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Lange bevor ich Ungarn kannte, war ich begeisterter Liebhaber der ungarischen Musik. Diese kompensiert für meine Natur die geistig strenge von Bach, die mir in gleichem Grade entspricht. Bin ich einerseits ein Mensch der strengstvergeistigten Form, liegt in dieser meine Haltung, so liegt meine Lösung unmittelbar im Dionysischen. Dieses verkörpert für mich zunächst das Russische, denn aus Rußland stamme ich als emotionelles und temperamentelles Wesen her. Doch nicht das Russische melancholischer Artung, das der grenzenlosen braunen Ebene oder der blauen Ferne entspricht mir, sondern eben das Dionysische, dessen berufene Künder die Zigeuner sind. Es ist ein sehr Merkwürdiges um dieses Wanderervolk. Seine Harmonik und Melodik ist indisch; so mancher heilige Gesang, den ich in Indien vernahm, berührt sich nah mit magyarischen Zigeunerweisen. Aber dieses Europa-Fremde bringt doch in jedem Land, wo die Zigeuner am nationalen Leben teilhaben, dessen Triebcharakter echter zum Ausdruck als die Musik der wurzelechten Rasse. In den Gitanos erscheint die südspanische Leidenschaft wie verselbständigt herausgestellt. Sogar bei den Andalusiern ist diese immerdar gehalten; in Form des Zigeunertums löst sie sich zu eigenster Urwildheit heraus. Nie werde ich's vergessen, wie ich den Gitanas einer Höhle bei Granada einmal zuviel Manzanilla spendierte und diese darauf zu reinen Mänaden wurden; mein Führer stahl mich buchstäblich heraus: es sei nicht ausgeschlossen, daß mir an Schwarmszenen am Parnaß Gemahnendes zustieße. Der russische Zigeuner ist der echteste Verkörperer des russischen Duch, jenes mächtigen Schwungs, der doch immer wieder in melancholische Leere ausläuft. In Ungarn nun ist die Zigeunermusik das vollkommene Ausdrucksmittel des sich entspannenden Eroberers. Nach wildem Ritt, nach todesmutigem Kampf, nach gefahrvoller Streife in fremdem Land ein Schwebezustand. Einerseits immer wieder Vertrautes, Heimliches aufgreifend, andererseits das gleiche jeder Stimmung und Eigenart folgend individuell variierend. Ein vollkommenes »Lassen«, ein vollständiges Entfließen aus der Form. Dann aber wieder sich augenblicklich fassend, in strengsten Rhythmus zurückfallend, jeweils ausklingend in geschlossenem Vorstoß oder auseinander schwirrendem Rückzug nomadischer Reiter.
Mir nun entspricht letztlich das magyarische und nicht das russische Zigeunertum. Das liegt einerseits gewiß daran, daß auch in mir irgendwo in der Tiefe der Nomadenhäuptling lebt. Es liegt aber vor allem wohl an dem, daß ich seine Musik und sie allein als rein aristokratisch empfinde. So, wie dies die magyarische Zigeunermusik zum Ausdruck bringt, faßt und löst sich nur die Seele des Aristokraten. Und das will sagen: des Menschen, dessen Wesenszentrum den polaren Spannungen seiner Natur ursprünglich überlegen ist, der keinen Ausgleich braucht, dieses wesentlich Bürgerliche, weder in sich noch in anderen; welcher Geist und Blut immer auf einmal und gleich stark bejaht, dessen innere Spannung gar nicht hamletartig zerreißen kann; für den es die Problematik des am Leben Leidenden nicht gibt, weil Leid und Freude, gleichwie Tod und Leben, ihm selbstverständlich korrespondierende Koordinaten sind. Der Zigeuner nun spielt so, wie's der Hörer will. Wie der magyarische Primas die Art seiner Improvisation nach den Augen dessen richtet, der ihm am besten folgt, so spiegelt die Musik der Zigeuner überall die Wesensart derer wieder, unter denen sie leben. In Spanien die gelegentlich ausbrechende Leidenschaft des Gehaltenen; in Rußland zielloses, jäh in sein Gegenteil umschlagendes Temperament, Leichtsinn und Indolenz, doch auf dem Hintergrunde großzügigster Weite; in Ungarn den Lösungszustand wesentlichen Herrentums. Denn die Magyaren sind das aristokratischste Volk, das Europa heute bewohnt.
Der Aristokrat ist natürlich an erster Stelle eine besondere zoologische Spezies. Ebendeshalb ist er aus abstrakten Erwägungen weder zu begründen, noch auch zu widerlegen. Schon ob einer konservativ oder radikal gesinnt sei, ist Frage der Physiologie und nicht der besseren oder schlechteren Einsicht. Insofern verstand Lenin, der alle Nicht-Proletarier ausrotten wollte, den Sinn der Dinge tiefer, als jeder Franzose es tut, der aus dem Geist großer Prinzipien heraus den Endsieg des demokratischen Gedankens fordert. Auch darüber ist sinnvollerweise, wo an die ursprüngliche Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Völker geglaubt wird, kein Streiten möglich, ob es »im allgemeinen« Adel geben soll oder nicht: es ist eine Frage der ursprünglichen Struktur, ob ein Volk einen Adel hervorbringt, verträgt und verlangt, oder aber nicht. Diese Struktur besteht unabhängig von der Regierungsform, von denen jede ja irgendeinmal gewaltsam eingeführt wurde, und dann meist über Gebiete beliebigen Gefüges übergreifend. So schien ganz Europa im Mittelalter aristokratisch, so scheint es heute demokratisch. Tatsächlich aber ist jedes Volk, das sich nur einigermaßen selbst bestimmt, auf die Dauer immer so organisiert, wie es seiner Struktur entspricht; das heißt die Akzente der moralischen Macht liegen auch dort richtig, wo die der offiziellen und materiellen an vom Strukturstandpunkt falschem Orte ruhen. Wie wenig notwendig innere Struktur und äußere Ordnung so zusammenfallen, wie dies modernes Vorurteil verlangt, erhellt am besten aus dem Folgenden: gerade wo die intime Struktur die Wiege der Regierungsform war, führte dies meist zu anderem, als jenes als selbstverständlich voraussetzt. Aristokraten z. B. sind für sich immer Republikaner; die normale Staatsform aristokratisch strukturierter Völker ist daher die Republik und nicht die Monarchie, denn wer sich als Herr fühlt, duldet nur schwer einen, der sich als mehr dünkt, über sich. Trugen viele Aristokratien der Geschichte trotzdem eine monarchische Spitze, so lag dies zumeist an der unbewußt wirkenden Einsicht, daß die Souveränität jedes auch jeden als Souverän gefährden würde; hier liegt der Sinn der Zerrbildhaftigkeit des alten polnischen Reichs. Während der Sinn der Stabilität der Entwicklung sowohl als des jeweiligen Zustands Englands darauf beruht, daß ein gesinnungsmäßig aristokratisches Volk von republikanischer Anlage sich bewußt im historisch richtigen Augenblick zur demokratischen Staatsform bekannte, wodurch die Adelsherrschaft gesichert blieb und die faktische Adelsrepublik doch wieder in eine monarchische Spitze auslaufen ließ, die indes eine ausschließlich symbolische Rolle spielt; so erscheinen in diesem Volk, psychoanalytisch gesprochen, alle möglichen Komplexe auf günstigste Art besetzt. Doch das englische Volk ist nicht im selben Sinne aristokratisch wie das magyarische. Wie im England-Kapitel ausgeführt wurde, ist seine Gesinnung wesentlich sozial und insofern nicht ausschließlich in der Qualität, sondern in sehr erheblichem Grade auch in der Quantität zentriert. Dementsprechend ist in England Ideal, daß jeder Gentleman sei. Dessen Ideal ist ein Kompromiß zwischen den Ansprüchen persönlicher Souveränität und sozialer Gleichheit; es verleugnet alle Unterschiedlichkeit der Typen, bis auf die eine zwischen Gentleman und Nicht-Gentleman; es ist also das Adelsideal einer Zeit des Gleichheitsglaubens. Das ungarische Volk bejaht demgegenüber gerade die Unterschiedlichkeit. Es beneidet die Ausnahmestellung seiner großen Herren nicht, es ist vielmehr stolz auf sie; es verdenkt es dem geweihten Hirsche nicht, daß er den Kopf hoch trägt, es verlangt diese Haltung von ihm. Es ist so organisiert, daß es sein Bestes bewußt mit einer bestimmten repräsentativen Herrenschicht identifiziert. Seine Söhne haben die innere Möglichkeit, für sich Ideale anzuerkennen, die doch nicht jeder für sich erreichen kann. Sie wollen die Vorherrschaft der als solcher anerkannten Aristoi. Sie verlangen bei gleichem Selbstbewußtsein, wie es nur je ein Gleichheitsgläubiger hatte, Hierarchie. Hiermit hielten wir denn das Grundkennzeichen aristokratischer Gesinnung: der Stolz und das Würdebewußtsein des Aristokraten bedarf, um zu bestehen, nicht der äußeren Gleichstellung mit anderen. Dies aber kommt daher, daß in seinem Bewußtsein der Akzent auf seiner Einzigkeit ruht. Er vergleicht sich überhaupt nicht; also muß er neidlos sein. Und nun verstehen wir, warum alle Zeiten höchsten Menschentums solche bestimmender aristokratischer Gesinnung waren. Die Menschheit ist nun einmal qualitativ differenziert; jeder kann nicht alles sein; so bedeutet der Anspruch auf Gleichheit in allem ein kosmisches Mißverständnis. Ein solches kann nicht umhin, sich in der Praxis als Unheil auszuwirken. Ferner muß Neid bestimmen, wo der Gleichheitsanspruch besteht; einziges Mittel gegen diesen ist Einzigkeitsbewußtsein, und dieses kennt als Typus nur der Aristokrat. Vor allem aber kann es, wo ein Ideal für alle gelten soll, und sei es auch das des Gentleman, keine Höchstblüten geben. Solche erwachsen nur, wo das Außerordentliche in seiner Entstehung gefördert wird; daher die Armut des modernen England an Einzelpersönlichkeiten, die den Vergleich mit den besten weniger sozial denkender Völker vertragen. Bestimmende Höchstblüten kann es in Gleichheitszeiten natürlich keinesfalls geben. Soviel von der kulturellen Bedeutung aristokratischer Gesinnung. Aber diese allein entspricht sogar der Idee der Christenliebe, nach der man den Nächsten lieben solle wie sich selbst: diese bedeutet nämlich, richtig verstanden, keinen neidgeborenen Gleichheitsanspruch, auch nicht Philanthropie, sondern die freudige Bejahung des Nicht-Ich- und des Anders-Seins.
Aber noch einmal: nicht jeder kann Aristokrat sein oder aristokratisch fühlen. Hier handelt es sich um ebenso primäre Einstellung wie jene, die einerseits den französischen Zentralismus, andererseits den englischen Parlamentarismus produktiv und beide Lebensformen, auf Deutschland übertragen, verderblich machen (inwiefern, habe ich auf S. 56 der Neuentstehenden Welt ausführlich gezeigt). Es gibt ganze Völker, wie es Millionen Einzelner gibt, die freudig in der Identifizierung mit einem anderen ihren höchsten Ehrgeiz ausleben, so wie der echte Christ sein Ideal im Heiland freudig anerkennt. Die betreffenden Völker brauchen nicht die der vornehmstgesinnten Mehrheiten zu sein. Bei der unüberwindlichen Minderwertigkeit alles Durchschnitts und dem Gesetz der Enantiodromie (des Umschlagens in das Gegenteil) ist vielleicht sogar Regel, daß in aristokratischen Völkern besonders viel Dünkel und Ränke bestimmend in die Erscheinung treten; sicher herrscht unter ihnen häufiger Ungerechtigkeit gegenüber Gruppen als in Demokratien, denn der Aristokrat sieht, wie es nicht anders sein kann, da sein Selbstbewußtsein Einzigkeitsbewußtsein ist, an erster Stelle den Einzelnen und Einzigen, wo jene diesen jeder Mehrheit opfern. Aber die aristokratisch strukturierten Völker sind unter allen Umständen die der größten inneren Mannigfaltigkeit und zugleich des feinsten unmittelbaren Gefühls für Niveau und Rang, weshalb sie den Einzelnen immer am besten gelten lassen; so ließ das mittelalterliche England viel mehr Begabte aus dem Volke hochkommen als das heutige. Für Niveau und Rang fehlt dem demokratisch Gesinnten naturnotwendig das Organ, denn wer überhaupt vom Postulat der Gleichheit ausgeht, kann andere als quantitative Unterschiede nicht anerkennen. So bestreiten Juden, die am meisten unter ungleichem Recht gelitten haben, gern sogar die Bedeutung von Begabungsunterschieden überhaupt.
Es gibt viele Formen möglicher Aristokratie. In Indien bedeutet die Brahmanen-Kaste, d. h. die der Weisen, die aber arm zu sein haben, die anerkannte Krönung aller anderen. In Alt-China galt Gleiches von den aus beliebigem Milieu, wie bei uns im Fall der katholischen Geistlichkeit, rekrutierten »Edlen«; dort vererbte sich Adel nicht; Auch im modernen England, das, insofern es halb-aristokratisch ist, im Vergleich mit den meisten anderen modernen Völkern aristokratisch strukturiert erscheint, fehlt eine, richtige Adelskaste, denn alle Welt will Gentleman sein; aber der Verdienst-. und Besitzadel perpetuiert dort das Bild der alten Aristokratie, und an dessen besonderem Glanze freut sich das ganze Volk. In Ungarn nun liegen die Dinge so, daß ein allgemein aristokratisch gesinntes, sich als Adel fühlendes Volk seinen angestammten Hochadel als Krönung bewußt immer neu aus sich herausstellt, welcher Hochadel im höchsten Grad zu glänzen hat. Dies galt nicht etwa bloß bis zum Weltkriegsende: es gilt noch heute. Und wie wenig notwendig es bei noch so weitgehender äußerer Demokratisierung je anders zu werden braucht, beweist das in dieser Hinsicht psychologisch nahverwandte Polen: das Emporkommen eines tiers-état seit der Teilung hat die moralische Stellung des Hochadels nicht erschüttert. Alle Polen wollen eben große Herren sein. Nur wenige können es, aus äußeren und inneren Gründen. Da sichert die Anerkennung des Ideals dessen geborenen Trägern zwangsläufig entsprechendes Prestige.
Der Aristokrat, ist also erstens eine besondere zoologische Spezies, zweitens verkörpert er einen Menschheitswert. Drittens nun ist er das Produkt besonderer äußerer Umstände: er bedarf äußerer Ausnahmestellung, um zu erwachsen und zu gedeihen. Aber dies gilt von jedem Menschentum ohne Ausnahme; auch dem Proletarier; jede Ausnahmestellung macht aus dem, dem sie entspricht, einen Ausnahmemenschen. Der geborene Proletarier erreicht nur in proletarischer Lebensstellung die Vollendung seines Typs; dies haben die Bolschewisten sehr klar erkannt: Der geborene König ist ein psychologisch Anderes als »gewöhnliche Sterbliche«; seine Um- und Merkwelt ist eine besondere; vieles Kleine und Kleinliche gibt es nicht für ihn, während er selbst bei geringer Begabung große Zusammenhänge natürlich übersieht, denen sich nur der exzeptionell Begabte aus anderen. Lebenskreisen gewachsen erweist. Analoges gilt denn vom Grandseigneur, dem Urbild des Aristokraten, nur daß dieser in keiner Hinsicht Spezialist ist. Seine Sonderbedeutung liegt darin, daß in ihm das Menschliche als solches seinen Höchstausdruck findet. Der Grandseigneur verkörpert insofern einen höheren Typus als der regierende Fürst als solcher. Er ist, bei allem Familienstolz, ganz wesentlich nicht Kastenmensch. Für ihn gibt es die groteske Scheidung zwischen seinesgleichen und »gewöhnlichen Sterblichen« nicht, die das Selbstbewußtsein des Fürsten letzten Endes zum Stolz auf seinen Raritätswert macht, wie dies auch ein Okapi etwa haben könnte. Er ist wesentlich frei, wesentlich überlegen. Sein Ethos verbietet ihm jeden kleinlichen oder auch nur engen Zug. Der Grundsatz Noblesse oblige bestimmt sein Leben wirklich, weil seine Existenzmöglichkeit auf dessen Herrschaft beruht. Die rein geberische Gebärde herrscht wirklich bei ihm vor, weil ja das Schenken-Können das Zeichen seiner Vorzugsstellung ist. Privatinteressen sind nie seine letzte Instanz, weil er, par définition, kein bloßes Privatleben hat: er weiß sich ja schon als Privatmann repräsentativ, und nicht zwar im Sinn des Königs, der in unüberbrückbarem Abstand von jedem Einzelnen das »Volk« vertritt, sondern als herausgestellter Vertreter jedes Menschen. Er ist endlich und vor allem wesentlich unabhängig; er braucht mit niemand zu rechnen, da sein Wert in seinem bloßen Dasein besteht, wo der regierende Fürst auf jeden Einzelnen Rücksicht nehmen muß; von allen Menschentypen muß sich dieser unter Umständen am meisten gefallen lassen. Das Gesagte ist nun tatsächlich typisch für den ungarischen Grandseigneur. Aber leider – dies sei hier gleich gesagt – für ihn allein im heutigen Europa unter allen Geburtsaristokraten, denn er allein hat noch die Stellung, die seiner Art entspricht. Insofern unterscheidet sich seine Klasse von keiner anderen mehr als gerade der ihm nach dem Gotha gleichgestellten, ja überlegenen der heutigen deutschen Standesherren. Auch die Standesherren waren als Typen höhere Menschen, solange sie Größeres, als sie und ihre Güter waren, repräsentierten; und der französische Historiker, der behauptete, die einzige gute deutsche auswärtige Politik sei bis in die Moderne hinein von Standesherren gemacht worden, hat wahrscheinlich recht: politischer Takt ist nur eine höhere Form von Bauernschlauheit; zu seiner Entstehung ist traditionelle Bodenständigkeit, d. h. persönliche Verwachsenheit mit dem Land, überall die beste generelle Voraussetzung. Höherer Standort ermöglicht ferner ipso facto weiteren Überblick, von den Vorzügen materieller Unabhängigkeit zu schweigen, und solch angeborener hoher Stellung bedarf der innerlich so unsichere Deutsche besonders, um sein Bestes zu geben. Doch dies konnte für die ganze Klasse nur so lange gelten, als der Blutsgedanke Europa beherrschte und die Kastenzugehörigkeit an sich die Voraussetzung bedeutete für Größe und Wirksamkeit. Heute sind die Standesherren nicht mehr als eine besondere zoologische Spezies, die keinen tieferen Sinn exponiert als den ihrer überkommenen Sonderstellung. Zweifelsohne sind sie etwas Besonderes: jede Familie, die sich lange genug abschließt und mit wenigen anderen von ähnlicher Grundanlage Inzucht treibt, wird recht eigentlich eine besondere Miniaturnation, die mit Recht in allen anderen Andersgeartete sieht. Nur kommt alles darauf an, was solche Miniaturnation wert sei. Ist ihre innere Weite und Großzügigkeit nicht der äußeren Kleinheit proportional, so ist sie größeren nicht gleichwertig. Solche Weite aber erhält sich als Rassencharakteristikum nur bei entsprechender Aufgabe. Die Standesherren, die traditionellerweise heute hoch zu großen Aufgaben berufen werden, sind, im Fall sie einer nicht unbegabten Familie angehören, noch heute oft höhere Menschen. Doch sie sind in der Minderzahl, so sehr, daß sie in keiner Weise mehr den Typus bestimmen. Die Klasse der Standesherren ist heute ein richtiges Ghetto, das sein Sonderleben führt, von allerengsten Privatinteressen bestimmt, unabhängig vom Lauf der Welt. Griff sie in letzter Zeit noch je ins nationale Leben ein, so ergab dies groteske Situationen. So geschah's in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch von 1918; es war ein Schauspiel für Götter, berichten mir glaubwürdige Zeugen, was in diesen Kreisen vielfach nach der Revolution geschah. Zu einer Periode während der Inflation, als Wälder mehr noch trugen wie Fabriken, planten einige, ernstlich, durch einen Gewaltstreich nicht etwa 1918 rückgängig zu machen, sondern 1815: den zuletzt Regierenden sollte endlich gezeigt werden, daß sie nicht besser waren wie die Mediatisierten. Solche Kasten-Gesinnung ist nun das genaue Gegenteil aristokratischer. Sobald ein Adel sich überhaupt als Klasse unter anderen fühlt, die ihren Privatinteressen lebt, hat er seinen Sinn verloren und verdient er den Untergang. Was die Stellung und das Selbstbewußtsein des privilegierten Aristokraten rechtfertigt, ist einzig seine Überlegenheit. Deshalb sollten Kleinlichkeit, Engherzigkeit, enger Horizont, Parteilichkeit, Unfähigkeit, jeden Gegner zu achten, in seinen Kreisen als unmittelbar entadelnd gelten; der Träger eines größten deutschen Namens, der nicht die Überlegenheit eines englischen Gentleman hat, steht sozial und menschlich unter ihm. Der echte Aristokrat handelt nie aus Zwang oder innerer Gebundenheit, weil es so Sitte ist oder weil jemand anders es verlangt, sondern ausschließlich aus persönlicher Freiheit; wo diese fehlt, da kann von Adel keine Rede sein. Wo Familien- und »Standes«interessen als solche entscheiden, da besteht überhaupt kein Grund, ein bis auf die Karolinger zurückführbares Geschlecht über eines von Levi abstammendes zu stehen, zumal das letztere das ältere ist. Wer innerlich Klein- oder Großbauer, Sozialrentner, Bürger, Feldwebel oder kleiner Beamter ist, der ist kein Edelmann. Heute gar ist der Begriff eines Adels als besonderer Klasse ein vollendeter Unbegriff. Und nicht nur weil die Zeit der Privilegien um ist: alle Ansprüche kapitolinischer Gänse sind erledigt, seitdem der eugenische Gedanke in der ganzen Welt erwacht ist, nachdem bald jeder seinen Stammbaum kennen und in der neugeordneten Welt kein Mensch mehr den deutscher Mediatisierter anders beurteilen wird als den eines beliebigen anderen: nunmehr wird einzig entscheiden, welche Qualität die Folge der Geschlechter fortvererbt hat. Nein, der deutsche Adel als Ganzheit kann heute leider nicht mehr als Adel gelten. Er muß sich von Grund aus erneuern, um in seine fortlebende Vorzugsstellung im Sinn der Anforderungen, die man an ihn zu stellen das Recht hat, hineinzuwachsen. In Ungarn jedoch ist der Hochadel wirklich noch Adel. Er hat eben noch die entsprechende Funktion. Und sein Geist bestimmt die ganze Nation; die ganze Nation ist dort entsprechend adelig. So viele Fehler sie habe: der ganzen Nation Ideal ist Großmut, Gebertum und Opfermut. Jeder Ungar hat das Einzigskeitsbewußtsein, mit dem der Aristokrat als solcher steht und fällt.
Doch ehe ich auf Ungarn näher eingehe, sei noch des näheren gezeigt, worin der Vorzug des Aristokraten ungarischer Prägung liegt, das heißt des Grandseigneurs, im Unterschied vom bloßen Gentleman. Dessen Eigenart wird heute kaum mehr verstanden. Eine französische Edelfrau bemerkte einmal anläßlich eines Gesellschaftsromans von Paul Bourget zu mir, dieser hätte trotz eines langen Lebens inmitten des Faubourg St. Germain noch nicht das erste Wort von dessen Geist verstanden, denn er war zu anders: gleiches gilt erst recht von allen deutschen Schriftstellern, von denen ich weiß; es gilt sogar von Nietzsche, so edel dieser war. Er war eben wohl zwar edel, nicht aber vornehm, denn dieser letzte Begriff setzt seinsmäßige Überlegenheit voraus. Als Sein war Nietzsche der typische Sproß eines Pastorenmilieus; in ihm lebte eine Sehnsucht nach Größe, die seine Natur persönlich zu erfüllen nicht erlaubte. Und heute gar, wo, wie Börries von Münchhausen einmal meinte, schon der »anständige Mensch zwischen allen Stühlen sitzt«, fehlt beinahe jeder Sinn für echte Vornehmheit; Denn heute gibt der Schreibende leider den Ton an, unter diesen ist der eigentlich bestimmende der Journalist, und der ist leider in 80 von 100 Fällen subalterner Ressentimentheld. So versteht er eben das, was nur in Funktion der Freiheit positiven Sinn hat, in Funktion der Unfreiheit; und in der Atmosphäre dergestalt verfälschter Begriffe wächst die moderne Jugend auf. Hier trifft wiederum Nietzsche, so rein er persönlich war, eine schwere Schuld: er legte grundsätzlich nahe, hinter edlen Motiven Niedriges zu suchen, und da solch Suchen im Fall der meisten Skribenten zu überreichen Funden führt, so wetteifern diese darin, alles Höhere herabzuziehen. Stünden die Dinge nun so, wie sie in Anbetracht der Machtverhältnisse sollten, dann müßte Gesetz sein, daß nur der seigneurial Gesinnte den Beruf des Journalisten ausüben darf, also nur der vollkommen Generöse und Neidfreie, welchen große Gesichtspunkte allein beherrschen. In diesem Sinne meinte einmal Leopold Kalckreuth, alle Maler sollten Grafen sein: bei der großen Labilität der Künstleranlage tut das Gyroskop, das jeder echte Aristokrat im Blute trägt, allerdings besonders not. Ebendeshalb waren in Indien, wie Rabindranath Tagore jüngst feststellte, alle Größten nicht Brahmanen, sondern Kschattryas; eben daher stammt die Unvergleichlichkeit von Geistern wie Plato, Montaigne, zuletzt Tolstoi. Wie vollkommen das Tonangeben des schreibenden kleinen Manns alle Wertmaßstäbe verschoben hat, zeigt besonders deutlich die moderne deutsche Literatur. Da wird geradezu der Neiding als höchster Mensch gepriesen. Ein Neiding und nichts anderes ist nämlich der Stille im Lande, der nicht seine eine gottgewollte Aufgabe erfüllt, sich still zu verhalten, sondern statt dessen aus seinen Nöten Tugenden macht, deren Maßstab das Weltall sich zu fügen hat. Er verurteilt von oben herab die Großen dieser Welt, deren Leben nichts als Eitelkeit sei; er sieht Anmaßung in jeder Gebärde, in großmütigem Ausstrahlen Habsucht, in Freiheit Hoffahrt; jeder Nichtgeringe gilt ihm als minderwertig. Damit hypostasiert er aber einfach sich selbst zum großen Mann, und damit erscheinen alle Werte verkehrt. Seine Zurückhaltung ist nicht Vornehmheit, sondern Anmaßung, seine Selbstbescheidung Ressentiment. Vollends entlarvt, ihn sein ekler Exhibitionismus in bezug auf seine Leiden. Freilich leidet der Mensch desto mehr, je sensitiver und tiefer er ist; doch der höhere verweilt nicht dabei. Ihm ist die Tragödie des Daseins Voraussetzung; wie die Spannungen der Saiten es sind für mögliche Musik. An diesem Punkte tritt denn die letzte Unadeligkeit des Ressentiment-Literaten-Ideals am deutlichsten in Erscheinung. Der Edle läßt unter Umständen sein Leben; er steht innerlich über ihm. Ebendeshalb kann er gar nicht so am Leben leiden, wie dies die moderne Literatur als Zeichen hohen Menschentums preist. Wenn ich über diese Typen lese, so ergreift mich jedesmal Ekel. Gälten sie als das, was sie sind, als in der Entwicklung Zurückgebliebene, Kranke, Schwache, dann verdienten sie freilich alles Mitgefühl. Aber als Vorbilder … Selten sah eine Zeit die wahren Werte so schief.
Bis auf weiteres ist hier im großen nichts zu machen; wachsende Niedrigkeit des Niveaus der öffentlichen Meinung ist auf lange hinaus ohne Zweifel Schicksal, leider. Und zwar nicht, weil die Menschheit nun rettungslos gemein würde, sondern weil die historische Aufgabe im großen der nächsten Zeit darin besteht, das allgemeine Niveau zu heben. Dies muß zur Folge haben, daß zunächst das bestehende niedriger wird und eine allgemeine Abreaktion des verdrängten Neides erfolgt. Im großen besser kann es erst werden, wenn für das Leben der Menschheit die äußeren Bedingungen erschaffen sind, die in jedem Aristokraten, dessen Anlage nicht minderwertig ist, eine schönere Seele zur Entfaltung bringen, als im Plebejer. Andererseits ist aber gerade die Zeit unmittelbar nach Aufpflügung des Ackers die der Saat. Eben jetzt gilt es deshalb, dem Besten den Weg zu bereiten. Zu dem Ende sei noch näher ausgeführt, was das schlechterdings Positive nicht allein, sondern das schlechterdings Mehrwertige des Grandseigneurs macht – das Mehrwertige auch gegenüber dem Gentleman. Dies geschieht denn wohl am besten, weil allem Mißverstehen nicht Böswilliger vorbeugend, von der Bestimmung seiner physiologischen Grenzen aus. Ohne Zweifel setzt Grandseigneurtum auch äußere Ausnahmestellung voraus – und man mag meinen, zu solcher habe keiner ein Recht. Ohne Zweifel entfaltet sich sein Typus bis zu einem gewissen Grade auf Kosten anderer, so wie der Baumriese auf Kosten des Unterholzes erwächst – und man mag den Mann auf der Straße höher werten als den großen Herrn. Ohne Zweifel ist er, als repräsentativer Typ, nach außen zugekehrt, und man mag den erlebenden Stillen im Lande höher stellen als jeden Weltbeweger. Ohne Zweifel ist der Grandseigneur, als Extravertierter, ferner, im besonderen Sinne innerlich begrenzt. Die Möglichkeit seines Typus steht und fällt mit innerer Distanz zu allen anderen. Daher seine extreme Courtoisie auch gegenüber Nächststehenden; er hat keinen direkten Kontakt von Mensch zu Mensch. Was er denkt und tut, geschieht unwillkürlich in historischer oder sonst auf Fernwirkung gerichteter Intention. Doch bei dieser Struktur, welche Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, gern als schlechthin pathologisch abtun und praktisch ausrotten möchte, handelt es sich um nichts anderes als die Struktur jedes Führers großen Stils, auf welchem Gebiete immer. Jeder Überblick setzt in erster Linie Abstand voraus; nur das Prinzip der Distanz, im Gegensatz zu dem der Intimität, ermöglicht Führertum überhaupt. Ebendeshalb fehlen echte Führer überall, wo Demokratie wörtlich verstanden wird im Sinn der Verständigung aller von Mensch zu Mensch auf einer mittleren Linie, wie in der jüngsten deutschen Politik; kollegiales Zusammenarbeiten tötet nur dort die Initiative nicht, wo extreme innere Distanz die äußere Intimität ausgleicht; so in England. Grundsätzlich gilt überall, was mein Großvater so auszudrücken pflegte: die Zusammenarbeit von mehr als zwei Menschen hat ebensowenig je einen vernünftigen Gedanken zustande gebracht, wie ein Kind gemacht. Auf geistigem Gebiet ist Autokratie allein schöpferisch – nur die Sphäre der Selbstherrschaft bedarf jeweils sinngemäßer Abgrenzung; denn da alle Initiative aus der Substanz des Einzigen stammt, so kann nur der innerlich Einsame produzieren. Soll nun die Distanz, die den Führer im großen macht, unabhängig vom Zufall der Begabung als historischer Faktor bestehen, dann muß eben äußerliche Distanzierung nachhelfen. Hier liegt der Sinn sowohl der militärischen Hierarchie, wie der höfischen Etikette. Und es ist tatsächlich möglich, hier äußerlich nachzuhelfen. Tradition kann Begabung in hohem Grad ersetzen. Daher denn die absolute Überlegenheit des Grandseigneurs, der seiner Stellung innerlich gewachsen ist, über allen anderen Typen – Typen, wohlgemerkt, nicht Individuen. Dies gilt in historischem Zusammenhange sogar dort, wo der Grandseigneur von minderwertiger Substanz, doch sonst hochbegabt ist; dies beweist für alle Zeiten das Sinnbild Talleyrand. Dessen in Blut und historisch-politischem Instinkt verwurzelte, zur organischen Form gewordene Überlegenheit ermöglichte ihm, durch alle Umwälzungen hindurch der Führende zu bleiben. Er war nicht charakterlos, er stand vielmehr über dem, was in beschränkten Verhältnissen den Charakter macht; er verkörperte nichts Geringeres als den Geist der Kontinuität der Geschichte in Person. Ich nannte hier absichtlich den großen Herrn, gegen welchen am leichtesten Einwände haltbar sind; seine sämtlichen Fehler gebe ich zu. Worauf es aber ankommt, ist, daß seine Vorzüge absolute Vorzüge waren; sie bedingten Überlegenheit schlechtweg, weil Überlegenheit über dem Menschen als solchen. Der Mensch als solcher ist nun einmal die Voraussetzung alles Sonder-Denkens und -Handelns. Nicht nur von höherer Warte aus betrachtet, nein, vor Gott sehen die Menschen so aus, wie der Grandseigneur sie instinktiv beurteilt. Der Grandseigneur ist eben der Höchstausdruck des Menschen, nicht im Sinn eines bestimmten Könners, sondern als Menschen. Dies wußte die Antike, gleiches die germanische Helden- und Ritterzeit. Und jetzt können wir auch erklären, warum dies trotz der spezifischen Grenzen des seigneurialen Typus gilt; dazu verhilft uns am besten die unvermittelte Gegenüberstellung mit dem Ideal, welches Jesus, aufstellte. Warum verherrlichte dieser den Mühseligen und Beladenen, den Geringen und Stillen im Lande? Weil er nur den Insichgekehrten meinte; selbstverständlich, insofern sein Reich nicht von dieser Welt war. Der Insichgekehrte ist tatsächlich nur in Form der Bescheidenheit dem äußeren Leben angepaßt; er kann es, seiner Struktur nach, nicht beherrschen. Aber ebendeshalb darf er in dieser Welt auch nicht den Ton angeben. Mag er's im Jenseits tun – à chacun son tour – in dieser Welt ist er dem Ausstrahlenden unterlegen. Deshalb kann dessen Typus allein das Höchstbild des Menschen überhaupt verkörpern.
Daß der Grandseigneur dies nun tatsächlich tut, beweist letztgültig die eigentümliche Konvergenz seines Typs mit dem des Weisen. Der letztere sieht die Welt nicht anders wie jener. Nur hat jener den Vorzug, es auch ohne Ausnahmebegabung zu vermögen. Einige Beispiele der Übereinstimmung zwischen absolut-wahrem und typisch-seigneurialem Werturteil: Schopenhauer beschimpfte Hegel; natürlich aus »sachlichen Gründen«: der Grandseigneur kann in dergleichen nie anderes als Primadonnenstreitigkeiten sehen; es gibt wirklich nie einen sachlichen Grund, einen anderen persönlich zu beschimpfen; der Begriff »sachliches Pathos«, zur Rechtfertigung dieses verwandt, beweist jedesmal übelstes Ressentiment. Ebensowenig hat es je tiefere Gründe, wenn einer anderen Substanz abstreitet. Freilich gibt es eine Rangordnung der Geister; diese bezieht sich auf den Grad der persönlichen und bewußten Verwurzelung in ihrer Substanz sowie ihrer Ausdruckskraft. Aber »an sich« steht Substanz hinter jedem; »an sich« ist keine Art der Verwurzelung und keine Erscheinungsform solcher Verwurzeltheit der anderen überlegen, denn jede hängt von äußerlichen Umständen ab; man kann gleich tief sein bei Zentriertheit in Wille, Seele, Geist, Macht, Schau, bei Zukehrung nach innen oder außen. Solches weiß jeder echte große Herr instinktiv. Und weiter: im Machtkampf ist dieser so rücksichtslos wie nur irgendeiner; eingestandenermaßen will er unter Umständen seines Gegners Tod; Aber wer nicht den Mut zum erklärten Vernichtungswillen hat und dann doch angreift, den verachtet er, so er nicht in grundsätzlich positivem Zusammenhange kritisiert, d. h. das Negative, das er sagen muß, durch desto stärkere Betonung des Positiven kompensiert. Sieht ein Gegner dieses Positive nicht oder verschweigt er es, so ist ihm selbstverständlich, daß dieses bösen Willen zur Ursache hat; den Gegner zu ehren, ist das erste Wort der Ritterlichkeit. Andererseits kann der Grandseigneur auch nie so überschätzen, wie dies unter Kleinen Sitte ist. Kein Mensch ist mehr als Mensch; auch den größten beurteilt er auf der Ebene des Allgemein-Menschlichen. Oh, aus der Weisheit seines Blutes weiß er viel. Er weiß auch ohne psychoanalytische Schulung, daß wer den einen zum Gott, erhebt sich anderen gegenüber desto »grenzenloser erdreustend«, dabei sich, selbst meint. Er weiß, daß es dasselbe bedeutet, ob einer als Schwindler bespottet oder als Klassiker verhimmelt wird: in beiden Fällen ist die eigentliche Absicht Irrealisierung. Er weiß, daß, wenn einer gleichsinnig von allen hochverehrt wird, dies immer nur beweist, daß alle fühlen, daß der Verehrte nicht wirklich über ihnen steht, weshalb sie sich's leisten können, ihn zu verhimmeln. Er glaubt nur im Fall nachweislich großer Menschen – nicht großer Geister –, daß nicht persönliche Motive letztinstanzlich entscheiden …
Doch genug der Beispiele. Woher kommt nun dem Grandseigneur seine Gerechtigkeit? Sie ist der Ausdruck seines primären Einzigkeitsbewußtseins. Dies gelangt, wo das Blutserbe gut ist, kraft seiner bloßen Stellung zur Entfaltung. Der Grandseigneur ist ganz selbstverständlich im wahren Sinn bescheiden, d. h. er bescheidet sich bei dem, was er wirklich ist; bei seiner Größe oder Kleinheit, je nachdem. Er kommt niemals auf den Gedanken, sich mit irgend jemand zu vergleichen; so kann, so muß er jeden auf seiner Stufe gelten lassen; Neid zu fühlen, ist er physiologisch unfähig. Denn er weiß, daß sein einzig Wesenhaftes, seine Einzigkeit ihm niemand nehmen kann, daß diese unter allen Umständen unvergleichlich ist. So sieht der Grandseigneur, wo er an der Macht ist, alle Dinge von Hause aus im richtigen Verhältnis zueinander und kann sie deshalb beherrschen und dem Guten zulenken. Und ist er äußerlich machtlos, so kann das äußere Geschehen ihm innerlich nichts anhaben. Wohl muß auch er vieles von dem tun, was kleine Leute machen: auch er muß kämpfen, richten, ja vernichten. Aber dann tut er es aus überpersönlichem Gleichgewicht heraus. Wie ein ob seiner Härte vielfach Mißverstandener sagte: Je ne connais ni le ressentiment, ni la vengeance, mais je connais l'exécution capitale.
Was ich hier schildere, entspricht tatsächlich dem Idealbilde des Weisen, d. h. des Menschen, in dem der metaphysische Kern das äußere Leben bestimmt: der springende Punkt ist, daß er im Körper der Sonderart des Grandseigneurs allein als Typ verwirklichbar erscheint. Nur bei dieser Gestaltung liegt der Akzent primär auf der Einzigkeit, und in deren Dimension haben alle Werte ohne Ausnahme ihren Ort. Wer sich überhaupt vergleicht, wer in der Relation zu anderen überhaupt Werte sieht, der kann sie, wie schon das Christentum verstand, weder fassen noch verwirklichen Vgl. die Ausführung dieser Gedanken in Wiedergeburt. Einen besonderen Aspekt dieses Verhältnisses, der als Ergänzung des hier Gesagten besonders in Betracht kommt, behandelt der Aufsatz Von der wahren Selbstachtung im 14. Heft meines »Wegs zur Vollendung«.. Gewiß gibt es auch ein Überlegensein in Form der Niedrigkeit. Aber die ist als irdisch-mächtige Erscheinung, wie wir sahen, nicht darzustellen und erst recht nicht zu züchten. Mag sich das Allerhöchste vielleicht wirklich, der christlichen Lehre gemäß, am sinngemäßesten in irdischer Knechtsgestalt manifestieren – vielleicht postuliert der reine Geist die Spannung zur äußeren Machtlosigkeit, denn alle Macht ist von dieser Erde – großes Menschentum als Tradition im Rahmen irdischer Ordnung gab es immer nur auf den Höhen des Lebens und wird es bis zum Ende der Zeiten nur auf diesen geben. In beengter Lebensstellung verkrüppelt die Natur; daran ist nichts zu ändern. Überlegenheit setzt Selbstsicherheit voraus, und zu der erwächst ohne äußere Stützung nur die souveränste Seele. Hier ist denn der Ort, das dümmste Vorurteil der Nichtwissenden zu widerlegen: der Aristokrat sei wesentlich heteronom, denn er müsse in erster Linie scheinen. Irgendeinen Rahmen braucht jeder, außer der ganz großen Ausnahme, um sich zu halten. Aber keiner braucht so wenig äußere Stützung wie er. Wird von ihm verlangt, daß er scheine, so liegt der Akzent nicht auf dem Urteil der anderen, sondern darauf, daß er unter allen Umständen von innen heraus bestimmt sein, unter allen Umständen seine rein innerlich bedingte Haltung aus Selbstachtung wahren soll – nicht auf die Tatsache der Anerkennung von Normen kommt es ja an (jedes Ideal ist, objektiviert, ein insofern Äußerliches), sondern darauf, welche Normen gelten. Die Disziplin des Ehrenkodex bedeutet also nicht mehr und auch nichts anderes wie die Disziplin des Soldaten oder des geistlichen Asketen. Tatsächlich ist der Grandseigneur der eine Menschentypus, der an seinem Sein genug hat, der keiner Beweise für seinen Einzigkeitswert bedarf. Ebendeshalb läßt er allein alle anderen selbstverständlich gelten.
Ist es unter diesen Umständen sinngemäß, darob zu grollen, daß es bestimmte Schichten gibt oder vielmehr gab – denn sie sterben überall, außer in Ungarn, bis auf weiteres aus –, in denen der höchste Typ gezüchtet wurde? Ist es nicht vielmehr ein Glück, daß so etwas überhaupt existiert oder existieren kann, als polarisierendes Beispiel für die anderen? Das Ideal wäre gewiß, alle dahin zu bringen, wo bisher nur der privilegierte Aristokrat stand. Wird die Welt einmal so reich und so glücklich organisiert, daß alle unter günstigen Lebensbedingungen aufwachsen, so wird ein großer Teil der bisher herrschenden Niedrigkeit gewißlich aussterben; darin hat der historische Materialismus recht. Aber nie können alle seigneurial gesinnt werden, und dies aus zwei Gründen. Erstens hängt solche Gesinnung zu einem sehr großen Teil vom Blutserbe ab; und es gibt auf Erden, leider, schon weil die Edelsten sich opfern oder aufreiben, unverhältnismäßig viel mehr schlechtes als gutes Blut. Dann aber ist der Mensch ein Unterschiedswesen. Wie er nur in Funktion der nicht ausgeglichenen Spannungen seiner Seele persönlich lebendig ist, so ist ein Cosmos humanitatis nur denkbar in der Kontrapunktierung sich ergänzender Typen. Jeder kann auf irgendeine Weise »so« nur dann sein, wenn andere »anders« sind. Wo immer dies Gesetz verkannt wird, findet Rückbildung statt. Dies sieht man an der entsetzlichen Standardisierung, die der demokratische Gedanke auf dem ganzen Erdenrund immer mehr hervorbringt; der Mensch wird wirklich immer mehr »Fabrikware«, wie Schopenhauer den Durchschnitt hieß. Vor allem aber muß es Unterschiede aus zwei Gründen geben: erstens, weil nur deren Existenz die Spannungen schafft, durch die differenzierte Qualitäten entstehen, handele es sich um Führer oder sonstige spezifische Seinstypen. Dann weil die neidlose Anerkennung von Unterschieden die erste Vorbedingung höheren Menschentums ist, weil sie allein echtes Einzigkeitsbewußtsein schafft. Es ist eben ein radikales Mißverständnis, von der Gleichheit auszugehen: der Einzige allein gibt den sinngemäßen Ausgangspunkt ab Vgl. die Ausführung dieser Gedanken im Aufsatz Vom falschen Gemeinschaftsideal im 14. Heft meines »Wegs zur Vollendung«.. Nun gehört jeder Einzige seinerseits einem Typus an, und die Vergemeinschaftung mit dessen Vertretern hat allerdings Sinn. Daher die innere Wahrheit der Ständeordnung. Sie ist die einzig sinngemäße Ordnung, nur muß sie so dehnbar sein, daß das Vererbungs- und Herkunftsmoment nicht mehr bedeuten, als wie sie sinngemäß bedeuten können. – Mich deucht, diese kurzen Gedankengänge genügen zur Begründung des Existenzrechts eines besonderen Adelstandes. Nur wo sich »Herren« im Unterschied zu anderen entwickeln konnten, gab es je Herren überhaupt. Dementsprechend waren alle große Zeiten solche des bestimmenden Grandseigneurs. Keine große Zeit nahm diesem auch je sein unbefangenes Glänzen übel. Heute liegen die Dinge freilich anders. Alfred Fabre-Luce schreibt darüber so prägnant, daß ich am besten seine Worte hersetze: »Dans les sociétés démocratiques, tout l'art des ambitieux est de créer d'abord les sentiments populaires qu'ils seront en suite obligés de suivre. Ils doivent appliquer leur volonté à la dissimuler; nier leurs grands desseins, même quand ils se réalisent, car la franchise romprait cette vague unanimité, qui est la condition de leur réussite; chercher plutôt à favoriser, dans l'interprétation de l'histoire par la nation, les contresens, féconds générateurs de haine et de docilité patriotique. Ils doivent sembler n'avoir pas les intentions des grandes choses qu'ils font. Ainsi toutes leurs actions se trouvent dégradées d'hypocrisie.« In der Tat darf man heute um Gottes willen keinen Rechtstitel zur Macht haben, will man solche ausüben; wer diktatorisch regieren will, darf sich heute allerhöchstens Generalsekretär betiteln. Und am besten ist, er leugnet jede Bedeutung der Persönlichkeit überhaupt, so wie dies Lenin tat. Letzterer war dabei ohne Zweifel ehrlich. Im allgemeinen gilt das Gegenteil. Je mehr einer in seinen Worten von Einfluß und Wirkung nichts wissen will, desto sicherer ist bei ihm auf Hypertrophie des Machtwillens zu schließen.
Doch nun zu dem Einwand, der gegen den Typus des Grandseigneurs am häufigsten vorgebracht wird, und er führt uns zum Spezialfall Ungarn zurück: er betrifft sein Spielerisches; es fehle ihm an Ernst. Hier weist ein deutsch-ungarisches Sprichwort den kürzesten Weg zur richtigen Einsicht. Es lautet:
Verstand hat jedermann,
Vernunft – Husar und Edelmann,
Aber Witz – nur Magnat und höhere Geistlichkeit.
(Sprich: Mógnat und hähäre Geestlichkeit.)
Tatsächlich ist das, was hier unter Witz als Wesenszug gemeint wird, nichts anderes als Leichtigkeit. Die nun ist genau im selben Sinn der eine gewisse Exponent der inneren Überlegenheit, wie die Grazie allein vollkommene Beherrschung der Gesetze der Schwere beweist. Oft möchte ich weinen, wenn ich von sonst ernst zu nehmenden Geistigen aussprechen höre: was ich da sage, ist kein leichtes Spiel, ich habe mit dem Problem gerungen; und wenn andere ein Werk dafür preisen, daß man ihm die schwere Arbeit ansehe. Solche Gesinnung ist schlechthin minderwertig, schon vom bloßen Arbeits-Ethos her beurteilt; wie Walter Pater sagte: only work can efface the footsteps of work. Vor allem aber ist sie's, weil sie die Schwarzarbeit über die erreichte Meisterschaft stellt. Wem Dinge schwerfallen, der ist dem, welchem sie leicht fallen, unter allen Umständen und in allen Hinsichten unterlegen; machen Kritiker einem freien Geist zum Vorwurf, daß er wie spielend mit Ergebnissen mühsamer Forschung schalte, so bedeutet es gleiches, als wenn Bismarck zum Vorwurf gemacht würde, er hätte spielend leicht das deutsche Reich geschaffen, während sein Koch mühselig in der Küche schwitzte, um ihn bei Gesundheit zu erhalten. Und ebenso unbedingt beweist Tod-Ernstnehmen und Humorlosigkeit Subalternität. Sicher hat Dean Inge recht, wenn er von Gott voraussetzt, daß er vor allem einen keen sense of humour haben müsse. Nur handelt es sich dabei nicht um humour im englischen Sinn, der eine bürgerliche Tugend ist – dieser transponiert das Sich-Abfinden auf gleicher Ebene mit dem Beengenden in die Sphäre der Heiterkeit, hat also eine wesentlich soziale Grundlage –, sondern das göttliche Lachen dessen, welcher allem, was Menschen untereinander so furchtbar ernst nehmen, innerlich überlegen ist. Ein Abglanz dieses göttlichen Lachens ist eben das, was das ungarische Sprichwort unter Witz versteht. Als Übergang vom Göttlichen zum Menschlichen diene das Beispiel des Papstes Leo XIII., der einem enfant terrible hochkatholischer Kreise, das durchaus mit seinem eigenen Kopfe denken wollte, einmal auf deutsch ins Ohr sagte: »Stellen Sie sich scheintot, dann werde ich mich scheinheilig stellen.« O wenn die Spießer nur wüßten, in wie leichter Form alle, wirklich ernsten Entscheidungen unter überlegenen Menschen fallen! Der wirklich Ernste lacht nämlich nicht allein gelegentlich am herzlichsten: es ist ihm vor allem ganz unmöglich, das, was ihm Tiefstes bedeutet, zu exhibieren. Er äußert es, wo es am Platz ist, in möglichst unpersönlichem Zusammenhang; in diesem stellt er, wo nötig, auch seine Person heraus. Aber nie nimmt er sich und eine Sache an sich so ernst, wie es die Schein-Tiefen tun, die ihre Tiefe unablässig auskramen. Das Tiefe muß eben in der Tiefe bleiben und von dort her wirken, um tief zu bleiben; insofern sind die meisten tiefen Reden und tiefen Erlebnis-Bücher nicht bloß unanständig, sondern auch flach: das Tiefe, an der Oberfläche gezeigt, wird oberflächlich. Deswegen war ein gewisses enjouement für jeden wahrhaft Tiefen charakteristisch; sogar für Goethe, der sonst wahrhaftig pedantisch genug war. So bedeutet die äußere Leichtigkeit des französischen Volks recht eigentlich den Exponenten seiner moralischen Kraft, das Über-das-Tiefste-Hinweggleiten der Briten ihre Substanzverwurzelung. Dem Adel nun sind Haltung und Sicherheit Grundnormen. Ebendeshalb ist er, nach außen zu, typischerweise spielerisch. Daß sich bei der Masse das Negative dieses Zuges häufiger als sein Positives zeigt, ist nur ein Sonderausdruck der allgemeinen Tatsache, daß es mehr unbedeutende als bedeutende Menschen gibt.
Aber im Gezeigten liegt nicht die einzige Wurzel des betrachteten Charakterzugs. Spielertum ist der Normalausdruck der Aufsichnahme von Risiko, und hier liegt, wie ich in Wiedergeburt ausgeführt habe, der eigentliche Sinn der Freiheit; beim Spieler im üblichen Hazardsinn ruht nur der Akzent falsch, nämlich auf dem Zufall als Tatsache, nicht dessen Meisterung von innen heraus. Spielertum ist also grundsätzlich nichts als das Zeichen innerer Überlegenheit über die Tatsachenwelt. Auch deshalb spielen die Kinder. So hat auch nur der mit dem Tode Spielende, wie dies die Norm des Edelmanns verlangt, zu dessen Ernst das richtige Verhältnis. Eine Weile verkehrte ich mit einem Okkultisten, welcher wirklich, soweit Wahrhaftigkeit und Echtheit entscheiden, vom Fortleben nach dem Tode persönlich wußte und in anderen, geistigen Welten zu Hause schien. Immer wieder kam er mir mit Seligkeit, mit der Schwere des Jenseitswegs, der bei jedem großen Geist besonders schwer erschiene. Man solle nur hübsch in der Ordnung Gottes bleiben, dann ginge alles leicht. Ich fragte ihn schließlich: Ist Ihnen denn gar nicht verständlich, daß, wer sein irdisches Leben aus Mut und Wahrhaftigkeit fortwerfen kann, aus den gleichen Gründen unter Umständen auch Jenseitsqual und geistigen Tod erwählt? Ist Ihnen nicht klar, daß keinem Edelgesinnten Glückserwägungen das mindeste bedeuten? Sehen Sie denn nicht, daß jeder höhere Mensch eben das Risiko selbstverständlich auf sich nahm, das Sie vermindern wollen, ja daß der ganze Wert des Menschentums auf der Möglichkeit solcher Selbstverantwortung beruht? Jeder Edle ist insofern, in der Tat, ein Don Quixote, als seine persönlich-geistige Welt ihm mehr bedeutet als alle Gegebenheit und alle geltenden Normen. – Endlich beweist Spielertum Überlegenheit über das Sachliche überhaupt. Keine Sache ist wirklich ernst zu nehmen, nur der lebende Mensch ist es; hier berührt sich wieder einmal die Norm des Edelmanns mit der des Christentums. Oberster aristokratischer Grundsatz ist, daß es aufs Wer ankommt und nicht aufs Was, auch nicht auf Gut und Böse, Recht und Unrecht, Leben und Tod an sich. Daher denn das Duell: es soll nicht objektiv entschieden werden, wer recht oder unrecht hat – wer wollte das je gültig entscheiden? –, sondern, wo ein Konflikt einmal besteht, wird er von Mensch zu Mensch ausgetragen, wobei sich der, welcher im Recht ist, den gleichen Gefahren aussetzt wie der andere.
Aus voller Überzeugung sang ich das Hohe Lied des Grandseigneurs. Und aus voller Überzeugung tat ich's, anläßlich Ungarns, gerade in diesem Europa-Buch. Denn alles, was Europa jemals groß gemacht, beruht auf dem aristokratischen Geist, welcher heute nur noch Ungarn als Volk belebt. Die Ungarn kamen als Eroberer zu uns: aber als Eroberervölker haben alle Europäer begonnen; das Eroberer-Ethos ist das Europäer-Ethos schlechthin. Dem Arbeits-Ethos alle Ehre; die Frage, daß die einen arbeiten sollen und andere gar nicht, stellt sich für keine Zukunft mehr; für Ausbeutung ist nichts zu sagen. Aber das Ideal besteht mitnichten im endgültigen Sieg des Arbeits-Ethos. Alle Arbeit als solche ist subaltern; nichts Wesentliches geschah jemals durch sie; alle wichtigen Entscheidungen fielen jenseits der bloßen Beschäftigungsmöglichkeit. Kein wesentlich schöpferischer Geist war jemals wesentlich Arbeiter. Selbstverständlich mußte auch er arbeiten – dies gehört nun einmal zum Schicksal, gleich wie das Herz dauernd schlagen muß; drei Viertel alles Lebens bestehen unabwendbar in Routine. Aber nie liegt auf ihr beim Schöpferischen der Akzent. Wohl arbeitet er meist mehr als der Sterile, aber er tut es, als täte er es nicht. Er weiß vielmehr: wo Arbeit nicht bloße Ausführung bedeutet, dort hindert sie die Auswirkung des Wesentlichen. Und selbst die Ausführung kann das Inspirative stören. Allerdings wird Muße im griechischen und englischen Sinn kaum je mehr allgemeine Lebensform auf Erden werden; dazu ist die Unterlage möglichen freien Lebens zu kompliziert geworden. Aber die erforderliche Arbeit wird andererseits immer weniger Aufmerksamkeit beanspruchen. Darin, nicht in der Möglichkeit immer größerer und billigerer Produktion liegt der Segen der Erfindung der Maschine. Höheres Menschentum ist dort allein entwicklungsfähig, wo der Mensch sich als Herr fühlt und nicht als Knecht.
Dank der Maschine kommen wir vielleicht äußerlich so weit, daß Knechtstum überhaupt aufhört. Aber vor ihrer Erfindung konnte Arbeitsethos nur Sklaven- oder Unterdrücktenethos sein. Deshalb haben die Juden es erfunden. Deshalb war es in vormodernen Tagen nur in Theokratien von breitesten Volksschichten innerlich akzeptiert; so in Ägypten und Peru. Die heutige Arbeitsverherrlichung, wie sie zumal in Deutschland blüht – hier allein hat die unwürdige Bestimmung des Geistesmenschen als »geistigen Arbeiters« Kurs –, ist nur als Übergangserscheinung nicht Zeichen von Niedergang: sie führt den innerlich noch Unfreien – und das sind die allermeisten Heutigen, deren Großväter noch als getreue Untertanen »erstarben« – in langsamem Übergang dem Zustand des Freien zu. In der vormodernen Welt nun bestand ausschließlich für den geborenen Herren oder aber für den, der sich diese Stellung eroberte, die Möglichkeit der Freiheit. Deshalb wurden alle bisherigen Kulturen von Eroberervölkern begründet. Nur der sich als Herr Fühlende kann eben andere gelten lassen; nur er kann es sich leisten, Qualität als solche anzuerkennen, nur er ist ungebunden, von zwingender Konvention. Wo alle bedrückt sind, entsteht zwangsläufig Ghetto-Gesinnung, d. h. die Herrschaft des Ideals der Sardinenbüchse, in welcher alle gleich biegen oder wo, falls die eine über der anderen zu liegen kommt, dies nichts bedeutet. Wo alle nur in dem Sinne frei sind, wie die Schweizer zuerst es waren und es heute in den meisten Demokratien in die Erscheinung tritt, d. h. wo allen gleiche Gelegenheit geboten wird, sich heraufzuarbeiten, herrscht zwangsläufig der Neid, das Qualitative wird unterdrückt und als höchstwertig gilt das gerade knapp Normale; da wird sogar der Große allenfalls nur anerkannt, soweit er Normalmensch ist, in dem Sinn etwa, wie ein Abgeordneter bei der Beerdigung Alfred de Mussets (ausgerechnet dieses!) pathetisch sagte: Il fut non seulement un grand poête, il fut un honnête homme. Solche persönlichkeitsverneinende Gesinnung, erkennt denn natürlich, desto mehr das Geld als wertbestimmend an. Erstens ist dieses an sich qualitätslos; jeder könnte es haben, was von Gesinnung und Kultur nicht gilt. Vor allem ist aber der Arbeitende gewohnt, bezahlt zu werden und den Wert des »Arbeitgebers« nach dessen Zahlkraft einzuschätzen. Dies führt uns denn zum Sonderfall Amerika. In diesem freien Land, in welchem jedes Herrentum geleugnet wird, wird dem Bezahlenden auf dem Gebiete, wo er zahlt, absolute Macht selbstverständlich eingeräumt, sogar über die Gesinnung. Vor allem aber beweist Amerika endgültig die absolute Superiorität des ursprünglich Freien dadurch, daß in diesem Neuland, das von armen Flüchtlingen zuerst bevölkert wurde, welche Freiheit demzufolge nicht im Sinn des Herrentums, sondern der Ungebundenheit durch Herren verstanden, trotz der sonstigen Selbständigkeit jedes einzelnen kein innerlich freier Menschentyp erwächst. Dort ist normalcy immer mehr Ideal; wehe dem, der über den Durchschnitt hinauswächst. Dort bedeutet Standardisation dasselbe wie im alten Europa ausschließliche Qualität. Der innerlich Unfreie fühlt sich eben nur sicher, wo er »wie alle« ist, und alle sind wie er. Eben daher der Konventionalismus der Amerikaner, der jeden europäischen hundertfach übertrifft. Nun sollten freilich alle zu Herren werden. Aber die angeführten Beispiele zeigen, wie langsam dies gelingt. Das Unbewußte wird von den fernen Vorfahren regiert. So hat Hendrik de Man in seiner Psychologie des Sozialismus nachgewiesen, daß gerade das sozialistische, also das nachbürgerliche Ideal noch durchaus Exponent psychologischer Ansprüche ist, die aus der Feudalzeit stammen. Deswegen rede man ja nicht von qualitativem Fortschritt, wenn man der Ablösung der Aristokratie durch Demokratie gedenkt. Sie kann einen absolut höheren Zustand vorbereiten, indem sie der Knechtsgesinnung die äußerliche Basis nimmt; erreicht wäre jener erst, wenn dank ihr alle zu Herrenmenschen würden, also gerade zu dem, worüber die Demokratie hinausgeführt zu haben wähnt. Und das wird nur sehr langsam gelingen, weil dazu – um es paradox zu fassen – erforderlich wäre, daß alle im gleichen Sinne privilegiert würden, wie ehedem der Adel. Je edler ein Wesen nämlich, desto sonderlicherer Lebensbedingungen bedarf es; heraufarbeiten kann sich gerade der Beste nicht.
So ist es denn kein Wunder, daß alle bisherige Kultur von Eroberervölkern gegründet wurde. Sie allein konnten aus psychologischen Gründen Herren sein. Gewiß beruht eben hierauf das Unzulängliche der bisherigen Kulturen. Der kleine Mann oder der Mann auf der Straße wäre nie zum Ideal geworden, hätte er nicht zeitweilig unwürdige Behandlung erlitten. Die alten Mißstände in dieser Hinsicht zu beseitigen, darin liegt die positive Aufgabe dieser gleichheitsgläubigen Übergangszeit. Doch das Ideal verkörpern nach wie vor die Herrenvölker. Wäre es anders, die Engländer, diese faulsten aller bestimmenden Europäer, die hauptsächlich deshalb, könnte man sagen, Herreneigenschaften entwickeln, weil sie nicht arbeiten wollen, besäßen nicht die größte werbende Kraft. Doch das wahre Menschheitsideal verkörpert noch nicht das Kompromißprodukt des englischen Gentleman: dies tut allein der Grandseigneur. Er ist der eine Typus, den es gibt, von bestimmendem Einzigkeitsbewußtsein. Er ist der eine, der den Nächsten um seiner selbst willen, aus schenkender Tugend liebt. Er ist der eine, in dem das Wesen alle Erscheinung regiert. Deshalb ist die Vorherrschaft seines Ethos die einzige Gewähr für echte Kultur überhaupt in irgendeinem Sinn. – Versteht man nun, warum ich Ungarn so hochstelle? Es ist das einzige Land Europas, in dem dieses Höchstwertige grundsätzlich noch bestimmt. Es bestimmt nicht in idealer Verkörperung, fern davon. Doch es bestimmt überhaupt. Und da nur sichtbare Ideale bildend wirken, so ist es von größter Bedeutung für Europa, daß Ungarn richtig gewürdigt werde.
Doch nun endlich zum Spezialprobleme dieses Landes. Dieses habe ich bisher vor allem als Sinnbild behandelt, und ich gab schon zu verstehen, daß die Wirklichkeit dem Ideal nur in bedingtem Grade entspricht. Und hier muß ich sogar, nach dem Vorhergegangenen, mehr abdämpfen, als mir persönlich lieb ist, damit der Leser das Grundsätzliche nicht unwillkürlich auf den Sonderzustand übertrage. Das feudale Ungarn stellt in der modernen Welt, bei allen seinen absoluten Vorzügen, natürlich auch ein Zurückgebliebenes dar, und vieles wird sehr anders werden müssen, ehe Ungarn das werden kann, was in ihm liegt. Repräsentative Stellung bedingt, wo das Volk bestimmte Typen als repräsentativ nicht anerkennt oder wo ihr Repräsentantentum dem Zeitgeist nicht mehr entspricht, unter allen Umständen, selbst im Fall des größten persönlichen und Gruppen-Wertes, physiologische Rückbildung; sei es im Sinn der Verknöcherung, des nicht-mehr-Verstehens dessen, was um sie her vorgeht, oder der Entartung. Dies hat sich am tragischsten beim baltischen Adel erwiesen, insofern dieser noch das »Land« zu vertreten glaubte, wo er es nicht mehr vertrat – das Land im historischen Sinn ist nie die Scholle, sondern das auf ihr vorherrschende Menschentum – insofern er bis zu seinem Sturz für geschichtlich tote Ideale weiterkämpfte und sich nicht fähig erwies, die neuen Zeitaufgaben rechtzeitig zu erkennen. In Ungarn liegen die Verhältnisse ganz anders, weil der ungarische Adel das Land tatsächlich repräsentiert, die Gesamtbevölkerung aristokratisch gesinnt ist, eine kastenmäßige Abschließung nie stattfand und überdies der politische Instinkt so groß ist, daß für den Adel als ganzen verhängnisvolle Fehler im großen sogar in der Umsturzzeit nicht vorgekommen sind. Aber die alten Aristokratien als solche sind in der neuen Welt nicht mehr die geborenen Führer. Deshalb hat ihr Repräsentieren im großen und ganzen nicht mehr das Pathos letzter Verantwortung; entsprechend nimmt das rein Spielerische in ihrer inneren Verfassung zu. Und die Sonderart der Herrenstellung der ungarischen Aristokraten, die dem Allgemeinzustande des 17. Jahrhunderts zuletzt ganz gemäß war, hat ihre Seelen entsprechend primitiv erhalten. Genau so wie Sklaverei dem Sklavenhalter mehr noch schadet als dem Sklaven, hemmt die bloße Möglichkeit, einen Diener unter Umständen schlagen zu können, die Entwicklung zu der Überlegenheit, die den Grandseigneur auch ohne Privilegien als Höchsttypus erscheinen läßt. Die Seelen ungarischer Magnaten sind, bei ihrer großen Verstandesbegabung und ihrem prachtvollen Temperament, in diesem Sinne überraschend primitiv. Und diese Primitivität, nicht nur die verlorene letzte Verantwortlichkeit, erklärt das Extreme ihres Spielertums. Dieses geht dort gelegentlich heute noch beinahe so weit, wie in Indien im Zeitalter des Mahabharatam, wo Fürsten ihre Frauen verspielten. Ebendaher die häufige Phantastik ihrer Politik – zur Phantastik führt Phantasie immer nur den, dessen geistgeborene Einbildungskraft noch nicht so weit ist, sich der Wirklichkeit organisch einzugliedern. Für beides gibt Michael Károlyi das extreme Beispiel. Er spielte als Politiker va banque, auf ganz unwahrscheinliche Möglichkeiten hin. Und dies tat er hauptsächlich einer Frau zulieb. Die Sonderart des ungarischen Legitimismus ist ihrerseits irrealen Geists. Vorzeitlichen und insofern verjährten Geistes sind die Magyaren auch in ihrem fortlebenden Duellantentum, das an die Bretteur-Zeit Rußlands gemahnt, sowie in dem, daß sie mehr Parlamentarier als Politiker sind: das Debattieren kann nur dort als Selbstzweck gelten, wo eine Ordnung ein für alle Male fest- und wo dabei nichts Wesentliches in Frage steht. Daher die merkwürdige bisherige Armut dieser hochbegabten Nation an entsprechend bedeutenden Persönlichkeiten: solche entwickeln sich nicht; Unwesentliches gilt in Ungarn so sehr als wesentlich, daß das ursprünglich Schöpferische entweder verborgen bleibt oder verschüttet wird und keinesfalls seiner besten Eigenart gemäß zur bestimmenden Macht wird.
Trotz allen diesen Mißständen war es, noch einmal, berechtigt, daß ich gerade anläßlich Ungarns meine Betrachtung über den absoluten Wert des seigneurialen Typus anstellte. Denn wie immer es heute sei: dieser Typus kann in diesem durchaus vornehmen Volk auf evolutivem Wege neu und zeitgemäß werden. Hier bedeutet das Zurückgebliebensein im großen und ganzen nicht Erledigtheit, sondern historische Jugend. Die Ungarn sind ein noch wesentlich unverbrauchtes Volk. Bisher haben sie wahrscheinlich nur gerade ihr frühes Mittelalter hinter sich. Herrschte das bürgerliche Zeitalter nun weiter, dann blieben sie vermutlich noch lange im Hintertreffen. Nun aber ist es um. In allen Kreisen, nicht zuletzt denen des Proletariats, lebt die Sehnsucht nach einem neuen adligen Ideal. Darum besteht die Möglichkeit, daß die Magyaren, auf anderem Wege wie die Italiener und die Russen, einige Etappen überspringen und so auf einmal höher hinaufgelangen als sie je standen. Hierfür spricht nicht zuletzt ihre geopolitische Lage. Sie sind allen ihren Nachbarvölkern überlegen. Sie sind ebenso urwüchsig und nicht minder schlau als irgendeins von diesen. Und dabei tragen sie eine noch ältere parlamentarische, also modern-politische Erfahrung in ihrem Blute als die Briten. Sie sind ein politisch reifes Volk; dies ist ja auf allen Stufen möglich, sonst hätte es nicht schon vor der Moderne politisch reife Völker gegeben. So ist denn nichts verständlicher, als daß die magyarische Nation es einstimmig als Unbill empfindet, wenn sie zurzeit unter die Unterdrückten geraten ist; sie kann gar nicht anders empfinden, als wie die englische unter ähnlichen äußeren Verhältnissen täte. Ich behandelte hier im ganzen nur den Hochadel. Aber was von diesem gilt, gilt grundsätzlich von allen echten Magyaren. In allen Kreisen herrscht der gleiche Geist, das gleiche Ideal; deshalb allein wird ja der Hochadel gelten gelassen. So befindet sich Ungarn, innenpolitisch betrachtet, in einem ähnlichen Zustand wie England etwa zur Zeit Robert Peels; und das ist nur vom Standpunkt der Rückblickenden ein Nachteil: vom Standpunkt der Vorausschauenden bedeutet es einfach Unverbrauchtheit. Also müssen die Magyaren wieder hochkommen. Und sie tun es auch schon mit Riesenschritten. Außenpolitisch kann es gewiß nur langsam vorwärts gehen. Das Volk ist klein, durch furchtbare Zwangsverträge gefesselt. Aber wie geht es im Inneren voran! Während der letzten Jahre kam ich öfters nach Budapest: jedesmal strömte mir eine kräftigere, vitalere Atmosphäre entgegen. So besteht für mich kein Zweifel, daß Ungarn in nicht mehr ferner Zeit eine bedeutendere Rolle im nahen Osten spielen wird als je vorher.
Hier ist denn der Ort für eine Betrachtung über die Blutsfrage. Meiner Ansicht nach beruht die Überlegenheit der Magyaren in sehr hohem Grade auf ihrer turanischen Blutbeimischung. In der ganzen Geschichte haben sich die Turanier als die Rasse erwiesen, welche die größten Herrschertypen gebiert. Nie haben Arier, die es an Blutdurst und Zerstörungstrieb mit allen Stämmen aufnehmen konnten, auch nur annähernd ähnlich Gewaltige hervorgebracht, wie es Attila, Dschengis Khan und Timur waren. Und wo immer turanisches Blut sich mit anderem hochgezüchteten mischte, ergab dies Einzelpersönlichkeiten von einzigartiger Überlegenheit. Nie hat der Westen einen Mann geboren, welcher Akbar gliche, dieser Kreuzung von Timuriden- und Rajputblut. Beinahe jedesmal, wo sich ganz großes Willensmenschentum offenbarte, legen die Züge die Annahme noch so weit zurückliegenden mongolischen Bluteinschlags nahe; so neuerdings bei Lenin nicht allein, sondern auch bei Clémenceau. Ähnlich nun liegen die Dinge völkisch. Wo Turanier sich günstig vermischten, ergab dies Völker von Adel und Schönheit. Die Türken, die zuerst nach Kleinasien kamen, sahen den heutigen Kalmücken gleich; die Byzantiner fanden nicht genug der höhnenden Worte ob ihrer Scheußlichkeit. Seit lange nun sind die echten Türken nicht nur eines der vornehmsten, sondern auch der schönsten Völker. Nicht anders steht es mit den Magyaren im Vergleich zu denen, welche zuerst in die Pußta einfielen. Die besondere Tugend turanischen Bluts erweist sich aber vor allem an der Charakterstärke. Ein großes Volk sind die Russen nicht ob ihres Slaventums, sondern dank der Kraft, die Mongolenblut ihnen und keinem anderen Slavenstamm in gleicher Qualität und gleichem Maße zumischte; so kam die großartige Spannung zwischen weichem Seelentum und harter Herrschaftlichkeit zustande, die den russischen Menschen so weit erscheinen läßt. Dank gleichartiger Kraft unterscheiden sich die Magyaren von allen Völkern, mit denen sie seit Jahrhunderten zusammenwohnen, an die sie angrenzen und mit denen sie sich auch immer wieder vermischt haben; im Fall turanischen Bluts scheint nämlich geringste Zumischung zu genügen, um dessen Grundvorzüge zu vererben; die ungarischen Magnaten haben sich von jeher mit österreichischen und deutschen verschwägert und sind doch ganz anders stark als sie; die Türken gar haben von jeher ihre Frauen beliebig gewählt und sind doch ein reines Herrenvolk verblieben. Ohne Zweifel rührt andererseits auch das Negative am ungarischen Charakter vom Turanierblute her. Nicht allein ist ihre Prachtliebe oft östlich im schlechten Sinn; nicht allein ist ihre Eitelkeit im unangenehmen Sinne orientalisch – aus irgendeinem Grunde nimmt diese von Mitteleuropa bis zum Bosporus proportional der Kilometerzahl zu, so daß der alttürkische Höflichkeitskodex vor einem andern sogar zu denken verbietet, was diesem nicht genehm sein könnte und jeder griechische Kellner das Selbstgefühl eines Alkibiades zur Schau trägt: die seelische Unentwickeltheit, von der ich vorhin schrieb, hat sicher mit zur Ursache, daß eine gewisse angeborene Seelenlosigkeit besteht. Spricht ein Deutscher von Seele, so versteht der Magyare instinktiv darunter Herz oder Temperament, also das, was jener mit »Seele« gerade nicht meint. Alle Turanier sind nüchtern, unmetaphysisch, durchaus von dieser Welt. Sie erschienen im ganzen Verlauf ihrer Geschichte nicht nur insofern als seelenlos, weil sie wesentlich »taten« und deshalb nicht viel »erleben« konnten: ihre Naturanlage ist eine einseitig kriegerische und herrscherische, und das will sagen: sie sind Menschen von Phantasie und Willen; doch von gering entwickeltem Gefühl. Jeder Menschentyp ist einseitig; wer Länder überrennen, Völker beherrschen will, dem muß, außer in genialem Ausnahmefall, das Sympathievermögen des gefühlsbegabten Pathikers fehlen. Aber die turanische Nüchternheit ist auch unter Herrenvölkern ein besonderes; ebendeshalb erscheint sie durch so wildes Dionysiertum kompensiert. Hier führt ein Vergleich mit den blutsverwandten Russen tatarischer Abstammung, den Türken und den Esten zur besten Bestimmung. Das mit finnischem und mongolischem Blut durchsetzte russische Bauerntum ist ohne jeden Idealismus im westlichen Verstand. Idealistisch war in Rußland allein der Adel, dessen Blut vorwiegend slawisch und litauisch, mit germanischem Einschlag war; aber sogar Leo Tolstoi konnte behaupten, ein einziges Paar Stiefel sei wichtiger als alle Kunst. Heute nun tritt im Geist des Bolschewismus rein turanischer Geist zutage: seine Welt entbehrt jeder Gefühlskomponente, jedes Verständnisses für nicht praktische Werte. Die Türken waren immer nur als Herren groß; an Geistigkeit und Seelenhaftigkeit standen sie unter den beherrschten Völkern. Bei den Esten nun geht die turanische Nüchternheit so weit, daß andere als rein praktische Fragen überhaupt nicht verstanden werden; sie haben überhaupt keine Ideale im westlichen Sinn. Von hier aus wird denn verständlich, warum die Turanier von jeher (man denke an die Sagen Irans!) als Träger des bösen Prinzipes galten: ihnen fehlte wirklich mehr als anderen das, was in unserer Welt als Seele gilt. Aber das sogenannte böse Prinzip ist, wie ich in Wiedergeburt gezeigt habe, andererseits ein absolut positiver Faktor im Weltzusammenhang. Es ist nichts anderes als das Prinzip des Neins, der Begrenzung, der Veränderung und Neuerung. Ist es das Prinzip der Zerstörung, des Todes, so ist es zugleich das des Neuaufbaus, der Wiedergeburt. Deshalb stammt aller Fortschritt von Kain; insofern kann Macht überhaupt nur aus dem Geist des Bösen heraus ausgeübt werden. So sind denn, was immer das Vorurteil der Schwachen glaube, die von Natur aus »bösen« Völker ipso facto die prädestinierten Herrenvölker. Wer nicht den Mut zum Neinsagen, und damit zum Töten hat, der kann keine Form geben, denn jedes Positive hat sein entsprechendes Negativ. Damit wären wir denn auf dem Umwege über eben das, was die heutige Unterdrückung der Ungarn rechtfertigen soll, zur letzten Fundierung der Berechtigung ungarischer Vorzugsstellung gelangt. Die Ungarn sind geborene Herren. Die angrenzenden Völker, mit Ausnahme vielleicht der Serben, sind es alle nicht. Wie sollten sie nicht bald wieder eine bedeutende politische Rolle spielen? Zumal sie darin den Türken ähnlich sind, daß sie einen sicheren Sinn für das jeweils Mögliche haben. Sie können, wo nötig, extrem opportunistisch sein; wenn nicht gerade die Phantastik mit ihnen durchgeht … Gewiß ist es unwahrscheinlich, daß sie je Menschheitsbedeutsames auf dem Gebiet des Geistes und der Seele hervorbringen werden. Soweit ich sehe, liegt ihrem Geist ursprünglich eigentlich nur das Formal-Juristische; auch dies ist für Herrschernaturen eigentümlich. Und ihre Seele wird schwerlich jemals die Differenzierung der slawischen erreichen. Aber keiner kann alles; auch die Herrschernatur ist durch Grenzen definiert. Dafür ist Herrschertum ein absolut Positives. Es ist lächerlich, wenn alle Völker einander gleichtun wollen: bestenfalls ergänzen sie sich.
Damit gelange ich denn zum Problem des ungarischen Aristokratismus zurück. Gelingt es den Ungarn, die bürgerliche Phase ganz zu überspringen, gelingt ihnen rechtzeitig eine Wiedergeburt bestimmenden Grandseigneurtums auf moderner Basis, dann können sie vorbildlich werden für das gesamte kultivierte Europa, soweit es aristokratisch fühlt. Sie können es gerade auf Grund ihrer partiellen Fremdartigkeit: ein Meditationssymbol muß aus Nicht-Gewohntem aufgebaut sein, um die interessierte Aufmerksamkeit des Unbewußten zu bannen. Ob es so kommen wird, das weiß ich natürlich nicht. Da die magyarische Nation sehr klein ist und sehr gefährdet, da der Abstand zwischen Magnat und Bauer noch allzu groß ist, und der Träger des Geistes, der Mittelstand, durch die Folgen der Friedensverträge mehr noch ruiniert als anderswo, so kann die Gelegenheit versäumt werden. Aber wenn irgendwo, dann kann jenes Grandseigneurtum, das überall bestimmte, wo es je in Europa edle Gesamtzustände gab, in Ungarn wiedergeboren werden. Denn noch einmal: für Europa kann Demokratie nur eine Phase bedeuten, soll es nicht als Wert zugrunde gehen; eine Phase, deren ganzer Sinn darin liegt, daß die Basis der Aristokratie verbreitert wird. Es ist lächerlich, im Aristokratismus noch heute reaktionäre Gesinnung zu sehen: er bedeutet, im Gegenteil, die einzig progressive. Das Fortschrittliche und Rückschrittliche ist nie ohne Einbeziehung des Zeitfaktors richtig zu bestimmen. Als die alte Ständeordnung sich überlebt hatte, war der Demokratismus Fortschrittsmoment. Seit dem Weltkriege ist er Rückschrittsmoment geworden, denn nur mehr Qualitätsherrschaft kann Europa retten; der Quantitätsgedanke hat im Guten ausgespielt. In meiner Heimat galt ich seinerzeit als rot. Während der wilhelminischen Ära war ich für Deutschland extremer Demokrat. Wie ich aber bei Ausbruch der deutschen Revolution in Berlin weilte, wie ein bisher traditionalistischer Bekannter nach dem andern über Nacht Sozialist wurde, und ich gefragt ward, wie ich's jetzt zu halten gedächte, da erwiderte ich: von jetzt ab setze ich auf Aristokratie. Natürlich muß und wird Deutschland zunächst eine Weile demokratisch sein, weil es in vielen guten Hinsichten, die demokratische Einrichtungen fördern, noch zurück ist. Aber das Problem kann jetzt ja als prinzipiell gelöst gelten. Aller weitere Fortschritt kann gerade wegen des Sieges der Demokratie, den der Versailler Vertrag besiegelt hat, gemäß dem Gesetz des historischen Kontrapunkts, nur noch von der Idee der Aristokratie her kommen.