Egon Erwin Kisch
Asien gründlich verändert
Egon Erwin Kisch

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Revolution in Buchara

Wenn – preisend mit viel schönen Reden ihrer Länder Wert und Zahl – Mittelasiens Fürsten einst beisammen gesessen hätten: alle Teilnehmer durften sich rühmen, daß sie jedem Untertan dessen Haupt in den Schoß legen konnten.

Aber kein Teilnehmer dieser Entrevue, weder der Schah von Persien, noch der König von Afghanistan, der Emir von Buchara oder der Chan von Chiwa, und auch nicht der als landesfürstlicher Kommissar des Ak-Pascha anwesende Generalgouverneur von Turkestan, hätte etwas Ähnliches zu behaupten gewagt, wie Uhlands Graf am Bart, der sich vermaß, sein eigenes Haupt sorgenlos in jedes Untertanen Schoß legen zu können.

Man muß kein unbedingter damnator temporis actis sein, um zu konstatieren, welch eine Angst diese Herrscher vor ihrem geliebten Volk empfanden, man braucht nur die verlassenen Residenzen näher anzusehen, mit ihren Schutzvorrichtungen, Verliesen, Geheimausgängen. Buchara zum Beispiel. (Buchara war die Hauptstadt von Buchara, was meine gottselige Großmutter wieder für einen meiner unzulässigen Witze gehalten hätte.) Die Stadt ist durch einen Wall gesichert, den elf Spitzbogentore, von Zinnen, Türmen und Wachlokalen flankiert, allabendlich verschlossen. Nicht gegen 55 äußere Feinde geschah das, denn das große Nachbarreich gehörte dem weißen Pascha in St. Petersburg, und dessen Vasall war man ja. Hätte er die Bastionen als gegen sich gerichtet empfunden, husch, husch, wären sie geschleift worden.

Ein Felsenhügel auf dem Marktplatz und oben die Burg, genannt »Ark«. Von dort aus beherrschten die Emire ihre Untertanen, bestrebt, es ihrem Vorfahren mütterlicherseits, dem harten Dschingis-Chan an Härte gleichzutun. 700 Jahre nach seinem Tode wurden sie gestürzt. Es war kein äußerer Feind, der sie stürzte, es war der innere Feind, der, gegen den die Armee gerichtet und die Residenz in starker Rüstung gehalten war. Eine sechsschwänzige Knute, ihr lederner Stiel ist dicker als ein dicker Ast, hing als drohendes Symbol der Macht über dem Tor des Ark, und unter diesem Zeichen fuhr der Herrscher ein und aus. Jetzt ist die Knute im Museum.

Vom Hauptportal des Schlosses windet sich eine lange Rampe zu den Wohnräumen Seiner Hoheit hinauf, und diese Rampe ist eingesäumt von fensterlosen Kammern, – was sage ich, Kammern? – Gesteinslöchern, darin die Staatsverbrecher eingekerkert waren. Am Eingang zu diesen Verliesen sind jetzt Tafeln angebracht, besagend, wer in den Höhlen saß, hier ein Mitglied der Dschadiden, dort ein Liberaler, hier ein Sympathisierender der jungbucharischen Bewegung, dort ein Sozialist. Die Hofkalesche fuhr tagtäglich vorbei, ohne daß ihren Insassen die Insassen der Löcher zu stören vermochten, ohne daß er diesen Weg als Spießrutenlauf empfand.

Dieser grausame Hauskerker ist noch nicht der grausamste von Buchara, der grausamste ist der Sindan, dort auf der anderen Anhöhe. Seine Kuppel wölbte sich unmittelbar über dem Kellerverlies, jetzt ist sie geborsten, und so kann man 56 geradezu sehen, wie finster es war. Der Boden ist Kot, die Wand ist Stein, der Boden ist feucht, die Wand ist kalt. 350 Menschen hatte das Rundgewölbe zu fassen. Wie konnten sich 350 Menschen hier bewegen? Sie konnten und sollten sich nicht bewegen. Eisenpflöcke, Klammern und Spangen sind ins Mauerwerk gerammt, daran die Gefangenen in verschiedenen Stellungen geschmiedet waren. Keine Kette gab es, an der ohnmächtig zu rütteln schon Wohltat bedeutet hätte. Nur schreien konnte man, aber das schreckte den Kerkermeister nicht, der von Zeit zu Zeit herabkam, um ihnen zur Seite einen neuen Genossen anzulöten.

Auf dem steinernen Boden, der das Dach des Sindan ist, ragt ein »Buntschuk« auf. Das ist eine krumme Stange, die oben auf einem Querholz einige Tuchfetzen, den schwarzen Schweif eines Yak und eine blecherne Hand trägt, Zeichen, daß hier ein heiliger Mann begraben liegt. An diesem frommen Ort war der höchste Wächter des Gefängnisses postiert, von hier hat man einen Überblick über die ganze Anlage, über die runde Gemeinschaftszelle und alle anderen in den Hügel eingelassenen Zellen, über die voneinander durch Wallgraben getrennten Trakte und über die Mauer, die den Komplex umsäumt.

Vor einem Menschenalter hatte der Emir Musaphar Chan dieses unmenschliche Gefängnis zu schließen befohlen, wie es einst Kaiser Josef mit dem Spielberg tat; Olim Chan, der letzte der Emire, öffnete es wieder, wie es Kaiser Franz mit dem Spielberg tat, und zwar nur für politische Gefangene und Gotteslästerer. Auch seinen Onkel Barat Beg warf Olim Chan hinein, und dieser hat vor Hunger, oder um sich zu töten, oder im Wahnsinn, oder um sich von der Eisenklammer zu lösen, seine linke Schulter abgenagt. 57

Gut gefüllt waren die Kerker, aber seltsam, seltsam, das half nichts. Der Geist der Auflehnung verstummte nicht. Mit Schulen begann es. Mitglieder des Dschadiden-Bundes richteten in Buchara, im heiligen, Schulen ein, die dem Unglauben und dem Ungehorsam dienten, wie der Rat der zwölf Mufti, des Achun und des Obersten Kasi feststellte:

erstens sitzen die Schüler und Lehrer nicht auf der Erde, sondern auf Bänken nach europäischer Unsitte,

zweitens wird Naturgeschichte gelehrt, die dem Geist des Korans in allem widerspricht.

So wurden die Schulen gesperrt. Und die Einkerkerungen, Bastonaden und Hinrichtungen nahmen von Jahr zu Jahr zu. Nach dem Februarumsturz kam der Vertreter der Kerenski-Regierung, Oberst Miller, nach Buchara und unterstützte den Emir freundschaftlich bei der Ausforschung revolutionärer Elemente.

Das Volk unter dem Felsen des Despotismus regte sich mehr und mehr. Es verlangte Beseitigung der Steuerwillkür, der Zwangsarbeit für das Wakuf, den güterreichen Religionsfonds, Schulen in der Muttersprache und die Errichtung einer Druckerei; die Dschadiden verbreiterten sich zur Jungbucharischen Partei, deren innerster Kreis im Flüsterton von einer Konstitution schwärmte, wie sie der Sultan seinem Volke nach der jungtürkischen Revolution gewährt hatte.

Der Emir fürchtete einen Aufstand der notleidenden Bevölkerung, der Bauern, die durch die hochverzinsten Vorschüsse ihr Baumwolland verloren hatten, der Landarbeiter, der Karakul-Arbeiter, der Teppich- und Seidenweber, der Kutscher und der Wasserträger. Dieses von der Riesenzahl der Beys und der Mullahs, der Händler und Beamten 58 ausgebeutete Proletariat begann sich zusammenzuschließen, und die Jungbucharische Partei unterstützte es.

Unter diesem Druck gab der Emir am 28. Dschemadissan 1295 n. d. H., das ist am 17. März 1917, ein Dekret heraus, darin er verschiedene Freiheiten, die Einrichtung einer Druckerei und die Freilassung der Gefangenen versprach. Der Gefangenen. Er schränkte den Begriff nicht ein. Eigentlich hätten nach dieser mit Anrufung Allahs erlassenen Deklaration sogar die Raubmörder und Straßendiebe freigelassen werden müssen. Aber sie wurden nicht freigelassen. Es wurde überhaupt niemand freigelassen. Im Gegenteil: drei Tage später wurden die Führer der Jungbucharischen Partei, weil sie eine Freudenkundgebung anläßlich des Manifestes veranstaltet hatten, in das Gefängnis des Ark geworfen. Dort wurden ihnen je 75 bis 150 Stockstreiche verabreicht, der nationale Dichter Ajni war unter den Verprügelten, und der greise Führer Mirza Nasrullah Abdugafur unter denen, die den Schlägen erlagen.

Was war der Grund für solche Strenge gegenüber den Teilnehmern an einer Demonstration, die doch nur Zustimmung mit dem Erlaß des Herrschers ausdrücken sollte?

Ungläubige hatten, o Hohn und Schmach, an dem Umzug durch die Straßen der heiligen Stadt teilgenommen, Christen und Juden! So weit konnte die Freiheit nicht gehen. Kein Christ war berechtigt, in Alt-Buchara ansässig zu sein, selbst der Vertreter Kerenskis residierte in Kagan, mehrere Kilometer vor der Stadt. Die Juden mußten im Machallah-Viertel wohnen und um den Leib einen Strick tragen, an dem die Muselmänner den Eigentümer des Stricks aufhängen konnten, wenn sie sich von ihm betrogen glaubten. Fahrzeuge durften die Juden nicht benützen und auf keinem 59 Pferd sitzen. Das Reiten auf dem Esel war ihnen erlaubt, zum Glück, denn zu Fuß kann man während der Regengüsse in den ungepflasterten Straßen Bucharas kaum vorwärtskommen. Überhaupt ist das der Sinn des Eselreitens in den Ebenen und Städten: man bleibt nicht im Kot stecken und braucht die Kanäle nicht zu durchwaten. Ebenso schützen die Reitkamele vor dem Versinken im Staub und Sand der Wüste. Wie die Esel die Galoschen des Orientalen sind, so sind die Kamele seine Stelzen.

Den Judenfrauen war verboten, ohne Schleier auf die Straße zu gehen; dieser Zwang mag für sie drückender gewesen sein, als es für ihre Männer und Väter der verbotene Pferderücken und der gebotene Strick war; und die Buchareser Jüdinnen tragen heute, da der Schleier und der Emir gefallen sind, nicht nur das Gesicht unverhüllt, sondern auch die Beine, und zwar so hoch, wie sich Europas kurze Mode der kurzen Röcke nicht emporwagte.

Wer von den Progressisten nach jener Demonstration unverhaftet blieb, tat gut daran, vor den Maßregeln des Terrors, die der Emir statt der Versprechungen seines Manifestes durchführte, zu flüchten. An 6000 Menschen emigrierten aus Buchara nach Turkestan und fanden bei den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten Obdach.

Erst nachdem die Oktoberrevolution gesiegt und auch in Taschkent Fuß gefaßt hatte, gingen die Völker der südlicheren Gebiete daran, das Joch der mittelalterlichen Feudalherrschaft abzuschütteln. Zunächst wurde das Chanat von Chiwa gestürzt, dann die antikommunistische Gegenregierung von Turkestan, die sogenannte Kokander Autonomie, und nun sollten dem Emir wenigstens Reformen abgezwungen werden. 60

Die von der Jungbucharischen Partei organisierte Aktion war ideologisch schlecht vorbereitet, und so leisteten viele Bauern dem Befehl des Landadels und der Mullahs Folge, um »dem neuen Kreuzzug, der beabsichtigten Unterwerfung des islamitischen Landes durch die Christen« Widerstand entgegenzusetzen.

Bevor diese vermeintlichen Glaubensstreiter in die Stadt gekommen waren, sandte der Emir seinen Großvezier und seine Veziere zu Kollessow, dem militärischen Leiter der Aktion, und Faisullah Chodschajew, dem Führer der Jungbuchareser, auf den Bahnhof vor der Stadt. Dort setzte man ein Schriftstück auf, darin der Emir sich verpflichtete, eine Regierung aus dem Zentralkomitee der Jungbucharischen Partei zu bilden, eine Konstitution zu geben und sein Militär zu verabschieden. Dafür gaben die Jungbuchareser die Zusicherung, daß Olim Chan an der Herrschaft bleiben solle.

Die alte Regierung nahm das Schriftstück mit und erklärte, mit der Unterschrift Sr. Hoheit zurückkehren zu wollen. Statt dessen kamen Boten, die die Bitte um Aufschub überbrachten, und drei Tage vergingen mit Verhandlungen. Inzwischen rückten die von den Beys geführten Bauern aus dreißig Dörfern mit Beilen und Sensen heran. Sie waren in solcher Überzahl, daß sich die Aufständischen zurückziehen mußten.

Am Tage nach diesem Mißerfolg der Kollessow-Aktion, 3. März 1918, ließ der Emir in seinem Reich ein Gemetzel entfalten, wie es Mittelasien seit Tamerlans Tagen nicht erlebt. Aus den im Ark vorgefundenen Meldungen der einzelnen Wilajets geht hervor, daß 3200 Menschen hingerichtet oder gemartert und umgebracht wurden, meist Leute, denen nichts anderes zur Last fiel, als daß sie Zeitungen lasen oder 61 saumselige Besucher der Moscheen waren. Dem Geist der Auflehnung und des Unglaubens sollte für ewig ein Ende bereitet werden. Der Emir erhöhte seine Armee auf 20.000 Mann, zog die Bassmatschen von Fergana in die Hauptstadt, schloß mit Persien und Afghanistan einen Vertrag zur Waffenlieferung gegen die Ungläubigen im Norden, und erhielt von ihnen sogar sechs militärisch ausgebildete Elefanten.

Seine Hauptstütze aber waren die englische Interventionsarmee und hunderte russischer Weißgardisten, meist Offiziere, – er verband sich mit den Ungläubigen zum Kampf gegen den Unglauben, mit den Europäern zum Kampf gegen das Europäertum. Dieses Bündnis des religiösen und nationalen Emirs sei unterstrichen, weil man den bucharischen Revolutionären und der bereits kommunistisch gewordenen Jungbucharischen Partei, also Internationalisten, den Vorwurf gemacht hat, daß sie zur Beseitigung des Tyrannen ihre russischen Klassenbrüder herbeiriefen.

Das Volk, durch die unterbleibende Getreideeinfuhr aus dem Norden und die unterbleibende Baumwollausfuhr nach dem Norden, die Lahmlegung des Teppichhandels und vor allem durch die Rüstungen des Emirs an den Bettelstab gebracht, durch die eingeschmuggelten Zeitungen über den Sinn des Sowjetregimes aufgeklärt, dachte nicht mehr daran, den Despoten wieder zu retten.

Und als die Revolutionäre von neuem heranmarschierten, Ende August und Anfang September 1920, waren es nur die zaristischen Weißgardisten, die englischen Abenteurer und die Söldner Olim Chans, die für ihn kämpften. Vergeblich. Er mußte mit Vezieren, Muftis, Harem, Lustknaben und Kriegselefanten nach Ostbuchara, die heutige 62 Sowjetrepublik Tadschikistan, fliehen, und fand schließlich in Afghanistan sein Doorn.

Die Knute auf dem Tor der Burg, die Kerkerzellen an ihrer Rampe und die Verliese des Sindan sind Museumsobjekte geworden, die Gemächer des Ark dienen als Studentenheim, keine Frau im Heiligen Buchara trägt Schleier mehr, die Christen brauchen nicht in Kagan, die Juden nicht in Machallah zu wohnen, blanke Knaben nicht die Gunst des Emirs und der Beys zu fürchten, der Harem des Lustschlosses Sitarah Imach Asa ist als Irrenhaus eingerichtet, sein Park ward zu einem Obst- und Gemüsesowchos, die Güter des Wakuf sind Kollektivwirtschaften, in den Schulen sitzen die Kinder auf Bänken und lernen Naturwissenschaft, was dem Koran widerspricht, am Marktplatz erhebt sich das neue Nationalhaus, ein Park schmückt die Fläche, auf der vor sechzig Jahren Europäer als Sklaven feilgeboten wurden, und dort, wo noch vor zehn Jahren Revolutionäre geköpft wurden, streckt sich ein Wasserturm in die Höhe, das »Sowjet-Minarett«.

Freilich, dieser eiserne Wasserturm kann sich mit den wirklichen Minaretten von Buchara an Schönheit nicht messen. Da ist zum Beispiel das Minarett des Todes nicht weit. Feinde und Sklaven sollen von seinen Zinnen hinabgestürzt worden sein, jedoch es bedarf keiner schaurigen Geschichten, deren Held dieser Turm ist, um zum »Toj-Munar« respektvoll aufzusehen.

Die Treppe in seinem Innern hat Araslan Baba Chan anlegen lassen, das ist schon 800 Jahre her, aber man kann sie noch heute benützen, und je mehr ihrer Stufen man in der Hitze erklimmt, desto leichter erledigt man die restlichen, denn der Erklimmer, der Besteiger, der Erlediger 63 verliert zusehends an Körpergewicht. Oben ist man schon ein elfisch' Wesen.

Auch der Turm des Todes ist von der Bedrückung frei, die er unten erleidet, wo er eingekeilt ist zwischen der blaugewölbten Moschee Kok-Gumbasch und der Medresse Schir-Arab, umbrandet vom Straßenbasar, vom Schreien des Auktionators und seiner Kundschaft, vom Feilschen der Händler, von bunt ausgelegten Truhen, silbernen Armbändern, kupfernen Tabletten, Tonkrügen und Pialas (henkellose Teetassen), bestickten Mützchen, asiatischen Gewürzen und europäischem Trödelkram, während die Bringer all dieser Köstlichkeit, die Eselchen, im Hintergrund, am Brunnen ungeduldig iahen.

Hinan zur Turmhöhe, 52 Meter, reicht kein anderes Minarett, die Kuppeln der Moscheen erscheinen von hier aus wie blaue Pfützen, Gras wächst an ihrem Rand und Störche halten nach Fröschen Ausschau. Unten aber, aus der Froschperspektive, war alles anders, die Wölbung war kein Sumpf, sondern das Firmament, und die Störche lugten nicht nach Froschbeute aus, sie standen vielmehr, leicht gebückt, als Funktionäre Allahs auf dessen Haus und kontrollierten streng die Gläubigen. Durch solche Haltung erwirbt man sich den Ruf besonderer Heiligkeit, und selbst die Sowjets binden mit den Störchen lieber nicht an: die Renovierungsarbeiten, so rigoros auch der Fünfjahrplan ihre Termine vorschreibt, werden an jenen Baudenkmälern nicht in Angriff genommen, auf denen eine Störchin in den Wochen liegt.

Wir schauen über die Störche hinweg, wir schauen in das Innere Bucharas. In das Gewinkel der Straßen, die sich zwischen das bloßliegende Fachwerk der grauen Häuser zwängen. In die Häuser selbst mit ihrer Stallung für die 64 Gattinnen, die ausgedienten alten und ihre jungen Nachfolgerinnen. Bis herauf zum Giebel des Todesturms funkelt der Ocker, mit dem hundertmal in ornamentalisierten Lettern der Kufi-Schrift auf den Gebetspalästen der gleiche Satz eingeprägt ist: Bismallah rachmanur rachim – Im Namen Gottes des Allgütigen.

Durch die blaugelbe quadratische Vorderfront traten Priester und Lehrer, Beter und Schüler in die den Hof umlaufenden Arkaden, spülten an der Taharat-Chana den Staub von Hand und Fuß, und knieten erst dann nieder und leierten Suren des Korans und lernten die Auslegungen des Schariats, des kanonischen Rechts, oder die Überlieferungen des Adats, des Gewohnheitsrechts. Scheu blickten sie zu den Störchen auf, die feststellten, ob keiner fehle.

Die Hörer pilgerten von weither, aus Arabien, aus der Türkei, aus Persien, aus Afghanistan, aus Indien, um die Weisheit an ihrer reinsten Quelle, in Bochara Ischerif zu schlürfen. Und kehrten wieder weithin heim, mit dem Nimbus von Bochara Ischerif geschmückt, um den Armen ihrer Heimat nach den Lehren von Schariat und Adat Steuern und Leibeigenschaft und Vielweiberei und Knabenschändung und Gottesfurcht vorzuschreiben. Nun pilgern sie nicht mehr hierher, zwischen den Katzenköpfen, mit denen die Aula so sorgfältig gepflastert war, wuchert Gras, und mißbilligend sehen die Störche in die menschenleeren Höfe.

Auch die Dienstwohnung des Mudariss steht leer, des Rektors. Das ist ein eigenartiges und graziöses Heim in der Medresse Schir-Arab, wenngleich es kein Mobiliar, weder Tisch noch Stühle hat – Seine Magnifizenz empfing Gäste und schrieb auf dem Boden sitzend – wenngleich keine Tür, sondern nur ein Loch von einem halben Meter Höhe ins 65 Schlafzimmer führt. Denken Sie sich eine Wand, die aus unzähligen filigranen Laubsägearbeiten besteht, aus geschnitztem Rosenholz und aus zierlich durchbrochenem weißen Lack. Wenn Sie sich das gedacht haben, wie wir uns das gedacht haben, als wir es sahen, so denken Sie es sich wieder weg. Keine Laubsäge war hier das Produktionsmittel, kein Holzschnitzer der Produzent, kein Rosenholz und kein Lack das Arbeitsmaterial. Alles ist aus verschiedenfarbigen Sorten von Alabaster gemeißelt. Diese marmornen Ajourspitzen sind Vorderwände von Schubfächern, in denen sich Handschriften und Bücher befanden.

Für ein rauheres Kunstwerk von Buchara hat Amerika zwei Millionen Dollar geboten: für das Grabmal Ismail Ssamanids, des Begründers der Ssamaniden-Dynastie; aber nicht aus dynastischen Gründen wollten die Mäzene den massiven und riesigen Bau über den Ozean schaffen, sondern weil ihnen versichert wurde, daß es das älteste (the oldest!) Baudenkmal von Zentralasien sei.

Unter uns die Burg, darin der Herrscher zu Häupten der politischen Gefangenen den Schlaf des Gerechten schlief. Dort der andere Kerker, hier das andere Schloß, dort ist es das Raffinement der Marter, hier ist es die Primitivität des Fürstenhirns, was uns Alpdrücken verursachte, als wir diese Orte besuchten. Im Sommerschloß steckt jeder Öldruck in einem Kartonrahmen, auf den sich der Emir eine Fortsetzung des Bildes malen ließ; Fortsetzung von Böcklins »Toteninsel«, Fortsetzung von Kowalskis »Einsamer Wolf«, Fortsetzung von »König Salomo und die Königin von Saba«, Fortsetzung von »Ausfahrt des Alcibiades«. Für Plastik hatte der letzte Emir gleichfalls Verständnis: das Standbild eines Frosches im Zylinder dominiert im Spiegelsaal. 66

Ein drittes Schloß sahen wir bei Kagan; es ist jetzt der Arbeiterklub »Felix Dsherschinski«, auf der Veranda turnt man in Schwimmhosen und im Park spielt man Volley-Ball bei 51 Grad Celsius. Wo der Sommerharem war, die offiziellen Gattinnen des Emirs sich von den geprüften Eunuchen fächeln ließen, soweit dies ein geprüfter Eunuch zu tun vermag, werden Abendkurse abgehalten. In der Hausmoschee ist die Lenin-Ecke.

Unser Blick schweift vom Turm Toj-Munar umher. Dort – und dort – und dort . . . überall ein kleiner See, der »Chaus«, Lust und Leid des Mittelasiaten. In Alt-Buchara füllen die Chause die Stadtplätze aus, Akazien- und Maulbeerbäume werfen Schatten, Treppen führen hinunter zum Wasserbecken, – es fehlen nur die Skulpturen, um die Illusion der Fontana Trevi in Rom wachzurufen. Am Ufer sitzt man und trinkt den heißen Tee und raucht aus dem heißen Tschilim und atmet die heiße Luft. Aus dem Wässerchen bezieht der Samowar den Grundstoff für den Tee, aus dem Wässerchen füllt der Wasserträger seine Schläuche, in dem Wässerchen wäscht man sich Füße und Hände, aus dem Wässerchen kommen unheimliche Würmer und Moskitos.

Wo? – einen Augenblick, wir müssen uns orientieren – ja, dort der Bau aus gebrannten Ziegeln ist das Tropen-Institut. Darin sahen wir die dem Chaus entsteigenden Gefahren unter dem Mikroskop, sahen sie als Präparate und auf Ölgemälden, wahre Wahnsinnsphantasien. Das Porträt eines Zyklopen flößt Furcht und Grauen ein, das Original ist eine winzige Mikrobe, der Maler hat sie 2000mal vergrößert. Wir machten die Bekanntschaft des Medischen Fadens, Filariae medinensis, eines schlanken Weibchens, das drei Millionen lebender Junger im Mutterleibe, im zwei Millimeter breiten 67 Mutterleibe birgt. Wäscht man sich im Chaus, füllt man als Maschkar seine Schläuche mit Wasser, um es in die Häuser zu tragen, so wandert der obgemalte Zyklopid, der Zwischenwirt des Medischen Fadens, aus dem Wasser in den Menschen und äußert sich in allerhand Geschwür.

Herr Peter Reinhart, der als Apothekergehilfe vor vierzig Jahren aus Deutschland nach Buchara kam, erzählte uns, daß auch der letzte Emir von der Rischta heimgesucht wurde und Gangräne bekam. Der Tabib (Heilpriester), hatte er auch tausende dieser Fälle behandelt, – in diesem einen Fall, der ihn den Kopf kosten konnte, wollte er sich nicht auf die ärztliche Eingebung Allahs verlassen und beriet sich in der europäischen Apotheke mit dem »Kafr«, dem Ungläubigen.

Nun gibt es keinen Emir mehr, Magister Peter Reinhart leitet ein Laboratorium im Tropen-Institut, kein Tabib ordiniert mehr, und auch dem Medischen Faden hat das letzte Stündlein geschlagen. Viele der Chause, die abflußlosen vor allem, wurden für immer trockengelegt, wobei man große Fische fand – wie kamen sie da hinein? – andere Becken wurden ausgepumpt, der Boden zementiert, fließendes Wasser eingeführt. Nicht nur die »Sowjet-Minarette« sind da, auch eine Pumpstation mit Reservoir, wo sich der Sand des Serawschan-Flusses absetzt und das Wasser gefiltert wird. (NB. Der Serawschan hat keine Mündung, bei Chiwa verläuft er im Sand.)

Der Sandfloh, Phlebotomus papatasii, Verbreiter des Papatatschifiebers, und die Malariamücken haben jetzt Ursache, in der Front der Sowjetgegner zu stehen. Mit Rauch und Schwefelanhydrid rottet man sie in den Reisfeldern aus, man kaptiert die Wasserquellen, an denen sie so lange ungestört ihre Spiele trieben, man trocknet Sümpfe 68 hektarweise, schafft Abflußkanäle, petrolisiert die Bassins oder setzt ihnen Parisergrün zu. Die Malaria ist seit 1925 in Kuljab, Tadschikistan, von 69 Prozent auf 7,4 Prozent gefallen, in Mumin-Abad von 96,1 Prozent auf 10,1 Prozent. Mit der Elephantiasis ist es in Tadschikistan ganz zu Ende.

Vom Minarett des Todes sieht man die Elektrostation, – vor der Revolution hatte nicht einmal der Emir elektrisches Licht, und wenn er sich abends seine Bilder mit den bemalten Rahmen ansehen wollte, mußte er sich mit Öllampen leuchten lassen. Vom Minarett des Todes sieht man das neue Theater, das neue Hotel, die neuen Parks, die neuen Schulen, die neuen Klubs, die neuen Häuser, das neue Leben und auch das alte Leben. Vom Minarett des Todes sieht man ganz Buchara bis zu den Festungsmauern mit ihren Toren, die allabendlich gesperrt wurden. 1920 hat die Revolution sie erstürmt, und seither stehen alle Tore offen. 69

 


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