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Wir fragen ein junges Mädchen, warum außer ihr niemand zu sehen ist.
»Jetzt ist fast alles zu Hause und schläft. Erst abends arbeiten wir weiter, dann ist es etwas kühler.«
Das junge Mädchen ist eine Armenierin, Absolventin der Timirjasew-Akademie in Moskau, hier als Agronomin tätig.
Vor uns eine seltsame Anhöhe. Wenn sie künstlich aufgerichtet ist, ward sie der Natur gut angepaßt, andernfalls hat die Natur einen Festungsbau kopiert.
Genossin Kasanian erzählt uns, daß die Bauern den Hügel für eine Festung Alexanders des Großen halten. Das sei aber Unsinn.
»Warum Unsinn?«
»Es gibt ja hier keine Tradition, keine alten Siedler, denen eine solche Mitteilung überliefert wäre. Bevor unser Sowchos bestand, war die ganze Gegend unbewohnt. In Tadschikistan behauptet man von allen alten Festungen, daß sie entweder von Iskander oder von Tamerlan stammen. Das ist so wie bei uns im Kaukasus, wo jede Ruine einmal ein Schloß der Zarin Tamara gewesen sein soll. Und dabei gehört die Tamara eigentlich hierher.«
Ja, die Tamara stammt von hier, wenn sie auch eine 243 mythische Gestalt ist. Sie soll eine Kaiserin der iranischen Nomaden gewesen sein, den großen Cyrus besiegt, jede Nacht einen anderen Liebhaber gehabt und selbigen am Morgen ermordet haben. Der Islam rottete diese Sage aus, da es schmählich schien, daß sich die Ahnen von einer Frau beherrschen ließen, und die Nachbarvölker übernahmen die Tradition von der nymphomanen Kaiserin und schrieben ihr alle Bauten der Vorzeit zu.
Über dem Festungshügel, ob er nun einer ist oder nicht, ob er von der Zarin Tamara oder vom zweigehörnten Alexander stammt, schwebt eine Antenne, und ein Gong baumelt auf des Hügels Gipfel, allzeit bereit, die Leute zur Arbeit oder zur Versammlung zusammenzurufen.
Eine Schar von Kindern läuft herbei, bringt der Agronomin einen toten Skorpion von zehn Zentimeter Länge. Die Kleinen haben ihn im Feld aufgespürt und ein Feuerchen ringsherum angezündet, worauf sich das Tier durch einen Stich in den Kopf getötet hat.
»Das machen die Skorpione immer, sobald sie in Gefahr geraten, – Selbstmord aus Furcht vor dem Tod.«
»Gibt es viele Skorpione hier?«
»Genug, aber sie sind nicht sehr gefährlich, gefährlicher sind die Falangen. Sie fressen Aas und wenn sie hinterher einen Menschen stechen, so stirbt er, falls er nicht sofort behandelt wird. Wir haben einen Arzt hier und ein Krankenhaus. Heute ist eine Frau eingeliefert worden, sie wurde von einer Kupferschlange gebissen.«
Zu dem Mädchen, mit dem wir über Giftschlangen und todbringendes Ungeziefer flirten, gesellt sich ihre Freundin. Auch sie Agronomin, auch sie kaum zwanzig Jahre alt, auch sie hübsch, aber während die Armenierin schwarzlockig ist, 244 ist die Russin rotblond, und während die Armenierin die Baumwollschädlinge im Referat hat, hat die Russin die Probepflanzungen unter sich.
»Sie müssen sich meine Selektions-Anlage ansehen. Nachher trinken Sie bei uns einen Tee. Bei uns ist es kühl.«
Kühl! Dickflüssiger Schweiß sickert uns in die Augen und in den Mund, der bis zum Gaumen voll ist von Salz und Staub. »Könnten wir nicht jetzt zu Ihnen gehen und erst später aufs Feld hinaus?«
»Ach, kommen Sie lieber gleich, es ist kaum ein Werstchen weit.«
Ein Werstchen! Noch ein Werstchen in mittelasiatischer Mittagsglut? Das rotblondgescheitelte Mädchen schaut uns geradezu flehentlich an. Da wir einwilligen, ist sie glücklich: »Wissen Sie, jetzt sind alle in den Hütten, weil es zu heiß ist zum Jäten, nur der Aeroplan arbeitet. In einer Stunde wird Ihnen jeder seine Arbeit zeigen wollen, und es bliebe keine Zeit für meine Plantage. Dabei ist sie doch das wichtigste.«
»Mein Laboratorium ist auch wichtig,« wirft die Armenierin scharf ein, und in der Furcht, daß in diesem Augenblick eine Mädchenfreundschaft und Arbeitsgemeinschaft in Brüche gehen könnte, versprechen wir, uns später auch das Laboratorium ansehen zu wollen. Und wenn es zehn Werstchen weit wäre!
Eine Werst ist einen Kilometer plus 66 Meter lang, an der afghanischen Grenze, im Juni, um zwölf Uhr mittags hat sie astronomische Ausmaße. Die Sonne wälzt sich im Staub. Über den Feldern, kaum dreißig Meter hoch, kreist das Flugzeug, ununterbrochen arsenhaltige Gase fahren lassend. Hier vernichtet das Giftgas die Schädlinge und kommt der 245 Ernte zugute, während das Giftgas der Rüstungsindustriellen umgekehrten Zwecken dient.
Wir schreiten ein endloses Werstchen lang Baumwollfelder ab, Furchen und Kanäle, Stauden und Blüten. »Hier fängt mein Gebiet an.« Marussja zeigt auf die mit Stacheldraht eingezäunte meteorologische Station, Thermometer, Barometer, Regenmesser, Windmesser. Dahinter das Versuchsfeld. Triumphierend sieht sie uns an: Nun?
Nun, wir sehen ein Baumwollfeld, das sich von seinen Anrainern dadurch unterscheidet, daß jede Staude ein Holztäfelchen trägt.
»Sie sehen, daß jede Staude eine andersfarbige Blüte treibt, manche Staude noch keine Blüte, manche schon keine Blüte mehr hat, Sie sehen, daß alle verschiedenartiges Blätterwerk haben.«
»Ja,« bestätigen wir, denn wir sehen das jetzt wirklich.
»In unserem Sowchos wird amerikanische und ägyptische Baumwolle, Sea-Island, gepflanzt. Aber Sie würden sich sehr irren, wenn Sie glauben, das seien nur zwei Sorten! Ich habe fünfzig Sorten ausgesät mit 285 Varietäten. Ägyptische und nordamerikanische Firmen liefern uns die Samen und auf jedem Sack steht eine Nummer. Wir stellen fest, welche Sorte für uns die beste ist. Ich glaube, ich habe es schon heraus: 38 F Sakellaridis wird die beste ägyptische sein. Ihre Faserlänge ist 43 Millimeter, bedenken Sie, was das bedeutet. Wir werden im nächsten Jahr hauptsächlich diese Sorte anbauen.«
Die rotblonde Marussja kennt jede Pflanze persönlich, springt über Furchen und Raine, um zu zeigen, daß eine Staude, die zu den dunkelblühenden Amerikanern gehört, die gleiche Faserlänge hat wie eine Staude, die zu den hellblühenden Ägyptern gehört, daß diese »Pillion« 246 ebensolche Blüten treibt wie jene »Nowitzki« . . . Wir werden ganz warm, obwohl uns wahrlich auch ohne dieses Interesse ganz warm war.
Dann gehen wir wieder das Werstchen zurück. Eine der Kolonnen kommt uns entgegen, die man hier unten, zwischen Ssyr-Darja und Amu-Darja oft genug marschieren sieht: die Bauern einer Wirtschaft haben ihre Arbeit vollendet, und ziehen nun geschlossen mit Fahne und Losungsbanner und Musik, um das weniger erfolgreiche Nachbargut zu »bugsieren«; an der Tête tanzt ein Jüngling, die anderen klatschen den Rhythmus und singen den Refrain mit.
Drüben wartet die kleine Kasanian: »Kommen Sie in mein Laboratorium. Genosse Petrow, der Direktor unseres Sowchos, ist auch dort.«
Das Laboratorium ist ein Seitenflügel des großen Verwaltungszeltes. An den leinenen Wänden hängen Glaskästen mit Schmetterlingen, Käfern, Spinnen, Heuschrecken und Raupen, die die Baumwollsamen und die Kapseln und die Blätter aufzufressen lieben und deshalb hier zur Bekanntgabe an alle Baumwollarbeiter festgesteckt sind, – Steckbriefe also. Aus Spiritusgläsern glotzen ohnmächtig-wütend Skorpione und Falangen, Eprouvetten sind der gläserne Sarg von Larven und Puppen.
Die kleine Kasanian erzählt uns von allen diesen gefräßigen Feinden, für die sie entschieden eine Haßliebe hegt, von der Laus, namens Gophis gossipii, vom Falter namens Chloridea obsoleta und dessen grünem Wurm, von einer Spinne Epithetranicus altea und von der Pectinophera gossipera. Das Mädchen beklagt sich, die schwarzen Locken schüttelnd, über die Hartnäckigkeit der Parasiten und berichtet, wie energisch und listig man gegen sie vorgehen 247 muß, auf dem Landweg, auf dem Wasserweg, auf dem Luftweg. Wir denken an die Ballade vom Zuchthaus in Reading: Ein jeder tötet, was er liebt.
»Direkt bestechen müssen wir diese Tiere, damit sie uns den Fünfjahrplan nicht verderben, ja, ja. Mitten in unsere Baumwollfelder säen wir eine Erbsenart, Cicer orientinum, die den Schädlingen schmackhafter erscheint als die Baumwolle. Nicht weniger als zwölf Hektar bauen wir davon an. Aber glauben Sie, das genügt diesem Gesindel?!« Dabei schaut sie ihre Feinde liebevoll an, wehe ihnen!
Gar zu gern möchte sie uns noch andere Präparate vorführen und Plakate und Aufklärungsschriften und Chemikalien gegen die Schädlinge, aber Petrow, Direktor des Gutes, sitzt im Mittelpunkt des Zeltes, und ist sichtlich ungeduldig; wir wenden uns ihm zu. Nicht nur um seinetwillen. Schließlich sind wir weder wegen der jungen russischen Züchterin, noch wegen der jungen armenischen Schädlingsvertilgerin hierhergekommen, sondern wir waren gestern auf der großen Hydrostation am Wachsch und möchten nun hören, wie sich dessen Irrigationsanlage in der Praxis auswirkt, diese Phantasmagorie – aus einer jahrtausendelang ausgedörrten Steinwüste einen Baumwollgarten zu machen.
». . . und noch dazu soll es schnell gehen,« ergänzt Petrow unseren Gedankengang, »vor drei Jahren hat der Sowchos nur aus einem einzigen Dorf bestanden mit 312 Hektar Anbaufläche. Jetzt aus sieben Chutors (Abschnitten) mit 11.000 baumwollbebauten Hektar. Aber 70.000 soll er umfassen nach Fertigstellung des Wachsch-Stroj, dann wird er ein agro-industrielles Baumwollkombinat sein. Wir müssen hier unbedingt . . .« 248
Er erklärt uns alles haargenau, alles, was sie hier unbedingt müssen. Wir strengen uns an, aber seine Worte klingen wie von fernher in unser Ohr, so sehr wir uns auch bemühen, aufmerksam zu sein.
Seien Sie nicht böse, Genosse Petrow, wir sind aus nördlicheren Breiten, und so herumzugondeln in den Tropen ist für uns kein Kinderspiel. Zeitig aufstehen, Pferderitt, Kamelritt, Autoritt im Samum, ein Werstchen zu wagen mit einer rotblonden Agronomin, ägyptische Sorten von amerikanischen unterscheiden zu lernen auf unsere alten Tage, ein Lektiönchen über Schädlingskunde, – wahrlich, das ist mehr als man an einem Tag von einem Westeuropäer verlangen kann. Andererseits strengt sich Petrow sehr an, um uns alles klarzumachen. »Wir müssen hier unbedingt . . .«
Was müssen die hier nicht unbedingt! Sie müssen hier unbedingt aus Selektionsgründen ein Viertel der Anbaufläche mit der Hand bearbeiten, »zweiundzwanzig Sorten von den fünfzig, die Ihnen Genossin Marussja sicherlich gezeigt hat, nicht wahr?«
»Ja, hat sie uns gezeigt . . .«
»Wir müssen unbedingt an die ägyptische Baumwolle – aus der macht man Batist, das wissen Sie . . .?«
»Wissen wir, wissen wir! Was müssen Sie an die ägyptische Baumwolle?«
». . . höhere Ansprüche stellen als in Ägypten, wir müssen unbedingt . . .«
»Was müssen Sie unbedingt?«
»Wir müssen unbedingt längerfaserig sein als die ägyptische Baumwolle in Ägypten oder in Amerika.«
»Warum müssen Sie das unbedingt?«
»Unsere Textilfabriken sind noch lange nicht so gut wie 249 die amerikanischen, deshalb müssen wir unbedingt viel besseres Rohmaterial erzielen als Amerika.«
Amerika, du hast es besser, als der Kontinent, der alte. Ja, dein vielbe-songener Cotton Belt braucht fast nirgends künstliche Bewässerung, keinen Wachsch-Stroj. In South-Virginia regnet der Regen regelmäßig, was kein kleiner Vorteil ist, – auf Plantagen ohne Kanäle läßt sich die Bearbeitung viel leichter mechanisieren.
»Bei uns besteht immer die Gefahr, daß der Traktor die mühselig erbauten Rinnsale zerreißt. Man muß immerfort aufpassen . . .«
Amerika, du hast es besser, du hast soviel Baumwolle, daß du ein Drittel vernichtest. Wir haben die Meldungen des Washingtoner Ackerbauamtes gelesen, tragen die Zeitungsausschnitte in der Tasche.
»Da der unverkaufte Übertrag aus der Vorsaison 9,1 Millionen Ballen und der Jahresverbrauch der Welt nur 20 Millionen Ballen beträgt, so kann es nicht anders als eine beispiellose Katastrophe genannt werden, daß die Plantagen voll mit guten Kapseln stehen, die Ernte laut Schätzung des Washingtoner Ackerbauamtes den Rekordertrag von 17 Millionen Ballen ergeben dürfte.«
Beispiellose Katastrophe! Was soll man anfangen mit einer so reichen Ernte, mit siebzehn Millionen Ballen von je 500 lbs., was soll man anfangen mit 3,855.600 Tonnen Baumwolle, wenn schon im Vorjahr 2,063.880 Tonnen unverkauft geblieben sind?
Beispiellose Katastrophe! Auch Ägypten hat 1682 Feddans mit Baumwolle angebaut, ein Viertel weniger als im Vorjahr, aber doch um vier Viertel zuviel für eine solche Marktlage. 250
»Selbst der Bollweevil, der Kapselkäfer, der sonst gefürchteteste Schädling, auf den diesmal alle Hoffnungen gesetzt waren, hat wie zum Hohn die Plantagen verschont. Zwar hat sich der Kapselkäfer beachtlich ausgebreitet, aber wenn es in den nächsten Wochen Wärme und Trockenheit gibt, so ist damit zu rechnen, daß die Ernte zur Reife kommt, ehe die dritte und verderblichste Generation des Käfers in Tätigkeit tritt . . .« (New York Cotton-Exchange Service.)
Verstehen Sie das, Genossin Kasanian? In Amerika müßten Sie sich einen anderen Beruf suchen als den einer Insektenvertilgerin. Zwar gibt es diesen Beruf dort auch und er bringt dort sicherlich viel Geld ein, aber Sie wären wohl kaum imstande, Ihre Insekten nach den jeweiligen Wünschen der Hausse- oder Baisse-Spekulanten zu behandeln.
Und Sie, Genosse Petrow, Sie erzählen mir da, wie Sie das Riesengut unbedingt erfolgreich gestalten müssen. Wissen Sie denn nicht, daß es eine beispiellose Katastrophe ist, wenn die Baumwollernte gut ist? Krise in Amerika! Krise in England! Indischer Textilboykott! Pleite des Nordwolle-Konzerns!
»Es fragt sich nun, was der Federal Farm Board in Washington mit den Beständen beginnen will. Wie bekannt, wurde auf dem letzten Internationalen Baumwollkongreß zu Paris der Farm Board dringlich aufgefordert, in Bälde ein definitives Programm für die Liquidierung der Vorräte vorzulegen; jetzt wird man wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und endgültig Klarheit über die Beseitigung dieser Mengen schaffen müssen. Texas hat bekanntlich beschlossen, die Baumwollanbaufläche für das kommende Jahr um 70 Prozent einzuschränken. Diesem Plan hat sich Mississippi (in diesem Jahr bebaute Fläche: 4,033.000 acres) angeschlossen. Außerdem hat Süd-Carolina (1,950.000 acres) das völlige Verbot des 251 Baumwollanbaus beschlossen; der Gouverneur von Louisiana hat sich ebenfalls für das Verbot des Baumwollanbaus entschieden.« (Bericht der Bremer Baumwollbörse.)
Und das alles genügt noch nicht. Jede dritte Furche ist durch Umpflügen zu zerstören. Wo diese Anordnung nicht befolgt wird, soll ein Drittel der Ernte unnachsichtlich verbrannt werden. Da der Plan, den deutschen Spinnereien langfristige Kredite von amerikanischer Flocke zu gewähren, gescheitert ist, wird ohnedies ein Großteil der amerikanischen Vorräte verbrannt werden müssen, um den Markt zu retten. Ist doch schon jetzt der Kurs für das englische Pfund (0,45 kg) Baumwolle von 19,39 Cents auf 7 Cents hinuntergesaust. Die Gestehungskosten betragen 11 Cents, so daß der Farmer pro Pfund 4 Cents verliert.
»Alles Entgegenkommen, das wir bei den Pariser Modenhäusern gefunden haben und das sich in der Lancierung von Stoffkleidern bereits zu äußern beginnt, vermag die Baumwollkrise nicht aufzuhalten. Trotzdem die Seidenhemden aus der Mode gebracht werden, wirkt dies nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein.« (Cotton Weekly.)
Geht euch denn das alles nichts an, Genossen? Nein, euch geht das nichts an. Wenn ihr hier in der Wüste Baumwolle macht, Baumwolle für Wäsche, Kleider, Tischtücher, Handtücher, Leintücher, so gehen euch der Federal Farm Board und die Beschlüsse der Pariser Modenhäuser nichts an; anderthalbhundert Menschenmillionen warten darauf, daß ihr Erfolg habt.
»Wir würden neuntausend Arbeiter brauchen, – wir haben kaum ein Drittel, zweitausend ständige Arbeiter und tausend Saisonarbeiter, die im September, Oktober, November kommen, nachdem sie daheim ihr Getreide eingebracht 252 haben. Die Tadschiken aus der unmittelbaren Umgebung bringen ihre Familien mit, die Frauen der Usbeken und Kirgisen bleiben zu Hause. Erfahren im Baumwollanbau sind nur die Arbeiter aus Fergana.«
»Was veranlaßt die Leute hierher auszuwandern und diese schwere Arbeit zu tun, gegen die Sonne, gegen die Schlangen und Skorpione?«
»Ach, die Skorpione,« ruft die kleine Kasanian beleidigt dazwischen, »die Skorpione sind gar nicht gefährlich. Übrigens haben die Leute zu Hause auch Skor . . .«
»Das Einkommen ist gut. 3 Rubel 40 ist der Grundlohn pro Tag (in den Sowchosen wird Lohn ausgezahlt, in den Kolchosen Anteil vom Ertrag), aber mit Stückarbeit kann man 5 bis 6 Rubel verdienen. Für das Reinigen der Kanäle von Schilf und Gras bekommt man drei Kopeken pro fünf Meter Breite und ein Meter Länge; mit den großen Sensen mähen manche Arbeiter mehr als einen halben Kilometer im Tag, verdienen also 15 Rubel. Schlafgelegenheit, heißes Teewasser, Licht und Arbeitsgeräte sind unentgeltlich, zwei der einheimischen Flachbrote, Lepioschka, kosten 15 Kopeken, das Kilo russischen Brotes auch 15 Kopeken, und das Mittagessen 50. Alle fünf Tage bekommen wir ein achtel Pfund grünen Tee, was allerdings für uns viel zu wenig ist, und nach der Ernte 20 Meter Manufaktur, – Hauptanreiz für das Hierherkommen der Saisonarbeiter. Nächstes Jahr werden die Bahnverhältnisse besser sein und wir werden auch mehr Tee und mehr Tabak haben.«
In Amerika, das es besser hat als der Kontinent, der alte, ist die Lage der Baumwollbauern ganz anders. Ein langer Artikel »Die Baumwoll-Peons« in »The New Republic« (New York) ist unter unserem Material: 253
»Hunderte und Tausende von Baumwollbauern sahen sich 1930 nach einigen Wochen Trockenheit dem Hunger preisgegeben, überfielen Geschäfte oder begnügten sich mit den kläglich kleinen Almosen vom ›Roten Kreuz‹. Die Elendsschilderungen, welche diese Organisation aussandte, beschreiben die verfallenen Wohnhütten, die Schlafstätten aus Stroh, das zerbrochene Geschirr, die zerfetzten Kleider, das elende Essen und die analphabetischen Farmer. So waren die Dinge immer, aber das ›Rote Kreuz‹ wußte es vorher nicht. Wenn ein Bauer vom Bodenbesitzer eine Abrechnung über die erhaltenen Vorschüsse verlangt, wird er als ›Vagabund‹ und ›elender Nigger‹ beschimpft und den bewaffneten Hütern des Gesetzes zur Beute hingeworfen. Trotzdem wir in der Zeit der Arbeitslosigkeit leben, werden viele Arbeiter zu Zwangsarbeit gepreßt. Auf Wunsch des Bodenbesitzers treibt die Stadtpolizei Wanderburschen zusammen und stellt sie vor die Wahl, sich sofort auf ein Baumwollgut abtransportieren zu lassen oder sich die spazierenden Leute vom Innern des Kerkers aus anzusehen. Der Durchschnitts-Landarbeiter ist Analphabet, hat nie eine Reise gemacht und weiß nichts von der Außenwelt. Er hat kein Geld, keine Kleider, keine Möglichkeit wegzufahren, kennt keine andere Arbeit. Der Übergang von einer Farm zur anderen ist praktisch unmöglich; Agenten, welche versuchen, die Bauern für andere Gegenden anzuwerben, werden erschossen oder gelyncht. Während einer Untersuchung über das Sklavenwesen im Staat Georgia wurden auf der Farm von John S. Williams elf Bauern getötet, weil sie zu alt zur Arbeit waren oder zu viel wußten. Vor kurzem wurde ein in der Negerkirche von Camp-Hill abgehaltenes Meeting der Baumwollpflücker von bewaffneten Männern umzingelt, die Kirche angezündet (sie brannte bis zum letzten Rest nieder), Neger kalten Blutes getötet oder ›ausgeschickt, um Ofenholz zu holen‹, wie der euphemistische Ausdruck für ›lynchen‹ lautet.«
Amerika zetert über Zwangsarbeit in der Sowjetunion! 254 Mit amerikanischen Methoden könnte man hier die zu schwache Belegschaft leicht auf die notwendige Kopfzahl bringen. Nun, die Arbeit geht auch so vorwärts.
Petrow fährt fort: »Wir haben 7000 Hektar mit ägyptischer und 4000 mit Upland-Baumwolle angebaut, fast 3000 Hektar mit Gemüse und Futtermitteln, hauptsächlich mit Luzerne, die das Land für die nächstjährige Ernte urbar macht. Etwa 800.000 Pud dürfte unsere Ernte betragen. Baumwolle ist das einzige Agrarprodukt, das Rußland immer importieren mußte. In der Vorkriegszeit ergab die Ernte, einschließlich Buchara, vierzehn Millionen Pud, das sind 229.320 Tonnen, reiner Faser. Vor dem Fünfjahrplan war der Baumwollanbau gegenüber der Zarenzeit zurückgegangen, hier tobte ja noch lange der Räuberkrieg, geführt von Emir Olim, von Enver Pascha und Ibrahim Beg. Seit zwei Jahren geht die Baumwollproduktion der Sowjetunion aufwärts:
Anbaufläche (in Hektar) |
Rohbaumwolle (in Tonnen) |
Reine Faser (in Tonnen) |
|
1929 | 1,055.500 | 823.500 | 264.000 |
1930 | 1,528.000 | 1,076.000 | 327.000 |
1931 | 2,137.000 | 1,279.000 | 409.500 |
Die Ernteziffern von 1931 sind natürlich nur Schätzung,Hier nach beendeter Ernte ergänzt. aber sicher ist, daß wir nach kaum drei Jahren fast doppelt soviel erzielt haben, als Zarismus und Emirat nach dreißig Jahren Baumwollzucht, ganz abgesehen davon, daß man sich an ägyptische Baumwolle nicht herangetraut hat. Für das nächste Jahr schreibt der Plan 504.000 Tonnen reiner Faser vor. Unsere Anbaufläche ist dreimal so groß wie die der 255 Zarenzeit, leider halten die Hektarerträge damit noch nicht gleichen Schritt. Die Befreiung der Sowjetunion von der Abhängigkeit des kapitalistischen Baumwollmarktes ist vollzogen. Wir führen zwar noch ein, aber wir führen auch schon aus, und der Ausfuhrwert für Baumwolle überstieg in diesem Jahre den Einfuhrwert um dreißig Prozent. Das ist einfach ein Sorten- und Saisonausgleich auf dem Weltmarkt.«
Ganze Textilbezirke der UdSSR warten auf Rohmaterial, die Termine müssen eingehalten werden. An der Wand des Leinenzelts hängt ein Jahreskalender, Monate und Tage sind mit Buntstiften eingerahmt, rechtwinklige, unregelmäßige Flächen in verschiedenen Farben fügen sich aneinander.
In der Zeit von Mai bis August wird dreimal die »Okutschka« vorgenommen, das Jäten und Häufeln, vom Juni bis Anfang September werden die Stauden begossen, Mitte September erste Ernte, im Oktober und November Herbstreinigung der Kanäle, im Dezember zweite Ernte. Ununterbrochene Tätigkeit also.
»Mit unserer reduzierten Belegschaft könnten wir das niemals leisten,« sagt Petrow, »ohne das Bugsier der Nachbarkolchose, ohne den sozialistischen Wettbewerb und ohne die Stoßbrigaden.« 256
Stoßbrigaden – ein Stichwort. Während unserer Unterhaltung hat sich das Zelt mit Mongolen und Iranern gefüllt, die den westeuropäischen Besuch sehen wollen. Ein etwa dreißigjähriger Schmächtiger mit Brille, Typ eines Kanzleibeamten, hakt beim Wort »Stoßbrigaden« ein: im Namen seiner Gruppe möchte er uns deren Tätigkeit erklären, er habe es eilig, müsse gleich zurück.
»Nu wot (nun, also),« beginnt er stockend, und wir sind überzeugt, daß er nun ausführen wird, seine Gruppe mache hier Schreibe- und Rechnungsdienst. Fehlgeraten. Das schmale Männchen ist ein Soldat und spricht namens seiner Truppe, »wir sind die Vierte Kompanie des Arbeiter-Regiments zur besonderen Verwendung. Unser Regiment hat sich vor drei Monaten im Chodschenter Wilajet aus Arbeitern und Angestellten gebildet, nu wot. Wir haben uns die Aufgabe gestellt, gegen die Räuberbanden zu kämpfen. Als der Bandenkrieg liquidiert war, haben wir beschlossen, uns in die Breschen zu werfen, die bei der Durchführung des Fünfjahrplanes entstehen. Nu wot, das ist alles, was ich zu sagen habe. Wir sind sechsundvierzig Arbeitersoldaten, Männer und Frauen, fast alle Parteimitglieder oder Komsomolzen, der älteste ist vierzig Jahre alt. Wir haben uns in vier Sektionen geteilt, um miteinander in sozialistischen Wettbewerb treten zu können, nu wot, das ist alles. In den ersten zwei Tagen haben wir 91 Prozent der Norm erfüllt. Vom dritten bis zum siebenten Tag kamen wir nicht über 82 Prozent. Dann sind wir wieder gestiegen, am elften Tag sogar auf 140,8 Prozent, jetzt machen wir täglich etwa 128 Prozent. Nu wot, ich muß jetzt weggehen. Die Schwankungen unserer Leistung erklären sich aus den Verschiedenheiten der Produktionsmittel, der Boden ist ungleich, und es 257 gibt auch andere objektive Schwierigkeiten. Auf Wiedersehen.«
»Einen Augenblick, bitte. Bleibt ihr definitiv hier?«
»Nein, wir müssen nach Chodschent, zu unseren Arbeitsplätzen zurück, wir sind ja nur beurlaubt. Aber als Formation bleiben wir bestehen, und wenn man uns brauchen wird, rücken wir wieder gemeinsam aus. Wir haben beschlossen, das nächste Mal womöglich auf Reisfeldern zu arbeiten, nu wot.«
»Warum auf Reisfeldern, Genosse?«
»Weil das die schwerste Arbeit sein soll. Auf Wiedersehen.«
Wie sähe die Welt aus, wenn die Begeisterung und Opferfreudigkeit, die man August 1914 für den Krieg zu entfachen vermocht hat, überall für produktive Arbeit zum Nutzen der Allgemeinheit entfacht würde.
Wie sähe die Welt aus voll solcher Arbeiterkompanien, wie die, die aus Enthusiasmus in die Wüste zieht und sie aus Enthusiasmus umgestaltet. Und wie sieht die Welt wirklich aus:
»Im Jahre 1927 überflutete der Mississippi ein weites Gebiet, einschließlich der Baumwollgegend. Einige hunderttausend weiße und schwarze Kleinpächter wurden von der Hilfe des ›Roten Kreuzes‹ abhängig. Die Bodenbesitzer lehnten es zuerst ab, ihre Pächter retten zu lassen, als deren Leben bedroht war. Das ›Rote Kreuz‹ mußte sich den Bodenbesitzern gegenüber verpflichten, die Bauern, allenfalls auch gegen deren Willen, nach Beseitigung der Gefahr zu den Plantagen zurückzubringen. Die geretteten Bauern wurden dementsprechend in einem Lager gehalten, das von der staatlichen Polizei bewacht war. Niemand durfte das Lager ohne Erlaubnis verlassen. Mehrere 258 Bauern flüchteten, einige wurden erschossen. Als die Flut zurückging, schlossen die Beamten des ›Roten Kreuzes‹, die Polizei und die Aufseher der einzelnen Plantagen einen Ring um die Baumwollarbeiter und ihre Familien und transportierten sie wieder zu ihren Herren.« (»The New Republic«.)
Allerdings, diese Sklaven sind zumeist »Farbige«. Die zwölf Millionen Neger in Amerika haben keinen Vertreter im Senat oder im Abgeordnetenhaus von Washington und auch sonst keine Staatsbürgerrechte, obwohl sie Staatsbürger sind, keine Menschenrechte, obwohl sie Menschen sind.
Eine Gruppe von tadschikischen Burschen und Mädchen drängt sich ins Zelt, ihr Sprecher bittet uns, den Jugendgenossen des Auslandes zu berichten, daß die Komsomolzen auf dem Sowjetgut Wachsch ihren Teil des Fünfjahrplanes seit Jahr und Tag zu 110 Prozent erfüllen und weiter erfüllen werden. »Und jetzt möchte ich noch etwas sagen. Wir machen natürlich auch kulturelle Arbeit, sowohl bei den Parteilosen als auch unter uns. Auch deutsche Bücher lesen wir, die ins Russische übersetzt sind, und sie interessieren uns sehr. ›Paradies Amerika‹ hat uns gefallen bis auf zwei oder drei Kapitel. Wir freuen uns, daß Sie gekommen sind, Sie sind der erste ausländische Schriftsteller, den wir sehen. Wir haben eben beschlossen, unserer Gruppe Ihren Namen zu geben.«
Draußen müssen wir uns mit den neuen Patenkindern photographieren lassen, Adressen werden ausgetauscht, dann wollen wir zurück in das Leinwandhaus. Aber ein Tadschike, 1 Meter 90 hoch und mit entsprechendem Vollbart, besteht darauf, daß wir uns den Maschinenpark ansehen. Wir werden uns hüten, ihm etwas abzuschlagen. 142 Traktoren, 259 amerikanische und einheimische, »Fordson« und »International«. »Welche sind besser?« fragen wir zu ihm hinauf, »die amerikanischen oder die sowjetrussischen?«
»Oh, im Mechanismus sind beide gleichwertig,« sagt der Tadschike zu uns hinab, »aber das Material der unsrigen ist bei weitem nicht so dauerhaft. Bevor die Sowjetunion Pittsburgh-Stahl erzeugen kann, werden noch mindestens drei Jahre vergehen. Wir borgen auch den Nachbarkolchosen unsere Maschinen und haben 600 Hektar für sie gepflügt, und in den MTS (Maschinen- und Traktoren-Stationen) helfen wir ihnen mit unseren Werkzeugen und unseren Mechanikern aus.«
Triumphierend zeigt er die fahrbaren Vakuumtürme, die die Baumwolle durch sechs zweiköpfige Schläuche von den Stauden saugen. »Solche Maschinen können wir noch nicht herstellen, aber in zwei oder drei Jahren . . .« sagt der Tadschike.
Und nun kommen andere herbei. Den Entkernungsbetrieb sollen wir ansehen, dort sei ein ganz neuer Gin. Die Schulwerkstätte des Maschinenparks, weil dort Baumwoll-Combiner montiert werden. Die Kinderkrippe, die sei besonders wichtig, weil man durch sie endlich weibliche Pflückerinnen zu bekommen hofft. Das Krankenhaus, dort ist die Frau mit dem Schlangenbiß. Die Anti-Analphabeten-Stelle, dort ist ein sechzigjähriger Schüler. Die Roten Ecken, dort sei ein deutsches Plakat. Das Rote Teehaus, dorthin muß man sich den Tee mitbringen. Die Bibliothek mit tadschikischen und usbekischen Büchern. Den Klub mit der Bühne. Alles will man uns zeigen und auf alles ist man stolz und alles will man noch besser machen, und . . .
. . . und wir denken an Dixie, den Baumwollgürtel 260 Amerikas, das Land, wo die Sklaverei herrscht wie vor Lincolns Zeit.
In Dixieland, the land of cotton
Old times there are not forgotten,
wir denken an dieses Land, wo wir zerlumpte, schlotternde, ausgehungerte, ausgebeutete Gestalten sahen, wo wir von torkelnden Säufern angerempelt, auf Schritt und Tritt von Kindern angebettelt wurden, wo weißgelockte Neger die weißgelockte Ware schleppten, die hier wie dort gedeiht.
Ende