Rudyard Kipling
Das Dschungelbuch
Rudyard Kipling

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Toomai, der Liebling der Elefanten

        Ich will mich erinnern, was ich war.
    Bin müde der Fessel und Kette.
Ich will mich erinnern alter Kraft
    und heimatlicher Stätte.
Ich biete den Rücken nicht länger dar
    für leckere Nichtigkeiten,
Will wieder mit meiner Brüder Schar
    durch der Dschungel Dickicht schreiten.
Durch Dickicht und Nacht, bis der Morgen erwacht,
Wo der Wind mich umkost, wo die Quelle lacht . . .
Will vergessen das Seil, das den Fuß mir hält.
Will brechen den Zaun, der das Lager umstellt,
Will hinaus zu den Lieben, die ich verlor –
Frei sein in der Dschungel . . . frei, wie zuvor!

Kala Nag – das bedeutet: »Schwarze Schlange« – hatte der indischen Regierung siebenundvierzig Jahre treu gedient in allem, zu dem ein Elefant verwandt werden kann, und da er volle zwanzig Jahre alt war, als er gefangen wurde, so zählte er jetzt beinahe siebenzig – ein schönes Alter für einen Elefanten. Er konnte sich noch erinnern, wie er mit einem dicken Lederjoch um seinen Kopf eine schwere Kanone durch den Morast gezogen hatte – das war lange vor dem afghanischen Feldzug im Jahre 1842, und damals war er noch nicht ausgewachsen. Radha Pyari, seine Mutter, die in der gleichen Herde mit Kala Nag eingefangen wurde, hatte ihm zur Zeit seiner ersten Stoßzähne immer und immer wieder gesagt, nur wenn Elefanten Angst hätten, kämen sie zu Schaden. Kala hatte bald gemerkt, daß der Rat gut war: denn als das erstemal eine Granate in seiner Nähe platzte, rannte er schreiend rückwärts gerade in eine Gewehrpyramide hinein, und die aufgepflanzten Bajonette stachen ihn an seinen empfindlichsten Stellen. Nach dieser Erfahrung nahm Kala sich vor, nie mehr Angst zu haben, und so wurde er der beste, beliebteste und am sorgsamsten gehegte Elefant im Dienste der indischen Regierung. Er hatte viel gesehen und erlebt. Zeltlasten hatte er geschleppt im Gewicht von zwölfhundert Pfund auf langen Märschen im nördlichen Indien; er war mit Dampfwinden in ein Schiff verladen worden, mit dem er viele Tage über das unruhige Meer fuhr, hatte in einem fremden Bergland weit weg von Indien einen schweren Mörser tragen müssen und den Kaiser Theodor in Magdala auf dem Totenbett liegen sehen. Später war er wieder auf einem schaukelnden Schiff heimgekehrt, würdig, wie die Soldaten sagten, die abessinische Tapferkeitsmedaille zu tragen. Dann hatte er hoch oben in den nördlichen Bergen in Ali Musjid sein eigenes Volk an Kälte, Hunger, Entbehrungen und Sonnenstich leiden und sterben sehen; und darauf war er Tausende von Meilen südwärts gesandt worden, um auf den Bauhöfen in Moulmein schwere Balken aus Tiekholz zu schleppen und zu stapeln. Dort schlug und stieß er einen ungehorsamen jungen Elefanten halbtot, der sich eigensinnig weigerte, seinen Anteil an der Arbeit zu verrichten.

Nach all diesen Erlebnissen wurde er mit einigen Dutzend anderen Elefanten in die Garoberge geschickt und mußte dort erlernen, bei dem Fang seiner wilden Stammesgenossen behilflich zu sein.

Die Elefanten stehen unter dem ausdrücklichen Schutze der indischen Regierung. Eine besondere Ministerialabteilung beschäftigt sich ausschließlich mit der Jagd und dem Abrichten der gefangenen Tiere, um sie dann je nach Bedarf im Lande zu verteilen.

Kala Nag stand zehn Fuß hoch über dem Boden; seine mächtigen Stoßzähne waren der Sitte gemäß vorne abgeschnitten und an ihren Enden mit Kupferbändern umspannt, um sie vor dem Zersplittern zu schützen. Er konnte mit diesen noch immerhin fünf Fuß langen Stümpfen mehr ausrichten als die nicht abgerichteten Elefanten mit ihren vollgewachsenen scharfen Stoßzähnen.

Wenn nach wochenlangem, mühsamem Jagen in den Bergen etwa vierzig oder fünfzig wilde Kolosse endlich in die letzte Umzäunung getrieben waren und das schwere Falltor aus Baumstämmen dröhnend hinter ihnen niederfiel, begab sich Kala Nag auf ein Kommandowort in das stampfende, schnaubende, sich wild drängende Gewühl (gewöhnlich bei Nacht, wenn der flackernde Schein der Fackeln die eingefangenen Tiere unsicher machte), suchte sich den stärksten und wildesten Bullen aus der Masse und hämmerte und stieß so lange auf ihn ein, bis er Ruhe gab, während Männer auf dem Rücken der anderen Arbeitselefanten die schwächeren Tiere mit Stricken einfingen und fesselten.

Der weise, alte Kala Nag war ein erfahrener Meister in allen Arten des Kampfes. So manches Mal hatte er dem verwundeten Tiger mutig getrotzt – er rollte den Rüssel zusammen, um ihn vor einem Biß zu schützen, und stieß mit dem dicken Kopf das anspringende Tier hoch in die Luft, daß es einen Purzelbaum schoß. Diesen Kunstgriff hatte er allein erfunden; und ehe der Tiger wieder auf die Beine springen konnte, warf sich Kala Nag auf ihn mit den Knien und erdrückte ihn mit seiner Wucht, bis das Leben mit Ächzen und Stöhnen aus dem Körper wich und nichts übrigblieb als ein zermalmter, gestreifter Kadaver, den Kala Nag am Schwanze griff und fortzog.

»Jawohl!« sagte der große Toomai, sein Hüter, der Sohn des schwarzen Toomai, der Kala nach Abessinien begleitet hatte, und Enkel des alten, in der ganzen Dschungel berühmten Toomai, der bei dem Fange Kalas behilflich gewesen war. »Jawohl die Schwarze Schlange hat vor nichts Furcht außer vor mir. Drei Generationen meiner Familie haben ihn gefüttert und gepflegt, und er wird lange genug leben, um die vierte zu sehen.«

»Vor mir hat er auch Furcht«, quäkte der kleine Toomai, ein brauner Dreikäsehoch in Lumpen.

Er war zehn Jahre, der Älteste des großen Toomai, und dem Herkommen gemäß würde er dem Vater im Amte folgen, sobald er erwachsen war; würde dann auf Kalas Nacken sitzen und den schweren eisernen Ankus, den Elefantenstab, halten, der in den Händen seiner Vorfahren glatt und glänzend geworden war. Er wußte genau, was er sagte, denn er war im Schatten Kala Nags geboren, hatte, ehe er laufen konnte, mit Kala Nags Rüssel gespielt, und hatte ihn zur Tränke geführt, sobald er nur vermochte, ein Bein vor das andere zu setzen. Kala Nag würde nie daran gedacht haben, sich den schrill gepiepsten Befehlen des kleinen Toomai zu widersetzen; ebensowenig, wie er damals sich hatte einfallen lassen, ihn zu töten, als der große Toomai seinen neugeborenen Sohn unter Kala Nags Rüssel legte und ihm befahl, seinen zukünftigen Meister zu grüßen.

»Ja!« wiederholte der kleine Toomai, »vor mir hat er Angst.« Er ging mit langen Schritten zu Kala Nag, schimpfte ihn altes fettes Schwein und ließ ihn die Füße aufheben, einen nach dem andern. »Wah! Du mußt alles tun, was ich sage.« Der Kleine schüttelte seine Locken und sprach ganz wie sein Vater. »Zwar bezahlt die Regierung für euch Elefanten, aber dennoch gehört ihr uns Mahouts. Wenn du alt bist, Kala Nag, wird ein reicher Rajah kommen und dich von der Regierung kaufen, weil du so groß und gescheit bist und weil ich dir soviel Kunststücke beigebracht habe. Dann bekommst du goldene Ohrringe und brauchst weiter nichts zu tun, als einen goldenen Thronsitz auf deinem Rücken zu tragen und in den Prozessionen des Königs an der Spitze zu schreiten. Und ich selbst, o Kala Nag, werde auf deinem Rücken sitzen, einen silbernen Ankus in der Hand, und Männer mit goldenen Stäben werden vor uns herlaufen und rufen: ›Platz für den Elefanten des Königs!‹ Das wird schön sein, Kala Nag, aber nicht so schön wie das Jagen in der Dschungel!«

»Umph!« sagte darauf der große Toomai. »Du bist wild wie ein Büffelkalb. Du kannst der Regierung bessere Dienste leisten, als in der Dschungel zu jagen. Ich werde alt und bin kein Freund der wilden Elefanten. Feste Stationen ziehe ich vor, gemauerte Elefantenställe, einen Verschlag für jedes Tier und starke Pflöcke zum Festmachen; dazu ebene, breite Straßen, um die Neuen einzuüben, das ist mir lieber als das Herumhetzen von Station zu Station in der Dschungel. Ah – wie schön waren die Kasernen in Cawnpore mit dem Basar dicht daneben und täglich nur drei Stunden Dienst!«

Der kleine Toomai erinnerte sich sehr wohl an die Elefantenställe zu Cawnpore und schwieg still. Er zog das Lagerleben bei weitem vor und haßte die flachen, breiten Übungswege, das tägliche Weiden auf besonders instand gehaltenen Grasplätzen, und vor allem die langen, trägen Stunden, in denen er nichts tun konnte als zusehen, wie Kala Nag sich zwischen seinen Pfählen rastlos hin und her wiegte. Der kleine Toomai liebte es, felsige Wege hinaufzuklettern, wohin sich nur ein Elefant wagt, liebte es, in die Täler hinabzutauchen, wo das Wildschwein und der Pfau erschrocken unter Kalas Füßen davonflohen, oder bisweilen einmal in meilenweiter Ferne äsende Herden wilder Elefanten zu erspähen. Die warmen Regen liebte der Knabe, wenn Hügel und Täler von den niedergehenden Güssen dampften, liebte die tauigen, nebligen Morgen, da niemand wußte, wo man am Abend lagern würde – die lange, mühsame Treibjagd auf wilde Elefanten, das Eintreiben der Gefangenen, die wie Blöcke im Bergsturz in die festen Umzäunungen polterten, und wenn sie merkten, daß sie nicht mehr hinauskonnten, sich wütend gegen die dicken Pfähle warfen. Dann war der Augenblick gekommen, grell leuchtende Fackeln zu schwingen, blinde Schüsse abzugeben und Lärm zu machen, als seien alle bösen Geister aus der schwarzen Dschungel herbeigekommen. Ja, das war ein herrliches Leben! Und dabei konnte auch ein kleiner Knabe sich nützlich erweisen, und Toomai richtete soviel aus wie drei Knaben zusammengenommen, wenn er mit der Fackel umherschlug und sich heiser gellte.

Aber die rechte Freude begann erst, wenn die eingebrachten wilden Elefanten zum Gehorsam gebracht wurden und die Keddah, die weite Umzäunung, aussah wie ein Bild vom Untergang der Welt. Dann kletterte der kleine Toomai auf einen zitternden Pfosten, seine langen, braunen Haare flatterten im Wind, und sein schwarzer Schatten tanzte im Fackellicht. Das Trompeten und Schreien der Tiere war so betäubend, daß man sein eigenes Wort nicht vernahm. Sobald aber das Urweltgetöse etwas verebbte, drangen des Knaben schrille, befehlende Rufe an Kala Nags Gehör durch all das Gewirr und Gebrüll, das Krachen der reißenden Stricke, das Schnauben und Trompeten der gefesselten Elefanten. »Mail, mail, Kala Nag! (Geh an, geh an, ›Schwarze Schlange‹!) – Dant do! (Stoße ihn!) – Somalo! Somalo! (Vorsicht! Vorsicht!) – Maro! (Schlage ihn!) – Arre! Arre! Yai! Yai! Kya-a-ah!« So rief er, während der laute Kampf zwischen Kala Nag und seinem wilden Gegner von einem Ende der Umzäunung zum anderen tobte, mitten durch das Gewühl der anderen Tiere, die heulend und trompetend zur Seite flohen. Die alten Elefantenjäger wischten sich den Fackelruß aus den Augen und nickten dem kleinen Toomai zu, der vor Aufregung auf seinem Pfosten herumhopste.

Ja, er tat mehr als nur schreien. Eines Nachts glitt er von der Höhe des Pfostens herunter und stürzte mitten unter die tobenden Elefanten, um einem Treiber das Ende eines herabgefallenen Seils zuzuwerfen, mit dem das Bein eines störrischen Jungen gefesselt werden sollte. Junge Elefanten sind weit mutwilliger und schwerer in Ordnung zu halten als die alten. Kala Nag sah seinen kleinen Herrn in Gefahr, zerstampft oder zerquetscht zu werden; er stürzte herbei, nahm den Knaben vom Boden auf und überreichte ihn stolz dem großen Toomai, der seinem Sohn rechts und links ein paar Ohrfeigen gab und ihn auf den Pfosten zurücksetzte.

Am nächsten Morgen schalt ihn der Vater noch gehörig aus und sagte: »Ist denn das Leben in den Elefantenställen und das Zelttragen nicht genug für dich, daß du auf eigene Faust auf Elefantenfang ausgehen mußt, du Tunichtgut? Diese schmutzigen Elefantenjäger, die geringeren Sold bekommen als ich, haben Petersen Sahib alles erzählt.«

Der kleine Toomai erschrak. Er wußte nicht viel von den weißen Männern, aber eins wußte er: daß Petersen Sahib für ihn der mächtigste Mann in der Welt war. Er stand an der Spitze aller Unternehmungen, er allein fing alle die Elefanten ein für die indische Regierung, und er wußte mehr über Fährten und Gewohnheiten der gewaltigen Dickhäuter als irgendein Sterblicher.

»Was . . . was wird werden?« fragte der kleine Toomai.

»Werden? Das Schlimmste kann werden. Petersen Sahib ist übergeschnappt, würde er sonst die wilden Teufel jagen? Vielleicht wird er sogar einen Elefantenjäger aus dir machen wollen – dann mußt du des Nachts irgendwo in diesen fieberdurchseuchten Dschungeln schlafen, bis du zu guter Letzt im Keddah zu Tode getrampelt wirst. Das kommt von deiner Dummheit, du Taugenichts . . . Aber vielleicht wird es diesmal noch gut abgehen. Nächste Woche hört das Jagen auf, und dann werden wir Leute vom Flachland zu unseren Stationen zurückgesandt. Dann marschieren wir wieder auf glatten Wegen und vergessen all das verrückte Jagen. Ja, mein Sohn, ich bin sehr böse auf dich, da du dich in Sachen mischst, mit denen von Rechts wegen nur diese schmutzigen Dschungelleute aus Assam zu tun haben. Glaubst du etwa, daß ich in die stinkigen Keddahs stiege, wenn Kala Nag ohne mich arbeiten würde? Aber er ist nur ein Kampfelefant und zum Führen der Gefesselten nicht zu brauchen. So habe ich meinen festen Platz, wie es einem Mahout zukommt, einem Mahout sage ich, nicht einem einfachen gewöhnlichen Jäger – und einem Manne, der am Ende seiner Dienste eine Pension bekommt. Soll denn das Geschlecht der Toomai in den Schmutz einer Keddah hinabgezerrt werden? Lauselümmel! Marsch – gehe jetzt Kala Nag waschen, vergiß aber nicht seine Ohren und suche nach Dornen in seinen Füßen. Marsch, sonst fängt dich Petersen Sahib ein und macht dich zum dreckigen Elefantenjäger, zum erbärmlichen Fährtenläufer und Dschungelbären. Bah! Pfui! Fort mit dir!«

Der kleine Toomai schlich fort, ohne ein Wort zu sagen, aber er schüttete seinem Freunde Kala Nag sein ganzes Herz aus. »Macht alles nichts«, tröstete er sich, als er Kalas Füße untersuchte, »sie haben Petersen Sahib meinen Namen genannt . . . und vielleicht . . . vielleicht . . . wer weiß? Hai! Einen mächtigen Dorn hast du da! Halte still! Na, nun ist er heraus!«

Während der nächsten paar Tage wurden die neu eingefangenen Elefanten eingewöhnt. Sie mußten zwischen zwei abgerichteten Tieren auf und ab gehen, um sich an den Marsch in die Ebene zu gewöhnen.

Dann kam Petersen Sahib auf seiner klugen Elefantin Pudmini in das Lager geritten, um das Auszahlen der Löhne zu überwachen, denn die Jagd ging nun zu Ende. Ein schwarzer Schreiber saß an einem Tisch unter einem Baum und zahlte den Treibern aus der Ebene ihren Lohn aus. Sobald einer sein Geld empfangen hatte, ging er wieder zu seinem Elefanten, um sich der langen Reihe anzuschließen, die zum Abmarsch bereitstand. Die Jäger und Einfänger, die dauernd zu den Keddahs gehörten und jahraus, jahrein in der Dschungel blieben, saßen auf den Rücken der Elefanten, die zu Petersen Sahibs ständiger Jagdabteilung gehörten, oder lehnten mit ihren Büchsen an Baumstämmen und machten sich über die Treiber aus der Ebene lustig oder lachten, wenn ein frisch gefangener Elefant schnaubend aus den Reihen ausbrach.

 

Der große Toomai trat mit dem kleinen Toomai zum Schreiber; und Machua Appa, der Vormann der Fährtensucher, sagte leise zu seinem Freunde neben ihm: »Der da hat ganz das Zeug zu einem Elefantenjäger. Schade, in der Ebene unten wird der junge Dschungelhahn wohl gründlich mausern.«

Petersen Sahib hatte seine Ohren überall, nicht das kleinste Geräusch entging ihm; und das war auch notwendig für einen Mann, der das schweigsamste von allen lebenden Wesen belauscht – den wilden Elefanten. Der Sahib, bequem auf dem breiten Rücken seiner Pudmini ausgestreckt, wandte sich dem Sprecher zu: »Was höre ich da? Ich habe noch niemals einen Flachlandtreiber gesehen, der auch nur einen toten Elefanten richtig zu seilen verstand.«

»Das ist kein Mann, sondern ein Knabe. Beim letzten Treiben ist er in die Keddah gelaufen und hat dem Barmao dort das Seil zugeworfen, als wir das junge Kalb mit der Blesse an der Schulter von seiner Mutter trennen wollten.«

Machua Appa deutete auf den kleinen Toomai, Petersen Sahib sah ihn an, und der kleine Toomai verbeugte sich bis zur Erde.

»Der Knirps da hat ein Seil geworfen? Er ist ja kaum drei Käse hoch. Komm mal her – wie heißt du denn?«

Der kleine Toomai fürchtete sich so, daß er kaum sprechen konnte. Aber Kala Nag war hinter ihm, und auf ein Zeichen mit der Hand nahm ihn der Elefant mit dem Rüssel hoch in die Luft und hielt ihn gerade vor den mächtigen Sahib. Da verdeckte der Knabe seine Augen mit den Händen – denn er war ja doch nur ein Kind und in allen Dingen, falls es sich nicht um Elefanten handelte, so scheu, wie nur ein Kind sein kann.

»Oho!« sagte Petersen Sahib und strich sich lächelnd den langen Schnurrbart, »und aus welchem Grunde hast du die ›Schwarze Schlange‹ denn dieses Kunststück gelehrt? Wohl, damit du das Korn von den Dächern stehlen kannst, wenn es zum Trocknen ausliegt?«

»Nicht Korn, Beschützer der Armen – Melonen!« sagte der kleine Toomai, und alle ringsherum brachen in schallendes Gelächter aus. Die meisten hatten in ihrer Jugend den Elefanten dasselbe Kunststück beigebracht. Der kleine Toomai schwebte acht Fuß über dem Boden und wünschte sehnlichst, mindestens ebenso tief unter der Erde zu liegen.

»Er ist mein Sohn, Sahib«, sagte der große Toomai mürrisch. »Er ist ein Taugenichts und wird wohl im Gefängnis enden, Sahib!«

»Daran zweifle ich«, antwortete der mächtige Mann, und seine Augen sahen aus, als wollten sie sich in den alten Toomai hineinbohren. »Ein Knabe, der sich so jung in eine volle Keddah hineinwagt, endet nicht im Gefängnis. Hier hast du vier Annas, kaufe dir Zuckerwerk; denn du hast einen Kopf unter deinem großen Schopf. Später, wenn es soweit ist, kannst du vielleicht ein Jäger werden.« Des großen Toomai Gesicht zog sich noch mehr in die Länge. »Aber vergiß nicht«, fuhr der Sahib fort, »Keddahs sind keine Spielplätze für Kinder.«

»Darf ich denn niemals wieder hineingehen?« fragte der kleine Toomai mit stockender Stimme.

»Doch!« Petersen Sahib lachte verstohlen. »Sobald du den Tanz der Elefanten gesehen hast. Dann ist die rechte Zeit. Komme zu mir, wenn du die Elefanten hast tanzen sehen, dann stehen dir alle Keddahs offen.«

Wieder erscholl ein lautes Gelächter ringsherum; denn das ist ein alter Scherz der Elefantenjäger und bedeutet: niemals! Tief in den Dschungeln versteckt liegen weite, flach getretene Lichtungen, Ballsäle der Elefanten genannt; aber nur selten findet man sie durch Zufall, und noch nie sah ein menschliches Auge den Tanz der Elefanten. Wenn ein Treiber mit seiner Tapferkeit prahlt, dann fragen die anderen höhnend: »Wann hast denn du die Elefanten tanzen sehen?«

Kala Nag ließ seinen kleinen Herrn zu Boden; der Knabe machte wiederum eine tiefe Verbeugung und ging mit dem grollenden Vater davon. Er gab das Silberstück seiner Mutter, die das kleine Brüderchen nährte; dann wurde die ganze Familie auf Kala Nags Rücken verstaut, und der lange Zug der murrenden und gurgelnden Elefanten setzte sich über den gewundenen Hügelpfad nach dem Flachland in Bewegung. Es wurde ein recht unruhiger Marsch, denn die neugefangenen Elefanten zeigten sich bei jeder Furt widerspenstig und bedurften fortwährend beruhigender Worte oder klatschender Stockhiebe.

Der große Toomai bearbeitete Kala Nag mit dem eisernen Stachel, denn er war ärgerlich; aber der kleine Toomai döste glückselig vor sich hin. Petersen Sahib hatte ihn zu sich gerufen und ihm sogar Geld gegeben, und so fühlte er sich wie ein Soldat, den der General aus Reih' und Glied gerufen und öffentlich gelobt hat.

»Was hat denn der Sahib mit dem Elefantentanz gemeint?« fragte er endlich leise seine Mutter.

Aber der Vater hörte ihn und sagte verächtlich: »Daß du niemals so ein Bergbüffel von Fährtensucher werden sollst, das meinte er. Heda! – ihr da vorn! – was versperrt den Weg?«

Ein assamesischer Treiber, zwei oder drei Elefanten voraus, rief ärgerlich: »Her mit deinem Kala Nag! Er soll dieses Kalb hier zur Vernunft bringen. Warum mußte Petersen Sahib gerade mich mit diesen Reisfeldeseln ins Flachland schicken! Bring dein Tier längsseits, Toomai, damit er den Schlingel hier mit den Stoßzähnen bearbeitet. Bei allen Göttern in den Bergen! . . . Der Teufel ist in diese neuen Elefanten gefahren, oder sie wittern ihre Kameraden in der Dschungel.«

Kala Nag stieß den jungen Elefanten unsanft in die Rippen, und der alte Toomai knurrte: »Pah! Kameraden in der Dschungel! Hier in den Hügeln gibt es keine mehr, wir haben alle verjagt oder gefangen. Ihr versteht nur nicht zu treiben. Muß ich denn allein den ganzen Zug in Ordnung halten?«

»Hört nur!« höhnten die anderen Treiber. »Wir haben die Hügel gesäubert! Ho! Ho! Ihr seid ja mächtig gescheit, ihr Lümmels vom Flachland! Wer seine Nase nur jemals in die Dschungel gesteckt hat, der sollte doch wissen, daß die Elefanten ebensogut merken, wenn die Jagd zu Ende ist, wie wir. Und deshalb werden die wilden Elefanten heute nacht . . . aber was soll ich meine Weisheit an diesen Sandhasen aus der Ebene verschwenden?«

»Was . . . was werden die Elefanten heute nacht tun?« fragte der kleine Toomai.

»Ohe! Bist du auch da, Kleiner? Nun gut, ich werde dir's sagen, denn du hast mehr Verstand als die Schildkröten, deine Stammesgenossen. Tanzen werden sie heute nacht . . . jawohl, tanzen! Und deshalb sollte dein weiser Vater, der alle Elefanten auf allen Hügeln gefangen hat – er sollte die Tiere an doppelte Ketten legen!«

»Dummes Zeug!« knurrte der große Toomai. »Vierzig Jahre lang haben wir beide, mein Vater und ich, Elefanten gewartet, und nie haben wir solches Mondscheingeschwätz von Elefantentänzen gehört.«

»Du natürlich nicht, denn so ein Flachlandigel kennt nur die vier Wände seiner elenden Hütte. Nun, von mir aus laß ruhig deine Elefanten ungefesselt heute nacht, dann wirst du ja sehen. Und von wegen tanzen! Ich habe mit eigenen Augen die Lichtung gesehen, wo . . . Wie viele Krümmungen hat denn dieser Dihangfluß? Schon wieder eine Furt, und die Kälber müssen hindurchschwimmen. Das Ganze halt, ihr da hinten!«

So vollbrachten sie schwatzend und zankend den ersten Tagesmarsch; und als der Abend kam, schlugen sie flüchtig ein Lager auf.

Dort wurden die Arbeitselefanten an große Pfähle gefesselt, die neuen Tiere noch mit besonders starken Tauen angebunden und alle abgefüttert. Die Treiber von den Hügeln kehrten durch die Abenddämmerung zu Petersen Sahib zurück; sie rieten den Treibern vom Flachland nochmals, in dieser Nacht besonders wachsam zu sein, und lachten nur, als die Flachländer fragten: »Warum?« Der kleine Toomai saß vor Kala Nag und sah ihm zu, wie er die großen Bündel Gras in den Schlund steckte, bis der Berg vor ihm kleiner und kleiner wurde und zuletzt verschwand.

Dann, als es dunkelte, strich der kleine Toomai durch das Lager, um ein Tam-Tam zu suchen. Wenn einem indischen Kinde das Herz vor Freude überströmt, dann lärmt es nicht und springt herum, sondern setzt sich still irgendwohin und genießt sein Glücksgefühl ganz für sich allein. Und der mächtige Petersen Sahib, der Beschützer der Armen, der Herr der Dschungel, hatte mit dem kleinen Toomai gesprochen! Hätte der Junge nicht gefunden, was er suchte, so wäre ihm vielleicht das Herz gesprungen. Aber der Zuckerbäcker im Lager lieh ihm ein Tam-Tam – eine Trommel, die mit der flachen Hand geschlagen wird. Toomai ließ sich mit gekreuzten Beinen vor Kala Nag nieder, das Tam-Tam im Schoß; und glückselig träumend begann er die Trommel zu schlagen – tanke, tank – tanke, tank – tanke, tank. Die Sterne des nächtlichen Himmels sahen auf ihn herab; und er schlug und schlug, und je mehr er über die große Ehre nachdachte, die ihm widerfahren war, desto lauter hallte sein tanke, tank – tanke, tank – durch die einsame, warme Nacht. Es war keine Melodie – nur ein eintöniges Klingen ohne Worte, dieses Tanketank, und dennoch machte es ihn glücklich.

Die neugefangenen Elefanten zerrten an ihren Seilen, klagten und trompeteten von Zeit zu Zeit. Und der kleine Toomai konnte hören, wie seine Mutter in der nahen Lagerhütte den kleinen Bruder in den Schlaf sang mit einem alten, alten Lied vom großen Gott Schiwa, wie er einst allen Tieren befahl, was sie essen sollten:

        Schiw läßt das Korn uns wachsen,
Er läßt die Winde wehn,
Er lebt in der tiefen Dschungel,
Doch kann ihn niemand sehn.

Er hat uns all' geschaffen,
Er ist's, der uns erhält,
Es ruht in seinen Händen
Die Dschungel und die Welt.

Dem König gab er die Krone,
Dem Bettler seinen Stab,
Dem Tiger gab er Krallen,
Bald gibt er uns ein Grab.

Und meinem kleinen Kinde
Gab Schönheit er und Mut,
Zwei rosenrote Lippen,
Zwei Äuglein voller Glut.

Gab Kraft ihm in den Händen . . .
Schlaf ein, mein Sohn, schlaf ein,
Bald wirst du in der Dschungel
Ein kühner Jäger sein! –

Der kleine Toomai ließ hinter jedem Verse ein freudiges Tanketank erschallen, bis er müde war, sich neben Kala Nag ausstreckte und einschlief.

Schließlich kamen auch die Elefanten zur Ruhe und legten sich einer nach dem anderen nieder, bis Kala Nag am rechten Flügel der Reihe allein noch aufrecht stand, sich langsam von einer Seite zur anderen wiegte, die riesigen Lauscher vorgestellt, um auf den Nachtwind zu hören, der leise wehend von den Hügeln herabstrich. Die Luft war erfüllt von den seltsamen Geräuschen der Nacht, die zusammengenommen ein einziges großes Schweigen ergaben – das leichte Aneinanderschlagen des Bambusrohrs, das Rascheln nächtlicher Räuber im Gebüsch, das Flattern und Piepen eines halbwachen Vogels und von weit her das Rauschen fallender Wasser.

Der kleine Toomai hatte eine Weile geschlafen; als er erwachte, war heller Mondschein, und Kala Nag stand noch immer aufrecht, mit hochgestellten Lauschern. Der Kleine legte sich auf den Rücken und betrachtete träumerisch die schwarze Gestalt, die sich riesengroß gegen den Sternenhimmel abhob.

So verharrte der Knabe träumend; da hörte er auf einmal weit weg, so weit, daß es nur wie ein leises Echo die Stille unterbrach, das »Huut-tuut« eines wilden Elefanten.

Das Schweigen der Nacht war wie durch einen Zauber gebrochen. Alle die Elefanten in der Reihe sprangen hoch, als brenne der Boden unter ihnen; und ihr Kollern weckte die schlafenden Mahouts. Sie kamen herbei, trieben mit großen Hämmern die Pflöcke tiefer in die Erde, zogen die Ketten an, knüpften die Seile fester, bis alles wieder ruhig war. Ein junger wilder Elefantenbulle hatte seinen Pflock ausgerissen; so nahm der große Toomai Kala Nags Kette und fesselte den einen Hinterfuß Kalas an den Vorderfuß des Wildings. Dann wand er um Kala Nags Füße noch ein Strohseil und schärfte ihm ein, nicht zu vergessen, daß er fest angebunden sei – wie es Toomai selbst, wie auch sein Vater und Großvater schon hundertmal zuvor getan hatten. Kala Nag nahm den Befehl stillschweigend hin, ohne zu kollern, wie er es sonst tat. Reglos stand er, den Kopf leicht erhoben, die Ohren wie Fächer ausgebreitet und starrte durch das Mondlicht nach den waldigen Hängen der Garo-Berge hinüber.

»Paß gut auf, wenn er unruhig werden sollte«, sagte der große Toomai zum kleinen Toomai und legte sich dann wieder in seine Hütte schlafen. Auch der kleine Toomai war gerade wieder im Einschlafen; da hörte er plötzlich, wie mit einem kurzen, scharfen »Päng« das Halteseil riß und Kala Nag aus den Pfählen heraustrollte, ruhig und lautlos, wie Wolken zu Tal ziehen. Der kleine Toomai lief ihm nach, barfuß über den steinigen Weg, und rief mit verhaltenem Atem: »Kala Nag! Kala Nag! Nimm mich mit – bitte, Kala Nag.«

Der Elefant wandte sich um, ging zwei, drei Schritte zurück, steckte den Rüssel aus und hob den Knaben auf seinen Rücken. Kaum hatte sich Toomai festgeklammert, als schon das Dschungeldickicht über ihnen zusammenschlug.

Ein letzter wütender Trompetenstoß ertönte aus den Reihen der angepflockten Elefanten; dann verschlang das Schweigen des Waldes jedes Geräusch, und Kala Nag setzte sich in Fahrt. Hohe Grasbüschel rauschten an seinen Flanken, wie Wellen am Schiff entlanggleiten; die Ranken der Schlingpflanzen strichen über seinen Rücken, oder Bambusstämme brachen knackend, wenn er mit den Schultern dagegenstieß. Völlig lautlos aber, fast wie ein Nebellied, zog Kala Nag durch den Garo-Wald in stetiger Gangart dahin. Es ging bergauf; doch der kleine Toomai suchte vergeblich die eingeschlagene Richtung nach dem Sternenbild zu bestimmen, das schummerig über den Bäumen stand.

Dann erreichte Kala Nag den Kamm der Hügelkette und verweilte einen Augenblick. Der kleine Toomai sah die Baumwipfel meilen- und meilenweit in flutendem Mondlicht liegen und den bläulich-weißen Dunst, der über dem Fluß im Tal lagerte. Er beugte sich vor, um Ausschau zu halten, und er fühlte, wie der Wald unter ihm voll drängenden Lebens war. Eine große braune Fledermaus strich an seinem Ohr vorbei, im Dickicht raschelte ein Stachelschwein, und im Dunkel zwischen den Baumstämmen hörte er einen Bären eifrig in dem feuchten warmen Boden wühlen und schnaufen.

Weiter zog der Elefant, und über Toomai schlugen wieder die Äste zusammen. Kala Nag wandte sich nun bergab, aber nicht lautlos jetzt, sondern in stürmischer Fahrt wie ein polterndes Ungewitter. Die ungeheuren Beine bewegten sich gleichmäßig und regelmäßig, wie Kolben einer Maschine – drei Ellen legten sie mit jedem Schritt zurück –, und an den Gelenken schabte schürfig die borkige Haut. Das dichte Unterholz vor ihm zerriß wie platzende Leinwand; die jungen Bäume rechts und links bogen sich zur Seite und peitschten zurückschlagend seine Flanken; die harten Ranken der Schlingpflanzen hingen in dichtem Gewirr an den wegbahnenden Hauern, während der schwere Schädel unaufhaltsam vorstieß und sich den Pfad durch den Urwald pflügte. Da schmiegte sich der kleine Toomai dicht in die breiten Falten des Nackens, um nicht von den vorbeistreifenden Ästen heruntergefegt zu werden; und er wünschte sich in die Geborgenheit des friedlichen Lagers zurück.

Der Boden begann sumpfig zu werden. Kala Nags Tritte saugten und patschten bei jedem Schritt, und der kalte Nebel im Grunde des Tals durchkältete den kleinen Toomai. Dann vernahm er ganz in der Nähe das Fließen von Wasser, und Kala Nag watete nun durch ein Flußbett, bei jedem Schritt vorsichtig den Grund ertastend. Durch das Rauschen und Wirbeln des Wassers hörte nun Toomai von überall her, stromauf und stromab, zahlloses Platschen und Plumpsen, dumpfes Brummen und ärgerliches Kollern; und der ganze Nebel ringsum schien erfüllt von dunklen, schwankenden Schatten.

»Ai!« rief er, vor Frost mit den Zähnen klappernd. »Die Elefantenvölker sind alle unterwegs. Dann also ist heute nacht der Tanz.«

Kala Nag entstieg triefend dem Flußbett, blies sich den Rüssel klar und begann wieder bergan zu steigen. Aber nun war er nicht mehr allein und brauchte sich nicht den Weg zu bahnen. Den Hügel hinan führte ein frisch getretener Pfad, sechs Fuß breit, auf dessen Boden das niedergedrückte Gras sich wieder aufzurichten strebte. Zahlreiche Elefanten mußten noch vor wenigen Minuten hier durchgewechselt sein. Als Toomai sich umblickte, sah er, wie ein riesiger wilder Elefantenbulle, dessen kleine Augen wie glühende Kohlen leuchteten, eben aus dem Dunst des Flusses auftauchte. Dann versperrten wieder Bäume die Sicht. Weiter ging's, immer bergan, und überall ertönte erregtes Trompeten, Stampfen und Krachen brechender Äste.

Auf der Gipfelhöhe angekommen, machte Kala Nag zwischen zwei Baumstämmen halt. Sie standen am Rand einer unregelmäßig kreisförmigen Lichtung, etwa vier bis fünf Morgen groß, deren Boden so festgetrampelt war wie eine Tenne. In der Mitte der Lichtung erhoben sich ein paar mächtige Bäume, doch ihre Rinde war abgeschabt, wie der kleine Toomai bemerkte, und das blanke Holz glänzte im Mondschein. Von den oberen Ästen hingen grüne Schlinggewächse herab mit großen wächsernen Blüten, deren Kelche im Schlaf geschlossen waren. Sonst aber war auf der ganzen Lichtung weder Grün noch Grashalm – nur festgestampfte Erde.

Das Mondlicht übergoß die harte Fläche mit eisengrauem Schimmer; nur die Schatten weniger Elefanten hoben sich kohlschwarz ab. Der kleine Toomai schaute, bis die großen Augen ihm fast aus dem Kopfe traten, und wie er sich nach allen Seiten drehte, traten mehr und mehr und immer mehr schwarze Gestalten aus der Nacht in die Lichtung. Der kleine Toomai konnte nur bis zehn zählen, und er zählte und zählte an seinen Fingern, bis ihm der Kopf schwindelte. Vom Walde her drang das Geräusch der Elefanten, die sich durch das Unterholz den Weg brachen, aber sobald sie erst in der Lichtung waren, bewegten sie sich lautlos wie Geister.

Große, wilde Bullen waren da mit lang hervorragenden Stoßzähnen und mit Schlingpflanzen und stacheligen Zweigen in den Hautfalten; fette Weibchen, unter deren Bäuchen kleine, drei oder vier Fuß hohe Kälber umhersprangen; junge Burschen, die sehr stolz auf ihre eben hervorbrechenden Stoßzähne zu sein schienen. Ältliche Jungfern kamen zum Tanz, mit schmalen, hohlen, vergrämten Gesichtern; Kampfbullen im Schmuck ihrer zahllosen Narben; zuletzt wechselte ein gewaltiger Einzelgänger in die Lichtung mit zersplittertem Stoßzahn und dem furchtbaren Riß der Tigerpranke auf altersgrauer Flanke.

Dicht gedrängt standen sie oder wanderten in Gruppen auf und ab über die Lichtung; Einzelgänger hielten sich abseits und wiegten sich bedächtig hin und her – Elefanten, Elefanten und nochmals Elefanten.

Toomai wußte, ihm würde nichts geschehen, solange er still auf Kala Nags Rücken lag. Denn selbst in dem Aufruhr des Keddahtreibens lassen die wilden Elefanten die Männer auf den Nacken der zahmen Tiere unbehelligt; und die Dickhäuter hier dachten in dieser Nacht nicht an den Menschen. Nur einmal stutzten sie und stellten die Ohren hoch, denn durch den Wald klang das Geklirr eiserner Fußfesseln – aber es war Pudmini, Petersen Sahibs Lieblingstier, das mit gerissener Kette schnaubend und kollernd den Berg heraufwuchtete. Klein Toomai bemerkte noch einen dritten zahmen Elefanten mit tiefen Seilstriemen auf Rücken und Brust; auch er war wohl aus einem Lager in der Nähe ausgebrochen.

Endlich legte sich wieder Schweigen über die Dschungel, und kein Geräusch sich nähernder Elefanten war mehr zu hören. Nun verließ Kala Nag seinen Posten zwischen den Bäumen und schaukelte grunzend und schnarrend mitten in das Gedränge hinein; und alle Elefanten begannen in ihrer Sprache miteinander zu reden und umherzustapfen.

Toomai sah sich nun in einem Meer breiter grauer Rücken, fächelnder Ohren, schnaubender Rüssel und kleiner rollender Augen. Er hörte das helle Gegeneinanderschlagen der Stoßzähne, das rauhe Rascheln liebend verschlungener Rüssel, das Aneinanderschürfen mächtiger Schultern und Flanken und das unaufhörliche zischende Fuchteln der großen Wedel. Dann verdeckte eine Wolke den Mond, und um ihn war schwarze Nacht; aber das dumpfe Stoßen, Stampfen und Kollern nahm zu. Toomai wußte, daß Kala Nag tief im Getümmel der wilden Kolosse steckte und daß es keine Möglichkeit gab, aus der Versammlung zu entfliehen; so biß er die Zähne zusammen. Er schauderte. In der Keddah war wenigstens Fackellicht und das Rufen menschlicher Stimmen; hier aber war er ganz allein in der Finsternis, und einmal sogar schob sich ein Rüssel hoch und tastete an seinem Knie.

Dann stieß ein Elefant einen hellen Trompetenstoß aus; alle anderen fielen ein, und mehrere Sekunden lang tobte ein wahrer Höllenlärm. Der Ton sprühte wie Regen von den Bäumen auf unsichtbare Rücken, und ein dumpf tosendes Geräusch setzte ein, dessen Ursprung sich der kleine Toomai nicht zu erklären vermochte. Anfangs war dieses Geräusch nicht sehr laut, dann aber wuchs und wuchs es an, und Kala Nag hob einen Vorderfuß nach dem anderen und wuchtete ihn wieder auf den Boden – eins – zwei, eins – zwei – stetig wie ein Dampfhammer. Nun stampften und stampften alle zusammen, und es dröhnte wie dumpfer Trommelwirbel vor einer Höhle. Der Boden zitterte und wankte, das Wuchten und Rumpeln wurde immer lauter; und der kleine Toomai hielt sich die Ohren zu, weil das Dröhnen übermächtig wurde. Vergebens – der Taktschlag einer Urgewalt durchzitterte seinen ganzen Körper, dieses Stampfen der Hunderte von Elefantentritten auf der harten Erde. Manchmal fühlte er, wie Kala Nag und die anderen einige Schritte vorwuchteten, und das Stampfen ging über in weiches Trampeln auf zerquetschtem grünem Gesträuch und Gestrüpp, aber wenige Minuten später erklang wieder das dumpfe Donnern auf hartem Boden. Ein Baum knarrte und ächzte ganz in der Nähe. Der Kleine streckte die Hand aus und konnte die Rinde fühlen, aber nicht sehen, wo er war in der Lichtung, denn Kala Nag schritt stetig stampfend vorwärts. Keinen Laut gaben die Elefanten von sich; nur einmal quiekten zwei oder drei Kälber selig auf. Man hörte einen dumpfen Stoß und ein Schürfen von Haut; dann begann das regelmäßige Stampfen von neuem. Es mochte zwei Stunden gedauert haben, vielleicht mehr, vielleicht weniger; der kleine Toomai war wie zerschlagen am ganzen Körper, aber er spürte in der Luft, daß der Morgen nahte.

Fahlgelbe Dämmerung tauchte über den grünen Hügeln auf; und beim ersten Schein des Lichts verstummte das Stampfen wie auf ein Kommando. Noch bevor der Klang in seinen Ohren verhallt war – bevor er noch Zeit hatte, sich erstaunt umzudrehen –, sah der kleine Toomai keinen anderen Elefanten mehr als Kala Nag, Pudmini und den fremden Gesellen mit den Seilfetzen. Weder ein Rauschen noch sonst ein Laut oder Zeichen verkündete, wohin all die schwarzen Gestalten verschwunden waren. Der Knabe starrte verwundert auf die gähnende Fläche; diese schien größer geworden zu sein über Nacht. Mehr Bäume ragten inmitten der Lichtung, doch am Rande war alles Gesträuch und Dschungelgras wie weggewischt. Die Elefanten hatten die Fläche erweitert – hatten Unterholz und saftiges Rohr zu Brei getreten, den Brei zu zäher Masse gepreßt und diese wiederum zu steinharter Erde verstampft.

»Wah!« sagte der kleine Toomai und rieb sich die müden Augen. »Kala Nag, Fürst, wir wollen uns an Pudmini halten und ihr zum Lager des Sahibs folgen, sonst falle ich dir noch vom Nacken.« Der fremde Elefant sah den beiden abziehenden Dickhäutern nach; er schnarchte laut, drehte sich um und nahm seinen Weg in entgegengesetzter Richtung. Vielleicht gehörte er irgendeinem der kleinen einheimischen Fürsten, fünfzig oder hundert Meilen entfernt.

Als Petersen Sahib zwei Stunden später beim Frühstück saß, begannen seine Elefanten, die während der Nacht mit doppelten Seilen gefesselt waren, laut zu trompeten. Pudmini und Kala Nag hinkten lahm und schmutzbedeckt in das Lager. Das Gesicht des kleinen Toomai war grau und eingefallen; das schwarze Haar, voller Blätter, hing ihm in nassen Strähnen um den Kopf. Dann versuchte er, vor Petersen Sahib eine tiefe Verbeugung zu machen und rief mit ermattender Stimme: »Der Tanz . . . der Elefantentanz! Ich habe ihn gesehen . . . und – nun – muß ich sterben.« Als Kala Nag niederkniete, glitt der Knabe bewußtlos vom Nacken des Elefanten.

Indische Kinder wissen nicht, was Nerven sind. Kurze Zeit darauf lag der kleine Toomai überglücklich in Petersen Sahibs Hängematte, mit dem so oft ehrfurchtsvoll angestaunten Mantel unter dem Kopf und mit einem Glas warmer Milch, in die ein wenig Kognak und Chinin gemischt war, im Magen. Vor ihm saß der mächtige Mann, Petersen Sahib, dahinter standen dicht gedrängt die alten, langhaarigen, narbenbedeckten Dschungeljäger und starrten den Knaben an wie ein Gespenst, indes dieser seine Geschichte erzählte, unbeholfen, schlicht wie ein Kind.

»Wenn ich auch nur mit einem Wort lüge«, schloß er, »so sendet die Treiber aus, und sie werden sehen, daß die Elefanten ihren Ballsaal ringsum vergrößert haben . . . sie werden zehn und noch einmal zehn und viele Male zehn Fährten finden, die zu dem Ballsaale führen. Ja, sie haben den Boden mit ihren Füßen zurechtgestampft. Ich selbst habe es mit angeschaut. Kala Nag nahm mich mit, und ich sah es mit meinen eigenen Augen. Und Kala Nag ist nun auch sehr, sehr müde.«

Der kleine Toomai fiel erschöpft in seine Matte zurück und schlief den ganzen Tag, während der Sahib mit Machua Appa den Spuren der beiden Elefanten fünfzehn Meilen über die Hügel folgte. Petersen Sahib hatte achtzehn Jahre lang mit dem Fange von Elefanten zugebracht, aber nur einmal ihren Tanzplatz zu Gesicht bekommen. Machua Appa brauchte die Lichtung nicht zweimal betrachten, um zu wissen, was hier vorgegangen war.

»Der Knabe spricht die Wahrheit«, sagte er. »Alles dies ist während der letzten Nacht geschehen, und ich konnte mehr als siebzig Fährten zählen, die durch den Fluß führen. – Schau dorthin, Sahib – da siehst du die Spur, wo Pudminis Fußeisen in die Baumrinde einschnitt. Ja! sie war auch dabei.«

Sie sahen auf die Erde und auf die Bäume und starrten sich gegenseitig in stummer Verwunderung an – ja! Menschen vermögen nicht, die Wege der Elefanten zu ergründen, der weisesten aller Geschöpfe!

»Vierundvierzig Jahre lang bin ich meinem Gebieter, dem Elefanten, durch die Dschungel gefolgt«, sagte Machua Appa, »aber nie und nimmer habe ich gehört, daß ein Mensch je vorher gesehen hat, was dieses Kind in der vergangenen Nacht sah. Bei allen Göttern der Berge, es ist – ja, es ist . . . was soll ich sagen?«

Und er schüttelte sein Haupt.

Als sie zum Lager zurückkehrten, war es Zeit zum Abendessen. Petersen Sahib nahm sein Mahl allein in seinem Zelte, aber er gab Befehl, daß man den Leuten zwei Schafe und einige Hühner zum Schmause geben solle und außerdem eine doppelte Ration von Mehl, Reis und Salz, denn er wußte, daß man ein Fest feiern werde. Der große Toomai war herbeigekommen, um nach seinem Sohne und dem Elefanten zu suchen, und jetzt, nachdem er sie gefunden hatte, glotzte er sie an, als fürchte er sich vor ihnen beiden.

Das Fest wurde bereitet; die Lagerfeuer leuchteten vor der langen Reihe der Elefanten, die an ihren Ketten zerrten, und der kleine Toomai war der Held von all den Herrlichkeiten. Die großen, braunen Elefantenjäger, die Fährtenfinder, Treiber und Bändiger – alle diese Leute, die ihr Leben damit verbrachten, dem wilden Elefanten seine Geheimnisse abzulauschen und ihm nachzustellen, sie reichten den kleinen Toomai von Arm zu Arm und besprengten seine Stirn mit dem Blute eines frisch geschossenen Dschungelhahnes als Zeichen, daß er nun ein Jäger sei, der in der wilden, weiten Dschungel volles Bürgerrecht habe. Und als zuletzt die Feuer niedergebrannt waren und mit ihren glühenden Holzstößen purpurrotes Licht auf die Elefanten warfen, als habe man auch sie mit Blut begossen, da sprang Machua Appa auf – Machua Appa, der Vormann der Treiber aller Keddahs – Machua Appa, die rechte Hand des großen Sahibs, sein Stellvertreter, der seit vierzig Jahren keine von Menschenhänden gebaute Straße gesehen hatte – Machua Appa, der so groß war, daß er keinen anderen Namen hatte als eben Machua Appa –, er sprang auf die Füße, hielt den kleinen Toomai hoch über seinen Kopf in die Luft und rief, daß es durch das Lager dröhnte: »Hört mich an, Brüder! Auch ihr, hört meine Stimme, ihr Herren dort an den Pfählen, denn ich spreche, ich, Machua Appa. Dieser Knabe hier soll hinfort nicht mehr ›der kleine Toomai‹ genannt werden, sondern ›Toomai, der Liebling der Elefanten‹, wie sein Urgroßvater vor ihm genannt wurde. Was keinem andern Menschen vergönnt war, zu sehen, er hat es während der ganzen langen Nacht mit angeschaut, denn er ist der Liebling der Elefanten und der Götter der Dschungel. Er soll ein großer Pfadfinder werden – er soll sogar größer werden als ich, Machua Appa! Er soll der frischen Spur folgen und der alten Spur – er soll die gemischten Spuren unterscheiden können mit dem Auge des Falken. Ihm soll kein Leid widerfahren, wenn er in der Keddah unter den Bäuchen der Elefanten umherrennt, und fällt er auf der Jagd zu Boden, so soll sich der wilde Bullelefant verneigen und soll ihn nicht berühren. Aihai! Ihr Herren an den Ketten!« Und er schritt die Reihe der gemächlich sich wiegenden grauen Gestalten ab. – »Aihai! Hier ist der Kleine, der euch bei euren Geheimnissen belauscht hat, der euch bei eurem Tanze gesehen hat – der erblickte, was ihr den Menschen sonst neidisch verbergt! Erweist ihm Ehre, meine Gebieter! Salaam Karo, meine Kinder! Grüßt Toomai, euren Liebling, in eurer eigenen Weise! Gunga Pershad, ahaa! Hira Guj, Birchi Guj, Kutta Guj, ahaa! Pudmini, du hast ihn beim Tanz gesehen, und auch du, Kala Nag, du Perle unter den Elefanten. Ahaa! Alle zusammen! Heil unserem Toomai, dem Liebling der Elefanten! Barrao!«

Und bei diesem letzten wilden Schrei warf die ganze Reihe der Elefanten den Rüssel in die Höhe, bis die Spitze über dem Kopf schwebte, und sie alle brachen aus in das laute Huldigungsgeschrei, den schmetternden Trompetenruf, den sonst nur der Vizekönig von Indien hört – das Salaamut der Keddah.

Und das alles geschah zu Ehren des kleinen Toomai, der geschaut hatte, was nie vorher einem Menschen zu sehen vergönnt war: den Tanz der Elefanten mitten in der Nacht und tief im Herzen der Garo-Berge! –

 


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