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Mit frischem Sinn schwang Kim sich auf die nächste Drehung des Rades. Für eine Weile wollte er wieder mal Sahib sein. In diesem Gedanken sah er sich, sobald er die breite Straße unter dem Simla-Rathaus erreichte, nach jemand um, dem er imponieren konnte. Ein Hindu-Knabe von ungefähr zehn Jahren hockte unter einem Laternenpfahl.
»Wo ist Mr. Lurgans Haus?« fragte Kim.
»Ich verstehe nicht Englisch,« war die Antwort, und Kim änderte seine Sprache.
»Ich werde es Dir zeigen.«
Sie schritten miteinander durch das geheimnisvolle Zwielicht, unter sich das Geräusch der Stadt am Bergabhang, im Hauch eines kühlen Windes vom Deodargekrönten Jakko herab, der die Sterne zu berühren schien.
Die Lichter aus den auf allen Anhöhen zerstreuten Häusern bildeten gleichsam ein zweites Firmament. Dazwischen bewegliche Lichter von den Rickshaws, die die laut sprechende, sorglose englische Gesellschaft zum Diner führten.
»Hier ist es«, sagte Kims Führer und hielt vor einer Veranda, in gleicher Höhe mit der Hauptstraße. Keine Tür hielt sie zurück, nur ein Vorhang von Rohrschnüren, den Lampenlicht von innen durchschimmerte.
»Er ist gekommen,« sprach der Knabe mit einer Stimme, kaum lauter als ein Seufzer, und verschwand. Kim war sicher, daß der Knabe auf dem Posten gewesen war, um ihn zu führen, nahm es aber kühl auf und teilte den Vorhang. Ein Mann mit schwarzem Bart und einem grünen Schirm über den Augen saß an einem Tisch, und mit kurzen, weißen Händen pickte er Kügelchen von Licht, eins nach dem anderen, von einer Platte auf, reihte sie auf eine glänzende, seidene Schnur und summte dabei. Kim merkte, daß der Raum hinter dem Lichtkreis mit Dingen angefüllt war, die Düfte wie von allen Tempeln des Ostens verbreiteten. Ein Hauch von Moschus, ein Geruch von Sandelholz und ein kränklicher Duft von Jasmin-Öl schlug ihm entgegen.
»Ich bin hier,« sprach Kim endlich im Dialekt: die Wohlgerüche machten ihn vergessen, daß er ein Sahib sein wollte.
»Neunundsiebzig, achtzig, einundachtzig,« zählte der Mann, eine Perle nach der anderen und so schnell aufreihend, daß Kim kaum der Bewegung der Finger folgen konnte. Er schob den grünen Schirm zurück und sah Kim eine halbe Minute fest an. Die Pupillen der Augen erweiterten sich und schrumpften wieder ein zur Größe von Nadelspitzen, wie willkürlich. Ein Fakir am Taksali-Tor besaß diese Gabe, und verdiente Geld damit, besonders wenn er dumme Weiber verfluchte. Kim starrte neugierig hin. Sein verrufener Freund konnte auch die Ohren bewegen wie eine Ziege, und Kim war enttäuscht, daß dieser neue Mann es nicht ebenfalls tat.
»Fürchte Dich nicht«, sprach Lurgan plötzlich.
»Warum sollte ich mich fürchten?«
»Du wirst diese Nacht hier schlafen und bei mir bleiben, bis es Zeit ist, nach Nucklao zurückzukehren. Es ist Befehl.«
»Es ist Befehl,« wiederholte Kim. »Aber wo soll ich schlafen?«
»Hier in diesem Raum.« Lurgan bewegte die Hand nach dem Dunkel hinter ihm.
»Gut,« sagte Kim ruhig. »Jetzt?«
Lurgan nickte und hielt die Lampe über seinen Kopf. Unter dem Lichtschein sprang aus der Wand hervor eine Sammlung Tibetanischer Teufeltanz-Masken, die über den mit Teufeln bestickten Gewandungen hingen, welche zu solcher grausigen Festlichkeit gehören – finster grinsende Masken, gehörnte Masken, Masken mit wahnsinnigem Schreckensausdruck. In einer Ecke drohte ihm ein japanesischer Krieger mit Schild und Federschmuck mit seiner Hellebarde, und Massen von Khandas (Lanzen) und Kuttars (kurze Dolche) warfen den unsicheren Lichtschein zurück. Was Kim aber mehr als dies alles interessierte – er hatte Teufeltanz-Masken im Museum zu Lahore gesehen – war die Erscheinung des sanftäugigen Hindu-Kindes, das ihn in der Tür verlassen und nun plötzlich mit gekreuzten Beinen und einem Lächeln auf den scharlachroten Lippen unter dem Perlentische saß.
»Ich glaube, Lurgan Sahib will mir Furcht einflößen, und bin sicher, der Teufelsbalg unter dem Tisch möchte sehen, daß ich mich fürchte.« Laut sprach er: »Dieser Raum gleicht einem Wunder-Haus. Wo ist mein Bett?« Lurgan Sahib zeigte nach einem landesüblichen Polster in der Ecke unter den scheußlichen Masken, nahm die Lampe und ließ den Raum in Dunkelheit zurück.
»War das Lurgan Sahib?« fragte Kim, als er sich zusammengekauert hatte. Keine Antwort. Doch hörte er den Hindu-Knaben atmen, und von dem Hauch geleitet, kroch er über den Boden und knuffte mit den Fäusten in das Dunkel hinein. »Gib Antwort, Teufel. Betrügt man so einen Sahib?«
Aus der Finsternis hörte er das Echo eines Gekichers. Sein weichgliedriger Führer konnte es nicht sein, denn der weinte. So rief Kim laut: »Lurgan Sahib! O, Lurgan Sahib! Ist es Befehl, daß Dein Diener nicht mit mir spricht?«
»Es ist Befehl!« Die Stimme kam hinter ihm hervor, und er fuhr zusammen.
»Gut also. Aber wisse,« brummte er, als er sein Lager wieder suchte, »wenn es hell ist, werde ich Dich prügeln. Ich kann keine Hindus leiden.«
Das war keine angenehme Nacht. Der Raum war voll von Stimmen und Musik. Zweimal ward Kim geweckt dadurch, daß man seinen Namen rief. Beim zweiten Mal erhob er sich und suchte umher. Dabei stieß er mit der Nase an einen Kasten, der offenbar mit menschlicher Zunge sprach, aber nicht mit irgendwie menschlichen Tönen. Der Kasten schien in einer zinnernen Trompete zu enden und durch Drähte mit einem kleineren Kasten auf dem Boden verbunden zu sein, soviel Kim durch Betasten erkannte. Und die Stimme, hart und schwirrend, kam aus der Trompete. Kim rieb sich die Nase, wurde wütend und dachte – in Hindostanisch – wie gewöhnlich: »Für einen Bettler aus dem Bazar möchte das passen, aber – ich bin ein Sahib und der Sohn eines Sahibs und – was doppelt so viel wert ist, ein Student von Nucklao. Ja,« (hier fiel er wieder in Englisch), »ein Knabe von St. Xavier. Verdammt seien Mr. Lurgans Augen! – – Es ist eine Art Maschinerie wie eine Nähmaschine. Es ist eine Unverschämtheit von ihm, aber uns von Lucknow schreckt man nicht so – Nein!«
Wieder in Hindi: »Aber was gewinnt er dabei? Er ist nur ein Handelsmann, ich bin in seinem Laden. Creighton Sahib ist aber ein Oberst – und Creighton Sahib hat wohl befohlen, daß hier alles so gemacht wird. Wie ich den Hindu morgen prügeln will! Was gibt's da wieder?«
Der Trompetenkasten stieß einen Strom von Schimpfreden aus, wie selbst Kim sie nie gehört und das mit einer monotonen und doch so durchdringenden Stimme, daß für einen Moment sich ihm das Haar im Nacken sträubte. Als das teuflische Ding Atem holte, wurde Kim beruhigt durch leises, nähmaschinenartiges Schwirren.
»Chup (sei still)!« schrie er und wieder hörte er ein Kichern, das ihn resolut machte. »Chup! – oder ich schlage Dir den Kopf ein.«
Der Kasten hörte nicht auf ihn. Kim riß an der Trompete und es hob sich etwas mit einem Klick. Er hatte augenscheinlich eine Klappe losgebrochen. Wenn da ein Teufel drinnen saß, so war es Zeit für ihn – er schnüffelte – so rochen die Nähmaschinen im Basar. Den Shaitan wollte er austreiben. Er schlüpfte aus seinem Rock und stopfte ihn in den Mund des Kastens. Etwas Langes und Rundes bog sich unter dem Druck – ein Schwirren – und die Stimme schwieg, wie eine Stimme wohl muß, wenn ein dreifach zusammengerollter Rock auf den Wachs-Zylinder und in das Werk eines kostspieligen Phonographen hinein gepreßt wird. Kim schlief guten Mutes wieder ein.
Am Morgen sah er Lurgan Sahib an seinem Lager stehen.
»Oha!« rief Kim, entschlossen an seinem Sahibtum festzuhalten; »hier war ein Kasten, der im Dunkeln schlechtes Zeug redete. Ich stoppte ihn aber. War es Euer Kasten?«
Der Mann streckte ihm die Hand entgegen.
»Gib mir die Hand, O'Hara,« sagte er. »Ja, es war mein Kasten. Ich halte solche Dinger, denn meine Freunde, die Rajahs, mögen sie gern. Dieser da ist zerbrochen, war aber billig eingekauft. Ja, meine Freunde, die Könige, lieben Spielsachen – und ich auch – zuweilen.«
Kim betrachtete ihn verstohlen. Ein Sahib war er, insoweit er wie ein Sahib gekleidet war; der Akzent seines Urdu und die Aussprache seines Englisch zeigte aber, daß er nichts weniger als ein Sahib war. Er schien zu verstehen, was im Geiste des Knaben vorging, ohne daß dieser den Mund öffnete, und er gab keine Erklärungen wie Vater Victor oder die Lehrer in Lucknow. Besser aber, er behandelte Kim wie einen Gleichgestellten, auf asiatische Weise.
»Tut mir leid, daß Ihr meinen Jungen heute morgen nicht prügeln könnt. Er sagt, er will Euch mit Gift oder Messer töten. Er ist eifersüchtig. Ich habe ihn in die Ecke gestellt und werde heute nicht mit ihm sprechen. Er hat eben versucht, mich umzubringen. Ihr müßt mir beim Frühstück helfen. Er ist zu eifersüchtig; man kann ihm jetzt nicht trauen.«
Ein von England unverfälscht importierter Sahib würde eine große Wichtigkeit aus solcher Sache gemacht haben; Lurgan Sahib erzählte sie so einfach, wie Mahbub Ali seine kleinen Geschäfte im Norden berichtete.
Die hintere Veranda war direkt über den Hügelabhang hinausgebaut und man guckte in des Nachbars Schornstein hinunter, wie es in Simla gewöhnlich Brauch ist. Mehr noch als das rein persische Mahl, das Lurgan mit eigener Hand bereitete, interessierte Kim der Inhalt des Ladens. Das Museum von Lahore war größer, aber hier waren mehr Wunder – Geisterdolche und Gebetmühlen von Tibet, Halsketten von Bernstein und Türkisen; Spangen von grünem Speckstein, sonderbar zusammengefügte Weihrauch-Stäbe in mit rohem Granat inkrustierten Krügen; die Teufelsmasken von voriger Nacht und eine Wand voll von pfauenblauen Draperien; vergoldete Buddha-Gestalten und kleine, tragbare Lack-Altäre; russische Samowars mit Türkisen auf den Deckeln; chinesisches Teegeschirr, dünn wie Eierschalen, in zierlichen achteckigen Rohrschachteln; Kruzifixe von gelbem Elfenbein, »meist aus Japan,« grade diese, sagte Lurgan Sahib; abscheulich riechende, staubige Teppich-Ballen hinter zerfetzte und vermoderte geometrische Tafeln geschoben. Persische Wasserkrüge für Handwaschung nach der Mahlzeit; schwere kupferne Räucherbüchsen, weder persisch noch chinesisch, mit Friesen von phantastischen, rundtanzenden Teufeln umgeben; fleckige silberne Gürtel, die sich wie rohes Leder zusammenknoteten; Haarnadeln von Jetstein, Elfenbein und Zelluloid; Waffen von allen Arten und tausend andere Raritäten lagen in Kasten oder sonstwie aufgehäuft, auch einfach auf dem Boden verstreut, so daß nur ein Raum um den gebrechlichen Plankentisch frei blieb, an dem Lurgan Sahib arbeitete.
»Diese Sachen sind nichts«, sprach er, Kims Blick folgend. »Ich kaufe sie, weil sie hübsch sind und zuweilen verkaufe ich davon, wenn – der Käufer mir gefällt. Meine Arbeit ist auf dem Tisch – etwas davon.«
Es blitzte in dem Morgenlicht – rote, blaue, grüne Blitze, vermischt hier und da mit dem verführerischen blauweißen Strahl von Diamanten. Kim öffnete die Augen weit.
»Oh, die sind ganz gesund, diese Steine. Die Sonne schadet ihnen nichts. Nebenbei sind sie billig. Aber mit kranken Steinen ist es anders.« Er füllte Kims Teller aufs Neue. »Außer mir selbst gibt es keinen Arzt für kranke Perlen oder jemand, der Türkisen ihre blaue Farbe wiedergeben könnte. Opale überlasse ich andern – jeder Narr kann einen Opal kurieren – aber für eine kranke Perle bin nur ich allein da. Gesetzt, ich sollte sterben! Da wäre kein anderer da . . . O nein! Ihr könnt nichts mit Juwelen anfangen. Genug, wenn Ihr später einmal etwas von Türkisen versteht.«
Er begab sich an das Ende der Veranda, um den schweren, porösen Thon-Wasserkrug aus dem Filter zu füllen.
»Wünscht Ihr zu trinken?«
Kim nickte. Lurgan, fünfzehn Fuß vom Tisch entfernt, legte eine Hand auf den Krug. Im nächsten Augenblick stand der Krug, gefüllt bis auf einen halben Zoll vom Rande, dicht neben Kims Ellbogen; nur das weiße Tischtuch zeigte sich leicht gekräuselt – da wo er sich vorbeigeschoben hatte.
»Wiah!« machte Kim im äußersten Erstaunen. »Das ist Magie.« Lurgan Sahibs Lächeln zeigte, daß das Kompliment ihm gefiel.
»Werft ihn zurück.«
»Er wird zerbrechen.«
»Ich sage, werft ihn zurück.«
Kim schleuderte ihn aufs Geratewohl. Er fiel hart und zerbrach in fünfzig Stücke; das Wasser tropfte durch den rohen Bretterboden der Veranda.
»Ich sagte, er würde zerbrechen.«
»Ganz gleich. Schaut ihn an. Seht nach dem größten Stück hin.« Das lag, mit einem Glitzern von Wasser in seiner Höhlung, wie ein Stern, auf dem Boden. Kim sah scharf darauf hin; Lurgan legte ihm die Hand ins Genick, strich einige Male darüber hin und flüsterte: »Schaut! Er soll wieder lebendig werden, Stück für Stück. Erst soll das große Stück sich mit den zwei anderen, links und rechts, vereinigen – links und rechts. Seht!«
Hätte es sein Leben gekostet, Kim hätte seinen Kopf nicht wenden können. Die leichte Berührung hielt ihn wie in einem Schraubstock, und sein Blut kribbelte ihm wohltätig in den Adern. Wo drei Stücke des Kruges gelegen halten, lag jetzt eines und darüber erschien der schattenhafte Umriß des ganzen Gefäßes. Er konnte die Veranda hindurch schimmern sehen, aber es wurde mit jedem seiner Pulsschläge körperhafter und dunkler. Und doch war der Krug – wie langsam die Gedanken kamen! – Der Krug war vor seinen Augen zerschmettert. Eine neue Welle von prickelndem Feuer rann ihm den Nacken herab, als Lurgan Sahib seine Hand wegzog.
»Seht! Es hat wieder Form bekommen,« sprach er.
Bis hierher hatte Kim in Hindi gedacht, aber ein Zittern überflog ihn, und mit einer Anstrengung, wie ein Schwimmer vor Haifischen sich aus dem Wasser schleudert, schwang sein Geist sich auf der Dunkelheil, die ihn verschlang und suchte – suchte – Zuflucht im englischen Einmaleins!
»Schaut! Es kommt wieder in Form,« wisperte Lurgan Sahib.
Der Krug war zerschmettert worden – ja! Zerschmettert – nicht mit dem landesüblichen Wort, an das wollte er nicht denken – ja, zerschmettert – in mehr als fünfzig Stücke – und zwei mal drei ist sechs, drei mal drei ist neun und vier mal drei ist zwölf. Verzweifelt klammerte er sich an die Zahlen. Der schattenhafte Umriß des Kruges schwand wie ein Nebel, als er sich die Augen rieb. Da lagen die Scherben; da trocknete das verspritzte Wasser im Sonnenlicht und durch die Spalten des Verandabodens sah er, streifig, die weiße Hausmauer darunter – und drei mal zwölf ist sechsunddreißig!
»Seht! Kommt er wieder in Form?« fragte Lurgan.
»Aber er ist zerschmettert – zerschmettert,« keuchte er –
Lurgan hatte einige Sekunden leise gemurmelt. Kim drehte den Kopf mühsam zur Seite. »Schau! Dekho! Da ist er wie er da war.«
»Da ist er wie er da war,« sprach Lurgan, Kim scharf beobachtend, während der Knabe sich den Nacken rieb. »Aber Ihr seid der erste von den vielen, der es je so gesehen.« Er trocknete sich die breite Stirn.
»War das Magie?« fragte Kim argwöhnisch. Das Kribbeln in seinen Adern hatte aufgehört; er fühlte sich ungewöhnlich wach.
»Nein, das war nicht Magie. Ich wollte nur sehen, ob da ein Fleck in einem Edelstein war. Es passiert wohl, daß sehr feine Juwelen in Stücke zerfallen, wenn ein Mann sie in die Hand nimmt, der sich darauf versteht. Deshalb muß man sehr vorsichtig sein, ehe man sie befestigt. Sagt mir, sahet Ihr die Form des Gefäßes?«
»Kurze Zeit nur. Es schien wie eine Blume aus der Erde zu wachsen.«
»Und was tatet Ihr dann? Ich meine, was dachtet Ihr?«
»Oha! Ich wußte, es war zerbrochen und so, ich glaube, dachte ich – und es war zerbrochen.«
»Hm! Hat irgend jemand zuvor solche Magie mit Euch ausgeübt?«
»Wenn das wäre, denkt Ihr, ich würde es wieder geduldet haben? Ich würde fortlaufen.«
»Und jetzt fürchtet Ihr Euch nicht.«
»Nicht jetzt.«
Lurgan sah ihn noch schärfer an. »Ich werde Mahbub Ali fragen – nicht gleich; aber später einmal,« murmelte er. Dann laut: »Ich bin zufrieden mit Euch – ja und wieder – nein. Ihr seid der erste, der sich gut herausgezogen hat. Ich möchte wissen was es war, das . . . Aber Ihr habt recht. Ihr solltet das nicht sagen – selbst mir nicht.«
Er wandte sich nach dem halb dunklen Laden und setzte sich, die Hände sanft reibend, an den Tisch. Ein leises heiseres Schluchzen kam hinter einem Teppichballen hervor. Es war das Hindu-Kind, das gehorsam das Gesicht der Wand zugekehrt hatte. Seine kleinen Schultern zuckten vom Weinen.
»Ah! Er ist eifersüchtig, so eifersüchtig. Möchte wissen, ob er noch einmal versuchen wird, mir mein Frühstück zu vergiften, so daß ich es frisch kochen muß.«
»Kubbee – Kubbee, nahin (niemals, niemals. Nein!)« kam es in gebrochenen Lauten.
»Und ob er wohl diesen andern Knaben töten wird?«
»Kubbee, Kubbee nahin.«
»Was denkt Ihr, wird er's tun?« wandte sich Lurgan plötzlich zu Kim.
»Oha! Wie kann ich wissen? Ich würde ihn fortschicken. Warum wollte er Euch vergiften?«
»Weil er mich liebt. Denkt, Ihr hättet jemand lieb und es käme einer, der dem Manne, den Ihr liebtet, besser gefiele als Ihr, was würdet Ihr tun?«
Kim dachte nach. Lurgan wiederholte seine Worte langsam im Dialekt.
»Ich würde den Mann nicht vergiften,« sprach Kim nachdenklich, »den Knaben aber würde ich prügeln – wenn er sich unterstände, meinen Mann zu lieben. Erst aber würde ich den Knaben fragen, ob er ihn liebte.«
»Ah! Er denkt, daß jeder mich lieben muß.«
»Dann denke ich, daß er ein Narr ist.«
»Hörst Du?« sprach Lurgan zu den bebenden Schultern, »des Sahibs Sohn denkt, Du wärest ein kleiner Narr. Komm hervor und das nächste Mal, wenn Dein Herz beunruhigt ist, brauche nicht ganz so offen weißes Arsenik. Sicherlich, der Teufel Dasim wäre heute Herr an unserer Tafel gewesen. Ich hätte sterben können, Kind, und ein Fremder hätte dann die Juwelen gehütet. Komm!«
Das Kind, mit vom Weinen geschwollenen Augenlidern. kroch hinter dem Ballen hervor und warf sich leidenschaftlich Lurgan zu Füßen mit so überschwenglicher Reue, daß es selbst Kim bewegte.
»Ich will nach dem Farbenkasten sehen, ich will die Juwelen treu bewachen! Oh, mein Vater und meine Mutter, schicke ihn fort!« Er wies nach Kim mit einem Ruck seiner nackten Ferse nach rückwärts.
»Noch nicht – noch nicht. In kurzer Zeit wird er wieder gehen. Jetzt aber ist er in der Schule, in einer neuen Madrissah, und Du sollst sein Lehrer sein. Spiele das Juwelen-Spiel gegen ihn. Ich will nachzählen.«
Das Kind trocknete rasch seine Tränen, schlüpfte in den Raum hinter dem Laden und kehrte mit einer kupfernen Platte zurück.
»Reiche sie mir!« sprach er zu Lurgan. »Laß sie aus Deiner Hand kommen, er möchte sonst glauben, ich hätte sie zuvor gesehen.«
»Geduld – Geduld,« erwiderte Lurgan und aus einer Schublade unter dem Tisch legte er eine Handvoll klirrender kleiner Dinge auf die Platte.
»Nun,« sprach das Kind, eine alte Zeitung schwenkend, »sieh sie Dir an. Fremder, solange Du willst. Zähle, und wenn nötig, befühle sie. Ein Blick genügt für mich.« Es wandte sich stolz um.
»Aber was für ein Spiel ist das?«
»Wenn Du sie befühlt und gezählt hast und sicher bist, daß Du alle im Kopf behalten kannst, bedecke ich sie mit diesem Papier und Du mußt Lurgan Sahib die Abrechnung machen. Die meinige schreibe ich nieder.«
»Oha!« Der Trieb des Wetteifers erwachte in Kim. Er beugte sich über den Teller. Nur fünfzehn Steine lagen darauf. »Das ist leicht,« sagte er nach einer Minute. Das Kind bedeckte die glitzernden Steine mit dem Papier und kritzelte in ein einheimisches Rechnungsbuch.
»Es liegen unter dem Papier,« sprach Kim in voller Eile, »fünf blaue Steine, ein großer, ein kleinerer und drei kleine. Vier grüne Steine und einer mit einem Loch: ein gelber Stein, durch den ich hindurch sehen kann und einer wie von einem Pfeifenstiel. Zwei rote Steine sind da und – und – ich hatte die Zahl 15, aber zwei habe ich vergessen. Nein! Gib mir Zeit. Einer war von Elfenbein, klein und bräunlich: und – und – gib mir Zeit . . .«
»Eins – zwei –« Lurgan zählte sie bis zehn vor. Kim schüttelte den Kopf.
»Hör meine Rechnung,« fiel das Kind, zitternd vor Lust ein. »Erstens sind da zwei Saphire mit Flecken – einer von zwei Ruttees (ein Gewicht) und einer von vier, denke ich. Der Saphir von vier Ruttees ist an der Kante abgebröckelt. Da ist ein glatter turkestanischer Türkis mit schwarzen Adern und – und zwei mit Inschriften – der eine mit dem Namen Gottes in Gold, der andere ist quer über gespalten, er ist aus einem alten Ring, deshalb kann ich die Inschrift nicht lesen. Nun haben wir alle fünf blauen Steine. Vier fehlerhafte Smaragde sind da: der eine ist an zwei Stellen angebohrt und der andere ein wenig angeschliffen –«
»Ihr Gewicht?« fragte Lurgan Sahib gleichmütig.
»Drei – fünf – fünf – und vier Ruttees, denke ich. Da ist ein Stück von allem grünlichen Bernstein und ein geschliffener Topas aus Europa. Ein Rubin von Burma, ohne Fehler und zwei Ruttees schwer. Ein geschnitztes Stück Elfenbein, eine Ratte, die ein Ei aussaugt, darstellend, und zum Schluß ist da – ah, ha! ein runder Krystall, so groß wie eine Bohne in ein goldenes Blatt gefaßt.«
Er klatschte zum Schluß in die Hände.
»Er ist Dein Meister,« sprach Lurgan lächelnd.
»Huh! Er kannte die Namen der Steine,« sagte Kim errötend. »Versuche es noch einmal! Mit gewöhnlichen Dingen, die uns beiden bekannt sind.«
Sie füllten den Teller wieder mit Kuriositäten und Spielereien, die sie in dem Laden und selbst in der Küche zusammengesucht, und jedesmal gewann das Kind zu Kims größter Verwunderung. »Bindet mir die Augen zu,« rief er herausfordernd, »laßt mich nur einmal mit den Fingern fühlen und auch so soll er hinter mir zurückbleiben, er, mit offenen Augen!«
Kim stampfte vor Ärger mit dem Fuß, als der Knabe seine Sache gut machte.
»Wären es Menschen oder – Pferde,« rief er, »so würde ich mehr leisten. Dies Spiel mit Zangen und Messern und Scheeren ist zu kleinlich.«
»Lerne erst – lehre später,« sprach Lurgan. »Ist er Dein Meister?«
»Er ist's. Aber wie wird es gemacht?«
»Indem man es so oft wiederholt, bis man es gut macht. Es ist wert, daß man es lernt.«
Der Hindu-Knabe, in stolzester Laune, klopfte Kim tatsächlich auf den Rücken. »Verzweifle nicht,« sagte er, »ich will es Dich lehren.«
»Und ich will aufpassen, daß Du gut belehrt wirst,« sagte Lurgan, im Dialekt redend: »denn ausgenommen meinen Knaben hier – es war töricht von ihm, so viel weißes Arsenik zu kaufen, da er es von mir hätte haben können – ausgenommen meinen Knaben hier, habe ich seit langer Zeit keinen getroffen, der so wie Du es verdient hätte, unterrichtet zu werden. Und es bleiben Dir noch zehn Tage bis zur Rückkehr nach Lucknow, wo sie nichts lehren – für so hohen Preis. Wir werden, denke ich, Freunde.«
Das waren zehn tolle Tage, Kim belustigte sich aber zu gut dabei, um über ihre Tollheit zu grübeln. Am Morgen spielten sie das Juwelen-Spiel, zuweilen mit wirklichen Edelsteinen, zuweilen mit Haufen von Dolchen und Messern, zuweilen mit Bildern von Eingeborenen. Am Nachmittag beobachteten beide Knaben, schweigend, hinter einem Teppich-Ballen oder einem Schirm verborgen, Mr. Lurgans viele und sehr sonderbare Besucher. Da kamen kleine Rajahs, deren Begleitung in der Veranda herum hustete, um Kuriositäten – wie Phonographen und mechanisches Spielzeug – zu kaufen; Damen, die Halsketten suchten, und Männer, die, so schien es Kim – aber seine Phantasie konnte möglicherweise durch seine Erziehung verderbt sein – die die Damen suchten. Eingeborene von unabhängigen und lehnspflichtigen Höfen, deren angebliches Begehr die Reparatur zerrissener Halsketten war – Ströme von Licht ergossen sich über den Tisch – deren wahres Geschäft aber schien: Geld zu borgen für zornige Maharanees oder bedrängte junge Rajahs. Da waren Babus, zu denen Lurgan Sahib mit Ernst und Autorität redete; aber das Ende jeder Unterredung war, daß er Geld in Silber oder kursierenden Papieren auszahlte. Zuweilen fanden sich theatralische, langberockte Eingeborene zusammen, die metaphysische Gespräche in englischer oder bengalischer Mundart führten, zu Lurgans größtem Ergötzen. Er interessierte sich für religiöse Dinge. Am Abend hatten Kim und der Hindu-Knabe – dessen Name nach Lurgans Belieben wechselte – detaillierten Bericht über alles, was sie gesehen und gehört, wie auch ihr Urteil über jedes Besuchers Charakter nach Gesicht, Rede und Benehmen abzugeben. Ebenfalls ihre Vermutung über den wahren Zweck des Besuchs. Nach dem Abendessen wandte sich Lurgan Sahibs Phantasie gern dem zu, was er »Aufputz« nannte und mit lebhaftem und zugleich lehrreichen Interesse behandelte. Er verstand es, Gesichter mit einem Pinseltupfen hier und einer Linie dort bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Der Laden war voll von allerlei Arten Gewändern und Turbanen und Kim ward abwechselnd verkleidet als junger Muselmann von guter Familie, als Ölhändler oder – und das war der lustigste Abend – als Sohn eines Grundbesitzers in Oudh, in vollster Gala. Lurgan Sahib hatte ein Habichtsauge für den kleinsten Fehler in der Verkleidung. Auf einem abgenutzten Teakholz-Lager ausgestreckt, erklärte er stundenlang wie diese oder jene Kaste redete, ging, hustete, nieste oder ausspie, und, da das »Wie« wenig sagen will in dieser Welt, das »Warum« von all diesem. Bei diesem Spiel war das Hindu-Kind schwerfällig. Sein kleiner Geist, scharf wie ein Eiszapfen, wo es sich um Juwelen-Zählen handelte, konnte sich nicht in das Wesen eines anderen hineindenken; in Kim aber wachte ein Dämon auf und jubilierte, wenn er eine Verkleidung nach der anderen anlegte und Rede und Bewegung mit ihr veränderte.
In seiner Begeisterung führte er es Lurgan eines Abends vor, wie die Schüler einer gewissen Kaste von Fakiren, alte Bekannte von Lahore her, um Almosen am Wege betteln; dann, welche Art Sprache einem Engländer und welche einem Farmer aus dem Punjab oder einer Frau gegenüber sie führten. Lurgan Sahib lachte unbändig und bat Kim, eine halbe Stunde unbeweglich so zu bleiben, wie er war, mit gekreuzten Beinen, wild blickend und mit Asche beschmiert; dann kam ein plumper feister Babu herein, dessen bestrumpfte Beine vor Fett wackelten. Ihn überschüttete Kim mit einem Schauer solcher Straßen-Unterhaltung. Lurgan aber – und das verdroß Kim – beachtete den Babu und nicht das Spiel.
»Ich meine,« sprach schwerfällig der Babu, eine Zigarette anzündend, »dies ist eine außerordentliche, wirkungsvolle Leistung. Hättet Ihr mich nicht vorher aufmerksam gemacht, würde ich geglaubt haben, daß – daß – daß Ihr mich in die Beine kniffet. Wie bald kann er ein annähernd richtiger Mann von der Kette werden? Denn dann will ich ihn einweihen.«
»Dazu muß er erst in Lucknow etwas lernen.«
»Dann sagt ihm, daß er verdammt schnell lernen soll. Gute Nacht, Lurgan.« Der Babu schwankte hinaus mit dem Gang einer furchtsamen Kuh.
Als die Liste der Besucher vom Tage aufgezählt wurde, fragte Lurgan, was Kim von dem eben Fortgegangenen halte.
»Gott weiß,« sprach Kim leicht hin. Der Ton hätte Mahbub Ali vielleicht täuschen können, bei dem Heiler kranker Perlen aber versagte er.
»Das ist wahr. Gott weiß es: ich wünsche aber zu wissen, was Du denkst.«
Kim blinzelte seitwärts nach seinem Gefährten, dessen Auge einen Blick hatte, der die Wahrheit herauszwang.
»Ich – ich denke, er will mich brauchen, wenn ich von der Schule komme, aber« – mit zutraulichem Ton, da Lurgan beifällig nickte – »ich begreife nicht, wie er verschiedene Kleidung tragen und verschiedene Sprachen sprechen soll.«
»Du wirst vieles erst später verstehen. Er schreibt Geschichten für einen gewissen Oberst. Allein in Simla ist er hoch geehrt, und bemerkenswert ist, er hat keinen Namen, nur eine Nummer und einen Buchstaben – das ist so Gebrauch unter uns.«
»Und ist auch ein Preis auf seinen Kopf gesetzt – wie auf Mah – wie auf all die anderen?«
»Noch nicht. Wenn aber ein Knabe – er sitzt jetzt hier – aufstände und ginge – schau, die Tür ist offen – bis an ein gewisses Haus mit rot gemalter Veranda, hinter dem Gebäude, das früher das alte Theater in dem unteren Basar war, und flüsterte durch die Fensterläden: ›Hurree Chunder Mookerjee brachte die schlimme Nachricht vom letzten Monat‹, der Knabe könnte einen Gürtel voll Rupien mitnehmen.«
»Wie viele?« fragte Kim rasch.
»Fünfhunderttausend – soviel er fordern würde.«
»Gut. Und wie lange hätte der Knabe zu leben, nachdem die Neuigkeit mitgeteilt wäre?« Er grinste vergnügt dicht an Lurgans Bart.
»Ah! Das ist wohl zu bedenken. Vielleicht, wenn er es sehr gescheit anfinge, den Tag zu Ende – aber nicht die Nacht. Auf keinen Fall die Nacht.«
»Was ist denn aber des Babus Sold, wenn soviel auf seinen Kopf gesetzt ist?«
»Achtzig – vielleicht hundert – vielleicht hundert und fünfzig Rupien; aber der Sold ist das Geringste bei der Arbeit. Von Zeit zu Zeit läßt Gott Männer geboren werden – und Du bist einer von diesen – die aus reiner Lust an Gefahr ihr Leben riskieren und Neues entdecken – heute vielleicht von ganz entfernten Dingen, morgen von irgendeinem versteckt liegenden Berg, den nächsten Tag von Leuten ganz in der Nähe, die eine Torheit gegen den Staat begangen haben. Solcher Seelen gibt es wenige, und von diesen wenigen sind wohl kaum zehn von der besten Art. Zu diesen Zehn rechne ich den Babu, und das ist wunderbar. Wie groß und begehrenswert muß ein Geschäft sein, das das Herz eines Bengalen kühn macht!«
»Wahr. Aber die Tage gehen mir zu langsam. Ich bin noch ein Knabe, und erst seit zwei Monaten lernte ich Angrezi (Englisch) schreiben. Noch heute kann ich es nicht gut lesen. Und es sind noch Jahre und Jahre und lange Jahre, bevor ich nur ein Mann von der Kette sein kann.«
»Habe Geduld, Freund aller Welt,« – Kim stutzte bei der Benennung – »wollte, ich hätte einige von den Jahren, die Dich so ungeduldig machen. Ich habe Dich in verschiedenen kleinen Versuchen auf die Probe gestellt. Das soll nicht vergessen werden, wenn ich dem Oberst Sahib Bericht erstatte.« Dann plötzlich in englischer Sprache, lachend: »Beim Zeus! O'Hara, ich glaube, in Euch steckt viel. Aber Ihr dürft nicht stolz werden und nicht schwatzen. Ihr müßt nach Lucknow zurückkehren, ein braver kleiner Junge sein und über den Büchern sitzen, und in den nächsten Ferien vielleicht, wenn Ihr es wünscht, könnt Ihr wieder zu mir kommen.« Kim sah enttäuscht aus. »O, ich sage: wenn Ihr es wünscht. Ich weiß, wohin Ihr gehen möchtet.«
Vier Tage später war für Kim ein Platz auf dem Rücksitz einer Kalka-Tonga bestellt. Sein Reisegefährte war der walfischähnliche Babu, der, einen ausgefranzten Shawl um den Kopf geschlungen und das fette linke Bein in durchsichtigem Strumpf auf den Sitz gezogen, in der Morgenkälte schauderte und stöhnte.
»Wie kommt es, daß dieser Mann einer von ›Uns‹ ist?« dachte Kim, den breiten Rücken betrachtend, während sie die Straße abwärts rüttelten; und dieser Gedankengang zog ihn weiter in heitere Zukunftsträume. Lurgan Sahib hatte ihm fünf Rupien gegeben – eine stattliche Summe – dazu die Versicherung seiner Protektion, wenn er fleißig lernen würde.
Ungleich Mahbub Ali, hatte Lurgan deutlich von dem Lohn gesprochen, der dem Gehorsam folgen würde, und Kim war zufrieden. Wenn er nur, wie der Babu, der Würde einer Zahl und eines Buchstabens – und eines Preises auf seinen Kopf – teilhaftig würde! Eines Tages würde er das alles erreichen. Eines Tages würde er so mächtig sein, fast wie Mahbub Ali. Statt der Hausbücher von einstmals würde dann halb Indien der Schauplatz seiner Nachforschungen sein. Der Spur von Königen und Ministern würde er folgen, wie er einst in Lahore in Mahbubs Spiondienst der Spur von Kommissionären und Advokaten gefolgt war. Inzwischen war die Gegenwart, mit St. Xavier in Aussicht, auch nicht zu verachten. Neu angekommene Knaben würden zu protegieren und neue Abenteuer aus der Ferienzeit anzuhören sein. Der junge Martin, Sohn des Teepflanzers zu Manipur, hatte geprahlt, er würde mit einer Flinte in den Krieg gegen die Kopfjäger gehen. Das konnte ja sein, aber sicher war Martin nicht bei einer Feuerwerk-Explosion durch den Vorhof eines Patiala-Palastes geschleudert; noch hatte er . . . Kim rechnete sich seine Abenteuer während der letzten drei Monate vor. Er konnte St. Xavier in Erstaunen setzen, selbst die größten Jungen, die sich schon rasierten – durch seine Erzählung, wäre das erlaubt gewesen. In nicht zu ferner Zeit, wie Lurgan ihm versicherte, würde ein Preis auf seinen Kopf gesetzt werden; wenn er aber jetzt törichte Reden führte, würde nicht allein dieser Preis nicht gesetzt, sondern auch würde Oberst Creighton ihn verstoßen, und – er würde dem Zorn Lurgan Sahibs und Mahbub Alis überliefert bleiben für die kurze Zeit, die er dann noch zu leben hätte.
»So würde ich Delhi hingeben, um einen Fisch zu gewinnen,« war seine sprichwörtliche Philosophie. Ihm gebührte es, seine Ferienzeit zu vergessen (blieb doch immer noch das Vergnügen, Abenteuer zu erdichten) und, wie Lurgan sagte, zu arbeiten.
Von allen Knaben, die nach St. Xavier zurückkehrten, von Sukkur in den Sandwüsten her, bis zu Galla unter den Palmen, war keiner so voll guter Vorsätze, wie Kimball O'Hara, der da nach Umballa hinunterrasselte hinter Hurree Chunder Mookerjee, dessen Name in den Büchern einer Sektion des Ethnologischen Amtes R. 17 war. Und war es nötig, Kim noch mehr anzuspornen, so tat der Babu es in vollem Maß. Nach einer reichlichen Mahlzeit in Kalka redete er ununterbrochen.
Kehrte Kim in die Schule zurück, dann wollte er, Magister der Universität von Calcutta, ihm die Vorteile einer guten Erziehung klar machen. Es waren Preise zu gewinnen für gehörigen Fleiß im Lateinischen und bei Wordsworth »Excursion« (das war für Kim Chaldäisch). Auch Französisch war Lebensfrage; das beste hörte man in Chandernagore, einige Meilen von Calcutta. Ja, man konnte bei strenger Aufmerksamkeit weit kommen, er selbst wäre weit damit gekommen, wenn man den Dramen Lear und Julius Cäsar strenge Aufmerksamkeit schenkte; beide ständen bei den Examinatoren in hohem Werte. Lear wäre nicht so voll historischer Beziehungen wie Julius Cäsar; das Buch kostete vier Annas, man könnte es aber im Bow-Basar aus zweiter Hand für zwei Annas kaufen. Noch wichtiger als Wordsworth und die eminenten Autoren Burke und Hare wäre die Kunst und Wissenschaft der Vermessung. Ein Knabe, der sein Examen hierin bestanden – für welches, beiläufig bemerkt, keine Einpauke-Bücher existieren – könnte bei einfachem Marschieren durch eine Gegend, mit Hilfe von Kompaß und Richtscheit und scharfem Blick ein Bild von der Gegend mitnehmen, das mit großen Summen geprägten Silbers bezahlt würde.
Da es gelegentlich nicht ratsam sein würde, Meßketten mit sich zu tragen, so würde so ein Knabe gut tun, die genaue Länge seines eigenen Fußes zu kennen, so daß er, was Hurree Chunder »nebensächliche Hilfsmittel« nannte, dennoch seine Distanzen abschreiten könnte. Um Tausende von Schritten richtig zu zählen, hatte Hurree Chunders Erfahrung ihn gelehrt, daß dafür ein Rosenkranz von 81 oder 108 Perlen unschätzbar wertvoll sei, denn er wäre teilbar und abermals teilbar in den verschiedensten Multiplikationen. Aus dem überstürzten Schwall der englischen Worte erhaschte Kim doch die Haupt-Tendenz ihres Sinnes und die fesselte ihn sehr. Hier war eine neue Fertigkeit, die ein Mann in seinem Kopf aufspeichern konnte; und nach dem Anschein der großen, weiten Welt, die sich vor ihm auftat, schien es: je mehr ein Mann wisse, desto besser für ihn.
Nachdem der Babu lange Zeit in dieser Weise geredet, sagte er plötzlich: »Ich hoffe, eines Tages Euere amtliche Bekanntschaft zu machen. Ad interim, wenn ich mich so ausdrücken darf, gebe ich Euch diese Beteldose, die ein sehr schätzbarer Gegenstand ist und mich vor vier Jahren zwei Rupien kostete.« Es war ein billiges, in Herzform geschnittenes Blechding mit drei Abteilungen, zur Aufnahme der ewigen Betelnuß von Kalk und Betelpfeffer-Blatt, war aber angefüllt mit kleinen Pillen-Fläschchen. »Das zum Lohn des Verdienstes, daß Ihr da oben den heiligen Mann so gut kopiert habt. Seht, Ihr seid so jung und denkt, Ihr haltet für ewig aus und achtet nicht auf Euren Körper. Es ist aber sehr schlimm, mitten in der Arbeit krank zu werden. Ich lege Wert auf Arzeneimittel; man soll sie auch zur Hand haben, um arme Leute zu kurieren. Dieses sind gute Departements-Medizinen: Chinin und so weiter. Ich gebe sie Euch als Andenken. Lebt nun wohl! Ich habe dringende Privatgeschäfte hier am Wege.«
Geräuschlos wie eine Katze schlüpfte er vom Wagen, rief eine vorbeifahrende Ekka an und rasselte weiter, Kim, vor Erstaunen stumm und mit der Blechdose in den Händen, zurücklassend.
Die Erziehungs-Geschichte eines Knaben interessiert außer den Eltern nur wenige, und Kim war, wie ihr wißt, ein Waise. In den Büchern von St. Xavier in Partibus ist bemerkt, daß am Schlusse jedes Quartals ein Bericht über Kims Fortschritte dem Oberst Creighton und Vater Victor (durch dessen Hand regelmäßig das Schulgeld einging) zugesandt wurde. Ferner ist in denselben Büchern bemerkt, daß Kim große Begabung für mathematische Studien und Landkarten-Zeichnen entwickelte, und daß er einen Preis (Das Leben Lord Lawrences, zwei Bände in Kalbleder gebunden, zu neun Rupien vier Annas) für seine Leistungen in diesen Fächern errang, ebenso in einem Wettbewerb der Schüler von St. Xavier mit dem mohammedanischen Allyghur-Colleg, als er vierzehn Jahre und zehn Monate alt war. Er wurde auch ungefähr zur selben Zeit noch einmal geimpft (woraus wir schließen, daß eine Blattern-Epidemie in Lucknow herrschte). Bleistiftnotizen am Rande einer alten Zeugnis-Liste besagen, daß er verschiedene Male bestraft wurde wegen »Conversierens mit unpassenden Persönlichkeiten«, und es scheint, daß er einmal zu schwerer Strafe verurteilt wurde, weil »er sich einen ganzen Tag in Gesellschaft eines alten Straßen-Bettlers umhergetrieben hatte«. Das war damals, als er über das Gitter kletterte und einen ganzen Tag mit dem Lama am Ufer des Goomkee zubrachte und ihn anflehte, in den nächsten Ferien mit ihm wandern zu dürfen, einen Monat nur – nur eine kurze Woche – gegen welche Bitte der Lama sich wie ein Kieselstein verhielt, indem er behauptete, die Zeit dafür wäre noch nicht gekommen. Kims Aufgabe, sagte der alte Mann, indes sie zusammen Kuchen aßen, wäre, erst alle Weisheit der Sahibs zu erwerben, und dann würde er sehen . . .
Die Hand der Freundschaft mußte auch diesmal die Geißel des Unheils abgewendet haben, denn es scheint, daß Kim sechs Wochen später eine Prüfung in Elementar-Vermessungslehre bestand und ein gutes Zeugnis erhielt. Mit diesem Datum schließen die Berichte. Sein Name fehlt unter dem jährlichen Schub derer, die in den niederen Vermessungsdienst von Indien eintraten, dagegen war er gebucht mit dem Zusatz: »nach Übereinkunft aus der Schule entlassen«.
Verschiedene Male im Laufe dieser drei Jahre tauchte in dem Tempel der Tirthanker zu Benares der Lama auf, etwas abgemagert, einen Schatten gelber, wenn das möglich war, aber sanft und harmlos wie immer. Zuweilen kam er vom Süden her – vom Süden von Tuticorin – von wo die wunderbaren Feuerschiffe nach Ceylon gehen, wo es Priester gibt, die Pali (Tochtersprache des Sanskrit) verstehen, zuweilen vom feuchten, grünen Westen, wo die Tausende von Schornsteinen der Baumwoll-Fabriken Bombay wie ein Ring umgeben. Und einmal kam er vom Norden her, von wo er achthundert Meilen hin- und zurückgewandert war, um einen Tag mit dem Hüter der Bildnisse in dem Wunderhaus sich zu unterhalten. Er schritt dann in seine Zelle in dem kühlen Marmor-Tempel – die Priester waren gütig mit dem alten Mann – wusch den Staub des Weges ab, betete und fuhr (er war nun an die Eisenbahn gewöhnt) in dritter Klasse nach Lucknow. Kehrte er von Lucknow zurück, so war es auffallend – wie sein Freund, der Sucher, gegen den Oberpriester bemerkte – daß er für einige Zeit nicht von der Sehnsucht nach seinem Strom redete, oder wunderbare Bilder von dem Rad des Lebens zeichnete, sondern von der Schönheit und der Weisheit eines gewissen, geheimnisvollen Chela sprach, den kein Mann des Tempels je gesehen.
»Ja, er war den Spuren der Heiligen Füße durch ganz Indien gefolgt. (Der Vorsteher des Tempels besitzt noch einen höchst wunderbaren Bericht über seine Wanderungen und Meditationen.) Es blieb nur noch übrig, im Leben den Strom des Pfeiles zu finden. Jedoch war es ihm in seinen Träumen kund geworden, daß dies ein Unternehmen ohne Aussicht auf Erfolg war, wenn nicht ein Chela mit dem Sucher war, bestimmt die Suche glücklich zu Ende zu führen – ein Chela in großer Weisheit erfahren – solcher Weisheit, wie weißhaarige Hüter von Bildnissen sie besitzen. Zum Beispiel (hier wurde der Schnupftabakbeutel hervorgeholt, und die gutmütigen Jain-Priester hörten schweigend zu): –
»Vor langen, langen Zeiten, als Devadatta König von Benares war – lasset alle lauschen der Jâtaka (Geburtsgeschichte des Buddha) – war von den Jägern des Königs ein Elefant gefangen, und bevor er sich befreien konnte, mit einem grausamen, eisernen Beinring belastet. Mit Haß und Wut im Herzen suchte er das Eisen abzustreifen, und in den Wäldern auf- und abwärts rennend, flehte er seine Brüder-Elefanten an, es abzureißen. Mit ihren starken Rüsseln, einer nach dem anderen, versuchten sie es, aber vergebens. Zuletzt gaben sie ihre Meinung ab, daß der Ring nicht von tierischer Kraft zu brechen sei. Und im Dickicht, noch feucht von der Geburt, lag ein neugeborenes Kalb der Herde, dessen Mutter gestorben war. Der gefesselte Elefant, seine eigene Qual vergessend, sprach: »Wenn ich nicht diesem Säugling helfe, so wird er unter unseren Füßen sterben.« So stand er über dem jungen Ding und machte seine Beine zu Schutzpfeilern gegen die unruhig sich bewegende Herde. Milch erbettelte er von einer tugendhaften Kuh, und das Kalb gedieh, und der gefesselte Elefant ward des Kalbes Führer und Verteidiger. Aber die Tage eines Elefanten – laßt alle lauschen der Jâtaka! – sind fünfunddreißig Jahre bis zu seiner vollen Stärke; und durch fünfunddreißig Regen beschützte der gefesselte Elefant den jüngeren, und durch die ganze, lange Zeit hindurch fraß das Eisen sich in das Fleisch ein.
Da, eines Tages sah der junge Elefant das halb im Fleisch begrabene Eisen und wendete sich zu dem älteren und sprach: ›Was ist dies?‹ ›Das ist eben mein Kummer,‹ sprach der, der ihn betreut hatte. Da streckte der andere seinen Rüssel aus, und so schnell wie man ein Auge aufschlägt, zertrümmerte er den Ring und sprach: ›Die bestimmte Zeit ist gekommen‹. So ward der tugendhafte Elefant, der geduldig ausgeharrt und Gutes getan hatte, erlöst zu der bestimmten Zeit durch dasselbe Kalb, das er gerettet und geliebt – laßt alle lauschen der Jâtaka! – denn der Elefant war Ananda, und das Kalb, das den Ring zerbrach, war kein anderer als Unser Herr . . .«
Dann wiegte er feierlich sein Haupt, und über dem immer klappernden Rosenkranz wies er darauf hin, wie frei dies Elefanten-Kalb von der Sünde des Stolzes war.
»Es war so demütig wie ein Chela, der seinen Meister draußen im Staube vor den Pforten des Wissens sitzen sah und diese Pforten übersprang, obwohl sie geschlossen waren, und seinen Meister ans Herz nahm vor den Augen der stolzbrüstigen Stadt.«
So sprach der Lama. Und er ging und kam durch Indien so sacht, wie eine Fledermaus. Eine scharfzungige, alte Dame, in einem Hause zwischen den Fruchtbäumen hinter Saharunpore, ehrte ihn, wie das Weib den Propheten ehrte, aber seines Bleibens war nicht hinter den Wänden. Er saß in einem Raume des Vorhofs, auf den girrende Tauben hinabsahen, und sie neben ihm, den überflüssigen Schleier beiseite gelegt, schwatzte von Geistern und Teufeln in Kulu, von ungeborenen Enkeln und von dem frechzungigen Burschen, der auf dem Rastplatz sie angeredet hatte. Einmal auch streifte er allein von der großen Heerstraße unterhalb Umballa nach dem Dorfe zu, dessen Priester ihm Opium gegeben hatte; der gütige Himmel aber, der Lamas beschützt, leitete ihn, der gedankenvoll und arglos im Zwielicht durch die Ähren schritt, zu des Risaldars Tür. Hier hätte es bald ein schweres Mißverständnis gegeben, denn der alte Soldat fragte, warum der Freund der Sterne desselben Weges allein, erst sechs Tage vorher gekommen sei.
»Das kann nicht sein,« meinte der Lama. »Er ist zu seinem eigenen Volk zurückgegangen.«
Sein Wirt bestand darauf. »In jener Ecke saß er vor fünf Nächten und erzählte hundert lustige Geschichten. Wahr ist, er verschwand etwas plötzlich in der Dämmerung, nachdem er närrische Reden mit meiner Enkelin geführt. Er wächst zusehends, aber es ist derselbe Freund der Sterne, der mir das wahre Wort von dem Kriege brachte. Habt Ihr Euch getrennt?«
»Ja – und nein,« erwiderte der Lama. »Wir – wir haben uns nicht ganz getrennt, aber die Zeit ist noch nicht reif, wo wir zusammen wandern können. Er erwirbt Weisheit an einem anderen Ort. Wir müssen warten.«
»Ganz gleich – aber, wenn es nicht der Knabe war, wie käme es, daß er beständig von Dir sprach?«
»Und was sagte er?« fragte der Lama eifrig.
»Süße Worte – hundert, tausend, daß Du sein Vater und seine Mutter wärest und all dergleichen. Schade, daß er nicht in den Dienst der Königin tritt. Er ist ohne Furcht.«
Diese Nachricht beunruhigte den Lama, der noch nicht wußte, wie gewissenhaft Kim den mit Mahbub Ali geschlossenen und von Oberst Creighton widerwillig genehmigten Kontrakt innehielt.
»Man kann kein junges Pony fern vom Spiel halten,« sagte der Roßkamm, als der Oberst behauptete, dies Vagabundieren durch Indien in Ferienzeiten sei ein Unsinn. »Verbietet man ihm zu gehen und kommen, wie er mag, so wird er sich nicht um Verbot kümmern. Und wer soll ihn wieder einfangen? Oberst Sahib, nur einmal in tausend Jahren wird ein Roß, so geeignet für das Spiel, geboren wie dieses, unser Füllen. Und wir haben Männer nötig.«