Rudyard Kipling
Kim
Rudyard Kipling

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Kapitel 4.

Dann sprachen sie leise mit einander. Kim wollt unter einem Baume ausruhen, der Lama aber zupfte ihn ungeduldig am Ellbogen.

»Laß uns weiter gehen. Der Fluß ist nicht hier.«

»Ho! Ho! Sind wir nicht für eine Weile genug gegangen? Unser Fluß wird nicht fortlaufen. Geduld! Er wird uns ein Almosen geben.«

»Dieser,« sagte plötzlich der alte Soldat, »ist der Freund der Sterne. Gestern brachte er mir die Nachricht. In einer Vision sah er Ihn selbst, den Mann, der die Befehle für den Krieg gab.«

»Hm!« brummte sein Sohn tief in seiner breiten Brust, »er hörte zufällig ein Bazar-Geschwätz und zog Nutzen daraus.«

Der Vater lachte. »Wenigstens kam er nicht zu mir hergeritten, um ein neues Schlachtroß und die Götter wissen wie viel Rupien zu erbetteln. Sind die Regimenter Deiner Brüder auch beordert?«

»Ich weiß es nicht. Ich nahm Urlaub und kam rasch zu Dir, für den Fall – –«

»Für den Fall, daß sie Dir zuvorkommen könnten mit Betteln. Oh, Spieler und Verschwender alle zusammen! Aber Du hast bis jetzt noch keine richtige Attaque geritten. Ein gutes Roß ist dazu natürlich notwendig: ein guter Bursche und ein gutes Pony für den Marsch ebenfalls. Laß uns sehen – laß uns sehen«. Er trommelte auf den Sattelknopf.

»Dies ist kein Ort um Berechnungen anzustellen, Vater. Laß uns nach Deinem Hause gehen.«

»Bezahl' den Knaben wenigstens zuvor; ich habe kein Kupfergeld bei mir, und er brachte günstige Nachricht. Ho! Freund der ganzen Welt, ein Krieg steht bevor, wie Du gesagt hast.«

»Nein, wie ich weiß, der Krieg,« erwiderte Kim fest.

»Eh?« machte der Lama, seine Perlen fingernd, begierig weiter zu gehen.

»Mein Meister befragt die Sterne nicht um Lohnes willen. Wir brachten die Nachricht – merkt wohl – wir brachten die Nachricht, und wir gehen nun.« Kim drehte an seiner Seite die Hand halb um.

Der Sohn schleuderte eine Silbermünze durch das Sonnenlicht, etwas von Bettlern und Gauklern brummend. Es war ein Vierannastück, genügend, sie für einige Tage zu erhalten. Der Lama, den Schein des Metalles gewahrend, summte einen Segen.

»Ziehe Deines Weges, Freund der ganzen Welt,« rief der alte Soldat, sein knochiges Reittier wendend. »Einmal in all meinen Tagen bin ich einem wahren Propheten begegnet – der nicht Soldat war.«

Vater und Sohn schwenkten zusammen um; der alte Mann ebenso stramm aufrecht wie der junge.

Ein punjabischer Konstabler in gelben Leinwandhosen schlenderte über den Weg. Er hatte das Geldstück fliegen sehen.

»Halt!« rief er in nachdrücklichem Englisch, »wißt Ihr nicht, daß ein Takkus von zwei Annas für den Kopf erhoben wird für jeden, der die Straße von dieser Seite betritt? Es ist Sirkar-Befehl, und das Geld wird für das Pflanzen von Bäumen und für Verschönerung der Straße verwendet –.«

»Und für den Bauch der Polizei,« rief Kim, aus Armesweite entschlüpfend. »Besinn Dich ein Weilchen, Dummkopf. Denkst Du, daß wir aus dem nächsten Sumpf kommen, wie der Frosch, Dein Schwiegervater? Hast Du jemals den Namen Deines Bruders gehört?«

»Und wie hieß der? Laß den Knaben in Ruhe,« rief ungemein belustigt ein älterer Konstabler, als er in der Veranda niederhockte, seine Pfeife zu rauchen.

»Der nahm die Etikette von einer Flasche Belaittee-Pani (Sodawasser), nagelte sie an eine Brücke, sammelte einen Monat lang Taxen von allen, die passierten und sagte, es wäre Sirkar-Befehl; dann kam ein Engländer, der schlug ihm den Kopf entzwei. He, Bruder, ich bin eine Stadtkrähe, keine Dorfkrähe.«

Der Polizist zog sich verlegen zurück und Kim verspottete ihn, so lange er ihn sehen konnte.

»Hat es jemals einen Schüler wie mich gegeben?« frug er lustig den Lama. »Nicht zehn Meilen von Lahore würde schon alle Welt Dir die Knochen im Leibe zerschlagen haben, wenn ich Dich nicht beschützt hätte.«

»Zuweilen, in meinen innersten Gedanken, scheinst Du mir ein guter Geist zu sein und zuweilen ein böser Kobold,« sprach schwach lächelnd der Lama.

»Ich bin Dein Chela.« Kim trat an seiner Seite in den angemessenen Schritt – der unbeschreiblichen Gangart der Wanderer, die große Landmärsche machen.

»Nun laß uns wandern,« murmelte der Lama; und zu dem Klick, Klick des Rosenkranzes gingen sie schweigend Meile nach Meile, der Lama, wie gewöhnlich tief in Meditation, Kim mit weit offenen Augen. Dieser breite, heitere Strom von Leben gefiel ihm besser als das Gewühl und Gedränge in den Straßen von Lahore. Bei jedem Schritt neue Vorgänge und neue Gesichter – Kasten, ihm bekannt und Kasten, die er nie geahnt.

Da begegnete ihnen ein Trupp langhaariger, scharf riechender Sansis, Körbe voll Eidechsen und andere unreine Nahrungsmittel auf dem Rücken magere Hunde an ihren Fersen schnüffelnd. Diese Leute blieben an der ihnen bestimmten Seite des Weges und bewegten sich scheu in raschem, leichtem Trott und alle Kasten gaben ihnen Raum, denn der Sansi ist unrein. Hinter ihnen im Schatten, noch im Nachgefühl seiner Fußeisen breit und steif ausschreitend, ein frisch aus dem Gefängnis Entlassener, der durch seinen dicken Bauch und glänzende Haut bewies, daß die Regierung ihre Gefangenen besser füttert, als viele ehrliche Leute sich selber zu füttern vermögen. Kim kannte den Schritt wohl und spottete darüber. Dann kam ein Ukali, ein wildhaariger, wildäugiger, frommer Sickh, in der blau gewürfelten Gewandung seines Glaubens, mit glitzernden, polierten Stahlscheiben an der Spitze seines hohen blauen Turbans, der von dem Besuch eines der unabhängigen Sickh-Staaten zurückkehrte, wo er den zur Ausbildung im Gymnasium befindlichen kleinen Prinzen in Stulpenstiefeln und weißbetreßten Hosen von dem alten Ruhm Khalsas gesungen hatte. Kim hütete sich wohl, diesen Mann zu erzürnen, denn des Ukalis Temperament ist hitzig und seine Hand flink. Hier und da begegneten sie oder wurden überholt von ganzen Dörfern bunt gekleideter Leute, die von einem nahen Jahrmarkt herkamen, die Frauen mit ihren Babys auf den Hüften, hinter den Männern gehend, die älteren Knaben mit Spazierstöcken von Zuckerrohr einherstolzierend, rohes, messingenes Spielzeug von Lokomotiven, wie man sie für ein Halbpennystück kauft, hinter sich herziehend oder mit billigen, winzigen Spiegelchen, die in der Sonne blitzten, die Augen ihrer Väter blendend. Man konnte sofort sehen, was jeder gekauft hatte und war man zweifelhaft, so brauchte man nur die Frauen zu beobachten, wie sie braunen Arm neben braunen Arm hielten, um die neu gekauften plumpen Glas-Armbänder, wie sie vom Nordwesten importiert werden, zu vergleichen. Diese lustigen Leute gingen langsam, standen unter Zurufen still, um mit Zuckerwerk-Verkäufern zu handeln, oder um rasch ein Gebet zu verrichten vor einem Heiligengrab an der Wegseite – zuweilen ein Hindu-Grab, zuweilen ein mohammedanisches – welche die niedere Kaste beider Konfessionen mit wundervoller Unparteilichkeit behandelt. Eine dichte, blaue Linie, bald sich hebend, bald senkend, wie der Rücken einer rasch kriechenden Raupe, schwang sich durch den aufgewirbelten Staub und trottele unter einem Durcheinander von lebhaftem Geschwätz vorüber. Das war ein Trupp »Changars«-Weiber, die alle nördlichen Eisenbahndämme unter ihre Obhut nehmen – eine plattfüßige, hochbusige, starkgliedrige, blau berockte Sippschaft von Erdträgerinnen, die in Aussicht auf neue Arbeit nordwärts eilten und keine Zeit auf dem Weg verloren. Sie gehören zu der Kaste, deren Männer nicht mitzählen, und sie marschierten mit gespreizten Ellbogen, schaukelnden Hüften und hoch gehaltenen Köpfen, wie Frauen, die schwere Lasten tragen. Etwas später erschien mit Musik und Freudengeschrei, mit Geruch von Ringelblumen und Yasmin, stärker als selbst der Dunst des Standes, eine Heirats-Prozession auf der Großen Straße. Man sah die Sänfte der Braut, glitzernd von Flittergold und Rot, durch den Dunst schwanken, indes des Bräutigams bekränztes Pony sich seitwärts drehte, um ein Maulvoll von einem vorbeifahrenden Futterkarren wegzuschnappen. Kim stimmte ein in den andauernden Lärm von guten Wünschen und schlechten Scherzen, dem Paare hundert Söhne und keine Tochter wünschend, wie der Brauch ist. Noch aufgeregter und mit noch mehr Geschrei begrüßt wurde ein strolchender Gaukler mit einigen halbgezähmten Affen und einem keuchenden, schwachen Bären, oder ein Weib, das, Ziegenhörner an die Füße gebunden, auf einem schlaffen Seil tanzte, die Pferde scheuen und die Frauen vor Staunen in lang gezogenes, vibrierendes Geschrei ausbrechen ließ.

Der Lama blickte nicht auf. Er beachtete nicht den Wucherer, der auf kurzschwänzigem Pony dahin eilte, unmenschliche Zinsen einzutreiben, nicht das Häuflein tiefstimmiger, lärmender, eingeborener Soldaten, die auf Urlaub noch in militärischer Ordnung marschierten, sich freuten, der Gewehre und des Putzens ledig zu sein und den anständigsten Frauen die unanständigsten Worte zuriefen. Selbst den Verkäufer von Ganges-Wasser sah er nicht und Kim erwartete, daß er von dem kostbaren Stoff wenigstens eine Flasche kaufen würde. Er blickte ununterbrochen zu Boden und ebenso ununterbrochen wanderte er vorwärts, Stunde auf Stunde; seine Seele war anderswo beschäftigt. Kim aber war vor Freude im siebenten Himmel. An dieser Stelle war die Große Straße über einen Damm geführt, der sie gegen die Winterfluten von den Vorbergen schützen sollte, so daß man über dem Lande ging, wie auf einem stattlichen Korridor und rechts und links ganz Indien ausgebreitet zu Füßen sah. Es war prächtig, die verschiedenartig bespannten Getreide- und Baumwoll-Wagen schwerfällig über die Landstraßen sich bewegen zu sehen; das Knirschen der Achsen hörte man schon eine Meile entfernt, es kam näher und näher, bis unter Rufen und Schreien und bösen Worten sie den abschüssigen Abhang heraufklommen und dann mit einem plötzlichen Ruck auf der harten Hauptstraße anlangten, Fuhrmann auf Fuhrmann schimpfend. Nicht minder hübsch war es, die Leute zu sehen, wie sie zu Zweien und Dreien, in kleinen Klumpen von Rot und Blau und Weiß und Gelb, in ihre Dörfer zurückkehrten, kleiner und kleiner wurden und allmählich auf der flachen Ebene verschwanden. Kim fühlte das alles, aber er konnte seinen Empfindungen keine Worte geben; er kaufte sich abgeschältes Zuckerrohr und spuckte das Mark freigiebig auf den Weg. Von Zeit zu Zeit nahm der Lama Schnupftabak, und endlich konnte Kim das Schweigen nicht mehr ertragen.

»Dies ist ein gutes Land – das Land des Südens,« sagte er. »Die Luft ist gut, das Wasser ist gut. Eh?«

»Und sie alle sind an das Rad gefesselt,« sprach der Lama. »Gebunden von Leben zu Leben. Keinem von diesen ist der Weg gewiesen.« Er zwang sich selbst zurück in diese Welt.

»Nun sind wir weit gegangen,« sagte Kim. »Sicher kommen wir bald zu einem Parao (Rastort). Sollen wir da bleiben? Sieh, die Sonne sinkt.«

»Wer wird uns diesen Abend aufnehmen?«

»Das ist gleich. Die Gegend ist voll von gutem Volk. Außerdem« – er flüsterte es – »wir haben Geld.«

Die Menge wurde dichter, als sie sich dem Rastplatz näherten, der das Ende ihrer Tagesreise bezeichnete. Eine Reihe von Verkaufsbuden mit sehr einfachen Nahrungsmitteln und Tabak, ein Stoß Brennholz, eine Polizei-Station, ein Brunnen, ein Trog für die Pferde, einige Bäume und unter diesen etwas zertretener Boden, mit schwarzer Asche von früheren Feuern bedeckt, ist alles, was einen Parao an der Großen Hauptstraße ausmacht, wenn man die immer hungrigen Krähen und Bettler nicht mitzählt.

Bald sandte die Sonne breite goldene Streifen durch die unteren Zweige der Mangobäume; die Sittiche und Tauben kehrten heim zu Hunderten, die plappernden, graurückigen Elstern erzählten sich die Ereignisse des Tages und liefen zu Zweien und Dreien, vorwärts und rückwärts, fast unter den Füßen der Reisenden, und Schieben und Stoßen in den Zweigen zeigte an, daß die Fledermäuse sich zur Nachtarbeit rüsteten. Schnell flossen die Lichtstrahlen zusammen und färbten für einen Moment die Gesichter, die Wagenräder und die Hörner der Ochsen rot wie Blut. Dann senkte sich die Nacht hernieder, kühlte die bewegte Luft, breitete einen leichten, ebenmäßigen Nebel, gleich einem aus Marienfäden gewebten, blauen Schleier über das Antlitz der Gegend und verbreitete den Geruch von Holzrauch und Rindern und den Duft von in der Asche gebackenen Weizenkuchen. Mit bedeutsamem Husten und wiederholten Befehlen trat die Abend-Patrouille vor die Polizei-Station. Kims Auge blickte mechanisch auf die rot erglühende Kohle im Gefäß und auf das letzte Glitzern der Sonne auf den Messing-Beschlägen der Wasserpfeife eines am Wege lagernden Fuhrmannes.

Das Treiben im Parao glich im Kleinen dem des Kashmir-Serai. Kim stürzte sich in die lustige, asiatische Unordnung, die, wenn ihr nur warten könnt, euch alles bringt, was ein einfacher Mensch bedarf. Seine Bedürfnisse waren gering und, da der Lama keine Kasten-Skrupel kannte, durch gekochtes Essen von der nächsten Bude zu befriedigen. Luxus halber kaufte Kim eine Handvoll Harzkugeln, um ein Feuer anzuzünden. Alles war in Bewegung, kommend und gehend, ringsum die kleinen Feuer. Hier rief man nach Öl oder Mais, dort nach Zuckerwerk oder Tabak: man stieß einander, um an den Brunnen zu gelangen, und zwischen den Männerstimmen ließ sich aus angebundenen, verhängten Wagen Gequiek und Gekicher von Weibern hören, deren Gesichter nicht gesehen werden durften.

Heutzutage pflegen gut erzogene Eingeborene ihre Frauen, wenn sie reisen – und sie sind oft auf Besuch unterwegs – in geziemend verwahrten Abteilungen, mit der Eisenbahn fahren zu lassen und diese Sitte breitet sich aus. Es bleiben aber noch genug vom alten Schlag, die an dem Brauch ihrer Vorfahren festhalten; und vor allem sind es die alten Frauen – konservativer als die Männer – die gegen die Neige ihrer Tage auf Pilgerfahrten ausziehen. Diese, verblüht und nicht begehrt, entschleiern sich, unter gewissen Umständen, ganz gern. Nach ihrer langen Abgeschlossenheit, während welcher sie mit der Außenwelt nur immer in geschäftliche Beziehung kamen, freuen sie sich des Lebens und Treibens der offenen Heerstraße, der Ansammlungen vor den Grabmälern und der nie mangelnden Gelegenheit, mit gleichgesinnten alten Damen zu schwatzen. Oft paßt es einer durch langes Dulden geprüften Familie, daß eine scharfzüngige, eigenwillige alte Dame auf diese Art Indien durchzieht, und eine Pilgerfahrt ist sicher den Göttern wohlgefällig. So kommt es, daß durch ganz Indien, an den entlegensten wie den besuchtesten Plätzen, ihr irgend einer Gruppe ergrauter Diener begegnet, die angeblich zur Aufsicht über eine alte vornehme Dame bestellt sind, welche mehr oder weniger hinter Vorhängen verborgen, in einem Ochsenwagen fährt. Diese Männer sind nüchtern und verschwiegen und wenn ein Europäer oder hochkastiger Eingeborener in der Nähe ist, verwahren sie ihre Schutzbefohlene mit sorgfältigster Vorsicht. Bei gewöhnlichen zufälligen Begegnungen auf der Pilgerfahrt werden diese Vorsichtsmaßregeln allerdings nicht angewendet, denn die alte Dame ist trotz allem leidenschaftlich weltlich und lebt, um Leben zu sehen.

Kim bemerkte eine bunt verzierte »Ruth« oder Familien-Ochsenkutsche mit einem gestickten Baldachin, auf dem zwei Kuppeln, wie bei einem zweihöckerigen Kamel, hervorragten, der just in das Parao gezogen wurde. Acht Männer bildeten sein Gefolge, von denen zwei mit rostigen Säbeln bewaffnet waren – ein sicheres Zeichen, daß sie einer Person von Rang folgten, denn gewöhnliches Volk trägt keine Waffen. Ein außerordentlicher Redestrom von Befehlen, Klagen, Scherzen und, was ein Europäer Schimpfen genannt haben würde, kam hinter den Vorhängen hervor. Hier war zweifellos eine Frau, die zu befehlen gewohnt war.

Kim betrachtete das Gefolge mit kritischem Blick. Zur Hälfte waren es dünnbeinige, graubärtige Ooryas vom Flachland; die andere Hälfte in Düffelmänteln und Pelzhüten, Hügelleute vom Norden: und diese Mischung erzählte ihre eigene Geschichte, auch ohne daß man das unaufhörliche Gezänke zwischen beiden Abteilungen hörte. Die alte Dame war auf einer Besuchsreise nach dem Süden, vielleicht zu einem reichen Verwandten, wahrscheinlicher noch zu einem Schwiegersohn, der ihr als Zeichen der Achtung eine Eskorte gesandt. Die Hügelleute mochten von ihrem eigenen Volk sein – von Kulu oder Kangra. Offenbar führte sie keine zu verheiratende Tochter mit sich, sonst wären die Vorhänge fest zugeschnürt gewesen und die Wache hätte keinem erlaubt, sich dem Wagen zu nähern. – Eine lebhafte und kühne Dame, dachte Kim, den Harzklumpen in einer, die gekochte Speise in der andern Hand balanzierend und den Lama mit der Schulter vorwärts lotsend. Aus der Begegnung müßte etwas zu machen sein. Der Lama würde ihm nicht helfen, aber als gewissenhafter Chela würde er mit Entzücken für Zwei betteln.

Dem Wagen so nahe als möglich, legte Kim sein Feuer an, in Erwartung, daß einer von der Eskorte ihn fortweisen würde. Der Lama ließ sich schwerfällig auf die Erde nieder, gleich wie eine Fledermaus, die sich an Frucht schwer gefressen, sich niederläßt, und kehrte zu seinem Rosenkranz zurück.

»Geh weiter fort, Bettler!« Der Befehl, in gebrochenem Hindostanisch, kam von einem Berginder.

»Hu! Es ist nur ein Pahari« (Gebirgler), sagte Kim über seine Schulter weg. »Seit wann haben die Bergesel ganz Hindostan in Besitz genommen?«

Die Entgegnung war eine schnell entworfene, brillante Skizze von Kims Stammbaum bis in die dritte Generation.

»Ah!« Kims Stimme war so süß wie möglich – und den Harzklumpen in Stücke brechend, sprach er: »In meinem Lande nennen wir das den Anfang eines Liebesgesprächs.«

Ein scharfes Gekicher hinter den Gardinen spornte den Gebirgler zu einem neuen Ausfall.

»Nicht so übel – nicht so übel,« sagte Kim mit Ruhe, »aber hüte Dich, Bruder! Wir – ich sage wir – könnten uns sonst veranlaßt sehen, Dir einen Fluch zurück zu geben. Und unsere Flüche haben das Geschick, in Erfüllung zu gehen.«

Die Ooryas lachten, der Gebirgler sprang drohend vorwärts: der Lama erhob den Kopf und brachte so plötzlich seine ungeheure runde Wollmütze in den Schein von Kims angezündetem Feuer.

»Was ist?« fragte er.

Der Mann hielt inne, wie zu Stein erstarrt. »Ich« – stammelte er – »ich bin vor einer großen Sünde bewahrt.«

»Der Fremde hat endlich gemerkt, daß es ein Heiliger ist,« flüsterte einer der Ooryas.

»He! Warum wird der Bettelbalg nicht gehörig durchgehauen?« rief die alte Dame.

Der Gebirgler ging zu dem Wagen hin und flüsterte etwas in die Gardine. Es folgte tiefes Schweigen, dann Geflüster.

»Das geht gut,« dachte Kim und tat, als ob er nichts sähe und hörte.

»Wenn – wenn – er gegessen hat,« – wisperte der Gebirgler demütig zu Kim, »bittet jemand den Heiligen um die Ehre, mit ihm sprechen zu dürfen.«

»Wenn er gegessen hat, wird er schlafen,« erwiderte Kim, von oben herab. Er wußte noch nicht recht, welche Wendung das Spiel nehmen würde, war aber entschlossen, den möglichst großen Nutzen daraus zu ziehen. »Jetzt muß ich gehen, ihm sein Essen holen.« Dies Letzte sprach er laut und endete mit einem Seufzer, wie von Erschöpfung.

»Ich – ich selbst und die andern von meiner Sippe werden das besorgen, wenn – es erlaubt ist.«

»Es ist erlaubt,« sagte Kim, mehr als je von oben herab. »Heiliger, diese Leute werden uns zu essen bringen.«

»Das Land ist gut. Alles Land im Süden ist gut – eine große und gewaltige Welt,« murmelte schläfrig der Lama.

»Laß ihn schlafen,« sagte Kim, »aber sorge dafür, daß wir gut gefüttert werden, wenn er aufwacht. Er ist ein sehr heiliger Mann.«

Wieder sagte einer der Ooryas etwas Geringschätziges.

»Er ist kein Fakir. Er ist kein bäuerischer Bettler,« sprach Kim feierlich, sich an die Sterne wendend. »Er ist der heiligste aller heiligen Männer. Er ist höher als alle Kasten. Ich bin sein Chela.«

»Komm hierher!« rief eine spitze Stimme hinter dem Vorhang; und Kim kam, sich wohl bewußt, daß Augen, die er nicht sehen konnte, ihn scharf beobachteten. Ein magerer brauner Finger, mit Ringen beschwert, lag auf der Wagenkante und die Rede ging so:

»Wer ist der dort?«

»Ein außerordentlich heiliger Mann. Er kommt von fern her. Er kommt von Tibet.«

»Von wo in Tibet?«

»Von hinter den Schneegipfeln – von einem sehr fernen Platz. Er hat die Kenntnis der Sterne. Er stellt Horoskope; er weiß den Stand der Gestirne bei der Geburt. Aber er bemüht sich nicht für Geld. Er tut es aus Güte und Erbarmen. Ich bin sein Schüler. Ich werde auch Freund der Sterne genannt.«

»Du bist nicht von den Bergen?«

»Frage ihn. Er wird Dir sagen, daß ich von den Sternen ihm gesandt wurde, ihm das Ende seiner Pilgerfahrt zu zeigen.«

»Ach was! Bedenke, Schlingel, daß ich eine alte Frau und nicht ganz und gar eine Närrin bin. Lamas kenne ich wohl und ihnen erweise ich Ehrfurcht: aber Du bist eben so wenig ein gesetzmäßiger Schüler als mein Finger die Deichsel dieses Wagens ist. Du bist ein kastenloser Hindu, ein kecker, unverschämter Bettler, der sich dem Heiligen wohl um des Gewinnes willen angeschlossen hat.«

»Arbeiten wir nicht alle um Gewinn?« Kim änderte sofort seinen Ton und paßte sich der veränderten Stimme an. »Ich habe gehört« – dies wurde auf gut Glück gewagt – »ich hörte –«

»Was hast Du gehört?« schnauzte sie ihn an, mit dem Finger klopfend.

»Nichts, dessen ich mich so ganz genau entsinne, ein Bazar-Geschwätz, das sicher eine Lüge ist, daß selbst Rajahs – kleine Berg-Rajahs –«

»Aber dennoch von gutem Rajput-Blut.«

»Natürlich, von gutem Blut. Daß selbst diese die Hübscheren ihres Weibervolkes um Gewinn verkaufen. Nach dem Süden hinunter verkaufen sie sie – an Zemindars (erbliche Grundherren) und solche Art Leute in Oudh.«

Wenn es etwas in der Welt gibt, was die kleinen Rajahs ableugnen, so ist es just diese Beschuldigung: und just dieses glauben die Bazare, wenn von dem mysteriösen Sklavenhandel Indiens die Rede ist. Die alte Dame erklärte Kim in leidenschaftlichem Flüsterton und im raschesten Tempo, welch eine Art boshafter Lügner er wäre und wie, hätte er diese Andeutung gewagt, als sie noch ein Mädchen war, er noch am selbigen Abend von einem Elefanten zu Tode getreten worden wäre. Und dies war vollkommen wahr.

»Ahai! Ich bin nur eines Bettlers Balg, wie das Auge der Schönheit mich genannt,« jammerte er in großem Schreck.

»Auge der Schönheit, wahrhaftig! Wer bin ich, daß Du wagst, mir Bettler-Zärtlichkeiten an den Hals zu werfen?« Und doch lächelte sie bei dem lang vergessenen Wort. »Vor vierzig Jahren hätte man das von mir sagen können und nicht ohne Grund – nein, noch vor dreißig Jahren. Aber diese Landstreicherei auf und ab durch Hind ist schuld, daß eine Königswitwe mit dem Abschaum des Volkes zusammen stoßen und der Spott von Bettlern werden muß.«

»Große Königin,« sagte Kim schleunigst, denn er hörte sie sich schütteln vor Grimm, »ich bin eben das, was die Große Königin mich nannte: aber nichts destoweniger ist mein Meister heilig. Er hat noch nicht den Befehl der Großen Königin vernommen, daß er – –«

»Befehl? Ich einem Heiligen befehlen – einem Lehrer des Gesetzes – zu kommen, um mit einem Weibe zu sprechen? Niemals!«

»Erbarme Dich meiner Dummheit. Ich dachte, es wäre ein Befehl – –«

»Es war es nicht. Es war eine Bitte. Ist Dir nun alles klar?«

Eine Silbermünze prallte auf die Wagenkante. Kim nahm sie und salaamte tief. Die alte Dame begriff, daß man ihn, als das Auge und Ohr des Lama, günstig stimmen müßte.

»Ich bin nur der Schüler des Heiligen. Wenn er gegessen hat, wird er – vielleicht – kommen.«

»Du Taugenichts und schamloser Spitzbube!« Der juwelenbeschwerte Zeigefinger wurde drohend gegen ihn geschüttelt; aber er konnte die alte Dame kichern hören.

»Nun, was wünscht man denn?« fragte er in seinem zutraulichsten und liebenswürdigsten Ton, dem, er wußte es wohl, nur wenige widerstanden. »Wird in Deiner Familie ein Sohn begehrt? Sprich offen, denn wir Priester –« das Letzte war ein direktes Plagiat von einem Fakir am Taksali-Tor.

»Wir Priester! Du bist noch nicht alt genug, um – –« Sie unterbrach den Witz durch ein neues Gelächter. »Glaube mir ein für alle Mal, wir Frauen, Du Priester, haben auch an anderes als an Söhne zu denken. Außerdem, meine Tochter hat einen Knaben geboren.«

»Zwei Pfeile im Köcher sind besser als einer und drei sind noch besser.« Kim begleitete das Sprichwort mit nachdenklichem Husten und blickte diskret zur Erde.

»Wahr – o wahr. Aber vielleicht kommt das noch. Sicherlich aber sind diese Brahmanen auf dem Lande zu nichts nütze. Ich sandte Gaben und Geld und wieder Gaben, und sie prophezeihten –«

»Ah!« warf Kim mit unendlicher Verachtung hin, »sie prophezeihten!« Ein Prophet von Profession hätte es nicht besser machen können.

»Und erst als ich mich meiner eigenen Götter erinnerte, wurde ich erhört. Ich wählte eine günstige Stunde; und – vielleicht hat Dein Heiliger von dem Abt der Lung-Cho-Lamasserie gehört. Ihm trug ich meine Angelegenheit vor, und siehe, zur bestimmten Zeit kam alles, wie ich es gewünscht. Der Brahmane im Hause des Vaters von meiner Tochter Sohn hat seitdem gesagt, durch seine Gebete wäre es geschehen, was ein kleiner Irrtum ist, wie ich ihm erklären werde, wenn ich das Ziel meiner Reise erreicht habe. Und dann später gehe ich nach Buddh Gaya, um die Totenfeier für den Vater meiner Kinder abzuhalten.«

»Dahin gehen auch wir.«

»Doppelt günstig,« frohlockte die alte Dame. »Bedeutet wenigstens einen zweiten Sohn.«

»O, Freund der ganzen Welt!« Der Lama war erwacht und einfach, wie ein Kind verwirrt, das sich in einem fremden Bette findet, rief er nach Kim.

»Ich komme! Ich komme, Heiliger!« Kim eilte an das Feuer, wo er den Lama schon umgeben von Schüsseln mit Speisen fand. Die Gebirgler beteten ihn sichtlich an und die vom Süden sahen mit sauren Gesichtern zu.

»Geht fort! Zieht Euch zurück!« rief Kim. »Essen wir öffentlich, gleich Kunden?« Sie beendeten schweigend ihr Mahl, Kim krönte es mit einer einheimischen Zigarette und sie rückten etwas von einander fort.

»Habe ich nicht hundert Mal gesagt, daß der Süden ein gutes Land ist? Hier befindet sich die tugendhafte und hochgeborene Witwe eines Rajah aus den Bergen auf einer Pilgerfahrt, sie sagt, nach Buddh Gaya. Sie ist es, die uns die Speisen schickte, und wenn Du ausgeruht hast, möchte sie Dich sprechen.«

»Ist das auch Dein Werk?«

»Wer sonst behütete Dich, seit unsere wundervolle Reise begann?« Die Augen tanzten Kim im Kopfe, wie er den Rauch kräftig durch die Nüstern blies, und er streckte sich auf den staubigen Boden. »Habe ich versäumt, Dein Wohlbefinden zu überwachen, Heiliger?«

»Ein Segen über Dich.« Der Lama neigte sein Ehrfurcht erweckendes Haupt. »Viele Menschen habe ich gekannt in meinem so langen Leben und der Schüler nicht wenige. Aber zu keinem Menschen, wenn auch Du von einem Weibe geboren bist, ist mein Herz hingegangen wie zu Dir – nachdenkend, weise und höflich – aber etwas von einem kleinen Kobold.«

»Und ich sah noch niemals einen Priester, wie Du bist.« Kim betrachtete das wohlwollende gelbe Gesicht, Falte bei Falte. »Es sind noch kaum drei Tage, daß wir zusammen unsere Reise antraten und mir ist, als wären es hundert Jahre.«

»Kann sein, in einem früheren Leben war es mir erlaubt. Dir einen Dienst zu erweisen. Kann sein,« – er lächelte – »ich befreite Dich aus einer Falle: oder ich hatte Dich an einem Angelhaken, in den Tagen, da ich nicht erleuchtet war, und warf Dich zurück in den Fluß.«

»Kann sein,« sagte Kim ruhig. Er hatte diese Art von Theorie wieder und wieder gehört aus dem Munde von Männern, die der Engländer nicht gerade für sehr geistreich gehalten hätte. »Nun, was diese Frau in dem Ochsenwagen betrifft, so denke ich, sie wünscht einen zweiten Sohn für ihre Tochter.«

»Das hat keine Beziehung zu dem Pfade,« seufzte der Lama. »Aber sie ist doch von den Bergen. Ach, die Berge! Und der Schnee der Berge!«

Er erhob sich und schritt zu dem Wagen. Kim würde seine Ohren darum gegeben haben, mitkommen zu dürfen, aber der Lama forderte ihn nicht auf, und die wenigen Worte, die er erlauschte, waren in ihm unbekannter Sprache. Sie redeten in einem in den Bergen gebräuchlichen Dialekt. Die Frau schien Fragen zu stellen, die der Lama erst nach Überlegung beantwortete. Zuweilen hörte er den Sing-Sang eines chinesischen Citates. Es war ein sonderbares Bild, das Kim durch halb geschlossene Wimpern sah: der Lama, gerade aufgerichtet, in seiner gelben, schwarzgeschlitzten Gewandung, im Schein der Parao-Feuer gleich einem knorrigen Baumstamm, den die Schattenlichter der scheidenden Sonne streifen, richtete sein Wort an eine goldgeschmückte, lackierte Ruth, die in demselben ungewissen Licht wie vielfarbiges Edelgestein glitzerte. Die Muster auf den golddurchwirkten Vorhängen tanzten auf und ab, verschwammen und bildeten sich wieder, wenn die Falten vom Nachtwind bewegt wurden; und als das Gespräch ernster wurde, blitzten Funken von dem juwelenbedeckten, lebhaft geschüttelten Zeigefinger über die Stickerei. Hinter dem Wagen war eine Wand von ungewisser, von kleinen Flammen unterbrochener Dunkelheit, belebt von halb sichtbaren Formen und Gesichtern und Schatten. Die Geräusche des frühen Abends hatten sich in ein sanftes Summen gewandelt, dessen tiefster Ton das gleichförmige Kauen der Ochsen an ihrem gehackten Stroh, und dessen höchster das Klingen der »Sitar« eines bengalischen Tanzmädchens war. Die Männer hatten meist gegessen und zogen tief an ihren gurgelnden, grunzenden Wasserpfeifen, die im vollen Blasen der Stimme des Ochsenfrosches ähneln.

Endlich kehrte der Lama zurück. Ein Gebirgler trug ihm eine wattierte Decke nach und breitete sie sorgfältig am Feuer aus.

»Sie verdient zehntausend Großkinder,« dachte Kim. »Nichtsdestoweniger würden ohne mich solche Gaben nicht gekommen sein.«

»Eine tugendhafte Frau – und eine weise.« Der Lama ließ sich schlaff nieder, Glied bei Glied, wie ein schwerfälliges Kamel. »Die Welt ist voll von Barmherzigkeit für die, die den Weg wandeln.« Er warf die größere Hälfte der Decke über Kim.

»Und was sagte sie?« Kim wickelte sich in seinen Teil der Decke.

»Sie legte mir manche Frage vor und warf manches Problem auf – die meisten aber waren nichtige Märchen, welche sie von teufeldienerischen Priestern gehört, die vorgeben, dem Weg zu folgen. Einige beantwortete ich, von anderen sagte ich, daß sie töricht wären. Viele tragen das Kleid, aber wenige verharren auf dem Weg.«

»Wahr. Das ist wahr.« Kim sagte es gedankenvoll, um etwas anvertraut zu bekommen.

»Abgesehen von ihrem Mangel an Erkenntnis, ist sie sehr gut gesinnt. Sie wünscht sehr, daß wir mit ihr nach Buddh Gaya gehen, da, wie ich verstand, viele Tagereisen südwärts ihre Straße auch die unsrige ist.«

»Und?«

»Ein wenig Geduld! Auf dieses erwiderte ich, daß meine Suche allem vorginge. Sie hatte manche törichte Fabel vernommen, aber die große Wahrheit von meinem Strom hatte sie nie gehört. So sind die Priester von den Vorbergen! Sie kannte den Abt von Lung-Cho, aber sie wußte nichts von meinem Fluß, nicht die Geschichte des Pfeils.«

»Und?«

»Ich sprach deshalb von der Suche und von dem Weg und von verdienstvollen Dingen; sie aber begehrte nichts weiter, als daß ich mit ihr ginge und Gebete verrichte für einen zweiten Sohn.«

»Aha! Wir Frauen denken doch an nichts weiter als an Kinder,« sagte Kim schläfrig.

»Nun, da unsere Straße für eine Weile dieselbe ist, glaube ich nicht, daß wir irgendwie von unserer Suche abweichen, wenn wir sie begleiten, wenigstens so weit bis – ich habe den Namen der Stadt vergessen.«

»Ohe!« rief Kim, sich wendend und einen von den einige Meter entfernten Ooryas in scharfem Flüsterton anredend, »wo ist das Haus Eures Gebieters?«

»Etwas hinter Saharunpore, zwischen den Fruchtgärten.« Er nannte das Dorf.

»Das ist der Name,« sagte der Lama. »So weit wenigstens können wir mit ihr gehen.«

»Fliegen gehen nach Aas,« sagte der Oorya mit unterdrückter Stimme.

»Für die kranke Kuh eine Krähe, für den kranken Mann ein Brahmine.« Kim richtete das Sprichwort ganz harmlos an die Schattenwipfel der Bäume.

Der Oorya grunzte und war still.

»Also gehen wir mit ihr, Heiliger?«

»Gibt es einen Grund dagegen? Ich kann doch zur Seite treten und alle Flüsse prüfen, über welche die Straße führt. Sie wünscht, daß ich mitkomme. Sie wünscht es sehr.«

Kim erstickte ein Lachen unter der Decke. Wenn erst die mächtige Dame ihre natürliche Scheu vor einem Lama überwunden hatte, hielt er es für wahrscheinlich, daß man ihr gerne zuhören konnte.

Er schlief beinahe schon, als er den Lama plötzlich das Sprichwort zitieren hörte: »Den Gatten der Geschwätzigen wird eine große Belohnung in Zukunft.« Dann hörte Kim ihn dreimal schnupfen und schlummerte, noch lachend, ein.

Der diamantene Tagesanbruch erweckte Menschen, Krähen und Ochsen auf einmal. Kim saß aufrecht, gähnte, schüttelte sich und schauerte vor Entzücken. Dies hieß in Wahrheit die Welt sehen: das war Leben, wie es ihm gefiel – Hasten und Schreien, Geklingel von Glocken und Einfangen von Ochsen, und Knirschen von Rädern und Leuchten von Feuern und Kochen von Speisen – und neue Erscheinungen, wohin das neugierige Auge blickte. Der Morgennebel verschwand in einem Silberwirbel, die Papageien, in grünen, schreienden Schwärmen, schossen fort zu einem fernen Fluß, alle Schöpfräder in Hörweite fingen zu arbeiten an. Indien war wach, und Kim, in seiner Mitte, mehr wach und mehr rege als irgend einer, kaute an einem Zweiglein, das er zugleich als Zahnbürste benutzte, denn rechter und linker Hand profilierte er von den Bräuchen des Landes, das er kennen und lieben lernte. Er hatte nicht nötig, sich um Nahrung zu kümmern, nicht nötig, auch nur ein Cowrie (Scheidemünze in Ostindien) an die gedrängt vollen Buden zu verschwenden. Er war der Schüler eines heiligen Mannes und angenommen von einer eigenwilligen alten Dame. Alles wurde für sie vorbereitet, und wenn sie ehrerbietig eingeladen würden, würden sie niedersitzen und essen. Im Übrigen – Kim kicherte hier beim Zähnebürsten – würde ihre Wirtin das Vergnügen der Reise nur erhöhen. Kritisch inspizierte er ihre Ochsen, als diese schnaufend und grunzend unter dem Joch herankamen. Wenn sie zu schnell gingen – es war nicht wahrscheinlich – würde er einen angenehmen Sitz auf der Deichsel finden? der Lama würde hinter dem Treiber sitzen. Die Eskorte natürlich würde gehen. Die alte Dame, ebenso natürlich, würde viel reden, und nach allem, was er gehört, würde es ihrer Rede nicht an Salz fehlen. Sie war schon jetzt dabei, zu befehlen, anzuordnen, bombastisch zu reden, zu schelten und es muß gesagt werden, ihre Diener wegen Saumseligkeit zu verfluchen.

»Bringt ihr ihre Pfeife. Im Namen der Götter bringt ihr ihre Pfeife und stopft ihren gotteslästerlichen Mund,« rief ein Oorya, ein ungefüges Bündel von Betten zusammenschnürend. »Sie und die Papageien sind sich gleich. Sie kreischen in der Dämmerung.«

»Die Leit-Ochsen! He! Sieh nach den Leit-Ochsen!« Sie drängten rückwärts und schwenkten ab, als die Axe eines Getreide-Karrens sie bei den Hörnern faßte. »Sohn einer Eule, wohin fährst Du denn?« Dies zu dem grienenden Karrentreiber.

»Oho! Ahi! Ahi! Die da drinnen ist die Königin von Delhi, die auszieht, um einen Sohn zu erbeten. Raum für die Königin von Delhi und ihren Premierminister, den grauen Affen, der an seinem eigenen Schwert hinauf klettert,« rief der Treiber rückwärts über seine hohe Ladung hinweg. Ein anderer, mit Häuten für eine ländliche Gerberei beladener Wagen folgte dicht hinterher, und sein Lenker fügte einige Schmeicheleien hinzu, als die Ruth-Ochsen rückwärts und rückwärts drängten.

Hinter den bebenden Gardinen hervor kam ein Hagel von Schimpfreden. Er hielt nicht lange an, aber an Art und Beschaffenheit, an feurigem und beißendem Charakter überstieg er alles, was Kim bisher gehört. Er sah des Fuhrmanns nackte Brust vor Schreck zusammensinken; der Mann salaamte tief, sprang von der Deichsel und half der Eskorte ihren Vulkan auf die Hochstraße ziehen. Hier gab ihm die Stimme noch treulich zu wissen, welche Art Weib er gefreit hatte und was es in seiner Abwesenheit trieb.

»Oh, Shabash!« (Hoheit!) murmelte Kim, unfähig, sich zu fassen.

»Gut gemacht, nicht wahr? Es ist eine Schande und ein Skandal, daß eine arme Frau nicht reisen kann, um zu ihren Göttern zu beten, ohne von allem Auswurf Hindostans verspottet und beschimpft zu werden, daß sie Gali (Schmähungen) essen muß, wie Männer Ghi (Butter) essen! Aber noch kann ich meine Zunge rühren, noch finde ich ein oder zwei Worte, die für die Gelegenheit passen. Und noch bin ich ohne meinen Tabak! Wo ist der einäugige, gottverlassene Sohn der Schande, der meine Pfeife noch nicht fertig gemacht hat?«

Die Pfeife wurde von einem Gebirgler hastig hineingereicht und Bäche von dickem Rauch, die aus jeder Spalte der Vorhänge drangen, zeigten, daß der Friede wieder hergestellt war.

War Kim den Tag zuvor stolz marschiert als Schüler eines heiligen Mannes, so schritt er heute mit zehnfach verdoppeltem Stolz einher, im Zuge einer halb königlichen Prozession, mit anerkanntem Platz und unter dem Schutz einer alten Dame von reizenden Manieren und enormen geistigen Fähigkeiten. Die Eskorte, mit nach Landessitte beturbanten Köpfen, setzte sich zu beiden Seiten des Wagens in Schritt, furchtbare Massen von Staub aufwirbelnd.

Der Lama und Kim gingen in kleiner Entfernung an einer Seite, Kim, an seinem Zuckerrohr kauend und keinem unter dem Rang eines Priesters ausweichend. Sie hörten das Mundwerk der alten Dame klappern, so unermüdlich wie eine Reis-Schälmaschine. Sie befahl der Eskorte, zu berichten, was auf der Straße vorginge, und nicht sobald waren sie aus dem Parao, als sie die Gardinen zurückschlug und, den Schleier nur über ein Drittel des Gesichtes gezogen, heraus guckte. Ihre Leute sahen sie nicht direkt an, wenn sie zu ihnen redete, und so war der Anstand mehr oder weniger gewahrt.

Ein dunkelgelb-farbiger Distrikt-Oberaufseher der Polizei, tadellos uniformiert, ein Engländer, ritt auf müdem Roß heran, und an ihrem Gefolge erkennend, welche Art von Persönlichkeit sie war, neckte er sie.

»Oh, Mutter,« rief er, »ist das der Brauch in den Zenanas (Harem)? Denke nur, ein Engländer käme daher und sähe, daß Du keine Nase hättest!«

»Was?« schrillte es zurück – »Deine eigene Mutter hatte keine Nase? Warum sagst Du denn das auf der offenen Straße?«

Es war ein hübscher Gegenschlag. Der Engländer hob die Hand mit der Bewegung eines im Fechtspiel Getroffenen. Sie lachte und nickte.

»Ist dies ein Gesicht, um die Tugend in Versuchung zu führen?« Sie schlug den Schleier vollständig zurück und stierte ihn an.

Es war keinesfalls ein liebliches Gesicht; der Mann aber, seine Zügel anziehend, nannte es Mond des Paradieses, Verderber der Tugendhaftigkeit, und was dergleichen phantastische Schmeicheleien mehr waren, und ihre Heiterkeit verdoppelte sich.

»Das ist ein Nußknacker (Schelm),« sagte sie. »Alle Polizei-Konstabler sind Schufte; aber die Polizei-Wallahs sind die schlimmsten. Hei, mein Sohn, das hast Du alles noch nicht gelernt, seitdem Du von Belait (Europa) gekommen bist. Wer säugte Dich?«

»Eine Pahareen – eine Bergfrau von Dalhousie, meine Mutter. Halte Deine Schönheit unter Schirm – o Spenderin des Entzückens,« und fort war er.

»Das ist die rechte Art,« sie schlug einen feinen, kritischen Ton an und stopfte ihren Mund mit Betel, »das ist die Art, die die Gerechtigkeit überwachen sollte. Die kennen das Land und die Sitten des Landes. Die andern, die frisch von Europa kommen, von weißen Frauen gesäugt sind und unsere Sprache aus Büchern lernen, sind schlimmer als die Pestilenz. Die tun Königen unrecht.« Dann erzählte sie, der Welt im allgemeinen, eine lange, lange Geschichte von einem dummen, jungen Polizeibeamten, der einem kleinen Berg-Rajah, einem ihrer Vettern im neunten Grade, den Frieden gestört hatte, um einer gewöhnlichen Boden-Streitigkeit willen. Sie schloß mit einem Zitat, das keinesfalls aus einem Erbauungsbuch herrührte.

Dann wechselte ihre Laune, und sie befahl einem der Eskorte, den Lama zu bitten, dicht an ihrer Seite zu gehen, um Religionsfragen zu diskutieren. Kim trat also in den Staub zurück und nahm sein Zuckerrohr wieder vor. Länger als eine Stunde trat des Lama's Tam-o'shanter (runde Wollmütze) wie ein Mond aus dem Staub hervor; und nach allem, was er erlauschte, war es Kim, als wenn die alte Frau weinte. Einer der Ooryas entschuldigte sich halb und halb wegen seiner Grobheit am letzten Abend; sagte, er hätte seine Herrin noch niemals in so milder Stimmung gesehen und schrieb diese der Gegenwart des fremden Priesters zu. Er für seine Person glaubte an Brahminen, obgleich er, wie alle Eingeborenen, von ihrer Schlauheit und Habgier fest überzeugt war. Aber, wenn Brahminen die Mutter von seines Herrn Weib durch ihre Betteleien nur erzürnten, so, daß sie sie fortjagte, und sie dann so wütend wurden, daß sie das ganze Gefolge verfluchten, (woher es kam, daß der zweite Seiten-Ochse lahmte, und die Deichsel in der letzten Nacht zerbrach), dann war er bereit, sich mit irgend einem anderen Priester, von irgend einer anderen Partei, in oder außerhalb Indiens auszusöhnen.

Hierzu nickte Kim sehr weise und wies den Oorya darauf hin, daß der Lama kein Geld nähme, und daß die Kosten für seine und des Lama's Unterhaltung hundertfach aufgewogen würden durch das gute Glück, das die Karawane fortan begleiten würde. Er erzählte darauf Geschichten aus Lahore und sang Lieder, welche die Eskorte lachen machten. Als eine Stadtmaus, wohlbekannt mit den neuesten Liedern der beliebtesten Komponisten – es sind meist Frauen – hatte Kim einen bedeutenden Vorteil über Leute aus einem kleinen Fruchtdorf hinter Scharunpore, aber er ließ sie diesen Vorteil nicht empfinden.

Am Nachmittag lenkten sie seitab, um zu essen. Das Mahl war gut, reichlich und auf Schüsseln von reinen Blättern serviert, anständig gesäubert vom Straßenstaub. Die Überreste gaben sie gewissen Bettlern, damit alle Vorschriften erfüllt würden, und setzten sich nieder zu langem, luxuriösem Rauchen. Die alte Dame hatte sich hinter ihre Vorhänge zurückgezogen, mischte sich aber sehr lebhaft ins Gespräch; sie diskutierte mit ihren Dienern, und diese widersprachen ihr, wie Diener es im ganzen Osten zu tun pflegen. Sie verglich die Kühle und die Kiefern der Kangra- und Kulu-Berge mit dem Staub und den Mangos des Südens; sie erzählte eine Geschichte von allen Orts-Gottheiten an der Grenze des Gebietes ihres Gatten; sie verwünschte rundweg den Tabak, den sie gerade rauchte, sie schalt auf alle Brahminen und spekulierte ohne Rückhalt auf das Kommen zahlreicher Enkel.



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