise Schauspieler. Seine superlativische Sprache ist wesentlich rhetorisch; so sind es seine Gebärden. Was aber bei ihm nicht bedeutet, daß das Theater dazu da sei, Wirklichkeit darzustellen, wie beim Franzosen, oder aber zu schaffen, wie beim Russen, sondern daß ihm das Theater Selbstzweck ist. Wobei jedoch wiederum nicht, wie beim Deutschen, auf dem Er-leben der Nachdruck liegt, sondern auf dem Tun. Dies nun ist eine bei einem Kulturvolk höchst merkwürdige, meines Wissens einzigartige Konstellation. Das italienische »Theater« reagiert ganz einfach primitive Instinkte ab; es ermöglicht ein Irrealisieren in der Vorstellungswelt. Ebendeshalb bedeuten die wildesten Massenmanifestationen von Italienern so wenig. Aber andererseits müssen die Instinkte dergestalt abreagiert werden, denn bei der explosiv-primitiven Vitalität des Volks führten verdrängte Leidenschaften unmittelbar zu Mord und Totschlag. Der Schlüssel zum Problem des italienischen Komödiantentumes liegt nun in dem Satz, daß der Italiener nur dort spielt, wo er aus den Beziehungen der Intimität heraustritt. Nur zu diesen hat er nämlich ein unmittelbares Verhältnis. Über anderes palabriert er nur. Das andere sollen andere Leute für ihn tun. Aber diese müssen ihm wiederum Gelegenheit geben, seine Instinkte auszuleben, zu applaudieren oder zu zischen, je nachdem. Daher das Theatralische der Reden Mussolinis; ebendaher das Theatralische schon der frühesten Römerreden. Für sich ist Mussolini wahrscheinlich der nüchternste der heutigen Staatsmänner, bei aller Leidenschaftlichkeit. Und extrem nüchtern war italienische Staatskunst von jeher überhaupt. Sie machten eben die Ausnahmemenschen, denen Politik natürliches Element ist, die auf deren Gebiet die gleichen Eigenschaften auslebten, wie der Durchschnitt, indem er pasta asciutta ißt.

Aber damit ist doch noch nicht alles gesagt. In Italien, und dort allein, kann wegen der geschilderten Anlagen ein Theaterheld gelegentlich wirklich Geschichte machen: das ist der Sinn des Falls D'Annunzio. Ich kenne keinen ernstzunehmenden Italiener – und viele sind mir bekannt –, der diesen Mann anders denn als Sprachkünstler schätzte. Er ist wie selten einer substanzarm; was er aber an Substanz hat, ist schlimm. Allein im Krieg und nachher als Condottiere spielte er vor sich und anderen eine Rolle, die auf die Dauer historische Wirklichkeit erschuf. So nahm, ihn das Volk immer wieder ernst. Ein Beispiel relata refero: seine Legionäre vernahmen, daß eine Anzahl Damen zu ihm nach Gardone gezogen waren. Entrüstet darob, daß solche schlechte Menschen ihren »Heiligen« zu umgarnen unternahmen, entführten sie ihn von daheim. Als D'Annunzio bald darauf auf den Kopf fiel, soll dies ein Mittel gewesen sein, um durch die Folgen des Sturzes neuen Erlösungsversuchen vorzubeugen. Aber sogar der so kluge und umsichtige Tschitscherin nahm ihn einmal ernst. Die folgende Geschichte ist authentisch – es erzählten sie mir des Vertrauens würdigste Gewährsmänner. Tschitscherin war einer Einladung D'Annunzios nach Gardone gefolgt. Nach dem vorzüglichen Diner brachte ein Lakai einen blanken Säbel herein und sperrte darauf ab. Wie Tschitscherin seinen Gastgeber befremdet anstarrte, versetzte dieser: »Eh bien, mon cher ami, pour certaines raisons je n'ai pas voulu vous orienter d'avance – mais, j'ai résolu de vous trancher la tête.« Tschitscherin erbleichte und dachte bei sich: nun bin ich verloren. Dieser verrückte Kerl ist ja zu allem fähig. Verglichen mit dem Zug nach Fiume wäre dies ja ein harmloses Abenteuer. Denn, tötet er mich, so wird kein Hahn darnach krähen. Die Kanzleien werden ohne Schwierigkeiten Gründe finden, die ihnen höchst gelegene Tat zu rechtfertigen. D'Annunzio suchte indes die Gedanken seines Gastes zu lesen und prüfte derweil mit der Hand die Schärfe der Klinge. Dann fing er an Fechtbewegungen zu machen. Schließlich sagte er, wie verdrießlich: »Quel ennui, je ne suis pas bien en forme ce soir. Je crains qu'il faudra remettre cela à une autre fois.«

Doch noch einmal: niemand irrt mehr, als wer im Italiener nichts als den Komödianten sieht. Er ist auf dem Gebiet, das er persönlich ernst nimmt, der nüchternste Europäer; hier geradezu mit dem Russen verwandt. Von jeher war panem et circenses Italiens Devise, und das heißt: wo ein Italiener nicht spielt, dort ist es ihm ernst wie um das tägliche Brot. Entweder er will reine Praxis oder reines Theater. Damit gelangen wir denn zu dem, was immer wieder auffällt: dem absoluten Unverständnis des Durchschnittsitalieners für nicht positivistische Gesinnung irgendwelcher Art, von der Sentimentalität über die Romantik bis zum Idealismus. Er kennt keine Akzentlegung im Bewußtsein auf das Zwischengebiet zwischen Theater und Tat. Das nun ist das Gebiet der eigentlich geistigen Interessen. Nirgends spielen diese folglich eine geringere Rolle. Nicht nur ist die Konversation des italienischen Durchschnitts, wozu ich die große Welt rechne, die fadeste Europas: auch der kluge und bedeutende Italiener ist typischerweise geist- und witzlos. Er kennt weder englischen humour noch französischen esprit noch gar deutschen Tiefsinn; sogar seine Ironie ist platt. Hier erscheint wiederum D'Annunzio als italienischer Prototyp: seine wunderbar farbige Sprache ist erschreckend geistlos, seine Rhetorik leer. Ganz wie in England erscheinen die dem Geistigen zugewandten kleinsten Kreise gelegentlich desto geistiger; es gibt keinen reineren Idealismus als den, dessen letztes Sinnbild Benedetto Croce ist. So waren die echten italienischen Humanisten – nie gab es deren viele, deren Durchschnitt hatte an Pietro Aretino sein Vorbild – besonders exquisit. Aber diese Kreise waren von jener eine Welt für sich. Im nationalen Leben spielten sie nur insofern eine Rolle, als Fürsten sie herausstellten, um mit ihnen zu glänzen.

Dem Volkscharakter ist, in der Tat, jedes geistige Pathos im Sinn des Deutschen oder Franzosen fremd. Das hindert aber nicht, daß der Italiener im Ausnahmefall höchst Geistiges tut. Er ist eben, als geistiges Wesen, durchaus ethisch, nicht pathisch. Reinstes Ethos, fast ohne bewußtes Pathos, charakterisierte den italienischen Täter vom alten Römer bis zu Napoleon. Und die gleiche Grundanlage kennzeichnet auch den italienischen Künstler. Sogar Dante war absolut kein Erlebender im deutschen Sinn. Das italienische Ethos erhält nun seinen einzigartigen Charakter dadurch, daß es durch primitive und als solche bejahte Natur hindurchwirkt, also auf keiner Spannung zu ihr beruht, wie beim Spanier, beim Juden und Puritaner. Daher der durchgehende Naturalismus aller italienischen Kunst, selbst zu deren geistigsten Zeiten. Daher zugleich deren unerreichte Kitschigkeit, sobald kein Genie sie inspiriert. Daher das, was an der italienischen Politik so phantastisch zynisch wirkt. Kein anderes Volk hätte einen Machiavelli hervorbringen, kein zweites modernes vertragen können, daß sein jüngster Heros, Mussolini, sich übertreibend auf ihn beruft. Der Italiener ist eben auch als Politiker Naturalist. Er findet die Notwendigkeiten der Politik ebenso natürlich, wie die Mutter die Bedürfnisse ihrer kleinen Kinder. Da gibt es keine Problematik über das praktisch Zweckmäßige hinaus. Mir floß der Vergleich mit Müttern in die Feder: dieser Art naturhaft, naturgebunden, auf die Natur gerichtet ist in der Tat alle italienische Geistigkeit. Dies bedingt die einzigartige Plattheit, das ungeheuerliche terre-à-terre des Durchschnittsitalieners, wo er sich mit Geistigem befaßt. Beim großen Einzelnen indessen ergibt das gleiche eine ganz wunderbare Erdnähe des Geists. Hier liegt der Sinn der antiken Vollendung überhaupt. Hier vor allem der Schlüssel zum Geheimnis der Renaissance.

Das wirkliche Italien hat, wie man sieht, so gut wie nichts mit dem zu tun, was der Reisende aus dem Norden in ihm erlebt. Die Diskrepanz beginnt mit der Natur. Den Fremden beeindruckt sie als reich; sie ist aber in Wahrheit, bis auf wenige Regionen, karg und arm. Die gleiche Diskrepanz wird vollkommen auf dem Gebiet der Kunst; vom bel canto bis zu Raffael. Der Täter ist grundsätzlich nicht der Erlebende. Der Italiener singt wie der Vogel, um sich auszuleben, er malt, weil er muß, er dichtet oder mordet, weil er nicht anders kann. Wirken Ideale durch ihn hindurch, dann opfert er sich als Held. Hat er überhaupt anderes als seine Tat an sich im Sinn, dann ist es der praktische Vorteil, den sie bringt; hier darf wohl Tizian als Prototyp gelten. Was des Italieners Tun anderen bedeutet, geht seine Seele nichts an. Dieser angeborene Realismus sichert der italienischen Politik, potentia wenigstens, größtdenkbare Kontinuität, denn Politik ist die Kunst des Möglichen. Doch auf geistigem Gebiet kann einzig das Genie im italienischen Körper auch nur Erhebliches leisten. Daher die fabelhafte Höhe italienischer Höhepunkte auf dem Gebiet des Geists, daher zugleich die außerordentliche Minderwertigkeit der geistigen Durchschnittsproduktion. Hier gilt das gleiche auf geistigem Gebiet, wie im Falle Deutschlands auf dem der Politik. Breiter wurde die Front bedeutsamer Italiener immer nur dann, wenn die nationale Psyche von irgendwoher einen beschleunigenden Impuls erhielt und zugleich viel ungewöhnliche Individualitäten geboren wurden. Sonst findet das Gesamtbild seinen Typus am Kirchenstaat, wie er bis kurz vor seinem Ende erschien. Eine winzige, politisch sehr kluge regierende Minorität, die hie und da mit einem geistigen, meist importierten Talente glänzte. Unmittelbar darunter lebte geschichtsloses Bauerntum.

 

Nun zum jüngsten, dem fascistischen Italien und darüber hinaus zu dem, worin Italien menschheitsbedeutsam erscheint in der neuentstehenden Welt. An erster Stelle seien einige landläufige Mißverständnisse berichtigt. Die Fascisten selbst und deren Freunde in der ganzen Welt meinen, mit dem Fascismus sei ein im theoretischen Sinn absolut höheres Regierungssystem zur Herrschaft gelangt. Davon ist natürlich keine Rede. Es gibt überhaupt keine absolut besseren oder schlechteren Regierungsformen, sondern nur dem faktischen Zustande besser oder schlechter angepaßte, insofern sie diesen mehr oder weniger gut in Form bringen und zur Höchstleistung anregen. Und die jeweilige Fortschrittslinie, die man konstruieren mag, gilt nie in einem anderen Sinn, als daß sich die Seelen höherentwickelt haben und der äußere Zustand diesem Umstand Rechnung trägt. Daß nun die Fascisten in diesem Verstand ihren Vorgängern überlegen wären, wird kein Unparteiischer behaupten: sie sind unstreitig primitiver, wilder. Der ganze Vorzug des Fascismus als politischer Form beruht auf dem Relativum, daß einem von Instinkts wegen anarchischen, seit Jahrhunderten keiner starken nationalen Staatlichkeit teilhaftigen, dank der ihm unkongenialen liberalen Ära politisch demoralisierten Volk eben das not und gut tat, was Deutschland zuletzt seiner Kraft verlustig gehen ließ: preußischer Etatismus. Dies gilt, obzwar der psychologische Ursprung beider Staatsapotheosen, wie wir schon sahen, grundverschieden ist. Auch für Deutschland war Etatismus einmal von reinem Vorteil; sonst stände es heute noch da, wie vor Napoleon. Doch nachdem der lebendige Impuls zur toten Routine geworden, wirkte er Unheil; ebendeshalb frommt Deutschland heute gerade Demokratie, denn nur dank ihr kann das Erstarrte sich verflüssigen. Aber auch der Fascismus wird für Italien genau nur so lange Heil bedeuten, als sein lebendiger Impuls währt. Sobald die sich schon bildende fascistische Bürokratie ihrerseits in ihre Erstarrungsphase eintritt, wird wiederum anderes frommen. Denn noch einmal: nicht das Prinzip ist wichtig, sondern die lebendigen Kräfte sind es, die es auslöst. Und es gibt nur ein politisch absolut Schlechtes: die Routine an sich.

Aber ebenso falsch, wie die doktrinären Pro-Fascisten, sehen die Lage ihre doktrinären Gegner an. Zweifelsohne widerstreitet die fascistische Praxis nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geist des liberalen Ideals, und zweifelsohne vertritt dieses Menschheitswerte. Aber nicht immer sind sie von ihm her zu verwirklichen. Da der eine Feind alles Lebens die Routine ist, so ist sogar ein erstarrter theoretischer Idealzustand ein reines Übel. Zu seinen Ungunsten sprechen weiter die folgenden Momente. Das liberale Ideal mit seinem absoluten Gerechtigkeits- und Billigkeitsanspruch basiert alles Leben sozusagen auf wohlerworbenem Recht. Es berücksichtigt gar nicht, daß das Leben ein Prozeß des Werdens und Vergehens zugleich ist; es eskamotiert den Tod. Deswegen züchtet es zwangsläufig unheroische Gesinnung. Aus diesen Erwägungen folgt nun, daß es im Guten nur Endzuständen entspricht. Ebendeshalb aber muß es bei jedem Neuanfang fallen. Es muß, der Gerechtigkeit und Billigkeit zum Trotz, mit Veraltetem aufgeräumt werden, wenn neues Leben aufblühen soll. Alles Sterben ist vollendet unbillig und vollendet ungerecht, denn vom liberalen Standpunkt hat jeder Lebende, je länger er lebt, auf desto längeres Leben ein desto besser erworbenes Recht. So ist gegen die Gewaltmethoden des Fascismus wenig zu sagen, vorausgesetzt, daß sich das italienische Leben dank ihm tatsächlich erneut. Wann kam die Erneuerung je anders? Jeder große König verfuhr, wenn es radikale Reform galt, bolschewistisch. Auf andere Weise geht es eben nicht.

Es stellt sich also weder die Frage, ob der Fascismus ein absolut bestes Regierungssystem eingeführt hat – ein solches gibt es nicht –, noch ob er als Totengräber des Liberalismus zu verurteilen sei, sondern einfach, ob er Italien und davon ausstrahlend die übrige Welt als Zeiterscheinung fördert. Dies tut er nun ohne Frage. Er tut es allein aus dem einen, aber letztentscheidenden Grund, daß das Prinzip des Heroischen sein Α und Ω ist. Dieses aber ist das Höchste, aus welchem Völker überhaupt leben können. Doch auch dieser Umstand hat mit der fascistischen Idee an sich nichts zu tun: einmal löste der liberale Gedanke Heroismus aus. Kann er es heute nicht mehr tun, so liegt das daran, daß er psychologisch seinen Kreis durchlaufen hat. Damit gelangen wir denn zum Hauptaktivposten des Fascismus. Zur Fortentwicklung bedarf es heute nicht nur der Akzentlegung auf Heroismus überhaupt, sondern extremer Akzentlegung. Warum? Weil die liberale Ära die der dominierenden abstrakten Herausstellungen war, der Programme, der Ausgleichsvorstellungen, der Sachen; der lebendige Mensch blieb außer Spiel wie nie zuvor. Da mußte denn dieser mit primitiver Urgewalt einsetzen, um die Kruste der starren Sachlichkeiten zu sprengen. Hieraus erklärt sich denn in erster Instanz, wieso gerade zurückgebliebene Länder dieses Mal als Stoßtruppen des neuen Zeitgeists wirken konnten; denn nicht nur Rußland und die Türkei müssen als solche gelten, auch Italien. Nicht allein hat dieses Land die Industrialisierungsstufe der großen Westmächte nicht erreicht, gleiches gilt von der Zivilisierung. Man lese Mussolinis Biographie: die Romagnolen, unter denen er aufwuchs, waren rechte Wilde; und nicht minder primitiv und wild sind Mussolinis eigene Instinkte. In zivilisatorisch zurückgebliebenen Ländern war es ebendeshalb leichter als anderswo, die Form der liberalen Ära zu durchbrechen. Dann waren die Instinkte seiner Bewohner kräftiger. Endlich leisten die Massen dort dem Führer den geringsten Widerstand. Von hier aus übersehen wir denn, wieso gerade das primitive Italien in dieser Wende nicht allein für sich viele Etappen überspringen, sondern in manchen Hinsichten unmittelbar an die Spitze der europäischen Entwicklung gelangen konnte.

Doch das bisher Gesagte genügt zur Erklärung noch nicht. Daß Italien so dastehen kann, wie es dies heute tut, liegt weiter an dem, daß es in einer Hinsicht den anderen Völkern psychologisch unmittelbar voraus ist: es hat die große Umwälzung, welche der Weltkrieg im übrigen Europa erst einleitete, schon mit Cavour durchlebt und ist insofern sozial um dreiviertel Jahrhundert älter. Ihm wurde ferner das Glück zuteil, in der Zwischenzeit zwischen damals und heute, an äußeren Erfolgen arm, nahezu unbeachtet zu bleiben, weshalb die intimen Kräfte der Nation sich nicht in äußerer Schaustellung vorzeitig verbrauchten. Die Gründung des dritten Italiens zerstörte in der Tat das vorangehende nicht minder gründlich, wie dieses Weltkrieg und -revolution mit Mittel- und Osteuropa taten; sie leitete eine grundsätzlich gleiche Veränderung und Verschiebung aller bestehenden Verhältnisse ein. In den langen Jahrzehnten von Cavour bis 1914 erwuchs, unsichtbar zunächst, ein neues lebendiges Gleichgewicht von Volkskörper und -seele. Kein Wunder denn, daß die Schmelzhitze der Kriegszeit, die im übrigen Europa Zerstörung bedingte, in Italien das genaue Gegenteil: die neue Synthese schuf. Daß im übrigen zu diesem Ergebnis auch sogenannte »Zufälle« beitrugen, ändert nichts am Sachverhalt: ohne sinnvolle Zufälle kam noch kein geschichtliches Ereignis zustande. Die Zufälle, die Italien zu Hilfe kamen, waren allerdings selten sinnvoll. Der Ausgang des Krieges hat bewirkt, daß dieser für Italien, und zwar für Italien allein, völlig gleichgültig, aus welchen Beweggründen es zunächst in den Krieg miteintrat, eine unbedingte praktische Rechtfertigung idealer Gesinnung bedeutete. Italien hatte zwar gesiegt, doch nicht soviel, daß dies von Hause aus brutalem Machttrieb das seelische Übergewicht gewinnen konnte; es hatte materiell nur wenig, ideell und moralisch unermeßlich viel gewonnen, denn in seinem Fall bedurfte, nicht anders wie einstmals bei der Erschaffung des Preußenstaates, die reine Selbstsucht der Anerkennung idealer Werte, um sich befriedigt zu fühlen; und diese mußte Italien innerlich desto mehr betonen, als es wohl wußte, daß sein Verhalten vor und während des Krieges nicht immer ideal gewesen war. So hat erst der Weltkrieg das dritte Italien geboren. Alles Vorhergehende gehört ins Gebiet der Embryologie.

 

Diese Tatsache ist von solcher sinnbildlicher Bedeutung, daß ich zunächst einige weitere allgemeine Betrachtungen folgen lassen möchte. Es ist nicht so, daß die Nationen, um zunächst diese eine Seite zu beleuchten, jeweilig Torheiten begehen, dieselben dann einsehen und zum besseren Früheren zurückkehren: ein dem Früheren Entsprechendes wird vielmehr erst dadurch wieder möglich, weil Andersartiges inzwischen durchlebt ward. Der seelische Prozeß ist ein genau so physiologischer Wachstumsvorgang wie der physische. Wie das werdende Leben in Wechselwirkung mit der Umwelt Gestalt gewinnt und jede bestimmte Phase, wie immer sie sonst erscheine, den zur Zeit einzig möglichen Gleichgewichtszustand darstellt, so ist auch die Folge der historischen Zustände ein unbedingt Notwendiges, durch keinerlei Vernunftserwägung zu Änderndes, soweit eine bestimmte Folge geistiger Einflüsse gegeben ist, die stark genug sind, das seelische Gleichgewicht des Volkes zu verändern. Und Ideen sind für bewußt denkende Wesen genau so zwingende Reize, wie Chemikalien für Protisten. Hieraus erklärt sich die Einsinnigkeit des Geschichtsprozesses überall, wo geistige Entwicklung vorliegt: mit den in logischer Folge einander ablösenden Ideenkomplexen müssen sich alle Völker, die ihrem Einflusse ausgesetzt sind, auseinandersetzen, um ihr biologisches Gleichgewicht zu behaupten. So hat sich kein europäisches Volk den Ideen der Reformation, der französischen Revolution, der Demokratie, des Parlamentarismus entziehen können; gleiches wird mehr und mehr vom Sozialismus und Bolschewismus gelten. Aber freilich reagiert jedes Volk verschieden, je nach Anlage und Entwicklungsstufe und -rhythmus. Auf ersteres Moment brauche ich nicht einzugehen, da es sich um eine jeweilige Sonderkonstante handelt. Was nun das zweite betrifft, so müssen gleiche Einflüsse offenbar verschiedene Erscheinungen auslösen, je nach der Entwicklungsphase, in der sich ein Volk befindet. Alte Völker, die schon sehr viele Ideen assimiliert haben (Frankreich, England), sind gegen neue, die deren Nachkommen sind, insofern immun, als es ihnen gelingt, dieselben ohne pathologische Gleichgewichtsstörung in sich aufzunehmen. In ähnlich glücklicher Lage sind andererseits ganz junge (Amerika, manche der als Folge des Weltkriegs neuentstandenen Nationen), insofern die neuen Ideen überhaupt kein altes Gleichgewicht stören und ohne weiteres die entsprechende innere Antwort auslösen. Am schlimmsten daran sind solche Völker, deren Fortschritt insofern einseitig verlief, als sie in bestimmten Hinsichten an der jüngsten Entwicklung teilgenommen hatten, in anderen, künstlich zurückgehalten, wiederum gar nicht. Das seelische Gleichgewicht solcher ist ein eminent gefährdetes; wird dieses überhaupt erschüttert, so muß dies zu Katastrophen führen. Diese eine Erwägung schon erklärt das Schicksal Rußlands, Deutschlands und des alten Österreichs. Wann nun eilt ein Volk der allgemeinen Entwicklung eines Kulturkreises voraus? Wenn es ihm, dank irgendwelchen Gründen, gelingt, die innere Gleichgewichtsverschiebung, welche die Assimilierung der Geistesentwicklung fordert, im stillen dennoch vollständig und beschleunigt durchzumachen, so daß es den jüngsten Einflüssen nicht als einem Fremden, sondern als dem ihm selbstverständlich Gemäßen gegenübertritt. Aus keinem anderen Grunde war der gleichbegabte Junge in kritischen Zeiten den Alten immer überlegen; aus keinem andern nimmt der Weise das Schicksal vorweg: da alle möglichen Konflikte sich bei ihm von Hause aus innerlich erledigen, so kann kein äußerer Zufall sein Gleichgewicht gefährden.

Aus diesen allgemeinen Erwägungen ergibt sich völlig eindeutig, wie mich bedünkt, die heutige historische Vorzugsstellung Italiens. Die Zerstörung des alten Gleichgewichtszustandes erfolgte schon zur Zeit Cavours. Seither stand es allen wirklichen Einflüssen offen, konnte es andererseits jedoch keine bestimmte Phase als Dauerzustand aus sich herausstellen und sich alsdann auf diesen, wie auf ein Skelettgerüst, festlegen. Also wirkte der Entwicklungsimpuls ununterbrochen fort. Alle seelischen Konflikte, die in anderen Ländern in Form äußerer Auseinandersetzung abreagiert wurden, wurden hier von vornherein zu innerlichen Bildungsmotiven. Also konnte Italien zur allgemeineuropäischen Schicksalsstunde weder sozialistisch noch bolschewistisch werden, es konnte andererseits auch in keinerlei Reaktion verfallen, weil seine geborenen Führer über diese Phasen innerlich hinaus waren. Nun setzt das Motiv ein, daß in Italien immer nur wenige zählen und diese wenigen eine persönliche Gefolgschaft finden, wie nirgends sonst. Daß die große Masse den Massen der übrigen Länder in keiner Hinsicht voraus ist, bedeutete nichts; ausschließlich die Minoritäten zählten. So bedurfte es nur des großen »Bewußtmachers« dafür, wozu eigentlich alle Führernaturen physiologisch reif waren, damit der neue zeitgemäße Gleichgewichtszustand Gestalt gewann. Den äußeren Anlaß gab die vom Standpunkt Italiens reaktionäre rote Phase. Dank dieser hatten die ersten bewußten Vertreter des Neuen, nämlich die Fascisten, von vornherein gewonnenes Spiel. Nun gaben sie dem innersten Fühlen und Wissen aller Lebendigen Ausdruck, insofern sie erklärten, die moderne Entwicklung sei über Parlamentarismus, Parteiwesen, Demokratie und Sozialismus hinaus, denn unbewußt war dies tatsächlich der maßgebende Teil des italienischen Volks. So wurde das »Herzogtum« Benito Mussolinis möglich. Dieser ist nicht etwa der »starke Mann«, der die bebende Masse zwänge: so unzweifelhaft groß er sei, seit Lenins Tod die einzige staatsmännische Persönlichkeit großen Formates in Europa – seine Bedeutung beruht auf seinem selbstverständlichen Repräsentantentum. Bei ihm bewahrheitet sich wieder einmal Bismarcks Wort: »Der Mann ist gerade nur so groß wie die Welle, die unter ihm brandet.« Der große Mussolini ist möglich, weil es Hunderte kleiner Mussolinis gibt, die ihm Gefolgschaft leisten und Hunderttausende, welche diese als Wortführer innerlich anerkennen. Die Fascisten sind wesentlich heroische Naturen. Daß sie deshalb in Italien herrschen werden, solang sie heroisch bleiben, ist gewiß. Zumal sich das typisch italienische Kontrastverhältnis zwischen Minoritäten und Majoritäten auch darin erweist, daß die italienische Masse durchaus nicht mutig ist. Das europäische Prestige der Fascisten aber rührt daher, daß überall ein neues heroisches Zeitalter dämmert, daß der demokratisch-liberale Gedanke überall seine beschleunigende Kraft verliert. So taugt Italien, trotz aller Sonderlichkeit, im selben Sinn zum allgemein-europäischen Sinnbild, wie dies Sowjet-Rußland (man vergleiche die diesbezüglichen Darlegungen in der Neuentstehenden Welt) für das erwachende Asien ist.

Nun ist wohl klar, warum es so wenig darauf ankommt, was der Fascismus »eigentlich« sei. Er ist ja gerade nichts von all dem, was sich mittels herrschender Begriffe definieren läßt: er ist kein Programm, keine abstrakte Ideologie. Was seine ganze Kraft macht, ist, daß er, gemäß dem Gesetz des historischen Kontrapunkts, den Kontrapunkt zur letzten Periode darstellt: er ist also anti-sentimental, anti-liberal, anti-quantitativ, anti-abstrakt usw.; insofern ist er mit dem Bolschewismus eines Geists, der seinen negativen Gegenpol bedeutet und ebendeshalb neben dem Fascismus die einzige schon in Erscheinung getretene politische Geistesmacht ist, welche historische Zukunft hat. In beiden Fällen handelt es sich um die lebendige Überwindung der Ideologien des 18. und 19. Jahrhunderts. In beiden Fällen erfolgt Ersetzung von deren Primat durch das des lebendigen Menschen; denn nicht das heutige, gewiß vergängliche System macht den Bolschewismus als historischen Faktor, sondern der neue Mensch, den es zur Macht berief, die proletarische Herrennatur. In beiden Fällen ist der Grundzug dabei nicht reaktionär, sondern im allermodernsten Sinne fortschrittlich. Nur jetzt nicht von gleichmacherischer, sondern aristokratischer Grundeinstellung aus. Bolschewismus wie Fascismus streben mittels zeitweiliger funktioneller Klassenherrschaft einem klassenlosen Zustand zu. So handelt es sich beim Fascismus um den in Europa ersten positiven Ausdruck des neuen organischen Gleichgewichtszustandes, welcher den letzten, dessen Geistesgehalt noch aus dem 18. Jahrhundert stammt, ablösen kommt. Wozu er sich fortentwickeln wird, kann heute niemand sagen. Sicher wird er, gerade wenn er so Zeugerisches bedeutet, wie ich es glaube, als Samen einmal vergehen. Er wird Ungeahntem, Unahnbarem Platz machen, wenn nicht in Italien, dann gewiß in der übrigen Welt, soweit sie seinen Impuls rezipiert.

 

Immerhin kann vorausgesagt werden, weil es sich schon heute unverkennbar zeigt, welches die prädestinierte Rolle Italiens im Gesamtbild des künftigen Europas ist. Italien wird, wie es dies zu allen seinen großen Zeiten tat, nur in Zukunft mehr denn je, das Prinzip des antiken Heidentums verkörpern; mehr denn je, weil die nachchristliche Ära, die mit dem Weltkriege begann, in vielen Hinsichten eine historische Wiedergeburt der antiken Seele bedeutet. Deshalb allein kann ihr extremer Ausdruck, wie ihn das jüngste Italien darstellt, so allgemein überzeugend wirken. Jüngst las ich die folgenden Sätze eines jungen Fascisten: »Wir brauchen Wahrheit, Gewißheit und Licht. Wir müssen sicheren Boden unter unseren Füßen fühlen, uns müssen die Wahrheiten wie geschliffene Schwerter aus härtestem Stahle sein. Die sogenannte Geistesfreiheit hat kläglich versagt, da sie uns keine Gewißheit an Stelle der antiken Wahrheit gegeben, da sie nur ›Prinzipien‹ zu erschaffen gewußt hat.« Nicht anders hätte ein antiker Römer über die liberal-demokratische Ära geurteilt. Diesem fehlte jedwede Problematik. Die Wahrheit war nur dazu da, dem Leben sicheren Grund, dem Handeln klare Richtlinien zu geben. Sie war also Verfassung und juristische Form, an beiden nur zu rühren erschien ihm ruchlos. Er war rein ethisch (im Gegensatz zu pathisch) eingestellt. Vom Geiste her beurteilt, war er terre à terre, wie kein Mensch vor ihm und nach ihm. Was waren doch seine Götter! Numina, d. h. ungefähr das, was wir heute Abstraktionen heißen. So konnte es natürlich kleine und kleinste, private und privateste Götter geben; ich denke an die Penaten, die Laren, ja das Göttlein strepitus. Aber andererseits war alles Wort im Römer Fleisch, wie bei keinem späteren Menschen; die Voraussetzung des christlichen Zwiespalts zwischen Seele und Leib negierte seine bloße Substanz. Zwar lehrte gerade das Christentum, das Wort müsse Fleisch werden, jedoch im Sinne dessen, daß transzendenter Geist sich irdisch verkörpern muß. Für den Römer gab es keine Transzendenz. Er war rein diesseitig. Doch er war deshalb mit nichten oberflächlich. Er war niemandem weniger ähnlich als dem heutigen Materialisten. Er war einfach Heide im Unterschied vom Christen. Er war nicht irreligiös, seine Religiosität war nur besonderer Art; Vergleichbares ist heute nur mehr in Japan zu finden, wo der Patriotismus ebenso Tiefes bedeutet, wie beim Deutschen Gotteserleben. Der antike Heide war der ganz tiefe, vollständig und vollkommen ungebrochen im Diesseits verkörperte Mensch. Dies ergab ein Minimum geistigen Erlebens, jedoch ein Maximum geistgeborenen Tuns.

Heide in diesem Sinn nun ist der Italiener geblieben. Gewiß ist er nicht mehr antik. Seine lebendige Beziehung zum klassischen Altertum gibt folgender Passus aus Prezzolinis Culture italienne (die auch sonst viel Anregung bietet), sehr vollständig wieder: »Die klassische Kultur hat sich restlos in neuen Formen verkörpert, gleichwie die Züge des Vaters in denen des Sohns. Man versteht kein Lateinisch mehr, jedoch man redet italienisch; es gibt keine großen Rechtsgelehrten mehr, aber der juristische Geist ist allverbreitet. Es dominieren bei uns die Kultur der Familie, ein solider Eigentumssinn, das Bedürfnis nach Klarheit, Präzision, einer gewissen Architektonik in den Ideen – alles dieses ist antik. Antiker Abstammung ist noch die majestätische Eleganz, mit der eine Bäuerin sich in ihr Tuch hüllt oder der Mann des Volks in seinen Mantel, der die Toga fortsetzt.« Richtig antik ist also der Italiener freilich nicht mehr. Aber ganz gewiß ist er noch heute Heide. Religiosität im deutschen oder französischen Sinne kennt er nicht. Franz von Assisi war seelisch Provenzale. Religiöse Problematik versteht der Italiener nicht einmal, deshalb gab es in seinem Lande nie echte Religionskriege. Er versteht wohl, daß die Religion politischen Zwecken diene, nicht aber daß Politik einen religiösen Inhalt haben könne. So ist in Italien auch alles Protestantisieren im Sinn des Willens, eine persönliche Beziehung zum Göttlichen zu finden, national undenkbar. Wer selbständig dachte, war in Italien von jeher Freigeist oder Skeptiker. So spielen dort die Katholiken als solche im Geistesleben kaum eine Rolle. Gleiches gilt auch von der Kirche. Es ist vom italienischen Standpunkt keine Anomalie, daß der Staat außerhalb des katholischen Gesetzes lebt: ähnlich war es in der römischen Kaiserzeit des öfteren. Der Katholizismus ist vom italienischen Standpunkt eine rein politische Institution, nicht anders wie die heidnische Religion es immer war. Entwickelt der Katholizismus in Deutschland zur Zeit eine gewaltige Kulturoffensive, so macht Rom an sich nicht mit. Es läßt sie gewähren, denn für Deutsche ist dergleichen gut. Aber gleichwie an der Speiche eines Rades eine Bewegung von einem Millimeter genügt, um der Bewegung von Metern im großen Kreise zu entsprechen, so vollzieht Rom immer rechtzeitig die politisch notwendige Wendung. Daß diese rein heidnische Institution, diese eigenste Schöpfung des realistischen Italienergeistes, außerhalb Italiens mit tiefstem religiösen Inhalt gefüllt werden kann, und daß sie diesen aushält, ist nur ein Beweis dessen, wie tief das antike Heidentum ist. Als politisches Wesen kann der Heide, und er allein, seine religiöse Tiefe bekunden.

Heute ist nun ein neues Zeitalter angebrochen, das nicht mehr religiös im Sinn des Christentums ist; inwiefern, lese man in den drei Schlußkapiteln meiner Wiedergeburt nach. Der Bedeutungsakzent ist vom Pathos zurück aufs Ethos gerückt. Dies führt zur reinen Veroberflächlichung oder zum Satanismus, wo die Bejahung des Diesseits Negation jedes Jenseits bedingt. Für den Heiden gibt es diese Scheidung nicht, denn er hat überhaupt keine theoretische Weltanschauung. Er glaubt weder an die Materie noch an den Geist, schon gar nicht an Programme: er ist einfach. So verdichtet sich in ihm alles Wirkliche im Persönlichen. Der große Mensch erschien im Höchstfall unmittelbar als Gott, unter allen Umständen als übermenschlicher Heros, denn er vertrat persönlich immer zugleich seinen ganzen Hintergrund. Daher der Cäsarenkult. Aber eben daher auch die römische Idee des Papsttums. Und eben daher die Stellung Mussolinis. Damit gelangen wir denn dazu, den Fascismus vom Bolschewismus, mit dem wir ihn zunächst auf eine Linie stellten, schroff abzugrenzen. Der Bolschewismus ist antimetaphysisch, denn der Russe ist der polar zerrissene Mensch: hie Tier, hie Gott. Zur Zeit entschied er sich für das Tier. Daher sein Kollektivismus. Das Tier hat nur eine Gruppenseele, denn der Einzelmensch hat sich erst spät aus der Gruppe herausdifferenziert. Hypostasiert der Bolschewismus heute den kollektiven Menschen, hofft er Persönlichkeit dereinst gar durch einen Apparat zu ersetzen Der Historiker Sowjetrußlands, Pokrowsky erklärte, als er den proletarischen Massen die Bedeutung Lenins für die revolutionäre Entwicklung der Menschheit schildern wollte, die kommunistische Auffassung des Phänomens »Lenin«, nach Fülöp-Miller, buchstäblich folgendermaßen: »Wir Marxisten sehen in der Persönlichkeit nicht den Schöpfer der Geschichte, denn für uns ist sie nur der Apparat, durch den die Geschichte wirkt. Vielleicht kommt einmal eine Zeit, da man diese Apparate künstlich herstellen wird, so wie wir heute unsere elektrischen Akkumulatoren bauen. Bisher aber sind wir noch nicht so weit, vorläufig werden diese Apparate, durch welche die Geschichte wirkt, diese Akkumulatoren des gesellschaftlichen Prozesses, noch elementar gezeugt und geboren.«, so ist dies der absonderliche Erfolg der Synthese von vorindividuellem Urgefühl mit mechanistischem Denken. Der antike Heide nun verkörperte das vollkommenst denkbare psychophysische Gleichgewicht nicht allein, sondern zugleich das vollkommenste Gleichgewicht innerhalb der Seele. Auch er war nicht Individualist. In antiken Tagen ging der Staat allem vor. Allein der Staat war nie eine Horde und nie ein Mechanismus, sondern ein Organismus, in welchem jeder Einzelne freiwillig zum besten der res publica lebte. Und als dann die Stunde möglicher Geburt der modernen Individualität schlug, da mußte sie zuerst in Italien, dem einzigen Land, in dem der politische Geist der Antike noch fortlebt, geboren werden, weil dort das Gleichgewicht zwischen allen Elementen des Lebens selbstverständlich war.

So führt denn der gleiche Zeitgeist, der in Rußland den Kollektivmenschen zur Herrschaft berief, in Italien zu einem neuen Organismus. Wohl sollen alle berechtigten Massenideale, soweit als möglich, erfüllt werden. Insofern verleugnet der Fascismus seine sozialistische Wiege nicht; ja was er an Ideologien besitzt, entspricht am meisten dem Geiste Sorels, dem Begründer des Syndikalismus. Aber die vom Sozialismus gewollte Gemeinschaft soll eben aus Individuen bestehen. Begreifen wir nun, woher dem Fascismus, trotz seiner vielen und großen Fehler, trotz seiner Barbarei, die große Werbekraft kommt? Nur in Form einer teilweisen Wiedergeburt des antiken Zustands, ja nur von dieser her ist das Zeitideal im Guten zu realisieren. Die neuentstehende Welt wird dann allein nicht flach werden oder satanisch, wenn sie durch ihre Abkehr vom Christentum nicht den Zwiespalt fortsetzt, sondern eine neue antikische Einheit im Menschen aus sich gebiert. Unter allen Umständen liegen die Dinge so und nicht anders in Europa. Die primitive Urform des neuen Ideals bietet das neue Italien. Es bietet die primitive Urform, erstens, weil der neue antikische Herrenmensch dort in Form des Chauffeurs in die Erscheinung tritt; sodann, weil der Italiener an sich primitiv ist. Aber eben deshalb gibt er das beste Sinnbild ab dafür, was allen Massen des Westens nottut. Der äußerlich verstandene Imperialismus der Fascisten ist freilich eine Lächerlichkeit; moderne Napoleone können nur mehr als innerpolitische Größen Bedeutung im Guten haben. Und unter keinen Umständen wird sich irgendein Volk von den heutigen Italienern für die Dauer erobern und beherrschen lassen, denn ein Herrenvolk wie die alten Römer sind sie nicht. Durch Bedrückung ist ferner heute niemand mehr zu gewinnen – solche steigert nur mehr das Selbstbewußtsein der Bedrückten. Nicht als Erlediger des Liberalismus an sich, sondern als dessen Fortsetzer, wie das noch so verschieden geartete Kind den Vater fortsetzt, hat der Fascismus Zukunft. Aber wenn die Italiener von Rom her in Form des Katholizismus noch heute einen großen Teil der Welt beherrschen, so kann das Sinnbild der Wiedergeburt der Antike in modernem Fleisch dem modernen Italien allerdings ein gewaltiges neues Prestige schaffen. Möchte es nur verstehen, worin seine wahre Aufgabe liegt. Möchte es mehr an römische Haltung denken, wie an römische Expansion. Möchte es seinen Hang zur Nüchternheit über den zum Theater siegen lassen. Es ist eine große Sache, daß in der heutigen Welt eine Wiedergeburt der großen antiken Seele überhaupt möglich ist. Es ist eine große Ehre für ein modernes Volk, wenn es als Körper dazu nur einigermaßen geeignet scheint. Möge Italien diese Lage nicht dahin mißverstehen, daß es sich in romantische Träume verliert. Dies kann nur zu traurigstem Erwachen führen. Möchte es bald auf jedes Theater verzichten. Möchte es erkennen, daß wenn der neue Geist mit seinem neuen Staat nur dies erreicht: die antike Lebensform in moderner Wiederverkörperung in das Gesamtbild Europas einzufügen, das es freilich nie mehr beherrschen kann – denn die Antike war kleinen Formats und die moderne Welt ist unermeßlich weit, was die Vorzugsstellung neuer Qualitäten bedingt; der antike Geist ist heute nur mehr ein Gen unter anderen – daß es alsdann eine der höchsten Aufgaben erfüllt, die irgendein Volk in dieser Zeit zum Besten aller erfüllen kann.


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